7

Als Monk am nächsten Morgen erwachte, kehrte die Erinnerung wie eine kalte Flut zurück und schien ihn schier zu ersticken. Er rang nach Luft und setzte sich am ganzen Leib zitternd auf. Der Abend war wunderbar gewesen, voller Lachen und Warmherzigkeit. Dann hatte Drusilla sich plötzlich und ohne die leiseste Vorwarnung von der liebevollen, vertrauten Freundin, die sie gewesen war, in eine schreiende Anklägerin mit haß verzerrtem Gesicht verwandelt. Er konnte sich mit erschreckender Klarheit an dieses Gesicht erinnern, so als befände es sich noch immer vor ihm - die zurückgezogenen Lippen, die Häßlichkeit in Mund und Augen, der Triumph.

Aber warum? Er kannte sie doch kaum, und alles, was sie miteinander erlebt hatten, war von größter Freude erfüllt gewesen. Sie war eine kultivierte, bezaubernde Frau der Gesellschaft, die sich einige wenige Stunden des Vergnügens gegönnt hatte, die etwas tollkühner waren als ihre gewohnten Beschäftigungen. Sie fühlte sich innerhalb ihres eigenen Gesellschaftskreises eingeengt und hatte Monk dazu auserkoren, sie für kurze Zeit daraus zu befreien. Und sie hatte ihn wirklich auserkoren! Ihr Interesse war von dem Augenblick an geweckt, in dem sie sich auf der Treppe der Geographischen Gesellschaft getroffen hatten. Wenn er nun daran zurückdachte, war ihm klar, daß sie an ihrem Zusammenstoß dort genausoviel Schuld trug wie er. Vielleicht hätte er sich schon damals fragen sollen, warum sie so bereitwillig seine Gesellschaft gesucht hatte. Die meisten Frauen wären vorsichtiger, argwöhnischer gewesen. Aber er war davon ausgegangen, daß die ihr auferlegten gesellschaftlichen Pflichten sie langweilten und sie sich nach der Freiheit sehnte, die er repräsentierte.

Hatte er es mit einer Wahnsinnigen zu tun gehabt? Ihr Benehmen war mehr als labil, es war völlig unausgeglichen. Diese Anschuldigung konnte ihn ruinieren, aber wenn sie darauf beharrte, daß er ihr seine Aufmerksamkeiten aufgezwungen habe, was sie unmöglich selbst glauben konnte, dann durfte sie bestenfalls erwarten, ebenso Gegenstand von Spekulationen wie von Mitleid zu werden und schlimmstenfalls Zielscheibe nicht allzu wohlmeinender Gerüchte. Vielleicht war sie aus Bedlam oder einer anderen Irrenanstalt entlaufen.

Er legte sich auf den Rücken und starrte zur Decke.

Nein, das war Unsinn. Wenn sie wahnsinnig war, würde keine Anstalt, sondern ihre Familie für sie sorgen. So mußte es sein. Sie hatte einen geistigen Defekt und war ihren Wärtern vorübergehend entflohen. Wenn diese sie wiederfanden, würde alles geklärt werden. Man würde ihn verstehen. Es war durchaus möglich, daß ähnliche Dinge schon früher passiert sind. Vielleicht hatte sie einem anderen unglückseligen Mann genau dasselbe angetan.

Er stand auf, wusch und rasierte sich. Und während er sein Gesicht im Spiegel betrachtete, die hageren Wangen, die grauen Augen mit dem intelligenten Blick, die kräftigen Lippen mit der nur noch schwach sichtbaren Narbe darunter, erinnerte er sich plötzlich daran, daß er dasselbe Gesicht gesehen hatte, als er aus dem Krankenhaus zurückkehrte. Damals hatte er es nicht gekannt, ja es war ihm nicht im mindesten vertraut erschienen. Er hatte in den Zügen geforscht, als hätte er einen Fremden vor sich, hatte nach dem Charakter des Mannes gesucht, nach seinen Schwächen und Stärken, nach seinen Begierden, nach Anzeichen von Freundlichkeit, Humor oder Mitleid.

Die nächste Frage lag auf der Hand. War Drusilla Wyndham wahnsinnig, oder hatte sie ihn früher schon gekannt - und gehaßt? Hatte er ihr etwas angetan, das sie ihm nicht verzeihen konnte, und war das jetzt ihre Rache?

Er wußte es nicht!

Langsam säuberte er sein Rasierzeug und legte es beiseite, wobei seine Hände sich ganz automatisch bewegten.

Aber wenn er sie gekannt hatte, dann mußte sie doch davon ausgehen, daß er sie genauso wiedererkennen würde, wie sie ihn wiedererkannt hatte? Wie konnte sie es wagen, sich ihm zu nähern, als wären sie Fremde? Hatte sie sich so sehr verändert, daß sie davon ausging, daß er sie nicht erkennen würde?

Das war lächerlich. Sie war eine bemerkenswerte Frau, nicht nur schön, sondern auch überaus ungewöhnlich. Ihre Haltung, ihre Würde und ihr Mutterwitz waren einzigartig. Wie konnte sie davon ausgehen, daß irgendein Mann, der ihr einmal begegnet war, sie so gründlich vergessen würde, daß er sie bei einem Wiedersehen nicht erkannte, nicht einmal, wenn er sie mehrmals traf, mit ihr sprach und mit ihr lachte?

Er trat ans Fenster und starrte hinaus in den grauen Morgen, während unten auf der Straße Droschken mit noch immer brennenden Laternen vorbeifuhren.

Sie mußte von seinem Gedächtnisverlust wissen.

Aber woher? Wer konnte ihr davon erzählt haben? Niemand wußte davon außer seinen engsten Freunden: Hester, Callandra, Oliver Rathbone und natürlich John Evan, der junge Polizist, der während jenes ersten schrecklichen Ereignisses nach dem Unfall so treu zu ihm gestanden hatte.

Warum haßte sie ihn so sehr, daß sie ihm so etwas antat? Es war kein plötzlicher Impuls gewesen. Sie hatte von Anfang an gelogen und einen Plan verfolgt, hatte ihn aufgespürt und mit ihrem Charme bezaubert, bevor sie ihn mit voller Absicht in eine Situation gebracht hatte, in der sie ihn anschuldigen konnte, ohne daß er die Möglichkeit hatte, sich zu verteidigen. Sie waren allein gewesen. Ihr Ruf hatte keinen Schaden gelitten; es war eine Situation, in die eine Frau geraten konnte, ohne daß irgend jemand ihr daraus einen Vorwurf machen würde. Er hätte sie auf eine unverzeihliche Weise belästigen können, und sie hatte Zeugen, zumindest für ihren schlimmen Zustand und ihre Flucht.

Wer würde seiner Darstellung der Dinge Glauben schenken? Niemand. Die Sache ergab überhaupt keinen Sinn. Er konnte es ja selbst kaum glauben. Er zog sich an und zwang sich, das Frühstück zu verzehren, das seine Vermieterin ihm brachte.

»Sie sehen aber gar nicht gut aus, Mr. Monk«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich hoffe doch sehr, Sie brüten mir nichts aus. Heiße Senfumschläge, hat meine selige Mutter immer gesagt. Hat darauf geschworen, wirklich. Jedenfalls sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie einen brauchen, ich mach' ihn dann für Sie.«

»Vielen Dank«, sagte er geistesabwesend. »Ich glaube, ich bin einfach nur müde. Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen.«

»Na, dann passen Sie mal gut auf sich auf.« Sie nickte. »Sie treiben sich in komischen Gegenden rum. Würde mich nicht überraschen, wenn Sie sich irgendwas Unangenehmes eingefangen hätten.«

Er murmelte eine nichtssagende Antwort, und sie machte sich daran, das Geschirr abzuräumen.

Es klopfte an der Tür, und Monk stand auf, um sie zu öffnen. Ein Schwall kalter Luft drang ins Haus. Das Tageslicht war fahl und grau.

»Brief für Sie, Mister«, sagte ein kleiner Junge, der unter einer übergroßen Mütze zu ihm auflächelte. »Für Mr. Monk. Das sind Sie doch, oder? Ich kenn' Sie nämlich. Hab' Sie schon mal gesehen.«

»Wer hat dir den Brief gegeben?« fragte Monk, der nach einem kurzen Blick auf den Umschlag festgestellt hatte, daß er die Handschrift nicht kannte. Es war eine elegante weibliche Schrift, und sie gehörte weder Hester noch Callandra, noch Genevieve Stonefield.

»Eine Dame in 'ner Kutsche, Chef. Den Namen kenn' ich nicht. Hat mir drei Pence dafür gegeben, Ihnen den Brief zu bringen.«

Sein Magen verkrampfte sich. Vielleicht beinhaltete dieser Brief irgendeine Erklärung? Er würde alles ins rechte Licht rücken. Das Ganze war ein Irrtum.

»Eine Dame mit blondem Haar und braunen Augen?« fragte er.

»Blonde Haare ja, aber auf die Augen hab' ich nicht gesehen.« Der Junge schüttelte den Kopf.

»Vielen Dank.« Monk riß den Brief auf. Er trug das Datum des heutigen Tages.

Mr. William Monk, ich habe nie unterstellt, daß Sie ein Gentleman sind, der mir gesellschaftlich ebenbürtig wäre, aber ich glaubte, Sie verfügten über ein Mindestmaß an Anstand, sonst hätte ich mich niemals bereit gefunden, auch nur eine Sekunde länger in Ihrer Gesellschaft zu verbringen, als die Regeln der Höflichkeit es verlangen. Ich fand Ihre Andersartigkeit amüsant, mehr nicht. Die Beschränkungen, welche die Gesellschaft mir auferlegt, langweilen mich, und die Regeln und Konventionen erdrücken mich. Sie haben mir einen unterhaltsamen Blick in eine andere Welt geboten. Ich kann nicht glauben, daß Sie meine Höflichkeit so gründlich mißverstanden haben, daß Sie der Vorstellung erlegen sind, ich könne unserer Bekanntschaft erlauben, sich zu etwas anderem zu entwickeln. Die einzige Erklärung für Ihr Benehmen liegt in Ihrer Mißachtung der Gefühle anderer Menschen und in Ihrer Bereitschaft, Menschen zu mißbrauchen, um Ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, ganz gleich, wie der andere es empfindet. Ich kann Ihnen das, was Sie mir angetan haben, niemals verzeihen, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, daß Sie bis auf den letzten Penny dafür bezahlen. Ich werde mich in dieser Sache auf das Gesetz berufen und, wenn es sein muß, auch auf die Gerichte, und ich werde darüber reden. Sie sollen bei jedem Atemzug, den Sie tun, wissen, daß ich Ihre Feindin bin, und Sie werden den Tag verfluchen, an dem Sie sich entschlossen haben, mich zu mißbrauchen, wie Sie es getan haben. Ein solcher Verrat wird immer seine Strafe finden, Drusilla Wyndham.

Er las den Brief noch einmal. Es war unglaublich. Aber auch nochmaliges Durchlesen änderte nichts an seinem Inhalt.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Mister?« fragte der Junge ängstlich.

»Ja«, log Monk. »Ja, vielen Dank.« Er suchte in seiner Tasche nach einer Münze und holte ein Drei-Pence-Stück heraus. Er wollte auf keinen Fall, daß sie mehr bezahlte als er.

Der Junge nahm die Münze dankend entgegen, änderte dann aber mit leicht gequälter Miene seine Meinung.

»Sie hat mir schon was gegeben.«

»Ich weiß«, sagte Monk und atmete tief durch, um sich ein wenig zu beruhigen. »Behalte es trotzdem.«

»Vielen Dank, Chef.« Und bevor sein Glück ihn verlassen konnte, drehte er sich um und lief die Straße hinunter; seine Stiefel klapperten munter über das kalte Pflaster.

Monk schloß die Tür und ging in sein Zimmer zurück. Seine Vermieterin war nicht mehr da. Er setzte sich, den Brief noch immer in Händen, obwohl er ihn nicht mehr beachtete.

Er konnte sich unmöglich auf den vergangenen Abend beziehen oder auf irgendein anderes Treffen während der letzten Woche. Sie konnte nur von einer Begegnung in der Vergangenheit sprechen.

Immer wieder liefen die Dinge darauf hinaus - auf seine Vergangenheit, diese große Lücke in seiner Erinnerung, die Dunkelheit, in der alles mögliche existieren konnte.

Sie hatte das Wort »Verrat« benutzt. Das bedeutete gleichzeitig auch Vertrauen. War er wirklich ein Mann, der so etwas tun konnte? Er hatte seit dem Unfall niemals einen Menschen verraten. Er zählte Ehrenhaftigkeit zu seinen Tugenden. Nicht ein einziges Mal hatte er sein Wort gebrochen. Er hätte sich niemals durch ein solches Verhalten selbst erniedrigt.

Konnte er sich so sehr verändert haben? Hatte der Schlag auf seinen Kopf nicht nur seine ganze Vergangenheit ausgelöscht, sondern auch sein Wesen verändert? War so etwas möglich?

Er ging im Zimmer auf und ab und versuchte an all das zu denken, was er sich von seiner Persönlichkeit vor dem Unfall zusammengereimt hatte, an die Bruchstücke seines Lebens, die ihm wieder eingefallen waren und Schlaglichter auf seine Kindheit im Norden, das Bild des Meeres, seine Gewalt und Schönheit geworfen hatten. Er erinnerte sich an seinen Eifer zu lernen, flüchtige Eindrücke; an ein Gesicht, ein Gefühl von Ungerechtigkeit und Verzweiflung, an den Mann, der sein Lehrer gewesen war und den man betrogen und ruiniert hatte, während Monk hilflos danebenstehen mußte. Nichts, was er tun konnte, hatte ihn gerettet. Das war der Zeitpunkt, an dem er seine Tätigkeit als Geschäftsmann aufgab und seine Arbeit im Polizeidienst begann.

Das war kein Mann, der andere verraten würde!

Bei der Polizei war er dann rasch aufgestiegen. Ein Dutzend Kleinigkeiten, die Gesichter von Menschen, wenn er sie wiedersah, halb erlauschte Bemerkungen hatten ihm einen Eindruck von seinem Charakter vermittelt: Er hatte eine scharfe Zunge gehabt, war kritisch und bisweilen rücksichtslos gewesen. Runcorn, sein ehemaliger Vorgesetzter, hatte ihn gehaßt, und nach und nach hatte er herausgefunden, daß dieser Haß durchaus berechtigt war. Monk hatte zu Runcorns Mißerfolgen und Fehlern seinen Beitrag geleistet, war ihm ständig in die Quere gekommen, auch wenn Runcorn sein Verhalten zum größten Teil sich selbst zuzuschreiben hatte, mit seinen kleinen Gemeinheiten und seinem persönlichen Ehrgeiz, den er auf Kosten anderer befriedigte.

War das auch eine Art von Verrat?

Nein. Es war grausam, aber es war nicht unehrlich. Verrat war zu guter Letzt immer eine Art Betrug.

Er wußte beinahe nichts über seine Beziehung zu Frauen. Die einzige Frau, an die er sich überhaupt erinnern konnte, war Hermione, von der er geglaubt hatte, daß er sie liebe, und in dieser Geschichte war er der Verlierer, der Betrogene gewesen. Es war Hermione, die nicht hielt, was sie versprach, sie, die zu oberflächlich war, um an der Liebe festzuhalten, die die Herausforderung scheute und statt dessen der Bequemlichkeit und Sicherheit den Vorzug gab. Er konnte noch immer das dumpfe Gefühl des Verlustes spüren, nachdem er sie wiedergefunden hatte, so voller Hoffnung, und dann die Desillusionierung, die totale Leere.

Aber er mußte Drusilla gekannt haben! Der Haß in ihrem Gesicht hatte irgendeinen schrecklichen Grund, seinen Ursprung in einer Beziehung, in der sie so sehr verletzt worden war, daß sie nicht davor zurückschreckte, diesen unglaublichen Schritt zu tun, um sich zu rächen.

Er hatte bereits alle Briefe und Rechnungen durchgesehen, die er finden konnte, als er damals nach dem Unfall nach Hause zurückkehrte, denn er wollte versuchen, das Gerüst seines Lebens zu rekonstruieren. Aber es war wenig genug gewesen. Er war sehr sorgsam mit seinem Geld umgegangen, aber extravagant, was sein Aussehen betraf. Seine Schneiderrechnungen waren sehr hoch, ebenso wie die seines Stiefelmachers, ja sogar seines Friseurs.

Er hatte keine persönlichen Briefe gefunden außer denen seiner Schwester Beth, und nicht einmal ihr schien er geantwortet zu haben. Jetzt sah er sämtliche Briefe noch einmal durch, aber es war nichts in derselben Handschrift darunter, in der Drusillas Brief geschrieben war. Allerdings enthielten diese Briefe ohnehin nichts Persönliches.

Er legte alles wieder zurück. Es war ein spärliches Ergebnis für ein ganzes Leben, das nichts über die Einzigartigkeit eines Menschen aussagte und keinen Eindruck von seinem Wesen und seiner Persönlichkeit vermittelte. Es mußte so vieles geben, das er nicht wußte und wahrscheinlich niemals wissen würde. Es mußte Liebe und Haß gegeben haben, Großzügigkeit, Verletzungen, Hoffnungen, Demütigungen und Triumphe. All das war ausgelöscht, als sei es nie geschehen.

Nur daß diese Dinge für andere Menschen immer noch existierten, klar und real und angefüllt mit all ihren Gefühlen, all ihrem Schmerz.

Wie konnte er eine Frau wie Drusilla mit ihrer Vitalität, ihrer Schönheit, ihrem Witz und ihrem Charme gekannt und dann einfach so völlig vergessen haben, daß er sich noch nicht einmal, nachdem er sie wiedergesehen hatte, nachdem er so glücklich mit ihr gewesen war, an sie erinnern konnte? Da war nichts Vertrautes. Sosehr er sich auch das Gehirn zermarterte, er fand keine Spur, nicht einmal das flüchtigste Aufblitzen einer Erinnerung.

Er starrte aus dem Fenster auf die Straße hinaus. Der Tag war immer noch grau, aber die Kutschenlampen brannten nicht mehr.

Es wäre eine Illusion zu glauben, daß sie ihre Drohungen nicht Wahrmachen würde. Natürlich konnte sie nichts beweisen, nichts war geschehen. Aber das spielte letztlich keine Rolle. Sie konnte Anklage gegen ihn erheben, und das würde ausreichen, um ihn zu ruinieren. Sein Lebensunterhalt hing von seinem Ruf ab, von dem Vertrauen, das andere in ihn setzten.

Andere Fähigkeiten hatte er nicht. Vielleicht wußte sie das? Was hatte er ihr angetan? Was für ein Mann war er - was für ein Mann war er gewesen?

Hester hatte nach wie vor Anteil an der Pflege Enid Ravensbrooks, die mittlerweile auf dem langen, beschwerlichen Weg der Genesung war, aber noch immer ständiger Aufmerksamkeit bedurfte, um keinen Rückfall zu erleiden.

Am selben Morgen, an dem Monk den Brief Drusillas erhalten hatte, war Hester aus dem Nothospital in Limehouse ins Haus der Ravensbrooks zurückgekehrt, müde und äußerst erschöpft. Ihr Körper schmerzte vom wenigen Schlaf, ihre Augen brannten, als hätte sie sich Sand oder Staub hineingerieben, und der Anblick, die Geräusche und Gerüche der Krankheit quälten sie von Tag zu Tag mehr. So viele Menschen waren gestorben, aber die wenigen, die sich erholt hatten, verliehen all der Plackerei doch einen Sinn. Und wie sehr Kristian sich auch bemühte, welche Argumente er dem Gemeinderat auch vortrug, es wurde nichts unternommen. Die Menschen hatten Angst vor der Krankheit, Angst vor den Kosten, die neue Abwasserkanäle mit sich bringen würden, Angst vor Veränderungen, vor neuen Erfindungen, die vielleicht nicht funktionierten, und vor alten, die bereits versagt hatten, und vor dem Tadel, der sie treffen würde, ganz gleich, was sie auch taten. Es war ein mühsamer Kampf, und er war so gut wie sicher zum Scheitern verurteilt. Aber weder er noch Callandra konnten aufgeben.

Hester hatte sie Tag für Tag dabei beobachtet, wie sie immer neue Argumente zusammentrugen und in die nächste Schlacht zogen. Jeden Abend kehrten sie besiegt zurück. Das einzig Gute daran war die Zuneigung, die sie füreinander empfanden, und selbst sie war von Schmerz gezeichnet. Nach dem Ende der Seuche würden sie sich wieder trennen und einander nur gelegentlich sehen, bei offiziellen Anlässen und vielleicht bei Vorstandstreffen des Krankenhauses, in dem Kristian arbeitete und Callandra freiwillig tätig war. Aber bei diesen Begegnungen würden sie nicht allein sein und keine Gelegenheit haben, über sich zu sprechen, und wahrscheinlich blieb das auch in Zukunft so.

Hester wurde vom Stubenmädchen in Empfang genommen und erfuhr, daß ein Abendessen für sie bereitstand, sofern sie dies wünschte, nachdem sie Lady Ravensbrook und Mrs. Stonefield aufgesucht hatte.

Sie bedankte sich bei dem Mädchen und ging die Treppe hinauf.

Enid saß gegen einen Stapel Kissen gelehnt im Bett. Sie sah ausgezehrt aus, als hätte sie seit Tagen nicht gegessen oder geschlafen. Ihre Augen lagen in dunklen Höhlen, und ihre Haut wirkte farblos und wie Pergament. Das Haar hing ihr in dünnen Strähnen auf die Schultern. Sie wirkte so zerbrechlich, daß man befürchtete, die Knochen würden die Haut durchbohren. Aber als sie Hester sah, lächelte sie.

»Wie kommen Sie im Krankenhaus zurecht?« fragte sie. Ihre Stimme war noch immer schwach, und man hatte den Eindruck, als gäbe ihr nur die ehrliche Anteilnahme an dem Geschehen im Hospital die Kraft zu sprechen. »Wird es denn überhaupt ein wenig besser? Wie geht es Callandra? Ist alles in Ordnung mit ihr? Und Mary? Und Kristian?«

Hester spürte, wie ein Teil ihrer Anspannung von ihr abfiel. Das Zimmer war warm und behaglich. Im Kamin brannte ein Feuer. Es war eine ganz andere Welt nach der Kälte und dem Schmutz des Hospitals, den tropfenden Kerzen und dem Geruch so vieler ungewaschener Körper.

Hester setzte sich auf die Bettkante.

»Callandra und Mary sind immer noch wohlauf, aber natürlich sehr müde«, erwiderte sie. »Und Kristian kämpft weiterhin mit dem Gemeinderat, aber ich glaube nicht, daß er auch nur einen Millimeter vorangekommen ist. Und ja, ich glaube, das Fieber läßt ein wenig nach. Auf alle Fälle gibt es weniger Tote. Heute haben wir zwei Leute nach Hause geschickt; beiden ging es gut genug, um das Krankenhaus zu verlassen.«

»Wer sind sie? Habe ich sie kennengelernt?«

»Ja«, sagte Hester mit einem breiten Lächeln. »Einer ist der kleine Junge, den Sie so gern hatten, der andere jemand, von dem Sie glaubten, er würde niemals überleben…«

»Es geht ihm gut?« fragte Enid erstaunt, und ihre Augen leuchteten auf. »Er hat sich wieder erholt?«

»Ja. Er ist heute nach Hause gegangen. Ich weiß nicht, was ihm die Kraft dazu gegeben hat, aber er hat überlebt.«

Enid ließ sich wieder in die Kissen zurückfallen, und in ihrem Gesicht stand eine große Freude, fast ein Strahlen. »Und wer ist der andere?« fragte sie.

»Eine Frau mit vier Kindern«, antwortete Hester. »Sie ist ebenfalls nach Hause zurückgekehrt. Aber wie geht es Ihnen? Das ist der Grund, weshalb ich hergekommen bin.«

Ihre Frage entsprang freundschaftlicher Besorgnis. Sie würde sich selbst ein Urteil bilden. Enids Zustand hatte sich deutlich gebessert. Ihre Augen waren klarer, ihre Temperatur wieder normal, aber das Fieber hatte sie sehr mitgenommen; sie sah aus, als wäre sie am Ende ihrer Kraft.

Enid lächelte. »Ich kann es kaum erwarten, mich noch besser zu fühlen«, gestand sie. »Ich hasse diese Schwäche. Ich kann ja kaum die Hände heben, um allein zu essen, ganz zu schweigen davon, mir mal wieder selbst die Haare zu kämmen. Es ist lächerlich. Ich liege nutzlos hier herum. Es gibt so viel zu tun, und ich verschlafe drei Viertel meines Lebens.«

»Das ist das Beste, was Sie tun können«, versicherte Hester ihr. »Kämpfen Sie nicht dagegen an. Das ist die Art und Weise, wie die Natur Sie heilt. Sie werden um so schneller genesen, wenn Sie sich ihr unterwerfen.«

Enid biß die Zähne zusammen. »Ich hasse jede Unterwerfung!«

»Militärische Taktik.« Hester beugte sich verschwörerisch vor. »Man darf niemals kämpfen, wenn man weiß, daß der Feind im Vorteil ist. Wählen Sie einen günstigen Zeitpunkt aus, und überlassen Sie's nicht dem Feind. Treten Sie jetzt den Rückzug an, und kommen Sie wieder, wenn der Vorteil auf Ihrer Seite ist.«

»Haben Sie schon jemals daran gedacht, Soldat zu werden?« fragte Enid mit einem Kichern, das in einem Hustenanfall mündete.

»Oft«, antwortete Hester. »Ich glaube, ich würde meine Sache besser machen als viele der Männer, die sich im Augenblick damit beschäftigen. Schlechter jedenfalls nicht.«

»Lassen Sie das nur nicht meinen Mann hören!« warnte Enid sie mit einem glücklichen Lächeln.

Genevieves Erscheinen enthob Hester der Antwort. Sie sah weniger gehetzt aus als bei ihrer letzten Begegnung, obwohl sie gewiß müde war. Hester wußte von Monk, daß es keine guten Neuigkeiten für sie gegeben hatte.

Sie begrüßten einander, und nachdem sie die notwendigen Informationen bezüglich Enids Zustand ausgetauscht hatten, verließen sie beide den Raum, um sich der Mahlzeit zu widmen, die man im Wohnzimmer der Haushälterin für sie bereitgestellt hatte.

»Das Fieber in Limehouse läßt eindeutig nach«, sagte Hester beiläufig. »Ich wünschte nur, wir könnten etwas tun, um zu verhindern, daß es erneut auftritt.«

»Was könnte man denn dagegen unternehmen?« wollte Genevieve stirnrunzelnd wissen. »So, wie die Menschen dort leben, muß es einfach immer wieder zu solchen Seuchen kommen.«

»Dann muß man die Art, wie sie leben, eben ändern«, erwiderte Hester.

Genevieve lächelte, und in ihrem Lächeln lagen Bitterkeit und eine Art von Abscheu, in dem jedoch auch eine Spur Mitleid sowie Zorn mitschwangen.

»Da hätten Sie mehr Glück, wenn Sie versuchen wollten, den Gezeitenwechsel zu verhindern.« Sie spießte ein Stück Fleisch von ihrer Pastete auf die Gabel und schob es sich in den Mund. Nachdem sie den Bissen hinuntergeschluckt hatte, begann sie von neuem zu sprechen. »Sie können die Menschen nicht verändern. Oh, vielleicht ein oder zwei, aber nicht Tausende. Sie leben seit Generationen so; nie ist genug zu essen da, das Brot ist voller Alaun, die Milch besteht zur Hälfte aus Wasser.« Sie stieß ein hartes Lachen aus. »Selbst der Tee wäre besser als Rattengift geeignet denn als Getränk für Menschen. Nur hart arbeitende Männer bekommen Dinge wie Schweinsfüße oder geräucherte Heringe vorgesetzt, der Rest der Familie muß ohne das auskommen. Niemand hat Obst oder Gemüse. Jeder Bewohner einer Straße, manchmal auch von zwei Straßen, muß sich mit Eimern am Brunnen in eine Schlange stellen, um Wasser zu bekommen, und die Hälfte der Brunnen ist von Abfallhaufen, Jauchegruben oder Abwasserkanälen verseucht. Selbst wenn sie nicht nur einen einzigen Eimer für jeden Zweck benutzen müßten!« Ihre Stimme klang wütend, verbittert und gequält. »Sie werden mit Krankheiten geboren, und sie sterben mit ihnen. Ein paar Abwasserrohre werden daran nichts ändern!«

»O doch, sie könnten sehr wohl etwas ändern«, sagte Hester langsam, obwohl Genevieves leidenschaftlicher Ausbruch sie verwirrte; seine Heftigkeit und der tiefe Ernst dahinter waren ihr ein Rätsel. »Die Probleme rühren nämlich von den Kanälen und den Gossen her.«

Genevieve lachte höhnisch. »Das ist doch dasselbe!«

»Nein, das ist es nicht!« entgegnete Hester und beugte sich über den Tisch. »Wenn es eine vernünftige wasserführende Kanalisation gäbe, dann…«

»Wasser?« In Genevieves Gesichtsausdruck lag gleichermaßen Erstaunen wie Entsetzen. »Dann würde es überall hinfließen!«

»Nein, das würde es nicht…«

»O doch! Ich habe das oft gesehen, wenn die Gezeiten wechseln oder nach einem schweren Regen. Dann steigt alles nach oben, die Abfallhaufen werden zusammen mit den Abwässern durch den Rinnstein gespült! Selbst wenn das Wasser dann wieder zurückweicht, türmen sich die Dinge, die es hinterläßt, in den Straßen! Man kann es nicht wegschaufeln!«

»Wo?« fragte Hester langsam, während ein unglaublicher Gedanke in ihrem Kopf Gestalt annahm, etwas Ungeheuerliches, das trotzdem, so verrückt und absurd es auch schien, wahr sein konnte.

»Was?« Eine brennende Röte überzog Genevieves Gesicht. Sie suchte verzweifelt nach Worten und fand keine. »Nun - vielleicht habe ich es nicht selbst gesehen. Ich hätte sagen sollen, daß ich davon gehört habe…« Sie senkte den Kopf, als wolle sie sich wieder ihrem Essen zuwenden, spielte aber nur damit herum und schob es mit ihrer Gabel von einer Seite des Tellers zur anderen.

»Caleb lebt in Limehouse, nicht wahr?« erinnerte Hester sich plötzlich.

»Ich glaube ja.« Genevieves Körper straffte sich, und die Hand, die die Gabel hielt, verharrte. »Warum? Ich habe ganz gewiß nichts von ihm gehört! Ich habe ihn nur ein oder zweimal getroffen. Ich kenne ihn kaum!« Die Furcht und das Entsetzen standen ihr ins Gesicht geschrieben, und ein Abscheu, der zu groß war, um ihn mit Worten ausdrücken zu können.

Hester fühlte sich beschämt, weil sie den Namen des Mannes ins Spiel gebracht hatte, der der anderen Frau so viel Leid gebracht hatte. Instinktiv legte sie ihre Hand auf die Genevieves.

»Es tut mir leid. Ich wünschte, ich hätte nicht von ihm gesprochen. Es gibt auch angenehmere Dinge, über die wir uns unterhalten können. Ich habe gestern, als ich das Haus verließ, Mr. Niven im Flur getroffen. Er scheint ein sehr sanftmütiger Mensch zu sein und ein guter Freund von Ihnen.«

Genevieve errötete. »Ja, das ist er«, gab sie zu. »Er hatte Angus sehr gern trotz des… des geschäftlichen Unglücks, das ihn getroffen hat. Er ist in Wirklichkeit ein sehr tüchtiger Mann, müssen Sie wissen. Er hat aus seinen übereilten Entscheidungen gelernt.«

»Das freut mich«, sagte Hester aufrichtig. Sie hatte Nivens Gesicht sofort gemocht und Genevieve schon seit langem ins Herz geschlossen. »Vielleicht findet er eine Stellung, in der er seine augenblickliche Situation verbessern kann.« Genevieve senkte den Blick. Sie wirkte verlegen, aber ihr Kinn verriet Entschlossenheit, und um ihren üppigen Mund lag ein Zug, der sowohl Zärtlichkeit als auch Kummer ausdrückte.

»Ich… ich denke darüber nach, ihm die Leitung meines Geschäftes anzubieten… das heißt… das heißt natürlich, sofern es mir gestattet ist.« Sie sah Hester an. »Sie müssen mich für sehr kalt halten. Bisher gibt es noch keinen Beweis für das, was meinem Mann zugestoßen ist, obwohl ich es in meinem Herzen bereits weiß. Und hier sitze ich und rede darüber, wen ich an seine Stelle setzen will.« Sie beugte sich vor und schob ihren noch immer vollen Teller beiseite. »Ich kann Angus nicht mehr helfen. Ich habe alles, was ich konnte, getan, um ihn davon abzuhalten, zu Caleb zu gehen, aber er wollte nicht auf mich hören. Jetzt muß ich an meine Kinder denken und daran, was aus ihnen werden wird. Die Welt wird nicht den Atem anhalten, während ich trauere.« Ihre Augen waren ruhig, und sie wich Hesters Blick nicht aus. Hester spürte etwas von der Kraft der anderen Frau, der Entschlossenheit, die sie zu dem gemacht hatte, was sie war, und die sie jetzt dazu trieb, um ihrer Kinder willen ihren eigenen Schmerz zu bezwingen.

Vielleicht lag etwas von ihrer Bewunderung in ihrer Miene, denn Genevieve gab ihre abweisende Haltung auf und lächelte ein wenig kläglich, zum Teil wohl auch über ihre eigene Torheit.

Genevieve schien ein zu strenger Name für eine solche Frau, die so erdverbunden, so lebhaft, so sehr sie selbst war. Im Lampenlicht konnte Hester den Schatten sehen, den ihre Wimpern auf ihre Wangen warfen, und die zarten Härchen auf der Haut. Hatte Angus sie Genny genannt?

Genny… Ginny?

War das die Lösung des Rätsels, die Erklärung für ihre scharfsichtige Beurteilung der Menschen in Limehouse und die schreckliche Angst vor Armut? War es die Vertrautheit mit diesen Zuständen, die ihre Entschlossenheit stärkte, um jeden Preis zu verhindern, daß ihre Kinder jemals die Kälte, den Hunger, die Angst und die Scham erleben sollten, die sie gekannt hatte? Der Schmutz und die Verzweiflung der Elendsviertel von Limehouse standen ihr noch deutlich vor Augen, und kein Luxus würde diese Erinnerung je auslöschen. Vielleicht war sie das Mädchen, von dem Mary gesprochen hatte, das Mädchen, das durch eine Heirat Limehouse entfliehen konnte.

»Ja«, sagte Hester leise. »Ja, ich verstehe. Ich bin sicher, Monk wird alles tun, was in seiner Macht steht, um Angus' Tod zu beweisen. Er ist ungeheuer klug. Wenn er es auf die eine Weise nicht schafft, wird er einen anderen Weg finden. Sie dürfen nicht verzweifeln.«

Genevieve sah sie an, und in ihren Augen standen Hoffnung und Neugier. »Kennen Sie ihn gut?«

Hester zögerte. Was sollte sie darauf antworten? Sie war nicht sicher, ob sie selbst die Antwort kannte, und sie war erst recht nicht bereit, sie anderen mitzuteilen. Was wußte sie denn schon von ihm? Die Bereiche, die sie nicht kannte, waren riesig wie dunkle Höhlen; vielleicht kannte nicht einmal er sie.

»Nur beruflich«, erwiderte sie mit einem gezwungenen Lächeln. Dann lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück, so daß Genevieve die Gefühle, die sich in ihrem Gesicht widerspiegelten, nicht entschlüsseln konnte. In ihren Gedanken tauchte plötzlich wieder die Erinnerung an jene wenigen Augenblicke in dem abgeschlossenen Raum in Edinburgh auf, die Erinnerung an das Gefühl, als seine Arme sie umfangen hielten, und an diesen einen leidenschaftlichen, herrlichen Kuß.

»Ich habe ihn während der Arbeit an anderen Fällen erlebt«, sprach sie eilig weiter, denn sie wußte, daß ihr Gesicht glühte. Konnte Genevieve erkennen, daß sie log? Wahrscheinlich ja.

»Sie dürfen die Hoffnung auf keinen Fall aufgeben.« Sie redete zuviel und versuchte deshalb, das Thema zu wechseln.

»Zumindest sieht es so aus, als hätte er die Wahrheit in Erfahrung gebracht. Jetzt wird er auch eine Möglichkeit finden, sie zu beweisen, zumindest so weit, daß die Behörden…« Sie hielt inne.

Genevieve lächelte. Sie sagte nichts, aber ihr Schweigen war beredt genug.

Hester hatte das Gefühl, in eine Falle gelockt worden zu sein, aber nicht von Genevieve, sondern von ihrer eigenen Unbesonnenheit.

»Sie kommen aus Limehouse, nicht wahr?« sagte sie leise und ließ es wie eine Tatsache klingen, nicht wie eine Anschuldigung. Halb und halb wußte sie, daß es ein Angriff war, mit dem sie versuchte, sich selbst zu verteidigen.

Genevieve errötete, aber ihre Augen, in denen keine Spur von Zorn lag, hielten Hesters Blick stand.

»Ja. Jetzt kommt es mir so vor, als sei das alles in einem anderen Leben passiert; der Unterschied war so groß, und es ist jetzt so viele Jahre her.« Sie rutschte auf ihrem Stuhl ein Stück nach vorn, und das Lampenlicht fiel ihr ins Gesicht und ließ den Ausdruck von Stärke darin dem einer deutlich sichtbaren Erleichterung weichen. »Aber ich lasse mich durch nichts und niemanden dorthin zurücktreiben. Meine Kinder werden dort nicht aufwachsen! Und ich werde nicht zulassen, daß Lord Ravensbrook für ihr Essen und ihre Kleidung aufkommt und ihnen vorschreibt, welche Art von Menschen sie werden sollen. Ich werde nicht zulassen, daß er sie an sich reißt, damit sie Angus' Platz einnehmen.«

»Würde er so etwas denn tun?« fragte Hester langsam, während sie in Gedanken Ravensbrooks dunkles, aristokratisches Gesicht mit all seiner Arroganz und all seinem Charme vor sich sah.

»Ich weiß es nicht«, gestand Genevieve. »Aber ich habe Angst davor. Ich fühle mich schrecklich allein ohne Angus. Er hat mich verstanden. Er wußte, wo ich herkam, und meine gelegentlichen Fehler haben ihn nicht gestört…«

Eine Welt voller Angst und Demütigung tat sich vor Hesters innerem Auge auf. Sie sah plötzlich vor sich, wie das Leben im Hause Ravensbrook für Genevieve sein würde, Tag und Nacht, wie sie bei jeder Mahlzeit beobachtet und schon bald kritisiert werden würde. Ravensbrook würde all die winzigen Fehler bemerken, jede noch so geringe Abweichung von der gesellschaftlichen Norm, den kleinsten Grammatikfehler, aber, was vielleicht noch schlimmer war, auch das Personal würde es bemerken, der aufmerksame Butler, die herablassende Haushälterin, die kichernden Hausmädchen. Nur Enid würde sich wahrscheinlich nichts daraus machen.

»Natürlich«, sagte sie mit echtem Gefühl. »Sie müssen ihr eigenes Zuhause behalten, Mrs…«

Ein energisches Klopfen an der Tür unterbrach sie, und die Haushälterin kam herein, mit grimmiger Miene und an ihrem Gürtel klimpernden Schlüsseln.

»Da ist eine Person, die Sie sprechen möchte, Miss Latterly«, sagte sie. »Sie sollten besser den Anrichteraum des Butlers benutzen. Mr. Dolman sagt, er habe nichts dagegen. Ich bitte um Verzeihung, Mrs. Stonefield.«

»Was für eine Art von Person?« erkundigte sich Hester.

Das Gesicht der Haushälterin veränderte sich nicht im mindesten, sie zuckte mit keiner Miene.

»Eine männliche Person, Miss Latterly. Alles weitere müssen Sie selbst herausfinden. Bitte beachten Sie, daß wir dem weiblichen Personal nicht gestatten, Verehrer zu haben, und das gilt auch für Sie, solange Sie hier wohnen, welche Aufgabe Ihnen hier auch immer zugewiesen ist.«

Hester war sprachlos. Aber Genevieve tat sich keinen Zwang an.

»Miss Latterly ist keine Dienerin, Mrs. Gibbons«, sagte sie scharf. »Sie ist eine berufstätige Frau, die, ohne eine Bezahlung dafür zu verlangen, ihre Zeit opfert, um Lady Ravensbrook zu pflegen, die vielleicht gestorben wäre, wenn Miss Latterly sich nicht um sie gekümmert hätte!«

»Wenn man Krankenpflege als Beruf bezeichnen kann«, erwiderte Mrs. Gibbons naserümpfend. »Und es ist der gütige Gott, der die Kranken heilt, nicht einer von uns, Mrs. Stonefield. Als gute Christin wissen Sie das sicher.«

Eine Reihe von Gedanken bezüglich der Tugenden guter Christinnen schossen Hester durch den Kopf, angefangen mit Barmherzigkeit, aber das war nicht der rechte Zeitpunkt, einen Streit vom Zaun zu brechen.

»Vielen Dank, daß Sie mich benachrichtigt haben, Mrs. Gibbons«, sagte sie und entblößte ihre Zähne zu einem verzerrten Lächeln. »Wie freundlich von Ihnen.« Dann nickte sie Genevieve noch kurz zu, erhob sich von ihrem Stuhl und verließ den Raum.

Der Anrichteraum des Butlers lag zwei Türen weiter auf dem Flur, und sie ging ohne anzuklopfen hinein.

Sie war erschrocken, als sie Monk vor sich sah, mit abgehärmtem und bleichem Gesicht, in dem eine solche Anspannung lag, wie sie sie seit dem Grey-Fall nicht mehr bei ihm gesehen hatte.

»Was ist passiert?« fragte sie und schloß die Tür hinter sich. Ihr Magen krampfte sich vor Angst zusammen. »Es kann nicht um Stonefield gehen, oder? Es… es ist doch nicht Callandra?« Die Angst raubte ihr fast die Sinne. »Ist Callandra etwas zugestoßen?«

»Nein!« Seine Stimme klang schrill. Er konnte sich nur mit Mühe beherrschen. »Nein«, wiederholte er ein wenig ruhiger. Seine Miene verriet einen Aufruhr der Gefühle, und es fiel ihm offensichtlich extrem schwer, diese in Worte zu fassen.

Sie unterdrückte ihre Ungeduld. Sie hatte schon früher Schock und Angst erlebt und kannte die Anzeichen. Um Monk in einen solchen Zustand zu bringen, mußte etwas wahrhaftig Schreckliches passiert sein.

»Setzen Sie sich, und erzählen Sie mir«, sagte sie sanft, »was geschehen ist.«

Zorn loderte in seinen Augen auf, erstarb dann wieder und machte abermals Angst Platz. Die bloße Tatsache, daß er keine scharfe Entgegnung parat hatte, erschreckte sie. Sie setzte sich auf den graubraunen, dick gepolsterten Stuhl und faltete ihre Hände unter der Schürze auf dem Schoß, so daß er nicht sehen konnte, wie ihre Finger sich verkrampften.

»Man hat mich beschuldigt, eine Frau vergewaltigt zu haben.« Er stieß die Worte zwischen seinen Zähnen hervor, ohne sie anzusehen.

»Und sind Sie schuldig?« fragte sie ruhig, denn sie kannte sowohl seinen Zorn wie auch seine körperliche Kraft. Sie hatte die Leiche des zu Tode Geprügelten auf dem Mecklenburg Square nicht vergessen, ebensowenig wie die Tatsache, daß Monk damals befürchtet hatte, die Tat selbst begangen zu haben.

Seine Augen weiteten sich, und er starrte sie voller Empörung an.

»Nein!« rief er. »Gott im Himmel, nein! Wie können Sie so etwas auch nur fragen?« Die Worte erstickten ihn schier. Er sah aus, als würde er ihr diese Frage niemals verzeihen. Er zitterte vor Wut, sein Körper war gestrafft, als stünde er kurz vor einem Gewaltausbruch, nur um eine Spannung zu lösen, die unerträglich wurde.

»Weil ich Sie kenne«, antwortete sie, obwohl sie langsam das Gefühl hatte, ihn vielleicht doch nicht so gut zu kennen. »Wenn jemand Sie nur genug in Rage gebracht hat, könnten Sie…«

»Eine Frau!« Die Worte schienen ihm die Kehle zuzuschnüren. »Einer Frau Gewalt antun? Mich ihr aufzwingen?«

Sie war verblüfft. Das war so absurd, daß es schon beinahe komisch war.

Nur daß er es offensichtlich ganz ernst meinte und wirklich Angst hatte. Eine solche Anklage konnte ihn ruinieren, das wußte sie nur allzugut, denn ihre eigene berufliche Existenz hing von einem tadellosen Ruf ab, und sie wußte, wie nah sie einmal daran gewesen war, diesen Ruf zu verlieren. Es war Monk gewesen, der für sie gekämpft hatte, der sich Tag und Nacht dafür eingesetzt hatte, ihre Unschuld zu beweisen.

»Das ist lächerlich«, sagte sie ernst. »Sie kann offensichtlich nichts beweisen, aber genauso offensichtlich können Sie nicht das Gegenteil beweisen, sonst wären Sie nicht hier. Wer ist sie, und was ist passiert? Ist sie jemand, den Sie irgendwann einmal zurückgewiesen haben? Oder hat sie einen anderen Grund für eine solche Anklage? Glauben Sie, sie erwartet ein Kind und braucht jemanden, dem sie die Schuld zuschieben kann?«

»Ich weiß es nicht.« Endlich nahm er Platz; er starrte den geflickten Teppich an. »Ich weiß nicht, warum sie es getan hat, nur daß sie es mit voller Absicht tat. Wir saßen in einem Hansom und fuhren nach Hause. Der Abend…« Er zögerte und hielt den Blick noch immer gesenkt. »Der Abend war recht erfreulich verlaufen, und wir hatten ein angenehmes Dinner. Plötzlich riß sie sich das Mieder ihres Kleides auf, starrte mich dann mit schier abgrundtiefem Haß an, schrie und warf sich aus der fahrenden Kutsche - vor den Augen einiger Leute, die gerade von einem Fest in der North Audley Street kamen!«

Sie spürte, wie seine Angst auch von ihr Besitz ergriff. In einem solchen Verhalten lag ein Hauch von Wahnsinn. Die Frau hatte nicht nur Monks Ruf riskiert, sondern auch ihren eigenen. Wie unschuldig sie auch zu sein behauptete, es würde Gerede geben, Spekulationen und böse Zungen, die nur allzu bereit waren, Unfreundliches über sie zu sagen.

»Wer ist sie?« fragte sie noch einmal.

»Drusilla Wyndham«, sagte er sehr leise.

Sie sagte nichts. In ihr regte sich eine Mischung seltsamer Gefühle - Erleichterung darüber, daß er Drusilla jetzt unmöglich lieben konnte und daß sie ihn in jeder Hinsicht verraten hatte, und Haß auf Drusilla aus ganz anderen Gründen als zuvor, denn jetzt war die Frau eine Bedrohung für ihn. Außerdem beunruhigten sie die Verletzungen, die Drusilla ihm zufügen konnte, und die Ungerechtigkeit des Ganzen machte sie wütend. Sie verspürte nicht die leiseste Neugier, was das Warum betraf.

»Wer ist sie?« fragte sie. »Ich meine, in gesellschaftlicher Hinsicht. Woher kommt sie?«

Er sah sie an, und zum erstenmal wich er ihrem Blick nicht aus.

»Ich weiß nicht mehr über sie, als ich ihrem Verhalten und ihrer Redeweise entnehmen konnte, was allerdings genug war. Aber warum ist das wichtig? Wer sie auch ist, sie kann mich mit dieser Sache ruinieren. Dazu braucht sie noch nicht einmal mit einem maßgeblichen Mitglied der Gesellschaft verwandt zu sein.« Die Ungeduld, weil sie diese Sache nicht zu begreifen schien, ließ seine Stimme lauter werden. »Jede Frau, die diese Anklage erhebt, außer vielleicht einer Dienerin oder Prostituierten…«

»Das weiß ich.« Sie fiel ihm genauso scharf ins Wort, wie er es vorher getan hatte, und hob die Hand, um ihre Worte zu unterstreichen. »Daran denke ich auch gar nicht, ich denke lediglich darüber nach, wie man gegen sie kämpfen kann. Man muß seinen Feind kennen!«

»Ich kann sie nicht bekämpfen!« Seine Stimme wurde vor Zorn laut. »Wenn sie vor Gericht geht, kann ich alles leugnen, aber nicht, wenn sie die Sache einfach mit Anspielungen und leisen, versteckten Worten angeht. Was schlagen Sie vor? Daß ich sie wegen Verleumdung verklage? Machen Sie sich nicht lächerlich! Selbst wenn ich das tun könnte, was nicht der Fall ist, würde es trotzdem meinen Ruf ruinieren. Schon allein die Tatsache, daß ich sie als Lügnerin bezeichne, würde die Sache verschlimmern.« Er sah aus wie ein Mann am Rand eines Abgrunds, der der Zerstörung seiner Existenz ins Auge blickte.

»Natürlich nicht«, sagte sie ruhig. »Wer ist Ihr Berater? Lord Cardigan?«

»Wovon zum Teufel reden Sie da?«

»Vom Angriff der leichten Kavallerie«, antwortete sie bitter. Sie sah einen Schimmer von Begreifen in seinem Gesicht aufdämmern.

»Also, was schlagen Sie vor?« fragte er, noch immer hoffnungslos.

»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte sie, während sie sich von ihrem Stuhl erhob und an das schmale Fenster trat. »Aber ganz bestimmt keinen Frontalangriff auf die befestigten Stellungen des Feindes. Wenn er sich auf der Höhe verschanzt hat und uns von dort aus mit seinen Geschützen bedroht, dann müssen wir ihn entweder dort herauslocken oder uns auf irgendwelchen Umwegen an seine Stellungen heranmachen.«

»Hören Sie auf, Soldat zu spielen«, sagte er leise. »Nur weil Sie auf der Krim Verletzte gepflegt haben, heißt das nicht, daß Sie auch nur den leisesten Schimmer von Kriegführung haben.«

»O doch, genau das bedeutet es!« sagte sie und fuhr zu ihm herum. »Das erste, was man verdammt noch mal über die Kriegführung lernt, ist, daß Soldaten dabei getötet werden. Fragen Sie jeden, der dabeigewesen ist! Natürlich abgesehen von diesen verfluchten inkompetenten Generälen.«

Er mußte lächeln, aber in seinem Lächeln lag nichts als Galgenhumor.

»Was für eine charmante Frau Sie doch sind. Was also schlagen Sie in diesem ganz speziellen Krieg vor? Soll ich sie erschießen, sie belagern, ihr Wasser vergiften oder darauf warten, daß der Winter mit seiner Eiseskälte ihr den Garaus macht? Oder soll ich hoffen daß sie sich mit Typhus ansteckt?«

»Verlassen Sie sich auf eine andere Frau«, antwortete sie und wünschte noch in dem Augenblick, als sie die Worte aussprach, daß sie es nicht getan hätte. Sie hatte keine Pläne, keine Ideen, nur die Entschlossenheit zu siegen.

Er sah sie verwirrt an. »Eine andere Frau? Zu welchem Zweck? Wen meinen Sie?«

»Mich natürlich, Sie Narr!« gab sie zurück. »Sie haben nicht die leiseste Ahnung von Frauen oder davon, wie sie denken. Das hatten Sie noch nie. Offensichtlich haßt Drusilla Sie. Wie haben Sie sie kennengelernt?«

»Ich habe sie auf der Treppe der Geographischen Gesellschaft beinahe umgerannt. Oder vielleicht war es auch umgekehrt.«

»Sie glauben, sie hat die Sache so eingefädelt?« fragte sie ohne große Überraschung. Frauen taten solche Dinge viel öfter, als den meisten Männern klar war.

»Jetzt glaube ich es. Damals nicht.« Eine bittere Belustigung leuchtete für einen Moment in seinen Augen auf. »Sie muß sehr überrascht gewesen sein, als ich sie nicht sofort erkannte. Sie hat mich einige Minuten lang in ein Gespräch verwickelt. Wahrscheinlich hat sie darauf gewartet, daß ich mich an sie erinnere, und dann schließlich begriffen, daß ich es nicht tun würde.«

»Sie erinnern sich an gar nichts?« drängte Hester. »Auch kein vager, flüchtiger Eindruck?«

»Nein! Natürlich erinnere ich mich an nichts, sonst hätte ich es gesagt. Ich habe alles in Erwägung gezogen, was mir eingefallen ist, aber ich erinnere mich an gar nichts, was sie betrifft. An rein gar nichts.«

Sie hatte für einen kurzen Moment Einblick in seine Gefühle die absolute Hilflosigkeit, die Schatten und das sekundenschnelle Aufblitzen von Grausamkeiten in seiner Erinnerung und die Ängste die ihn immer begleiten würden. Dann war der Augenblick vorüber. Alles, was sie empfand, waren Zärtlichkeit und die Entschlossenheit, ihn zu beschützen, koste es, was es wolle.

»Es spielt ohnehin keine Rolle«, sagte sie. Dann trat sie zu ihm, berührte ganz sanft seinen Kopf, nur ihre Finger in seinem Haar und nur eine Sekunde lang. »Sie ist es, die uns jetzt interessieren muß. Ich werde mir etwas einfallen lassen, wie wir uns wehren können. Keine Angst. Kommen Sie ihr auf gar keinen Fall noch einmal in die Nähe. Suchen Sie weiter nach Angus Stonefield.«

»Zumindest werde ich da unten in dem Schlamm um die Isle of Dogs herum wohl kaum einem rachsüchtigen Mitglied der besseren Gesellschaft über den Weg laufen!« sagte er finster.

»Eine Vergewaltigung würde mich bei den Einheimischen dort wahrscheinlich nur noch glaubwürdiger machen.«

»Ich würde die Sache nur zur Sprache bringen, wenn Sie vorhaben, dortzubleiben«, erwiderte sie spitz und wandte sich zum Gehen. »In der Zwischenzeit halten Sie Ihr Pulver trocken, und seien Sie auf der Hut.«

Er salutierte sarkastisch. »Jawohl, General, Sir!«

Als er das Haus der Ravensbrooks verließ, fühlte Monk sich schon ein wenig besser. Der Zorn kochte zwar noch in ihm, und die Angst war auch noch vorhanden. Nichts hatte sich verändert. Aber er stand nicht mehr allein da.

Er ging den Fußweg entlang, ignorierte die Leute, die an ihm vorbeiliefen, und konnte es nur mit Mühe verhindern, jemanden anzurempeln. Selbst den mit Ruß durchmischten Regen, der ihm ins Gesicht schlug, nahm er kaum wahr. Er würde herausfinden, wo Caleb seinen Bruder ermordet hatte. Er würde vielleicht keine Leiche finden, aber er würde seinen Tod beweisen, und er würde Caleb dafür hängen sehen. Irgendwo gab es einen Beweis, einen Zeugen, eine Verkettung von Ereignissen, die Caleb ans Messer liefern würden. Es lag an Monk, hartnäckig zu bleiben, bis er etwas gefunden hatte - was immer es war und was immer es kostete, es zu enthüllen.

Es war bereits Mittag, als er die Isle of Dogs erreichte und abermals das Haus in der Manila Street aufsuchte, um mit Selina zu sprechen. Zuerst weigerte sie sich, ihn einzulassen. Sie sah eingeschüchtert aus, und er vermutete, daß es nicht so lange her war, seit Caleb sich von ihr verabschiedet hatte. Ihr Schweigen war eine Mischung aus Loyalität und Angst. Die Angst zumindest schien wohlbegründet.

Er stand ihr in dem kleinen, kalten, sauberen Zimmer gegenüber.

»Er hat Angus getötet, und ich werde es beweisen«, sagte er mit brutaler Offenheit. »Auf die eine oder andere Weise werde ich ihn dafür baumeln sehen. Ob Sie mir dabei helfen oder ob Sie mit ihm baumeln, das liegt ganz an Ihnen.«

Sie sagte nichts. Sie sah ihn trotzig an, den Kopf arrogant zur Seite geneigt, eine Hand in die Hüfte gestützt, als wäre sie sich ihrer selbst sehr sicher. Aber er sah, daß ihre Knöchel weiß waren, und konnte die Angst aus ihrer Stimme heraushören.

»Sie halten ihn für ein gefährliches Schwein«, sagte er grimmig. »Wenn Sie erst richtig mit mir aneinandergeraten sind, wird er Ihnen wie der Inbegriff eines zivilisierten Menschen erscheinen.«

»Es ist sein Leben«, erwiderte sie voller Verachtung, während sie Monk von oben bis unten musterte, den prächtig geschnittenen Mantel und die blankpolierten Stiefel. »Sie wissen nicht einmal, was das ist, ein gefährlicher Mann.«

»Glauben Sie mir, ich habe selbst kaum etwas zu verlieren«, sagte er leidenschaftlich.

Sie starrte ihn an, schaute in seine Augen, und langsam veränderten sich ihre Züge. Sie erhaschte einen Blick auf den Zorn und die Verzweiflung in ihm, und die Verachtung erstarb.

»Ich weiß nicht, wo er ist«, sagte sie leise.

»Das habe ich auch nicht erwartet. Ich will wissen, wo er sich mit Angus getroffen hat; ich will, daß Sie mir jeden Ort nennen, von dem Sie wissen, daß die beiden ihn zusammen besucht haben oder haben könnten. Er hat Angus ermordet. Irgendwo ist irgend jemand, der etwas darüber weiß.«

»Aber niemand wird Ihnen etwas verraten!« Wieder hob sie mit einer Mischung aus Trotz und Stolz das Kinn.

»O doch.« Er lachte bitter. »Was auch immer Caleb den Leuten antun könnte, das lange Warten der letzten Nacht, und dann um acht Uhr morgens der Gang zum Seil des Henkers sind schlimmer.«

Sie stieß einen wilden Fluch aus, und der Haß in ihren Augen erinnerte ihn an Drusilla. Und er ließ jedes Mitleid, das er sonst vielleicht für sie empfunden hätte, ersterben.

»Wo haben sie sich getroffen?« fragte er noch einmal. Schweigen.

»Haben Sie schon einmal die Leiche eines Gehängten gesehen?« Er warf einen vielsagenden Blick auf ihren schlanken Hals.

»Im Artichoke, in der Nähe der Blackwall Stairs. Aber das wird Ihnen nichts nützen. Die Leute dort werden Ihnen nichts erzählen. Ich hoffe, Sie verrotten in der Hölle. Ich hoffe, die Leute da ertränken Sie in einer Jauchegrube und verfüttern Ihre Leiche an die Ratten.«

»Ist es das, was er mit Angus gemacht hat?«

»Mein Gott, ich weiß es nicht!« Aber unter der Schminke war ihr Gesicht sehr blaß, und in ihren Augen stand blankes Entsetzen. »Und jetzt raus hier.«

Monk ging wieder die Manila Street entlang und wandte sich dann nach Osten. Es regnete immer noch.

Der Wirt des Artichoke brachte ihm ein Stück Aalpastete und ein Glas Bier, betrachtete ihn aber voller Argwohn. Männer, die sich so kleideten wie Monk, pflegten solche Tavernen nicht aufzusuchen, aber Geld war Geld, und er nahm es, ohne zu zögern.

Nachdem Monk gegessen hatte, begann er seine Fragen zu stellen, höflich zuerst, aber schließlich mit einem drohenden Unterton in der Stimme. Er brachte nur eine Tatsache in Erfahrung, die sich - wenn es denn eine war - als nützlich erweisen konnte, und selbst sie war ihm nicht direkt, sondern nur als Nebensatz einer ausgiebigeren Beleidigung zuteil geworden. Aber so etwas hatte ihn schon viele Male auf den richtigen Weg gebracht. Ein wütender Mann verriet mehr, als er glaubte. Dem Wirt entschlüpfte die Bemerkung, daß Caleb verschiedene Freunde habe, sei es aus Sympathie oder weil man sich gegenseitig nützlich sein konnte, und einer dieser Freunde, ein weiterer gefährlicher und raffgieriger Mann, besaß einen Lagerplatz hinter Cold Harbour, direkt am Viehkai. Anscheinend war er ein guter Freund von Caleb, einer, dem dieser vertrauen konnte und der dem Wirt zufolge jedes Unrecht rächen würde, das Leute wie Monk Caleb zufügten.

Eine Viertelstunde später stand Monk wieder direkt am Flußufer, in der Nähe von Cold Harbour. Der Fluß jagte grau und schnell dahin und trug Schiffe, Kähne und alle möglichen Abfälle mit der auslaufenden Flut aufs Meer hinaus. Eine tote Ratte trieb vorbei und nach ihr ein halbes Dutzend verrotteter Holzlatten. Der Geruch nach Abwässern stieg ihm in die Nase. Ein halb aufgetakelter Klipper schaukelte majestätisch aus dem Hafen in Richtung offenes Meer.

Es war nicht schwer, den Hafen zu finden, aber auch dieser konnte nur als Ausgangspunkt dienen. Wenn Caleb von Anfang an vorgehabt hatte, seinen Bruder zu ermorden, hätte er sich dafür einen weniger belebten Ort ausgesucht. Er wäre kaum das Risiko eingegangen, daß jemand seine Tat beobachtete. Es gab viel zu viele Menschen am Fluß, die jede Möglichkeit, Caleb Stone zu ruinieren, nur allzu bereitwillig genutzt hätten.

Und wenn die Tat auf einen Streit folgte, der außer Kontrolle geraten war, dann mußte er ebenfalls irgendwo hingegangen sein, wo niemand ihn sehen konnte, um nachzudenken, wie er die Leiche beseitigen sollte. Sie einfach in den Fluß zu werfen, wäre ein zu großes Risiko gewesen, vor allem tagsüber. Die Leiche mußte beschwert und in der Mitte des Flusses versenkt werden. Noch besser wäre es gewesen, sie nach Limehouse zu bringen und als Typhusopfer zu begraben. Und all das brauchte Zeit.

Es hätte wenig Zweck gehabt, die Sache direkt anzugehen. Monk stellte den Kragen seines Mantels noch höher und ging am Hafen entlang. Er fand alle möglichen Leute dort vor, Arbeiter, Obdachlose und die Hungrigen und Frierenden, die Faulen oder Kranken, die sich in Hauseingängen zusammenkauerten und unter Säcken oder Segeltuch Zuflucht vor der Kälte suchten. Er befragte sie alle. Er ging von einem Ende Cold Harbours zum anderen und dann über die Brücke über das Blackwall Bassin zur Treppe und hinunter ans Wasser.

Von dort aus schlenderte er langsam flußabwärts, bahnte sich seinen Weg über schlüpfrige Steine und nasse Planken, über verrottende Dachschindeln, über Stapelplätze zum Verladen und Löschen von Fracht. Er sah die unterschiedlichste, hochaufgetürmte Handelsware und Berge von Fisch. Er stieg Treppen hinauf und hinunter, überquerte Landungsbrücken, die über dunkles, stilles Wasser zu einem Dutzend größerer oder kleinerer Schiffsbauplätze und Docks führten. Und überall waren dieser Gestank, der Klang tropfenden, gurgelnden Wassers und das Knirschen von Planken und bis zum Zerreißen gespannten Seilen.

Bei Dämmerungseinbruch war er erschöpft, wütend und durchgefroren bis auf die Knochen, aber er weigerte sich aufzugeben. Irgendwo hier in der Nähe hatte Caleb Angus getötet. Irgend jemand hatte sie bei ihrem Streit beobachtet oder belauscht, hatte laute Stimmen gehört, einen Aufschrei aus Zorn oder Schmerz, und dann Caleb gesehen, wie er die Leiche wegtrug. Vielleicht war Blut geflossen, oder es hatte eine Waffe gegeben. Die beiden Männer hatten die gleiche Größe, den gleichen Körperbau. Wenn es zu einem Kampf gekommen war, mußten sie einander ziemlich ebenbürtig gewesen sein, selbst wenn man an ihre unterschiedlichen Lebensbedingungen dachte. Was Angus an körperlicher Betätigung und an Übung im Faustkampf fehlte, konnte er vielleicht zum Teil durch eine bessere Ernährung und Gesundheit ausgleichen.

Monk aß diesmal in einer anderen Taverne zu Abend und machte sich dann in der Dunkelheit wieder auf den Weg. Es hatte aufgehört zu regnen, war aber noch kälter geworden. Über dem Fluß stieg Nebel auf, der in dünnen Schwaden über die Straßen Zog und die wenigen Laternen noch verdüsterte. Das Klagen der Nebelhörner driftete körperlos von den Lastkähnen über das Wasser. An der Ecke Robin Hood Lane und East India Dock Road wärmten sich zwei Männer an einem Kohlenfeuer, über dem sie Kastanien rösteten.

Das Feuer lockte auch Monk an, denn es bot eine gewisse Zuflucht vor der schneidenden Kälte. Es bedeutete menschliche Gesellschaft und war ein Licht in der alles umschließenden Dunkelheit.

Als er näher kam, sah er, daß einer der Männer eine alte Matrosenjacke trug, die ihm an den Schultern zu eng war, aber wenigstens den Regen abhielt. Der andere hatte etwas an, das Monk auf den ersten Blick für einen maßgeschneiderten Gehrock gehalten hätte, wäre so etwas an diesem Ort nicht völlig absurd gewesen. Und noch während er das Kleidungsstück genauer in Augenschein nahm, sah er, daß es schlaff, ja sogar formlos an dem Mann herunterhing. Als dieser sich bewegte, um das Feuer zu schüren, wurde sichtbar, daß der Rock so übel zerrissen war, daß er an den Seiten offenstand, und unter einer Schulter befand sich ein Flicken, der viel dunkler aussah als der übrige Stoff. Die Jacke schien naß zu sein. Armer Teufel. Monk fror schon in seinem dicken Wollmantel mehr als genug.

»Zwei Pence für ein paar Kastanien«, sagte er barsch. Er wollte nicht allzu deutlich als Fremder erkannt werden.

Der Mann in dem Rock streckte wortlos die Hand aus. Monk legte zwei Pence hinein.

Daraufhin holte der Mann fachmännisch ein Dutzend Kastanien aus dem Feuer und beförderte sie in die Asche am Rand, damit sie ein wenig abkühlten. Sein Rock war gut geschnitten. Die Aufschläge saßen perfekt, der Rand des Kragens war von einem Schneider, der sich auf sein Handwerk verstand, abgesteppt worden. Monk kannte sich in diesem Metier aus. Der Rock war für einen Mann von Monks Größe und Schulterumfang angefertigt worden.

Angus Stonefield?

Er warf einen Blick auf die Hosen des Mannes. Im Licht des Kohleofens konnte man kaum etwas erkennen, aber er hatte den Eindruck, daß sie zum Rock paßten.

Ihm kam ein ungeheuerlicher Gedanke. Es war ein verzweifelter Versuch. »Ich möchte die Kleider mit Ihnen tauschen. Für eine Guinee!«

»Was?« Der Mann starrte ihn an, als könne er seinen Ohren nicht trauen. Auf den ersten Blick war die Sache natürlich lächerlich. Monk hatte sich, seit er das Haus Ravensbrook verlassen hatte, nicht umgezogen. Sein Mantel hatte ihn mehrere Pfund gekostet. Er konnte es sich nicht leisten, einen neuen zu kaufen. Aber wenn Drusilla ihre Pläne in die Tat umsetzte, würde er am Ende ohnehin nicht besser dastehen als dieser Unglückliche hier. Zumindest hätte er dann jedoch die Befriedigung, vorher noch Caleb Stone gefaßt zu haben. Damit wäre wenigstens der Gerechtigkeit Genüge getan!

»Mein Mantel für Ihre Jacke und Ihre Hose«, wiederholte er. Der Mann erwog das Für und Wider. »Und Ihren Hut«, feilschte er.

»Der Mantel oder gar nichts!« fuhr Monk ihn an.

»Was soll ich denn ohne Hosen machen?« fragte der Mann.

»So was ist unanständig!«

»Meine Jacke und meine Hose gegen Ihre, und ich behalte den Mantel«, lenkte Monk ein. »Und den Hut.« Das war sowieso ein besseres Geschäft. Er hatte noch mehr Anzüge.

»Zeigen Sie.« Der Mann wollte sehen, worauf er sich einließ. Monk öffnete seinen Mantel, damit der andere seinen Anzug beurteilen konnte.

»Gemacht!« sagte er sofort. »Sie sind verrückt, jawohl, aber abgemacht ist abgemacht.«

Daraufhin tauschten sie in der nebelverschleierten Dunkelheit neben dem Kohleofen feierlich ihre Kleider, wobei Monk seinen Mantel keinen Augenblick aus der Hand legte, nur für den Fall, daß dem anderen Mann plötzlich die Idee kam, ihn zu stehlen.

»Blöd«, wiederholte der Mann, als er Monks warme Jacke anzog. Sie war zu groß, aber immer noch sehr viel besser als das zerfetzte Kleidungsstück, von dem er sich gerade getrennt hatte.

Monk zog seinen Mantel wieder an, nickte dem zweiten Mann zu, der die ganze Sache ungläubig beobachtet hatte, als litte er an Halluzinationen, drehte sich dann um und ging zurück über die East India Dock Road, um irgendwo einen Hansom zu finden und nach Hause zu fahren.

Als Monk am nächsten Morgen erwachte, drehte sich alles vor seinen Augen, und sein Körper fühlte sich steif und durchgefroren an, aber er hatte auch das Gefühl, daß er endlich etwas erreichen würde. Als er dann aus dem Bett stieg und niesen mußte, erinnerte er sich wieder an Brasilia, und alle Freude strömte aus ihm heraus, als hätte er eine Ader geöffnet.

Er wusch, rasierte und zog sich an, bevor er sich mit den Kleidungsstücken beschäftigte, die er am vergangenen Abend eingetauscht hatte. Seine Vermieterin brachte ihm das Frühstück, und er aß es, ohne etwas davon zu schmecken. Fünf Minuten später konnte er sich nicht einmal mehr daran erinnern, was es gewesen war.

Schließlich nahm er die Kleider zur Hand, zuerst die Jacke, die er in dem kalten Tageslicht in der Nähe des Fensters untersuchte. Sie war aus einem schönen Wollstoff und von unverwechselbarer Webart, auf althergebrachte, aber sehr ansprechende Art geschnitten, ohne Zugeständnisse an die derzeitige Mode und von einfacher Qualität. In den Saum war der Name des Schneiders gestickt. Als Beweis jedoch noch wichtiger war die Tatsache, daß die Seiten aufgeschlitzt waren, als hätte jemand ein Messer dazu benutzt. Etwa zehn Zoll unterhalb der linken Schulter, also ungefähr da, wo das Herz saß, befand sich ein vier Zoll breiter Fleck - allerdings am Rücken des Kleidungsstücks. Außerdem entdeckte Monk einen kleinen Riß am rechten Ellbogen, nicht mehr als einen Zoll lang, und eine abgeschabte Stelle am rechten Unterarm, wo mehrere Fäden aus dem Gewebe gezogen waren. Wer immer die Jacke auch getragen hatte, war in einen ernsthaften Kampf verwickelt gewesen, einen Kampf mit möglicherweise tödlichem Ausgang.

Und wie er schon am Abend zuvor bemerkt hatte, paßte die Hose genau zu der Jacke. Sie war an einem Knie aufgerissen, und beide Hosenbeine wurden von Zugfäden und Schmutzflecken verunstaltet. Der Taillenbund war im Rücken blutdurchtränkt.

Er hatte nur eine Möglichkeit. Er mußte die Kleidungsstücke Genevieve Stonefield zeigen. Ohne ihre Identifikation wären sie als Beweis nutzlos. Der Gedanke, sie einer solchen Qual auszusetzen, war ihm schrecklich, aber er hatte keine andere Wahl. Er konnte sie nicht davor bewahren. Und falls jemand die Leiche finden sollte, würde er ihr auch das nicht ersparen können.

Kein Mensch sollte einer solchen Prüfung allein ausgesetzt werden. Es sollte jemand dasein, der sie stützen konnte, der ihr zumindest äußerlichen Beistand leistete. Einen Trost, der die Grausamkeit der Wahrheit abmilderte, gab es nicht.

Aber wen konnte er darum bitten? Hester hatte mit den Typhuskranken zu viel zu tun, und dasselbe galt für Callandra. Enid Ravensbrock war immer noch zu krank. Lord Ravensbrook mochte sie nicht besonders, oder vielleicht hatte sie auch einfach Angst vor ihm. Arbuthnot war ein Angestellter und noch dazu einer, dem sie in Kürze Anweisungen bezüglich des Geschäfts würde geben müssen.

Damit blieb nur noch Titus Niven. Monk hatte vor einiger Zeit zwar einen bösen Verdacht gegen ihn gehegt, aber er wußte nichts, was wirklich gegen ihn sprach. Der Mann war freundlich, zurückhaltend und selbst zu vertraut mit seelischem Schmerz, um ihm mit Unfreundlichkeit zu begegnen. Es würde Titus Niven sein müssen. Und wenn er Mitschuld an Angus' Tod gehabt hatte, dann wäre die feine Ironie des Ganzen nur ein weiterer Mosaikstein in dieser Tragödie.

Er rollte die Kleider zu einem Bündel zusammen, schob sie in eine Reisetasche und machte sich auf den Weg.

Niven war zu Hause und empfing ihn sehr höflich, aber ohne seine Überraschung zu verbergen. Er trug dieselben elegant geschnittenen, aber ein wenig schäbigen Kleider, und im Kamin brannte, wie schon bei Monks letztem Besuch, auch diesmal kein Feuer. In dem Raum war es bitter kalt. Niven schien verlegen zu sein, entschuldigte sich aber nicht für die Zimmertemperatur. Er bot Monk heißen Kaffee an, ein Luxus, den er sich nicht leisten konnte, wie Monk sehr wohl wußte - weder den Kaffee selbst noch das Gas, um das Wasser zu erwärmen.

»Vielen Dank, aber ich habe gerade erst mein Frühstück beendet«, lehnte Monk ab. »Außerdem komme ich in einer Sache zu Ihnen, die jede Erfrischung schal erscheinen lassen würde. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir helfen könnten, diese Sache Mrs. Stonefield mit größtmöglicher Schonung beizubringen, und ich bitte Sie, ihr jeden Trost zu spenden, den Sie zu bieten haben.«

Niven erbleichte. »Sie haben Angus' Leiche gefunden?«

»Nein, aber ich glaube, seine Kleider. Ich brauche Mrs. Stonefields Hilfe, um sie zu identifizieren.«

»Ist das nötig?« Nivens Stimme klang erstickt, und seine Augen flehten Monk an.

»Ich würde nicht darum bitten, wenn es nicht nötig wäre«, antwortete Monk freundlich. »Ich glaube, es sind seine Kleider, aber ich kann die Sache nicht der Polizei vorlegen, wenn ich vorher nicht jeden Zweifel ausgeräumt habe. Sie ist die einzige, deren Wort man bei der Polizei akzeptieren würde.«

»Der Kammerdiener?« fragte Niven mit schwacher Stimme und biß sich dann auf die Lippen. Vielleicht wußte er bereits, daß Genevieve sämtliche Dienstboten bis auf die Kinderfrau und das Hausmädchen entlassen hatte, so sicher war sie sich in ihrem Herzen, daß Angus nie mehr zurückkehren würde. »Ja… ja, ich nehme an, Sie haben recht«, pflichtete er Monk bei. »Möchten Sie, daß ich jetzt gleich mit Ihnen komme?«

»Wenn Sie so freundlich wären, ja. Sie sollte nicht allein sein, wenn ich diese Sache mit ihr bespreche.«

»Dürfte ich die Kleidungsstücke sehen? Ich habe Angus gut gekannt. Wenn sie nicht sehr neu sind, erkenne ich sie vielleicht wieder. Zumindest weiß ich über seinen Geschmack und seinen Stil Bescheid.«

»Und kennen Sie auch den Namen seines Schneiders?« fragte Monk.

»Ja. Mr. Wicklow von Wicklow & Harper.«

Das war der Name in dem Anzug, den Monk gestern abend auf seinem Heimweg von der East India Dock Road getragen hatte. Kleider eines Toten. Er nickte, preßte die Lippen zusammen, holte das Kleiderbündel aus seiner Tasche und rollte es auf. Nivens Gesicht war aschfahl. Er sah das Blut, die Schmutz und Wasserflecken und den zerfetzten, eingerissenen Stoff. Er schluckte krampfhaft und nickte dann. Schließlich blickte er zu Monk auf, und der Ausdruck in seinen blauen Augen war ruhig und voller Entsetzen.

»Ich hole meinen Mantel.« Dann wandte er sich ab. Monk bemerkte, daß seine Hände ganz leicht zitterten, und die Haltung seiner Schultern war starr, als koste es ihn große Kraft, sich zu beherrschen und ruhig zu bleiben.

Sie nahmen einen Hansom und fuhren schweigend ihrem Ziel entgegen. Es gab nichts zu sagen, und keiner von ihnen versuchte, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Monk stellte fest, daß er mit einer fast an ein Gebet grenzender Intensität hoffte, daß Niven keinen Anteil an Angus' Tod gehabt hatte. Je besser er den Mann kennenlernte, um so mehr mochte und bewunderte er ihn.

Vor Genevieves Haus stiegen sie aus, baten den Kutscher jedoch zu warten. Sie war vielleicht bei den Ravensbrooks, und in diesem Fall würden sie ihr dorthin folgen und sie sehr wahrscheinlich gleich darauf nach Hause bringen müssen.

Dies erwies sich jedoch als unnötig. Das Hausmädchen, das die Tür öffnete, erklärte, daß Mrs. Stonefield zu Hause sei, und als sie Niven erkannte, zögerte sie nicht, die beiden Herren einzulassen.

Monk bezahlte den Droschker und schickte ihn weg, bevor er Niven ins Haus folgte.

»Was ist passiert, Mr. Monk?« fragte Genevieve sofort, nachdem sie die Kinderfrau mit den Kindern fortgeschickt hatte. Ein Blick auf Nivens Gesicht hatte ihr klargemacht, daß die Neuigkeiten, die sie brachten, sehr ernster Natur sein mußten.

»Sie haben Angus gefunden…«

»Nein.« Er würde ihr so schnell wie möglich alles erklären. Wenn er es hinauszögerte, verschlimmerte er ihr Leiden nur.

»Ich habe einige Kleider gefunden, von denen ich glaube, daß sie ihm gehört haben. Wenn es so ist und Sie das ohne Zweifel feststellen könnten, reicht das vielleicht, um die Polizei zum Eingreifen zu bewegen.«

»Ich verstehe.« Ihre Stimme war kaum ein Flüstern.

»Erlauben Sie mir, die Sachen anzusehen.«

Niven trat näher an sie heran. Selbst in dieser schmerzlichen Stunde war er, wie Monk feststellte, nicht verlegen. Er zeigte keine Spur von Befangenheit. Vielleicht lag das daran, daß seine Gedanken ganz bei ihr waren und er keinen Platz für sich selbst darin hatte. Der Anblick des Mannes war auf seltsame Weise tröstlich, ein Hauch von Wärme in der eisigen Kälte.

Monk öffnete seine Tasche und zog die Jacke heraus. Es war nicht nötig, daß sie auch die Hose sah und das Blut, von dem sie durchtränkt war. Er rollte die Jacke auf und hielt sie hoch. Die blutbefleckte Schulter verdeckte er mit seiner Hand, so daß Genevieve sie nicht sehen konnte, und zeigte ihr nur die Innenseite der Jacke mit dem Namen des Schneiders.

Sie zog scharf die Luft ein und schlug die Hände vor den Mund.

»Ist das seine Jacke?« fragte Monk, obwohl er die Antwort bereits kannte.

Sie war unfähig zu sprechen, aber sie nickte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Ohne ein Wort legte Niven die Arme um sie, und sie drehte sich um und vergrub ihren Kopf an seiner Schulter.

Es gab nichts, was Monk hätte sagen oder tun können. Er packte die Jacke wieder ein, schloß die Tasche und ging, ohne noch ein Wort zu verlieren, ja sogar ohne das Hausmädchen zu bemühen, ihm die Tür zu öffnen.

Diesmal erhob die Polizei keine Einwände. Der Sergeant betrachtete die Jacke und die Hose mit einer Art grimmiger Befriedigung, und der Anflug eines Lächelns breitete sich auf seinem mageren Gesicht aus.

»Das war's dann also«, sagte er leise. Mit einem Kopfschütteln sah er sich den Blutfleck auf der Jacke an.

»Armer Teufel!« Dann schob er die Kleidungsstücke an den Rand seines Schreibtisches und drehte sich um. »Jenkins!« rief er. »Jenkins! Kommen Sie rüber! Wir müssen einen Suchtrupp zusammenstellen und nach Caleb Stone Ausschau halten. Ich will ein halbes Dutzend Männer, die sich am Fluß auskennen. Außerdem sollten sie schnell laufen können und auf einen Kampf gefaßt sein. Kapiert?«

Von irgendwoher kam eine Antwort, auch wenn man den Sprecher nicht sehen konnte.

Der Sergeant sah wieder zu Monk auf.

»Jetzt kann ich etwas tun«, sagte er mit einem Nicken.

»Diesmal kriegen wir ihn. Kann nicht sagen, daß er lange hinter Gittern bleiben wird, aber wir können ihm jedenfalls einen Mordsschrecken einjagen.«

»Ich begleite Sie«, bemerkte Monk.

Der Sergeant holte tief Luft, änderte dann aber seine Meinung. Vielleicht war ein weiterer Mann gar nicht so schlecht, vor allem, wenn es sich um einen handelte, der ein persönliches Interesse an der Sache hatte. Und vielleicht verdiente Monk es ja auch.

»Also schön, Sie sind dabei«, meinte er. »Wir brechen in…«, er warf einen Blick auf seine Taschenuhr, ein hübsches Stück aus Silber von beträchtlicher Größe, »…in fünfzehn Minuten auf.«

Eine halbe Stunde später ging Monk die Wharf Road hinunter, und an seiner Seite befand sich Constable Benyon, ein hagerer junger Mann mit ernster Miene und langer gerade Nase. Der Wind blies ihnen ins Gesicht und roch nach Rauch, Feuchtigkeit und Abwässern. Sie hatten ihre Suche auf der Ostseite der Isle of Dogs begonnen, an der Grenze von Greenwich Reach und Blackwall Reach, und sie hatten Anweisung, dem Fluß am Nordufer stromabwärts zu folgen. Zwei andere Männer nahmen sich Limehouse vor und wieder zwei andere Greenwich und das Südufer. Der Sergeant selbst überwachte den Einsatz aus einem Hansom, der von Osten nach Westen fuhr. Ein weiterer Constable war dazu abkommandiert worden, den Fluß zu überqueren, um die beiden Polizisten aus Greenwich um zwei Uhr in der Crown and Scepter Tavern zu treffen, es sei denn, diese beiden verfolgten eine heiße Spur, in welchem Falle sie ihm eine Nachricht dort hinterlassen würden.

»Ich selbst denk' ja, wir finden ihn am ehesten flußabwärts«, sagte Benyon nachdenklich. »Eher in Blackwall oder auf den East India Docks. Sonst ist er sicher auf der anderen Seite. Ich an seiner Stelle hätt' mich in den Sümpfen versteckt.«

»Er glaubt nicht, daß wir ihm etwas anhaben können«, erwiderte Monk und zog die Schultern hoch, um sich gegen die Kälte, die vom Wasser aufstieg, zu schützen. »Hat mir selbst erzählt, daß wir niemals eine Leiche finden würden.«

»Vielleicht brauchen wir auch keine«, erwiderte Benyon, der sich gern eingeredet hätte, daß es so war.

Sie bogen von der Barque Street auf die Manchester Road ab und kamen an einer Gruppe von Hafenarbeitern vorbei, die auf dem Weg zur Fähre waren. An der Ecke stand ein einbeiniger Seemann und verkaufte Streichhölzer. Ein Mann, der unablässig Gebete herunterleierte, ging in Richtung Ship Street an ihnen vorbei, bog an der Ecke ab und verschwand.

»Reine Zeitverschwendung, das hier.« Benyon schnitt ein Gesicht. »Ich werd' mich mal am Cubitt-Town-Pier nach unserem Mann erkundigen. Das dürfte der beste Ausgangspunkt sein.«

Schweigend gingen sie an der Rice Mill und der Seysall Asphalt Company vorbei und bogen scharf nach rechts zum Pier hinunter ab. Die Schreie der Möwen übertönten grell das Rattern der Wagenräder und die lauten Rufe der Schauerleute mit ihren schweren Lasten, den Singsang der Kahnführer und Treidelknechte und das endlose Klatschen und Platschen der Flut.

Monk hielt sich im Hintergrund, um Benyon nicht bei seiner Arbeit zu stören. Das war sein Gebiet, und er kannte die Leute und wußte, was zu tun war.

Nach einigen Minuten kehrte Benyon zu ihm zurück.

»Ist heute nicht hiergewesen«, sagte er, als hätte er nichts anderes erwartet.

Monk war ebenfalls nicht überrascht. Er nickte, und gemeinsam gingen sie über die Manchester Road, vorbei am Millwall Wharf, am Plough Wharf bis zur Davis Street, wo sie zuerst nach rechts und dann nach links auf die Samuda Street einbogen. Sie kehrten auf ein Bier in der Polly Tavern ein, und dort erfuhren sie endlich etwas Neues über Caleb Stone. Niemand gab zu, ihn in den vergangenen Tagen zu einem bestimmten Zeitpunkt gesehen zu haben, aber eine kleine Ratte von einem Mann mit einer langen Nase und einem Glasauge folgte ihnen aus der Taverne und erzählte Benyon verstohlen und natürlich zu einem gewissen Preis, daß Caleb einen Freund in einem Mietshaus auf der Quixley Street habe, einer Seitenstraße der East India Dock Road, ungefähr eine dreiviertel Meile entfernt.

Benyon gab dem Mann eine halbe Krone, woraufhin dieser beinahe augenblicklich auf der anderen Seite der Gasse verschwand.

»Bringt uns das irgendwie weiter?« fragte Monk zweifelnd.

»O ja«, antwortete Benyon voller Überzeugung. »Sammy ist uns wegen ein, zwei Geschichten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Er würde mich nicht belügen. Wir sollten besser den Sergeant suchen. Wir brauchen mindestens ein halbes Dutzend Leute für diese Sache. Wenn Sie die Quixley Street kennen würden, wüßten Sie, warum.«

Sie brauchten mehr als eine halbe Stunde, um das Polizistenduo aus Limehouse zu finden und anschließend zu fünft, einschließlich des Sergeant, in die Quixley Street zu gehen, eine schmale Durchgangsstraße, die kaum hundert Meter lang war und in das Güterdepot der Great Northern Railway am ersten East India Dock führte. Zwei Männer wurden in die hinter dem bewußten Mietshaus verlaufende Harrap Street geschickt, Benyon in die Scamber Street, die an dessen Seite grenzte. Der Sergeant nahm Monk mit zur Vorderfront des Gebäudes.

Es war ein großes, viergeschossiges Haus mit schmalen, schmutzigen Fenstern, von denen einige gesprungen oder zerbrochen waren. Auf den dunklen Backsteinen zeichneten sich Wasser und Rußflecken ab, aber nur einer der hohen Schornsteine rauchte und wehte eine feine grauschwarze Rußfahne in die kalte Luft.

Monk spürte einen Schauder der Erregung trotz des Schmutzes und des Elends, die ihn umgaben. Wenn Caleb Stone wirklich hier war, würden sie ihn in wenigen Minuten haben. Er wollte ihn von Angesicht zu Angesicht sehen, wollte diese außergewöhnlichen grünen Augen beobachten, wenn ihm klarwürde, daß er geschlagen war.

Im Hauseingang lag ein Mann, der entweder betrunken war oder schlief. Er hatte sich seit mehreren Tagen nicht rasiert und konnte nur mit Mühe atmen. Der Sergeant trat über ihn hinweg, und Monk folgte ihm.

Im Innern des Hauses roch es nach Moder und abgestandenem Schmutzwasser. Der Sergeant drückte die Tür des ersten Raums auf. Dahinter saßen drei Frauen, die Seile aufwickelten. Ihre Finger waren schwielig und geschwollen, einige rot von eitrigen Entzündungen. Ein halbes Dutzend Kinder in verschiedenen Stadien der Nacktheit spielte auf dem Fußboden. Ein Mädchen von etwa fünf Jahren trennte die Nähte an einem Stück Stoff auf, das bis vor kurzem wahrscheinlich ein Kleidungsstück gewesen war. Das Fenster war mit Brettern vernagelt. Eine einzige Kerze kämpfte gegen die Düsternis an. Es war bitter kalt. Caleb Stone war offensichtlich nicht hier.

Im nächsten Raum bot sich ihnen ein ähnliches Bild.

Monk sah den Sergeant an, aber sein grimmiger Blick brachte alle Zweifel zum Verstummen.

Auch der dritte und vierte Raum brachte sie nicht weiter. Sie stiegen die wackelige Treppe hinauf und prüften jede einzelne Stufe, bevor sie mit ihrem ganzen Gewicht darauf traten. Die Stufen schaukelten beunruhigend hin und her, und der Sergeant fluchte leise.

Im ersten Raum des nächsten Stockwerks befanden sich zwei Männer, die beide ihren Rausch ausschliefen, aber keiner von ihnen war Caleb Stone. Das zweite Zimmer beherbergte eine Prostituierte und einen Kahnführer, der ihnen die unflätigsten Beleidigungen nachrief, als sie sich zurückzogen. Im dritten Raum lag ein alter Mann im Sterben, und eine Frau, die sich langsam hin und her wiegte, hockte neben ihm und jammerte.

Der dritte Stock war voll von Frauen, die Hemden nähten; sie hielten die Köpfe gesenkt, und ihre Augen mühten sich ab, etwas zu sehen, während ihre Finger mit der Nadel über den Stoff glitten, um den Faden durch das Gewebe zu ziehen. Ein Mann mit einem Kneifer auf der Nase funkelte den Sergeant wütend an und zischte ihm zornige Worte zu, während er ihm mit dem Finger drohte wie eine Schullehrerin. Monk juckte es in allen zehn Fingern, ihn zu schlagen, weil das, was der Mann tat, ungeheuer grausam war, aber er wußte, daß damit niemandem geholfen wäre. Ein einzelner armseliger Akt von Gewalt würde keine dieser Frauen aus den Fängen der Armut befreien. Und er war hinter Caleb Stone her, nicht hinter einem erbärmlichen Ausbeuter.

In dem ersten Raum im obersten Stockwerk fanden sie einen Einarmigen, der vorsichtig ein Pulver in eine Waagschale schüttete. Im nächsten Raum spielten drei Männer Karten. Einer von ihnen hatte dünnes graues Haar und einen gewaltigen Bauch, der sich über seinen Hosenbund wölbte. Der zweite war kahl und trug einen roten Schnurrbart. Der dritte war Caleb Stone.

Als der Sergeant die Tür öffnete, sahen sie erschrocken auf. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, angespanntes, eisiges Schweigen. Der fette Mann rülpste.

Der Sergeant machte einen Schritt nach vorn, und in diesem Augenblick erst sah Caleb Stone Monk. Vielleicht war es ein Ausdruck von Triumph in Monks Gesicht, vielleicht erkannte er auch den Sergeant. Er sprang auf, stürzte auf das Fenster zu und warf sich mit einem klirrenden Splittern von Glas hinaus.

Der dicke Mann rollte sich auf allen vieren herum und griff Monk an. Monk hob das Knie und erwischte seinen Gegner am Kiefer, so daß dieser blutspuckend zurücktaumelte. Der andere Mann kämpfte mit dem Sergeant, wobei sie sich vorwärts und rückwärts durch den Raum bewegten.

Monk lief zum Fenster, schlug den Rest des Glases aus dem Rahmen und lehnte sich hinaus, wobei er hoffte, ja fast erwartete Caleb mit gebrochenen Gliedern vier Stockwerke tiefer auf dem Pflaster liegen zu sehen.

Aber er hatte die Drehungen und Wendungen der Treppen nicht bedacht. Sie befanden sich im hinteren Teil des Gebäudes, und nicht mehr als vier Meter unter ihm lag das Dach eines hohen Holzschuppens. Caleb rannte darüber hinweg, flink wie ein Tier, und steuerte die gegenüberliegende Seite des Gebäudes und ein halboffenes Fenster an.

Monk schwang sich über die Fensterbank und sprang ihm hinterher. Nach einem Aufprall, der sämtliche Knochen in seinem Leib erschütterte, kam er gleich wieder auf die Füße und stürzte hinter Caleb her. Das Dach des Schuppens vibrierte unter seinem Gewicht.

Caleb drehte sich einmal kurz um, den breiten Mund zu einem Grinsen verzogen, bevor er durch das Fenster sprang und dahinter verschwand.

Monk folgte ihm und fand sich abermals in einem kalten, engen Raum wieder, in dem drei alte Männer mit Flaschen in den Händen saßen, und ein Kohleofen den Geruch von Ruß verströmte.

Caleb riß die Tür auf, jagte durch den Flur, und Monk hörte seine Schritte durchs Treppenhaus hallen. Er setzte ihm nach, stolperte auf der vierten oder fünften Stufe, die zerbrochen war, und fiel das restliche halbe Dutzend hinunter. Die Landung war schmerzhaft, und um ein Haar hätte er sich den Kopf an einem der Pfosten angeschlagen. Er hörte noch Calebs Lachen, als dieser einen Stock tiefer weiter die Treppe hinunterstolperte.

Außer sich vor Zorn und Schmerz raffte er sich wieder auf und rannte so schnell er konnte Caleb hinterher. Er kam gerade noch rechtzeitig, um dessen Rücken zu sehen, als er durch die Tür hinaus auf die Prestage Street stürmte - in Richtung Brunswick Street, die bis hinunter zum Fluß führte, bis zum Ashton Wharf und den Blackwall Stairs.

Wo zum Teufel waren die anderen Constables? Monk schrie, was seine Lungen hergaben.

»Benyon! Brunswick Street!«

Sein Ellbogen und seine Schulter, mit denen er bei seinem Sturz an die Wand geprallt war, schmerzten, und einer seiner Knöchel pochte, aber er jagte über den Gehsteig und rannte eine alte Frau um, die ein Kleiderbündel trug und fest entschlossen war, ihm nicht aus dem Weg zu gehen. Er schleuderte sie - unbeabsichtigt, da er sicher gewesen war, daß sie ihm Platz machen würde - gegen die Wand. Ihr Körper fiel schwer und weich zu Boden, wie ein Sack Hafer. Sie schrie ihm eine Reihe von Flüchen nach, die er eher von einem Kahnführer erwartet hätte.

Caleb war verschwunden.

Monk hatte sich mittlerweile wieder gefangen und lief weiter. Irgend jemand rannte mit wehenden Rockschößen die Harrap Street entlang. Es mußte einer der Constables sein.

Monk stürmte um die Straßenecke und sah Caleb ohne Anstrengung nicht weit vor sich herlaufen, mit beinahe tänzerischer Eleganz; schließlich drehte er sich um und winkte ihm mit lachender Miene zu. Dann hastete er weiter Richtung Fluß.

Monk beschleunigte seine Schritte, seine Lungen wollten schier zerreißen, und sein Herz raste. Es war lange her, seit er das letzte Mal einen Mann zu Fuß verfolgen mußte - und dies eine schlechte Gelegenheit, um das festzustellen.

Der Constable holte ihn ein und ließ ihn schon bald hinter sich. Caleb war immer noch zwanzig Meter vor ihnen; ihn schien die Verfolgungsjagd keine besondere Kraft zu kosten, denn ab und zu machte er wie zum Spott einen Luftsprung. Sie hatten die Abzweigung zur Leicester Street hinter sich gelassen und näherten sich jetzt der Norfolk Street. Was war Calebs Ziel?

Caleb lief an der Einmündung zur Russell Street vorbei, und jetzt lagen nur noch der Hafen und die Treppen vor ihm! Ein verrückter Gedanke schoß Monk durch den Kopf. Wollte er in den Fluß springen? Selbstmord? Viele Männer würden das dem Seil des Henkers vorziehen. Monk war einer von ihnen.

In diesem Fall würde er auf den Kai zusteuern, nicht auf die Treppen.

Es war bereits mitten am Nachmittag, und das Licht wurde schwächer. Ein fahles Grau kroch vom Fluß die Ufer hinauf und raubte allem seine ohnehin nur geringe Farbe. Der Nebel dämpfte Calebs dahineilende Schritte, während er über die Steine auf den Fluß und die Treppe zulief, die zum Wasser hinunterführte. Der Constable war nur noch ein paar Meter hinter ihm.

Monks Atem ging stoßweise, aber der Schmerz in seinem Knöchel ließ langsam nach.

Caleb verschwand die Treppe hinunter, der Constable ebenfalls. Dann hörte man einen Schrei und einen schweren Aufprall auf dem Wasser, gefolgt von einem Angstschrei, der beinahe sofort erstickt wurde.

Monk war gerade am Rand der Mauer angekommen, als ein zweiter Constable hinter ihm auftauchte.

Caleb stand breitbeinig, selbstsicher, lachend und mit zurückgeworfenem Kopf auf der Treppe. Der Constable schlug im Wasser um sich und war im Begriff unterzugehen, denn seine schweren Kleider und seine Stiefel zogen ihn in die Tiefe.

»Er wird ertrinken!« rief Caleb, den Blick auf Monk geheftet.

»Sie sollten ihn besser rausziehen! Sie können ihn schließlich nicht krepieren lassen, Mr. Selbstgerecht!«

Ungefähr zehn Meter vom Ufer entfernt trieb ein Lastkahn im Wasser, der erste von einer Reihe von Kähnen, die sich langsam mit der hereinkommenden Flut flußaufwärts bewegten. Sie waren schwer mit dunkel verhüllten Ballen beladen und lagen tief im Wasser. Der Kahnführer am Heck sah den Mann im Wasser und warf die Hände bedauernd hoch. Er konnte die Geschwindigkeit seines Bootes nicht bremsen. Hinter ihm kamen noch ein Dutzend andere wie Eisenbahnwaggons.

Monk zögerte nur eine Sekunde lang. Der Constable war am Ertrinken. Sein Gesicht war weiß vor Entsetzen. Er konnte nicht schwimmen, und seine panische Angst würde ihn umbringen. Am Ufer lag eine Holzlatte. Monk warf sie ins Wasser und wartete gerade lange genug, um festzustellen, daß sie auf der Oberfläche trieb.

Diese eine Sekunde war genug. Caleb stürmte die Treppe wieder hinauf und stieß ihn zur Seite. Dann rannte er flußaufwärts auf das Artichoke zu, das etwa fünfzig Meter entfernt lag.

Der zweite Constable kam jetzt heran und machte Anstalten, Caleb zu verfolgen und es Monk zu überlassen, den Mann aus dem Wasser zu ziehen.

»Holen Sie ihn raus!« rief Monk und wies mit einer ruckartigen Armbewegung die Treppe hinunter und auf das Wasser, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und Caleb nachsetzte.

Der Constable keuchte atemlos, sah seinen Kollegen im Wasser um sich schlagen und nach dem Holz greifen; er zögerte nicht länger, sondern rannte die Stufen hinunter, um ihm zur Hilfe zu kommen.

Monk jagte über das harte Pflaster hinter Caleb her, der plötzlich die Richtung änderte, als wolle er zur Vorderseite, zum Eingang der Taverne laufen. Warum? Hatte er Freunde dort?

Verstärkung vielleicht? Er konnte kaum hoffen, ein halbes Dutzend Polizeibeamte aufhalten zu können! Durch den hinteren Teil des' Hauses gab es kein Entrinnen - von dort aus fiel das Ufer steil zum Fluß hin ab.

Monk war nur fünfzehn Meter hinter ihm.

Da plötzlich änderte Caleb erneut die Richtung und beschleunigte das Tempo; diesmal rannte er direkt auf den Fluß zu. Er würde sich also doch umbringen. Er rannte noch schneller und setzte von der Uferböschung aus zu einem gewaltigen Sprung an. Erst da wurde Monk klar, was er wirklich vorhatte. Die Reihe der Lastkähne war nur knapp fünf Meter vom Ufer entfernt. Er landete ein wenig unbeholfen auf allen vieren auf den Stoffballen und wäre beinahe zur anderen Seite hin wieder über Bord gegangen, aber er hatte es geschafft, und der Kahn trug ihn bereits über das Wasser davon.

Mit mehr Wut als Vernunft trat Monk ein paar Schritte zurück, um Anlauf nehmen zu können, und wagte dann ebenfalls einen tollkühnen Sprung.

Mit einem Aufprall, der ihm fast die Sinne raubte, landete er auf dem dritten Kahn. Er bekam kaum noch Luft, und es dauerte einige Sekunden, bevor er auch nur daran denken konnte aufzustehen. Als er es schließlich schaffte, waren seine Hände aufgeschürft, und es fiel ihm schwer, seine Lungen zu dehnen und die feuchte Luft einzuatmen. Er konnte die undeutliche Gestalt des Kahnführers sehen, aber den Sergeant, der rufend und gestikulierend am Ufer stand, nahm er kaum wahr. Er fluchte, und sein Gesicht war vor Zorn verzerrt. Er versuchte jedenfalls nicht zu verstehen, was der andere sagte. Er hatte nur einen einzigen Gedanken - an Caleb heranzukommen.

Er straffte sich und ging nach vorn, wobei er mit den Armen ruderte, um auf dem nassen Segeltuch nicht den Halt zu verlieren.

Die Kähne fuhren dicht hintereinander, aber zwischen dem Bug des einen und dem Heck des anderen Kahns lagen immer noch mehrere Meter dunklen, schmutzigen Flußwassers. Wenn er fiel, würde er zwischen die beiden Boote geraten und dort sein sicheres Ende finden.

Caleb befand sich auf dem ersten Kahn und hatte sich jetzt Monk zugewendet, wobei er spöttisch auf und ab hüpfte. Er legte die Hände um den Mund, damit Monk ihn besser verstehen konnte.

»Na komm doch!« brüllte er. »Komm und hol mich! Kommen Sie schon, Herr Polizist! Ich habe Angus getötet, oder? Ich habe ihn zerstört! Er ist für immer von uns gegangen! Fertig! Keine eleganten Kleider mehr, keine tugendhafte Frau am Kamin mehr! Kein Gottesdienst am Sonntag und kein ›Ja, Sir‹, ›Nein, Sir‹, ›Bin ich nicht ein guter Junge, Sir‹.« Er verschränkte die Arme über der Brust und riß sie dann plötzlich weit auseinander.

»Tot!« rief er. »Ausgelöscht für alle Zeit! Sie werden ihn niemals finden. Niemand wird ihn finden, nie! Nie!«

Monk ging auf ihn zu, stolperte über die Leinwandhaufen, geriet ins Taumeln und gewann das Gleichgewicht zurück, bevor er zu einem gewagten Sprung über das dunkle Wasser auf den vor ihm schwimmenden Kahn ansetzte, wo er auf allen vieren landete und sich Hände und Knie erneut aufschürfte. Er raffte sich wieder auf, ohne an den Schmerz oder die Gefahr zu denken.

Der Kahnführer brüllte ihm irgend etwas zu, aber er schenkte ihm keine Beachtung.

Sie hatten den Eingang von Blackwall zum Südhafen passiert, vor ihnen lag der Cubitt-Town-Pier, dann machte der Fluß eine Biegung um die Isle of Dogs. Er konnte die Lichter von Greenwich auf der anderen Seite nicht mehr sehen. Der Nebel und die Dunkelheit wurden dichter. Die Sümpfe am linken Ufer bildeten eine undeutliche Silhouette. Es waren auch andere Boote auf dem Fluß, aber er sah sie nur aus den Augenwinkeln.

Er sprang gerade rechtzeitig auf den ersten Kahn, um noch sehen zu können, wie Caleb anscheinend das Gleichgewicht verlor, auf seinen Knien landete und dann auf der anderen Seite verschwand. Kurz darauf hörte Monk sein Lachen, das vom Wasser kam, und gerade als er selbst am Rand des Kahns angelangt war, stieß ein Ruderboot ab, in dem ein Mann an den Rudern saß und ein anderer sich scheinbar in Todesangst in den Bug kauerte.

Monk stieß einen wilden Fluch aus. Dann fuhr er zu dem Kahnführer herum, obwohl er wußte, daß es sinnlos war. Der Mann hatte nicht die geringste Chance, den Kurs zu ändern. Die schwerbeladenen Kähne waren aneinandergebunden und fuhren mit der Flut stromaufwärts.

»Monk!«

Woher kam die Stimme?

»Monk! Springen Sie, Mann!«

Dann sah er das zweite Ruderboot mit dem Sergeant und einem anderen Constable darin. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, sprang er, und als er in dem Boot landete, schaukelte es so heftig hin und her, daß es beinahe gekentert wäre. Der Constable an den Rudern fluchte leise. Der Sergeant packte ihn rauh und drückte ihn auf die Planken, so daß sich das Boot wieder stabilisieren und Fahrt aufnehmen konnte.

»Hinterher!« rief der Sergeant überflüssigerweise.

Sie saßen schweigend da, Monk immer noch halb in sich zusammengesunken. Der Constable legte sich für einige Züge mit all seinem Gewicht in die Riemen, so daß das Boot kurz gierte und hüpfte, dann aber in ein gleichmäßiges Tempo verfiel und Fahrt zulegte.

Es war jetzt fast völlig dunkel. Es war Spätnachmittag, und der bewölkte Himmel verschlang auch noch den letzten Rest von Licht. Der sich über den Fluß ausbreitende Nebel verzerrte alles. Man hörte den schaurigen Klang von Nebelhörnern. Die Lichter eines Klippers tauchten auf, schemenhaft schob sich ein düsteres Rigg wie eine Reihe gigantischer Bäume an ihnen vorbei. Im Kielwasser des Seglers wurden sie grob durchgerüttelt.

»Wo steckt der Bastard?« stieß der Sergeant zwischen den Zähnen hervor, während er angestrengt in die Finsternis spähte.

»Ich kriege dieses Schwein, und wenn es das letzte ist, was ich tue!«

»Bugsby's Sümpfe«, antwortete Monk, der seine Beine streckte, um sich ordentlich hinsetzen zu können. »Ich wette, er fährt flußabwärts.«

»Warum?«

»Er muß wissen, daß wir Männer in Greenwich haben und Leute, die uns verraten würden, wo er hingegangen ist. Aber er kennt sich in den Sümpfen aus, wir nicht. Wenn er erst am Ufer ist, werden wir ihn niemals kriegen, schon gar nicht in der Dunkelheit.«

Der Sergeant fluchte.

Der Constable legte sich noch kräftiger in die Riemen, seine Rückenmuskeln spannten sich, und auf seinen Händen zeigten sich die ersten Blasen. Das Boot schoß durch die sich dunkel dahinwälzende Flut.

Das Ufer ragte vor ihnen auf, bevor sie damit gerechnet hatten. Es waren keine Lichter zu sehen, nur Schlamm, der den letzten Rest von Tageslicht schluckte. Und das einzige Geräusch, das sie hörten, war das leise Wispern des ansteigenden Wassers im Schilf. Monk kroch vorwärts und sprang ans Ufer, wo er sogleich bis zu den Waden im Sumpf steckte. Es kostete ihn überraschend viel Mühe, sich aus seinem eiskalten, saugenden Griff zu befreien.

Aber zwanzig Meter weiter flußabwärts entdeckte er auf einem weniger morastigen Abschnitt des Ufers eine andere Gestalt und die schwarzen Umrisse eines Bootes, das sich vom Ufer entfernte, als hätte es den Teufel persönlich dort abgesetzt und wäre nur noch von dem einen Gedanken beseelt, seine Rettung in der Flucht zu suchen.

Der Constable war hinter ihm an Land gesprungen und verfluchte den Sumpf. Gemeinsam stapften sie durch den morastigen Grund festerem Boden entgegen und mühten sich mit der Verfolgung Calebs ab, der bereits zu rennen versuchte.

Niemand verausgabte sich mit überflüssigem Rufen. Die Männer rannten wortlos durch den immer dichter werdenden Nebel. Der Sergeant bildete das Schlußlicht, verbissen und wild entschlossen; er lief ein wenig landeinwärts und trieb Caleb auf die Landspitze zu, um ihm den Rückweg nach Greenwich abzuschneiden.

Es waren noch einmal fünfzehn Minuten erschöpfender Verfolgungsjagd notwendig, bevor sie Caleb endlich mit dem Rücken zum Fluß in die Enge getrieben hatten, so daß ihm nichts mehr übrigblieb als aufzugeben.

Er hob seine behandschuhten Hände hoch über den Kopf. Sein Gesicht war in der Dunkelheit nicht mehr zu sehen, aber Monk konnte sich, als er seine Stimme hörte, vorstellen, welchen Ausdruck es gezeigt hatte.

»Also schön! Holt mich!« brüllte er. »Bringt mich in euren schäbigen, kleinen Gerichtssaal zu eurer Farce von einer Gerichtsverhandlung! Wessen wollt ihr mich anklagen? Es gibt keine Leiche! Keine Leiche!« Und mit diesen Worten warf er den Kopf in den Nacken und brach in höhnisches Gelächter aus. Es hallte über das dunkle Wasser und wurde schließlich vom Nebel verschluckt. »Ihr werdet niemals eine Leiche finden - ihr Narren!«