12

Ebenezer Goode erwachte am nächsten Morgen schon sehr früh. Er konnte nicht mehr schlafen, weil die ungewöhnlichen Ereignisse des vorangegangenen Tages ihn nicht losließen. Er hatte Caleb Stone nicht gemocht; um ehrlich zu sein, hatte er privat kaum daran gezweifelt, daß er seinen Bruder getötet hatte, genau wie die Anklage es behauptete. Aber der Mann hatte eine ungewöhnliche Vitalität besessen, eine Leidenschaft, die es unerwartet schwer machte, seinen Tod zu akzeptieren.

Er lag, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, in seinem Bett und ging in Gedanken immer wieder durch, was Rathbone gesagt hatte, und dann dieser seltsame Bursche namens Monk. Wußte die Krankenschwester wirklich, wovon sie sprach? War es denkbar, daß Milo Ravensbrook Calebs Tod gewünscht oder, schlimmer noch, ihn herbeigeführt hatte?

Der Gedanke war besonders gräßlich, wenn er an das bemerkenswerte Gesicht von Lady Ravensbrook dachte, an die Stärke darin, und das trotz der Verwüstungen, die ihre noch gar nicht lange zurückliegende Krankheit in ihren Zügen angerichtet hatte. Sie hatte etwas an sich, das größtes Interesse in ihm weckte. Er ertappte sich sogar dabei, daß ihr Gesicht es war, das hinter seinen geschlossenen Augenlidern auftauchte, ihr Blick, ihr Mund - ja, er glaubte sogar, ihre Stimme in seinen Ohren hören zu können, während er über Mittel und Wege nachdachte, die Wahrheit herauszufinden, die zu beweisen beinahe unmöglich sein würde. Lady Ravensbrook hatte kaum ein Dutzend Worte mit ihm gewechselt, und trotzdem war ihm jede ihrer Regungen so deutlich in Erinnerung geblieben.

Es war noch dunkel, als er um halb sieben aufstand und ein höchst überraschtes Hausmädchen nach Wasser schickte, bevor er sich rasierte, wusch, ankleidete und anordnete, daß das Frühstück um Viertel nach sieben serviert werden sollte. Seine Köchin fand das überhaupt nicht erheiternd und gab das auch zu erkennen. Er scherte sich nicht darum, obwohl gute Köchinnen nicht leicht zu bekommen waren.

Er verließ das Haus und machte sich mit schnellen Schritten auf den Weg, wobei er seinen hübschen Stock schwang und so tief in Gedanken versunken war, daß er an einem Dutzend Bekannter vorüberging, ohne sie zu sehen, und zwei weitere nur mit den Namen ihrer Väter ansprach.

Um fünf nach neun stand er vor dem Haus der Ravensbrook und sah Seine Lordschaft in seiner eigenen Kutsche davonfahren. Goode stieg die Stufen hinauf und betätigte den Türklopfer aus Messing.

»Guten Morgen, Sir«, sagte der Lakai und verriet dabei nur einen Hauch von Überraschung.

»Guten Morgen«, erwiderte Goode mit einem betörenden Lächeln. »Es tut mir leid, die Familie so früh stören zu müssen, aber es handelt sich um eine Angelegenheit, die nicht warten kann. Würden Sie bitte Lady Ravensbrook fragen, ob ich mit ihr sprechen dürfte? Ich werde selbstverständlich so lange warten, bis es ihr genehm ist.« Er reichte dem Mann seine Karte.

»Lady Ravensbrook, Sir?« Der Lakai war nicht sicher, ob er sich vielleicht verhört hätte. Es schien absurd. Was konnte ein Rechtsanwalt mit Lady Ravensbrook zu besprechen haben.

»Wenn Sie bitte so freundlich sein wollen.« Goode trat in die Halle, zog seinen Mantel aus und gab dem Mann auch seinen Hut. Er hatte nicht die Absicht, sich wegschicken zu lassen, und er war daran gewöhnt, seinen Anliegen Nachdruck zu verleihen. Er war nicht zu einem der führenden Londoner Rechtsanwälte geworden, weil er sich leicht abweisen oder übervorteilen ließ.

»Vielen Dank. Sehr freundlich von Ihnen. Soll ich vielleicht im Morgenzimmer warten? Ja?« Er war in der Vergangenheit nur ein einziges Mal hiergewesen, aber er erinnerte sich daran, daß er die zweite Tür auf der linken Seite nehmen mußte. Er setzte das Einverständnis des Lakaien voraus und schritt durch die Halle; den Diener ließ er mit seinen Kleidungsstücken und dem Auftrag zurück, seinen Wünschen nachzukommen.

Er mußte in dem ruhigen, luxuriös eingerichteten Raum mit seinen schweren Vorhängen und ungezählten Bücherregalen beinahe eine Dreiviertelstunde warten, aber als sich die Tür endlich öffnete, war es tatsächlich Enid Ravensbrook, die vor ihm stand. Sofort quälten ihn Gewissensbisse. Ihr Blick verriet Angst. Das lavendelfarbene Gewand hing an ihr herunter, obwohl die Zofe sich alle Mühe gegeben hatte, es enger zu machen. Ihr Haar hatte seinen Glanz verloren, und auch die ausgeklügeltste Frisur konnte nicht verbergen, wieviel sie davon während ihrer Krankheit verloren hatte. Ihre Haut war völlig fahl, aber nichts konnte die Intelligenz in ihren Augen oder die verborgene Stärke in den Linien ihrer Wangenknochen, ihrer Nase und ihrem Kiefer verbergen. Sie sah ihn tapfer an.

»Guten Morgen, Mr. Goode. Mein Diener sagte mir, Sie möchten mich sprechen.« Sie schloß die Tür und ging ganz langsam durch den Raum, als fürchte sie, das Gleichgewicht zu verlieren.

Er machte Anstalten, ihr zu helfen, begriff dann aber sofort, daß es klüger wäre, es nicht zu tun. Er brannte darauf, die Hand auszustrecken und ihr etwas von seiner Stärke zu geben, aber er durfte sich nicht aufdrängen. Er wußte es, ohne sie anzublicken.

Sie ging auf den nächsten Stuhl zu und setzte sich; nun huschte auch ein Lächeln über ihre Züge.

»Vielen Dank, Mr. Goode. Ich bin Ihnen sehr verpflichtet. Ich hasse es, gebrechlich zu sein. Nun, was möchten Sie mir sagen? Ich nehme an, es hat mit dem Tod des armen Caleb zu tun. Ich kannte ihn nur sehr oberflächlich, und doch kann ich nicht umhin, darüber zu trauern, daß er so sterben mußte. Obwohl Gott weiß, daß die andere Alternative weit schlimmer gewesen wäre.«

»Aber Sie kennen Angus«, sagte er schnell. »Angesichts Lord Ravensbrooks Hochachtung und Wertschätzung für ihn und seiner eigenen Dankbarkeit und Zuneigung muß er doch oft hergekommen sein.«

Es war eine Feststellung, so als zweifle er keinen Augenblick daran, aber der Ausdruck auf ihrem Gesicht spiegelte Unsicherheit und Ablehnung wider.

»Nein.« Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. »Er kam natürlich her, aber nicht so oft, und er blieb nur selten länger hier. Ich bin mir nicht sicher, ob das daran lag, daß Genevieve sich hier ein wenig… unwohl fühlte. Ich glaube, mein Mann hat sie in gewisser Hinsicht eingeschüchtert. Er kann sehr…« Wieder zögerte sie, und schlagartig wurde ihr klar, daß es nicht die Worte waren, mit denen sie rang, ja, noch nicht einmal die Frage, ob sie ihm ihre Gedanken mitteilen sollte, sondern der Gedanke selbst. Es war etwas, das sie lange nicht hatte wahrhaben wollen, weil es zu schmerzlich war.

Er zögerte. Vielleicht war die Sache es nicht wert, daß er sie weiterverfolgte, nicht um einen solchen Preis. Man konnte es dem Leichenbeschauer überlassen, die Angelegenheit mit Diskretion zu erledigen.

Aber der Zweifel währte nur einen Augenblick. Er konnte mit solcher Feigheit nicht leben, und auch ihrer wäre das nicht würdig gewesen.

Er lächelte. »Bitte, Ma'am, sagen Sie mir die Wahrheit, so wie Sie sie empfinden, so wie Sie sie gesehen haben. Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt für Beschönigungen, wie gut sie auch gemeint sein, wie barmherzig sie auch erscheinen mögen.«

»Wirklich?« Sie runzelte die Stirn. »Sowohl Angus als auch Caleb sind tot, die armen Geschöpfe, und ihr Haß ist mit ihnen gestorben, welche Gründe er auch immer gehabt haben mag. Es ist vorbei… zu Ende.«

»Ich wünschte, es wäre wirklich so.« Er meinte seine Worte absolut ehrlich. »Aber Calebs Tod wird eine gerichtliche Untersuchung nach sich ziehen. Wir müssen wissen, warum er plötzlich einen so gewalttätigen und hoffnungslosen Schritt unternommen hat.«

»Müssen wir das?« Ihr Gesicht war ruhig, und sie schien einen Entschluß gefaßt zu haben. »Was spielt das jetzt noch für eine Rolle, Mr. Goode? Es scheint, als hätte er in seinem Leben niemals Frieden gefunden. Können wir ihn jetzt nicht wenigstens begraben lassen und ihm die Ruhe gönnen, soweit seine Seele Ruhe finden kann? Und wir brauchen ebenfalls Ruhe. Mein Mann hat, seit er die beiden in sein Haus geholt hat, kaum etwas anderes als Kummer über dieses oder jenes erfahren.«

»Selbst mit Angus?«

»Nein. Nein, das war ungerecht von mir. Angus hat ihm große Freude gemacht. Er war alles, was er sich wünschen konnte.«

»Aber?« fragte er sanft, aber beharrlich nach.

»Kein Aber.«

»In Ihrer Stimme liegt ein Schatten, ein Zögern«, wandte er ein. »Worum geht es? Was hatte Angus an sich, Lady Ravensbrook, daß Caleb ihn so leidenschaftlich haßte? Sie haben sich einmal so nahegestanden. Warum haben sie sich auf so furchtbare Weise auseinandergelebt? «

»Ich weiß es nicht!«

»Aber Sie haben eine Vermutung? Sie müssen darüber nachgedacht, sich gewundert haben. Und sei es nur wegen des Schmerzes, den diese Tatsache für Ihren Mann bedeutete.«

»Natürlich habe ich darüber nachgedacht. Ich habe viele Stunden wach gelegen und mich gefragt, ob es nicht irgendeine Möglichkeit gäbe, die beiden miteinander zu versöhnen. Ich habe mir das Gehirn zermartert. Ich habe immer wieder meinen Gatten danach gefragt, bis mir klarwurde, daß er genausowenig wußte wie ich und daß es ihn schon quälte, auch nur davon zu sprechen. Er und Angus fühlen sich nicht…«

»Nicht was?«

Sie erzählte ihm das alles nur widerstrebend. Er mußte ihr jedes einzelne Worte mühsam entlocken, und er wußte es.

»Sie fühlten sich nicht wohl, wenn sie zusammen waren«, gab sie zu. »Es schien, als sei der Schatten Calebs immer gegenwärtig, eine Düsternis zwischen ihnen, eine Wunde, die nie heilen würde.«

»Aber Sie mochten Angus?«

»Ja, ich mochte ihn, ja.« Jetzt war der Schatten verflogen, und sie sprach mit absoluter Aufrichtigkeit weiter. »Er war ungewöhnlich freundlich. Er war ein Mensch, den man ohne Vorbehalte bewundern konnte, und dabei so bescheiden. Er drängte sich nie in den Vordergrund, war niemals herablassend oder arrogant. Ja, ich mochte Angus wirklich sehr. Ich habe nie erlebt, daß er die Fassung verloren oder etwas Grausames getan hätte.« Die Spuren der Trauer waren deutlich in ihrem Gesicht zu lesen, aber sie entsprangen lediglich dem Verlust eines Menschen, den sie sehr geschätzt hatte.

Er haßte sich dafür, daß er weiter in sie dringen mußte.

»Niemals?«

»Nein«, sagte sie, als hätte sie nicht erwartet, so zu empfinden. »Niemals. Es überrascht mich nicht, daß mein Mann ihn liebte. Er war alles, was er sich von einem Sohn hätte wünschen können, wäre ihm ein Sohn vergönnt gewesen.«

»Er muß Caleb dafür gehaßt haben, daß er ihn zugrunde gerichtet hat«, sagte er sanft. »Es wäre sehr verständlich, wenn er ihm dies niemals hätte verzeihen können. Vor allem, da Angus Caleb immer noch die Treue hielt.«

Sie wandte sich ab, und ihre Stimme klang nun noch leiser.

»Ja, ich könnte ihm keinen Vorwurf machen. Und doch scheint er nicht denselben Zorn zu verspüren wie ich. Es ist beinahe so, als…«

Er wartete, beugte sich vor, spürte die Stille im Raum. Sie drehte sich ganz langsam zu ihm um.

»Ich weiß nicht, was Sie von mir erwarten, Mr. Goode…«

»Die Wahrheit, Ma'am. Das ist das einzige, was wirklich zählt, das einzige, das am Ende allen Schmerz überwinden wird.«

»Ich kenne die Wahrheit nicht!«

»Es war beinahe so, als… was?« drängte er sie.

»Als hätte er gewußt, daß dies eines Tages geschehen würde, als sei es nur ein Schlag gewesen, den er schon seit langem erwartet hatte, und die Tatsache, daß es endlich passiert war, das Ende der Angst, beinahe eine Erlösung. Ist es nicht schrecklich, so etwas zu sagen?«

»Nein. Es ist nur traurig«, sagte er sehr freundlich. »Und wenn wir ehrlich sind, würden wir das alle vielleicht so sehen.

Sie lächelte, und zum erstenmal leuchtete auch eine Spur von diesem Lächeln in ihren Augen auf.

»Sie waren sehr freundlich, Mr. Goode. Ich denke, Sie tragen Ihren Namen vielleicht zu recht.«

Zum erstenmal seit vielen Jahren spürte er, wie eine warme Röte in sein Gesicht stieg, eine seltsame Mischung aus Freude und dem Bewußtsein, wie einsam er war.

Oliver Rathbone war anwesend, als das Gericht wieder tagte. Die Zuschauerbänke waren fast leer. Die Zeitungen meldeten in ihren Schlagzeilen, daß Caleb Stone versucht habe, einen weiteren Mord zu begehen, diesmal an dem Mann, der ein Vater und Wohltäter für ihn gewesen war, und daß eine höhere Gerechtigkeit obsiegt habe - er selbst war zum Opfer geworden. Die Angelegenheit hatte ein Ende gefunden.

Der Richter suchte nach Ebenezer Goode, bemerkte seine Abwesenheit und sah Rathbone mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Es gibt niemanden, der verteidigt werden müßte, Mylord«, meinte Rathbone achselzuckend. Er wußte nicht, wo Goode blieb, und war ein wenig besorgt über sein Fehlen. Er hatte mit seiner Unterstützung gerechnet.

»Ach so«, sagte der Richter trocken. »Keine gänzlich befriedigende Erklärung, aber ich nehme an, wir werden uns damit abfinden müssen.« Dann wandte er sich an die Geschworenen und berichtete ihnen in formeller Manier, was sie bereits wußten. Caleb Stone war tot. Es gab keinen Grund mehr, die Verhandlung fortzusetzen, da er nun keine Aussage mehr machen und zu seiner Verteidigung sprechen konnte. Daher konnte es auch kein Urteil geben. Das Verfahren würde ohne Ergebnis eingestellt werden, und die Geschworenen wurden mit einigen Worten des Dankes entlassen.

Rathbone suchte den Richter später in dessen eichenholzvertäfelten Räumen auf; die frühe Märzsonne fiel bleich durch die hohen Fenster.

»Worum geht es?« fragte der Richter mit einiger Überraschung. »Sie haben doch kein Interesse mehr an dieser Angelegenheit, Rathbone. Was auch immer wir von ihm halten mögen, wir können den Fall Caleb Stone nicht weiter verfolgen. Er hat den einzigen Ausweg gewählt, der ihn uns für immer entzieht.«

»Das weiß ich, Mylord« Rathbone blickte auf den Richter, der auf seinem Lederstuhl saß, hinab. »Ich möchte lediglich sicher sein können, daß sein Tod entweder ein Unfall war oder seinem eigenen Willen entsprang.«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« Der Richter runzelte die Stirn. »Ravensbrook sagte, es sei ein Unfall gewesen, aber selbst wenn es Selbstmord war, sind Sie wirklich so versessen auf die Anklage jedweden Vergehens, daß Sie es beweisen wollen?« Sein Mund wurde schmal. »Warum, Mann? Wollen Sie ihn in ungeweihter Erde begraben wissen? Es sieht Ihnen gar nicht ähnlich, solche Rachsucht. Es hat nichts mit der Versorgung der Witwe zu tun oder mit der Frage, ob sie zu gegebener Zeit und falls sie das wünscht, sich wieder verheiraten kann.«

»Ich glaube nicht, daß es Selbstmord war«, antwortete Rathbone.

»Mord?« Der Richter zog seine Augenbrauen voller Erstaunen hoch. »Haben Sie nicht gehört, was passiert ist? Lord Ravensbrook ist in die Zelle gegangen, um…«

»Ich weiß, was er gesagt hat«, unterbrach Rathbone ihn. »Ich war wenige Minuten später dort. Ich habe Ravensbrook gesehen, und ich habe auch die Leiche gesehen. Ich glaube, es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß Ravensbrook ihn getötet hat.«

»Lord Ravensbrook?« Der Richter war nicht schockiert, er konnte es einfach nicht glauben. »Ist Ihnen klar, was Sie da sagen, Rathbone? Warum um alles in der Welt sollte Lord Ravensbrook irgend jemanden ermorden, ganz zu schweigen von seinem eigenen Mündel, so abstoßend der Mann auch gewesen sein mag? Und noch dazu vor dessen Aussage, in der er die Sache möglicherweise noch als Unfall hätte hinstellen können.

»Genau das will ich herausfinden«, sagte Rathbone mit zusammengebissenen Zähne. »Ich habe Monk jetzt mit dem Fall betraut.«

»Sie haben den Verstand verloren«, sagte der Richter mit einem Seufzer und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, als brauche er die Weichheit der Lederpolster, um seinen Körper zu stützen. »Der Gedanke ist doch völlig aus der Luft gegriffen.« Seine Augen wurden schmaler. »Es sei denn, es gäbe da ganz außergewöhnliche Umstände, die Sie vor dem Gericht verbergen? Wenn das der Fall ist, bringen Sie sich in beträchtliche Schwierigkeiten.«

»So ist es nicht«, erwiderte Rathbone mit heftigem Nachdruck. »Ich weiß nicht mehr als das, was bisher enthüllt wurde, aber ich glaube, daß es noch etwas gibt, wovon wir keine Kenntnis haben. Ich möchte, daß der Leichenbeschauer die Untersuchung beginnt und sie dann hinauszögert, damit wir Beweise sammeln können.«

»Und Sie erwarten von mir, daß ich ihm das sage?« Die hellblauen Augen des Richters weiteten sich vor Staunen. »Es tut mir leid, Rathbone, aber selbst wenn ich das täte, würde er ohne irgendeinen Beweis, der Ihre Theorie stützt, mich für genauso verrückt halten wie ich Sie. Ich gebe Ihnen drei Tage.«

»Das ist nicht genug.«

»Vielleicht ist das ganz gut so. Und wenn das alles ist, was ich für Sie tun kann, erlauben Sie mir bitte, mich auf meinen nächsten Fall vorzubereiten. Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag.«

Hester stand ebenfalls früh auf und fuhr mit einem Hansom zu Genevieves Haus. Sie hatte guten Grund anzunehmen, daß sie zu Hause sein würde, da Enid sie nicht länger brauchte und auch die Ereignisse in Old Bailey für sie nicht mehr von Interesse sein konnten. In ihrer gegenwärtigen Situation würde sie wohl auch kaum Besuche empfangen oder selbst welche machen. Die Frage von Angus' Tod würde warten müssen, bis gerichtliche Schritte unternommen werden konnten.

Sie wurde nicht enttäuscht. Genevieve sah blaß und mitgenommen aus, wirkte aber einigermaßen gefaßt.

»Wie geht es Ihnen?« fragte Hester, als sie in die Küche geführt wurde, den einzigen Raum im Haus, der beheizt war. Die Küche war geräumig und erfüllt von angenehmen Düften frischgebackenen Brotes und trocknender Wäsche, die von der Decke herabhing. Außer ihnen war niemand da. Wahrscheinlich hatte sie der Köchin erlaubt zu gehen, um ihre ständig geringer werdenden Mittel zu schonen. Ein Hausmädchen hatte die Tür geöffnet, und vielleicht gab es noch eine Frau, die ein oder zweimal die Woche kam, um die schwereren Arbeiten zu verrichten. Das Kindermädchen würde gewiß als letztes weggeschickt werden. Ein männlicher Diener hingegen war so teuer, daß man ihn nicht einmal in Erwägung zu ziehen brauchte.

Genevieve lächelte kurz und erwiderte mit großer Aufrichtigkeit: »Wir kommen schon zurecht. Sobald Angus für tot erklärt wird, können wir jemanden mit der Leitung des Geschäfts betrauen und die anstehenden Entscheidungen treffen. Ich denke, es wird eine Weile Schwierigkeiten geben, aber das ist nicht so wichtig.« Sie sah Hester freimütig an. »Ich habe früher schon schlimmer unter Kälte und Hunger gelitten. Den Kindern fällt es schwer, das zu verstehen, aber ich werde es ihnen, so gut ich kann, erklären.«

»Wird Mr. Niven derjenige sein, den Sie bitten, das Geschäft zu leiten?« Es ging sie im Grunde genommen nichts an, aber Hester fragte danach, weil sie hoffte, daß es so war.

Genevieve errötete ganz schwach, aber in ihrer Antwort lag keine Verlegenheit. Ohne sich dafür zu entschuldigen oder die Notwendigkeit zu erklären, ging sie zum Spülstein und machte sich daran, Kartoffeln zu schälen. Sie waren alt und an manchen Stellen schon schwarz. Auf der Bank lagen außerdem Karotten und Rüben.

»Ja. Ich kenne ihn schon lange, und er ist ein durch und durch ehrenwerter Mann«, antwortete sie offen. »Ich denke, Angus wäre mit dieser Entscheidung einverstanden gewesen.«

»Das freut mich.« Hester versuchte zu lächeln, um ihre nächsten Worte etwas abzumildern, obwohl Genevieve mit dem Rücken zu ihr stand.

Jetzt aber drehte Genevieve sich mit dem Messer in der Hand um. »Worum geht es? Was sonst könnte noch passiert sein?«

»Nichts. Es ist nur noch nicht alles vorbei. Wir kennen die Wahrheit nicht, nicht die ganze Wahrheit…«

»Die werden wir niemals erfahren«, sagte Genevieve traurig, warf einen kurzen Blick auf den Kessel, der auf dem Herd stand, und machte sich dann daran, die nächste Kartoffel zu schälen.

»Aber ich glaube, selbst wenn Caleb noch am Leben wäre, hätten wir nicht mehr erfahren. Das einzige, was ich mir erhofft habe, war, daß die Behörden akzeptieren würden, daß Angus tot ist. Ich hätte damit leben können, wenn das Gericht Caleb nicht schuldig gesprochen hätte, so ungerecht das auch gewesen wäre.«

»Was für ein Mensch war Angus?« sagte Hester plötzlich mit drängender Stimme. »Wie konnte Caleb ihm noch immer am Herzen liegen, obwohl er ihn so sehr haßte? Warum ist er immer wieder ins East End gegangen? Welche Ehrenschuld aus der Kindheit oder welche Schuld hat ihn an jemanden gekettet, der ihn so leidenschaftlich haßte, daß er ihn am Ende tötete?«

Genevieve stand einige Sekunden lang wie erstarrt, legte dann das Messer zur Seite und trat an den großen schwarzen Kochherd. Der Kessel bekann zu dampfen. Sie nahm eine schwarzweiße Porzellanteekanne aus dem Schrank, spülte sie mit kochendem Wasser aus, füllte dann Tee aus einer Büchse hinein und goß den Rest des Wassers aus dem Kessel in die Kanne und ließ den Tee ziehen. Dann stellte sie zwei Tassen auf den Tisch und holte Milch aus der Speisekammer.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Ich weiß es wirklich nicht. Manchmal dachte ich, daß er Caleb genauso haßte wie dieser ihn, und ich bat ihn, nie wieder zu ihm zu gehen.« Sie setzte sich auf den Stuhl gegenüber und schenkte den Tee aus. »Aber manchmal tat er ihm auch leid, ja, und vielleicht fühlte er sich wirklich ein wenig schuldig. Obwohl er keinen Grund dazu hatte. Caleb hätte alles haben können, was er hatte, wenn er es nur gewollt hätte. Schließlich war kein Erbe im Spiel, um das Angus Caleb hätte bringen können.«

»Ihre Eltern haben ihnen nichts hinterlassen?« Genevieve schüttelte den Kopf.

»Wenn etwas da war, ist es schon vor langer Zeit aufgebraucht worden. Möchten Sie Milch? Angus hat jedenfalls sein Geschäft aufgebaut, indem er einer Firma beitrat, wie es jedem jungen Mann freisteht.« Sie reichte ihr die Tasse. »Caleb hätte dasselbe tun können, nur daß er so leichtsinnig war und so nachlässig in seinen Studien, daß er aus eigenem Verschulden zu nichts zu gebrauchen war. Aber auch das war seine Entscheidung.« Sie sah Hester an. »Manchmal glaube ich, Caleb tat Angus leid, und manchmal wußte ich auch, daß er Angst vor ihm hatte.«

Hester nahm den Tee und dankte ihr. Er war heiß und frisch.

»Es hat Angus viel Mut gekostet, nach Limehouse zurückzukehren und Caleb aufzusuchen«, fuhr Genevieve fort, »nachdem er ihn schlimm verletzt hatte - und das ist mehr als einmal vorgekommen. Er war immer müde und niedergeschlagen, und ich habe ihn gebeten, nicht wieder hinzugehen. Es war auch nicht so, als hätte Caleb ihn gern gehabt oder wäre Angus für seine Hilfe auch nur dankbar gewesen. Das alles hat mich so wütend gemacht… und auch das hat ihn natürlich bedrückt. Er sagte, er könne nicht dagegen an. Caleb sei sein Bruder, sein Zwilling, und sie wären durch ein Band, das er nicht zerreißen könne, aneinandergekettet. Als mir klarwurde, wie sehr ihn die Angelegenheit schmerzte, habe ich aufgehört, darüber zu sprechen.«

Sie senkte den Blick, und in ihren Augen schwammen Tränen.

»Wenn Sie Angus gekannt hätten, hätten Sie mich verstanden. Er besaß eine Güte und einen Anstand, wie ich ihn bei niemandem sonst gesehen habe. Der einzige Mann, der über ein genauso freundliches Wesen verfügt und über eine ähnliche Liebe zu allem, was gut und schön ist auf dieser Welt, ist Mr. Niven. Ich glaube, das ist der Grund, warum die beiden Freunde waren und warum ich das Gefühl habe, mich jetzt ihm zuwenden zu können. Angus hätte das verstanden.«

Es gab nichts mehr herauszufinden außer einigen Tatsachen, und Hester war nicht einmal sicher, welchen Nutzen diese hatten.

Trotzdem fragte sie Genevieve, in welcher Straße sie aufgewachsen sei, wo und wann sie Caleb zum erstenmal getroffen, wie sie Angus kennengelernt habe, und sie bat sie, alles zu erzählen, was ihr von jener frühen Bekanntschaft in Erinnerung geblieben war.

»Ich habe Caleb kaum gekannt!« sagte sie verbittert. »Ich schwöre Ihnen, das ist die Wahrheit. Er war ein gewalttätiger Mann, selbst für die Verhältnisse in Limehouse. Er hat mir angst gemacht. Ich glaube, er hat allen Menschen angst gemacht. Er war Angus in Aussehen und Körperbau so ähnlich und seiner Natur nach doch so ganz anders als dieser, daß niemand die beiden hätte verwechseln können. Die Art, wie sie gingen, die Art, wie sie standen, seine Stimme, alles war wild und… ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.« Sie runzelte die Stirn und kämpfte mit ihren Erinnerungen. »Als sei er immer wütend, als sei er so von Zorn erfüllt, daß seine Beherrschung nur an einem seidenen Faden hing und die leiseste Provokation genügte, um diesem Zorn zum Ausbruch zu verhelfen und zu zerstören, was sich ihm in den Weg stellte.«

Hester unterbrach sie nicht, sondern nippte nur an ihrem Tee und beobachtete Genevieves Gesicht.

»Ich nehme an, daß auch er eine liebenswürdigere Seite besessen hatte«, fuhr Genevieve mit leiserer Stimme fort.

»Dieses arme Geschöpf Selina schien ihn wirklich gern gehabt zu haben.« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Ich weißt nicht, warum ich so von ihr spreche. Ich habe am selben Ort begonnen, nur drei Straßen weiter weg. Ich wäre möglicherweise auch jetzt noch dort, wenn ich Angus nicht kennengelernt und er nicht die Geduld aufgebracht hätte und die Liebe, mich all die Dinge zu lehren, die ich brauchte, um Limehouse hinter mir zu lassen, um mich gut genug auszudrücken, um als respektabel, wenn schon nicht als Dame zu gelten.«

Sie lächelte ein wenig kläglich und trank nun endlich auch von ihrem Tee. »Er hat mir beigebracht, wie ich mich benehmen und kleiden, wie ich mich in Gesellschaft bewegen muß. Ohne seine Hilfe hätte ich es wohl nie geschafft und auch die bessere Gesellschaft nicht in meinem Haus empfangen können, aber im Laufe der Jahre habe ich mehr Selbstvertrauen gewonnen, und ich glaube nicht, daß ich ihn vor seinesgleichen jemals in Verlegenheit gebracht habe. Sehen Sie, er war genau das Gegenteil von Caleb, er hatte endlose Geduld. Ich erinnere mich nicht, daß er jemals die Beherrschung verloren hätte. Es wäre ihm falsch erschienen, so als verrate er sich selbst damit.«

»Ich wünschte, ich hätte ihn gekannt«, sagte Hester aufrichtig. Er mochte vielleicht ein wenig gönnerhaft gewesen sein, vielleicht fehlte es ihm auch an Humor oder Phantasie, aber er mußte ein Mensch von ungeheurer Freundlichkeit und einer inneren Rechtschaffenheit gewesen sein, wie man sie nur selten fand. »Ich danke Ihnen, daß Sie so offen zu mir waren.« Sie stand auf und verabschiedete sich. »Es tut mir leid, daß ich Sie danach fragen mußte. Es ist sicher sehr schmerzlich für Sie gewesen.«

»Aber es war mir auch eine Freude«, sagte Genevieve und erhob sich nun ebenfalls. »Ich spreche gern über ihn. Es ist sehr traurig, wenn die Menschen aufhören, von jemandem zu sprechen, wenn er tot ist. Es ist fast so, als wolle man leugnen, daß derjenige je gelebt hat. Ich bin froh, daß Sie mehr über ihn erfahren wollten.«

Monk wußte bereits von Genevieve, wo Angus aufgewachsen war, und noch bevor Ebenezer Goode sein Haus verlassen hatte, saß Monk in seinem Hansom, der ihn zum Bahnhof brachte, wo er den ersten Zug in das Berkshire-Dorf namens Chilverley nahm. Es war eine ermüdende Reise mit oftmaligem Umsteigen und vielen Verzögerungen und einem ständigen Hin und Her zwischen behaglichen Wartesälen mit prasselndem Feuer und eisigen, zugigen Bahnsteigen. Als er in Chilverley aus dem Zug stieg und in den schneidend kalten Wind trat, war es bereits halb elf.

»Chilverley Hall?« fragte der Stationsvorsteher zuvorkommend. »Ja, Sir. Ungefähr drei Meilen in nördlicher Richtung. Dort entlang.« Er zeigte auf eine Stelle hinter sich.

»Sie kennen Colonel Patterson, oder? Sie sehen aus wie jemand vom Militär.«

Monk war erstaunt. Wäre es nicht seinen eigenen Interessen zuwidergelaufen, hätte er seinem Zorn freien Lauf gelassen.

»Colonel Patterson?« fragte er grimmig. »Das hier ist Chilverley?«

»Ja, Sir, Chilverley in Berkshire.« Er sah Monk nervös an.

»Wen suchen Sie denn hier, Sir?«

»Ich suche den Familiensitz von Lord Ravensbrook.«

»Ach herrje. Das Dorf ist zwar tatsächlich der Familiensitz der Ravensbrooks, aber sie leben nicht mehr hier. Haben alles verkauft. Sind nach London gezogen, heißt es.«

»Es überrascht mich, daß der Besitz kein unveräußerliches Erbgut war«, sagte Monk, obwohl das nicht zur Sache gehörte.

»Wird es wohl gewesen sein.« Der Stationsvorsteher wiegte den Kopf hin und her. »Aber Lord Milo war der letzte Nachkomme, es gab keinen Grund, warum er nicht verkaufen sollte, wenn er wollte. Muß ihm ein hübsches Sümmchen eingebracht haben.« Er tippte sich respektvoll an die Mütze, als zwei Herren vorübergingen und durch das Tor auf die Straße traten.

»Keine Brüder, nicht einmal Vettern?« Monk hatte keinen besonderen Grund, diese Frage zu stellen, sie kam ihm nur plötzlich in den Sinn.

»Nein, Sir. Seine Lordschaft hatte einen Bruder, der jünger war als er, aber der arme Teufel starb. War ein Unfall, in Italien oder so.« Er schüttelte den Kopf. »Es heißt, er sei ertrunken. Jammerschade, das. Er war ein sehr charmanter Herr, wenn auch ein wenig ungezügelt. Sehr gutaussehend und ein bißchen locker mit den Damen, und mit seinem Geld auch. Trotzdem ein trauriges Ende für einen so jungen Menschen.«

»Wie alt war er?« Auch das spielte eigentlich kaum eine Rolle.

»Nicht älter als einunddreißig oder zweiunddreißig«, antwortete der Stationsvorsteher. »Es ist alles so lange her jetzt, schon mehr als ein Vierteljahr hundert, eher sogar fünfunddreißig Jahre.«

»Wissen Sie zufällig, ob noch irgendwelche alten Diener im Haus leben?«

»O nein, Sir. Als Seine Lordschaft wegzog, sind auch die Diener gegangen. Colonel Patterson hat seinen eigenen Haushalt mitgebracht.«

»Gibt es denn niemanden mehr hier im Dorf, der seinerzeit im Haus lebte?« drang Monk weiter in ihn. »Was ist mit Personal, das nicht im Hause lebte? Ein Gärtner, ein Wildhüter, ein Kutscher? Haben Sie vielleicht noch denselben Pfarrer wie seinerzeit?«

Der Stationsvorsteher nickte. »O ja. Das Pfarrhaus ist gegenüber der Kirche, direkt hinter der zweiten Ulmengruppe da.« Er zeigte mit dem Finger auf einige Bäume. »Können Sie gar nicht verfehlen. Folgen Sie einfach der Straße. Ungefähr zwei Meilen von hier, Sir.«

»Vielen Dank. Sie waren sehr freundlich.« Und ohne auf eine Erwiderung zu warten, ging Monk in die Richtung, die der Stationsvorsteher ihm gewiesen hatte.

Der Wind fuhr durch die kahlen Zweige der Ulmen, und eine Schar schwarzer Krähen erhob sich in die Luft, aufgescheucht von einer räuberischen Katze. Ihre schwarzen, zerzausten Nester schmiegten sich eng in die Astgabeln hoch in den Bäumen. Es war ein harter Winter gewesen.

Der Pfarrer war ein älterer Mann, aber sehr lebhaft und mit klaren Augen. Er begrüßte Monk über die Hecke hinweg, hinter der er hoffnungsvoll den grünen Rasen und die ersten Knospen betrachtet hatte.

Monk erklärte ihm mit knappen Worten, was ihn zu ihm führte.

Der Pfarrer sah ihn mit lebhaftem Interesse an.

»Ja, Sir, natürlich kann ich Ihnen einiges erzählen. Was für ein schöner Morgen, nicht wahr? Wird nicht mehr lange dauern, bis die Narzissen blühen. Ich liebe ein schönes Narzissenbeet. Kommen Sie doch mit in den Salon, mein Freund. Da brennt ein anständiges Feuer. Treibt Ihnen die Kälte aus den Knochen.«

Er kam ans Tor und hielt es für Monk auf. Dann führte er ihn über einen mit abgebröckelten Steinen gepflasterten Weg zur Tür, die dicht mit Geißblatt überwuchert war, dessen dunkles Geäst noch nicht das zarteste Grün zeigte.

»Hätten Sie vielleicht gern eine Kleinigkeit zu Mittag gegessen?« lud er Monk ein, während er ihn ins Innere des Hauses führte, in dem eine wohltuende Wärme herrschte. »Ich hasse es, allein zu speisen. Zu unzivilisiert. Eine gepflegte Unterhaltung adelt jedes Mahl, finden Sie nicht auch?« Er ging durch den vollgestellten Flur und öffnete die Tür zu einem hellen, mit Chintzvorhängen ausgestatteten Raum. »Meine Frau ist vor fünf Jahren gestorben. Muß jede Gelegenheit beim Schopf packen, um mir Gesellschaft zu verschaffen. Kenne jeden hier. Die Leute können hier keinen mehr überraschen. Ist im Winter ganz schön langweilig. Im Sommer macht's mir nichts aus, da ist im Garten genug zu tun. Wie sagten Sie noch, war Ihr Name?«

»William Monk, Mr. Nicolson.«

»Äh, ja, Mr. Monk, wollen Sie mit mir zu Mittag essen, während Sie mir erzählen, was Sie nach Chilverley führt?«

Monk nahm die Einladung mit Freuden an. Er war durchgefroren und hungrig, und es war immer einfacher, sich bei Tisch zu unterhalten als in einem noch so behaglichen Salon.

»Gut, gut. Machen Sie es sich bitte bequem, während ich mit der Köchin spreche.«

Reverend Nicolson war so offensichtlich erfreut darüber, Gesellschaft zu haben, daß Monk zumindest die erste Hälfte der Mahlzeit verstreichen ließ, bevor er auf den Grund seiner Reise zu sprechen kam. Er schluckte den letzten Bissen kalten Hammelfleisches hinunter und legte dann Messer und Gabel beiseite.

Das Mädchen erschien mit einer heißen, knusprigen Apfelpastete und einem Krug Rahm und stellte beides mit sichtlicher Befriedigung auf den Tisch, bevor sie die leeren Teller abräumte.

Dann begann der Pfarrer seine Geschichte, und Monk lauschte mit Erstaunen, Zorn und wachsendem Mitleid.