11

Rathbone war wie betäubt von der Neuigkeit. Das Ganze war ungeheuerlich, wenn auch nicht in jeder Hinsicht tragisch. Seines Wissens hatte es so etwas noch nie gegeben, jedenfalls nicht in dieser Art.

Monk stand noch immer völlig regungslos und mit finsterer Miene da.

»Kommen Sie«, sagte Rathbone sanft. »Es ist alles vorüber.« Monk rührte sich nicht von der Stelle. »Nein, das ist es nicht.

Ich verstehe es nicht.«

Rathbone lachte unvermittelt auf. »Tun Sie das denn jemals? Versteht jemals einer von uns irgend etwas? Wenn Sie dachten, er würde Ihnen erzählen, was er mit Angus angestellt oder warum er ihn jetzt getötet hat und nicht irgendwann vor Jahren, haben Sie sich etwas vorgemacht. Der unglückselige Mann war wahnsinnig. Gütiger Gott, war das nicht Beweis genug? Die Eifersucht hatte ihn in den Irrsinn getrieben. Was gibt es da groß zu verstehen.«

»Warum er Ravensbrook jetzt angegriffen hat«, erwiderte Monk und drehte sich um, um die Treppenstufen hinaufzusteigen. »Was könnte er sich davon versprochen haben?«

»Überhaupt nichts!« sagte Rathbone ungeduldig, während er hinter ihm her eilte. »Was hat er sich davon versprochen, daß er Angus tötete? Nicht mehr, als daß er seinem Haß Luft machen konnte. Vielleicht hat er für Ravensbrook dasselbe empfunden. Er hatte nichts zu verlieren. Man kann ihn schließlich nicht zweimal hängen.«

»Aber es stand noch gar nicht fest, daß man ihn überhaupt hängen würde!« entgegnete Monk scharf, als sie durch die Türen in die Halle kamen. »Goode hatte noch nicht einmal angefangen. Er ist ein verdammt gerissener Anwalt.« Sie kamen an einer Gruppe dunkel gekleideter Männer, die sich leise unterhielten, vorbei und wären fast mit einem Gerichtsdiener zusammengestoßen, der in die andere Richtung lief. »Wir wissen, daß Caleb Angus getötet hat«, fuhr Monk fort. »Oder zumindest ich weiß es… weil ich gehört habe, wie er es zugab, ja sogar damit prahlte. Aber das ist kein Beweis. Er hatte immer noch Hoffnung.«

»Vielleicht wußte er das nicht. Ich bin nämlich auch ein verdammt gerissener Anwalt!« sagte Rathbone.

»Haben Sie das gewollt?« fragte Monk, der mit fliegenden Mantelschößen neben Rathbone durch den Korridor eilte. »Man kann nicht beweisen, daß er schuldig ist, also überredet man den armen Teufel zu einem zweiten Mord, gleich an Ort und Stelle, in seiner Gefängniszelle, damit wir ihn dafür hängen können, ohne Wortklaubereien und Spitzfindigkeiten? Nicht einmal Ebenezer Goode könnte ihm dann noch helfen!«

Rathbone hatte eine gleichermaßen zynische Antwort auf der Zunge, als er Monk ein wenig genauer ansah und die Verwirrung in seinem Gesicht bemerkte. Es war nicht nur Zorn. Es waren auch Zweifel und Schmerz, die er da sah.

»Was?« fragte er und blieb wie angewurzelt stehen.

»Sind Sie taub? Ich sagte…«, begann Monk.

»Ich habe gehört, was Sie sagten!« fuhr Rathbone ihn an. »Es war absoluter Unsinn - ich werde es ignorieren. Ich versuche zu ergründen, was Sie meinen. Irgend etwas verwirrt Sie, und das ist mehr als nur die Fragen, die wir uns zuvor gestellt haben, und die Tatsache, daß wir fast mit Sicherheit davon ausgehen müssen, daß wir jetzt niemals eine Antwort darauf erhalten.«

»Ravensbrook sagt, Caleb habe ihn angegriffen.« Monk ging wieder weiter. »Und er habe ihn abgewehrt. In dem Kampf wurde Caleb dann getötet… aus Versehen.«

»Ich habe es gehört«, sagte Rathbone, während sie die Stufen zu den Zellen hinuntergingen. »Warum? Was denken Sie? Daß es in Wirklichkeit Selbstmord war und Ravensbrook die Sache vertuscht? Warum?« Sie mußten ein ganzes Stück weit hintereinander hergehen, bevor Monk ihn am Fuß der Treppe wieder einholte. »Es ergibt keinen Sinn«, fuhr Rathbone fort.

»Aus welchem Grund sollte er so etwas tun? Der unglückliche Mann ist tot, und wahrscheinlich schuldig, vielleicht sogar erwiesenermaßen. Wozu sollte er ihn schonen? Ihn oder sonst jemanden?«

»Vor dem Gesetz ist er unschuldig«, sagte Monk stirnrunzelnd. »Seine Schuld ist jedenfalls nicht erwiesen, was immer wir auch wissen mögen, Sie und ich. Wir zählen nicht.«

»Um Gottes willen, Monk, die Öffentlichkeit weiß es. Und sobald das Gericht wieder zusammentritt, wird es ihn auch für den Versuch, Ravensbrook zu töten, verurteilen.«

»Aber als Selbstmörder wird er in ungeweihter Erde begraben«, bemerkte Monk. Sie standen jetzt direkt vor dem Eisenportal, das zu den Zellen führte. »Auf diese Weise wird er nicht verurteilt, sondern nur angeklagt. Die Leute können glauben, was sie wollen. Er wird der Nachwelt als unschuldiger Mann in Erinnerung bleiben.«

»Ich könnte mir denken, daß es, wenn es überhaupt eine Lüge ist«, wandte Rathbone ein, »wahrscheinlicher ist, daß Ravensbrook vermeiden will, daß man ihm vorwirft, dem Mann gestattet zu haben, sich das Leben zu nehmen, was moralisch gesehen zu jeder Zeit falsch wäre, juristisch gesehen besonders heikel, da er sich in Gewahrsam befand und eine Verhandlung gegen ihn lief.«

»Da könnten Sie recht haben«, räumte Monk ein.

»Vielen Dank«, erwiderte Rathbone. »Ich halte es für das Wahrscheinlichste, daß er uns einfach eine Mischung präsentiert von dem, was er in der ganzen Verwirrung tatsächlich mitbekommen hat, und seiner Auslegung der Ereignisse.« Monk antwortete nicht, sondern klopfte scharf an die Tür.

Mit einigem Widerstreben ließ man sie ein. Rathbone mußte auf seine Eigenschaft als Prozeßbeteiligter pochen, und Monk hatte es hauptsächlich der instinktiven Reaktion des Gefängniswärters zu verdanken, daß er eingelassen wurde, denn der Mann kannte ihn aus der Vergangenheit und war daran gewöhnt zu gehorchen.

Man führte sie in ein kleines Zimmer, einen Aufenthaltsraum für die diensthabenden Gefängniswärter. Ravensbrook saß in sich zusammengesunken auf einem unbequemen Holzstuhl. Sein Haar und seine Kleider waren in Unordnung, und seine Arme, seine Brust, ja sogar sein Gesicht waren blutbespritzt. Er schien sich in einem Zustand tiefen Schocks zu befinden, seine Augen waren in ihre Höhlen gesunken, und sein Blick war leer. Er atmete durch den Mund, stöhnte leise und schluckte immer wieder. Sein Körper war völlig starr, und er zitterte, als hätte er Schüttelfrost. Einer der Wärter stand hinter ihm und drückte ihm ein zusammengerolltes Taschentuch auf die Wunde an seiner Brust, ein zweiter hielt ein Glas Wasser und versuchte, ihn dazu zu bewegen, etwas davon zu trinken, aber er schien den Mann nicht einmal zu hören.

»Sind Sie der Arzt?« fragte der Wärter mit dem Taschentuch, an Monk gewandt. Rathbone gab sich mit seiner Robe und seiner Perücke augenblicklich als das zu erkennen, was er war.

»Nein. Aber es ist noch immer eine Krankenschwester in der Nähe, und am besten schicken Sie sofort jemand, der sie holt«, erwiderte Monk. »Ihr Name ist Hester Latterly, und sie ist mit Lady Ravensbrook in deren Kutsche.«

»Eine Krankenschwester wird uns hier nicht helfen«, sagte der Wärter verzweifelt.

»Niemand braucht hier eine Schwester, um Gottes willen. Sehen Sie sich den Mann doch an!«

»Eine Armeeschwester«, präzisierte Monk. »Sie müssen vielleicht eine Meile weit gehen, um einen Arzt zu finden. Und Miss Latterly versteht ohnehin mehr von dieser Art von Verletzungen als die meisten Ärzte hier in der Gegend. Holen Sie sie. Stehen Sie nicht einfach so herum.«

Der Mann tat wie geheißen und war wahrscheinlich froh, auf diese Weise entkommen zu können.

Monk drehte sich um und sah Ravensbrook an, betrachtete kurz sein Gesicht, ließ den Gedanken, den er dabei hatte, dann fallen und wandte sich statt dessen an den anderen Wärter.

»Was ist passiert?« fragte er. »Berichten Sie uns genau, was geschehen ist, und zwar in der Reihenfolge, wie Sie die Ereignisse in Erinnerung haben. Fangen Sie mit Lord Ravensbrooks Ankunft an.«

Er fragte nicht, wer Monk war oder welches Recht er hatte, Erklärungen zu verlangen. Der Ton seiner Stimme genügte, und er war geradezu erleichtert, die Verantwortung einem anderen in die Hände legen zu können.

»Seine Lordschaft kam mit einem Erlaubnisschreiben vom Hauptwärter, weil er den Gefangenen besuchen wollte«, antwortete er. »Er war ja eine Art Verwandter, nicht wahr, also sprach nichts dagegen.«

»Wo ist der Hauptwärter?« unterbrach Rathbone ihn.

»Zum Richter raufgegangen«, erwiderte der Wärter.

»Was dann geschehen ist, weiß ich nicht. Ist mir noch nie passiert, daß jemand mitten in 'ner Verhandlung umgebracht wurde, jedenfalls nicht, solange ich hier bin.« Er schauderte. Er hatte von dem Wasser getrunken, das eigentlich für Ravensbrook bestimmt war, und das Glas drohte überzuschwappen, da seine Hand heftig zitterte.

Rathbone nahm ihm das Glas ab und stellte es weg.

»Also haben Sie die Zelle geöffnet und Lord Ravensbrook eingelassen?« fragte Monk nach.

»Ja, Sir. Und natürlich habe ich hinter ihm abgeschlossen. Der Gefangene stand schließlich wegen eines Gewaltverbrechens vor Gericht, nicht wahr, also war das nötig.«

»Natürlich war es das«, pflichtete Monk ihm bei. »Was ist dann passiert?«

»Nichts, jedenfalls für fünf Minuten oder so.«

»Sie haben hier draußen gewartet?«

»Natürlich.«

»Und nach den fünf Minuten?«

»Seine Lordschaft, Lord Ravensbrook, klopfte an die Tür und wollte rauskommen. Ich fand, daß das ziemlich schnell ging, aber das war nicht meine Sache. Also habe ich ihn rausgelassen. Aber er war noch nicht fertig.« Er drückte immer noch das zusammengerollte Taschentuch auf Ravensbrooks Brust, und das Blut sickerte durch seine Finger. »Er sagte, der Gefangene wollte seinen letzten Willen aufschreiben und ob ich Papier hätte und eine Feder und Tinte«, fuhr er fort. Seine Stimme klang heiser. »Hm, natürlich hatte ich die Sachen nicht bei mir, ja, aber ich habe ihm gesagt, ich könnte sie besorgen, was ich auch getan habe. Stimmt das nicht, Mylord?« Er sah zu Ravensbrook hinunter, aber der schien ihn nicht wahrzunehmen.

»Sie haben die Sachen holen lassen. Wen haben Sie geschickt?« drängte Monk.

»Jimson, den anderen Burschen, der mit mir Wache hatte. Sie haben ihn gerade losgeschickt, die Krankenschwester zu holen.«

»Und Sie haben die Zellentür wieder verschlossen?«

»Natürlich habe ich sie verschlossen.« Er klang entrüstet.

»Und Lord Ravensbrook hat hier draußen bei Ihnen gewartet?«

»Ja, das hat er.«

»Hat er irgend etwas gesagt?«

Ravensbrook saß stocksteif auf seinem Stuhl und gab auch keinen Laut von sich.

»Was, zu mir?« fragte der Wärter überrascht. »Was sollte ein Lord jemandem wie mir erzählen?«

»Sie haben also schweigend hier gewartet?« fragte Monk.

»Ja. Hat nicht lange gedauert, drei oder vier Minuten, dann war Jimson wieder zurück mit Papier, Feder und Tinte. Ich habe alles Seiner Lordschaft gegeben, die Zellentür wieder geöffnet, und dann ist er hineingegangen, und ich habe abgeschlossen.«

»Und dann?«

Der Mann legte das Gesicht in Falten und konzentrierte sich.

»Ich versuche zu überlegen, ob ich irgendwas gehört habe, aber ich kann mich nicht erinnern. Ich hätte wohl…«

»Warum?«

»Na ja, irgendwas müßte man doch gehört haben, oder?« sagte er vernünftig. »Weil nach ein paar Minuten ja Seine Lordschaft an die Tür gehämmert und um Hilfe gerufen hat, mächtig laut hat er gerufen, als hätte er schlimme Probleme - was ja auch stimmte.«

Er holte tief Luft und starrte Monk immer noch an. »Also sind wir, ich und Jimson, hin zur Tür, sofort, ja. Jimson hat aufgeschlossen, und ich stand bereit, weil ich ja nicht wußte, was los war.«

»Und was haben Sie vorgefunden?«

Er sah zu der ungefähr drei Meter weit entfernten Zellentür hinüber, die nur angelehnt war.

»Seine Lordschaft taumelte und schlug mit den Fäusten gegen die Tür«, antwortete er mit gepreßter Stimme. »Und war voller Blut, so wie jetzt.« Er sah kurz zu Ravensbrook, wandte den Blick dann aber hastig wieder ab. »Der Gefangene lag auf dem Boden und hat noch schlimmer geblutet. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe, und auch nicht, was Jimson gesagt hat. Er hat Seiner Lordschaft aus der Zelle geholfen, und ich bin zu dem Gefangenen hin.« Er ließ Monk nicht aus den Augen, als wolle er das Bild, das in seinem Gedächtnis haftengeblieben war, überdecken. »Ich habe mich neben ihn niedergekniet und seine Hand genommen, ja, um zu sehen, ob er noch lebte. Konnte nichts fühlen. Aber, um ehrlich zu sein, Sir, ich weiß nicht, ob ich nicht so durcheinander war, daß ich überhaupt was gemerkt hätte. Aber ich glaube, er war schon tot. Ich habe noch nie in meinem Leben so viel Blut gesehen.«

»Verstehe.« Monks Blick wanderte unwillkürlich zu der halb geöffneten Zellentür hinüber. Dann zwang er sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf den Mann vor ihm zu richten. »Und was ist dann geschehen?«

Der Wärter sah Ravensbrook an, aber dieser half ihm in keiner Weise weiter; dem starren Ausdruck seines Gesichts nach hörte er vielleicht nicht einmal, was gesprochen wurde.

»Wir haben Seine Lordschaft gefragt, was passiert sei«, sagte der Wärter unglücklich. »Obwohl ja jeder sehen konnte, daß die beiden sich furchtbar geprügelt hatten, und irgendwie hat der Gefangene mehr abgekriegt als Seine Lordschaft.«

»Und als Sie Lord Ravensbrook fragten, was hat er da geantwortet?«

»Er sagte, der Gefangene hätte ihn angegriffen, als er gerade das Taschenmesser rausgeholt hatte, um die Feder anzuspitzen, und obwohl er sein Bestes getan hätte, um ihn abzuwehren, habe er sich selbst verletzt, und ein paar Sekunden später war alles vorbei. Hat die Ader in seiner Kehle erwischt, und zack! Aus.« Er schluckte heftig.

»Verstehen Sie mich nicht falsch, Sir, ich hätte es nie zugelassen, aber vielleicht war es einfach gerecht so. Niemand hat es verdient, einfach so davonzukommen, wenn er seinen Bruder ermordet hat, ja. Aber ich hasse es, wenn sie die Leute aufhängen. Jimson sagt, ich bin zu weich, aber das ist nicht die richtige Art und Weise für einen Mann zu sterben.«

»Vielen Dank.« Monk behielt seine Meinung für sich, aber sein Schweigen und das völlige Fehlen von Tadel in seiner Stimme ließen darauf schließen, daß er dem Mann in gewisser Weise recht gab.

Schließlich wandte Monk sich an Ravensbrook und sprach ihn deutlich und mit großem Nachdruck an.

»Lord Ravensbrook, würden Sie uns bitte erzählen, was genau vorgefallen ist? Es ist sehr wichtig, Sir.«

Ravensbrook blickte ganz langsam auf und schien sich nur mit Mühe auf Monk konzentrieren zu können, wie ein Mensch, der gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht. »Wie bitte?«

Monk wiederholte seine Worte.

»Oh. Ja. Natürlich.« Er holte tief Luft und atmete dann leise aus. »Es tut mir leid.« Mehrere Sekunden lang sagte er dann nichts mehr, bis Rathbone drauf und dran war, weiter in ihn zu dringen. Da endlich begann er zu sprechen. »Er war in einer sehr seltsamen Gemütsverfassung«, sagte er langsam. Es klang so, als seien seine Lippen steif und als gehorche seine Zunge ihm nur widerwillig. Seine Stimme war seltsam tonlos. Rathbone hatte das schon früher bei Menschen erlebt, die unter Schock standen. »Zuerst schien er erfreut, mich zu sehen«, fuhr Ravensbrook fort. »Beinahe erleichtert. Ein paar Minuten lang unterhielten wir uns dann über Nichtigkeiten. Ich fragte ihn, ob er irgend etwas brauchte, ob es etwas gebe, was ich für ihn tun könnte.« Er schluckte, und Rathbone sah, wie seine Kehle sich zuschnürte.

»Er sagte sofort, daß es durchaus etwas gebe.« Ravensbrook sprach mit Monk und ignorierte Rathbone. »Er wollte eine Aussage niederschreiben. Ich dachte, er würde sich vielleicht das Ganze von der Seele reden wollen, eine Art Geständnis, um Genevieves willen. Um ihr zu sagen, wo Angus' Leiche sei.« Er sah Monk nicht direkt an, sondern schien den Blick nach innen zu richten.

»Und wollte er das tatsächlich?« fragte Rathbone, obwohl er das im Grunde nicht für möglich hielt. Es war nur eine letzte, verzweifelte Chance, daß er vielleicht doch etwas gesagt haben könnte. Aber was würde es schon bedeuten, abgesehen davon, daß Genevieve klarer sah? Und war das gut oder schlecht? Vielleicht war Unwissen barmherziger.

Ravensbrook sah ihn zum erstenmal an.

»Nein…«, sagte er nachdenklich. »Nein, ich denke nicht, daß er überhaupt die Absicht hatte, etwas niederzuschreiben. Aber ich habe ihm geglaubt. Ich habe den Wärter um die notwendigen Utensilien gebeten, die dieser mir auch beschafft hat. Dann bin ich wieder hineingegangen. Er hat mir die Feder entrissen, sie in das Tintenfaß getaucht, das ich auf den Tisch gestellt hatte, und dann einen Versuch unternommen zu schreiben. Ich glaube, er hat nur so getan, als ob. Dann sah er mich an und sagte, die Feder sei stumpf und an der Spitze gesplittert und ob ich sie anspitzen könne.« Er bewegte seine Schultern ganz leicht, als wolle er ein Achselzucken andeuten. »Natürlich war ich damit einverstanden. Er gab mir die Feder. Ich habe sie abgewischt, damit ich sehen konnte, was ich tat, und als ich dann mein Messer zur Hand nahm und es aufklappte…«

Niemand im Raum bewegte sich. Der Wärter schien wie gebannt zuzuhören. Kein Laut aus der Außenwelt, aus dem Gerichtsgebäude jenseits der schweren Eisentür drang zu ihnen herein.

Ravensbrook sah Monk an, und seine Augen waren dunkel und voller Grauen. Dann blickte er wieder, beinahe als zöge er einen Vorhang vor seiner Seele zu, an ihm vorbei. Seine Stimme war ein wenig schrill, als gelänge es ihm nicht, seine Kehle zum Sprechen freizumachen. »Im nächsten Augenblick spürte ich einen gewaltigen Schlag und wurde gegen die Wand gedrängt, und Caleb lag über mir.« Er holte tief Luft. »Wir haben einige Augenblicke miteinander gerungen. Ich habe getan, was ich konnte, um mich zu befreien, aber er verfügte über unglaubliche Kräfte. Er schien entschlossen zu sein, mich zu töten, und das einzige, was mir blieb, war, das Messer von meiner Kehle wegzudrücken. Ich habe mit aller Macht gekämpft, wahrscheinlich, weil ich in der Klinge die Nähe des Todes gesehen habe. Ich weiß nicht genau, wie es passiert ist. Er fuhr zurück, rutschte weg und verlor irgendwie das Gleichgewicht, fiel hin und riß mich mit sich.«

Rathbone versuchte, sich die Szene vorzustellen, die Angst, die Gewalt, die Verwirrung. Es war nicht schwierig.

»Als ich mich befreite und es mir gelang, auf die Füße zu kommen«, fuhr Ravensbrook fort, »lag er da mit dem Messer in der Kehle, und Blut floß aus der Wunde. Es gab nichts, was ich hätte tun können. Gott helfe ihm. Zumindest hat er jetzt eine Art Frieden gefunden. Zumindest erspart ihm das den…«, er atmete tief und stieß die Luft mit einem Seufzer wieder aus. »…den gerichtlichen… Prozeß.«

Rathbone sah zu Monk und erkannte in dessen Gesicht dieselbe Qual, sowie das Wissen, daß es hier keine Ausflüchte, kein Entkommen gab.

»Vielen Dank«, sagte Monk zu Ravensbrook. Dann ging er, gefolgt von Rathbone, durch den Raum, drückte die Zellentür weiter auf und trat ein. Caleb Stone lag in einer Blutlache auf dem Boden. Das Taschenmesser, ein schöner, mit einer Gravur versehener Silbergegenstand, lag etwas entfernt von seinem Hals am Boden, als wäre es durch sein eigenes Gewicht aus der Wunde gefallen. Es stand außer Frage, daß der Mann tot war. Die wunderschönen grünen Augen waren geöffnet und blicklos. In seinem Gesicht stand ein Ausdruck der Resignation, als hätte er am Ende etwas aufgegeben, das sowohl eine Besessenheit als auch eine Qual für ihn gewesen war, und der Friede, der sich seiner bemächtigt hatte, schien ihn überrascht zu haben.

Monk suchte nach etwas, das ihm einen Hinweis auf das Geschehen geben könnte, etwas jenseits der Berichte, die er von Ravensbrook oder dem Wärter gehört hatte, aber er fand nichts. Es gab keine Widersprüche, nichts, was auf verschwiegene Tatsachen hindeutete, nichts, was sich nicht durch einen simplen, törichten Akt der Gewalt hätte erklären lassen. Die einzige Frage war, ob es eine Affekthandlung war, entstanden aus einem jähen überwältigenden Zorn, vielleicht ähnlich dem, der Angus getötet hatte. Oder war es eine klug eingefädelte Vorgehensweise, Selbstmord zu begehen, bevor der Henker sein Leben auslöschen konnte, bevor er sich dem leidvollen Prozeß von Verurteilung, Schuldspruch und Strick aussetzte?

Er drehte sich zu Rathbone um und las dieselben Fragen in dessen Gesicht.

Bevor einer von ihnen jedoch dazu kam, sie auszusprechen, hörten sie ein Geräusch hinter sich, das schwere Knarren eines Eisenbolzens in einem Schloß, und dann Hesters Stimme. Monk fuhr herum und trat aus der Zelle, wobei er Rathbone fast vor sich her schob.

»Lord Ravensbrook!« Hester warf einen kurzen Blick auf den Wärter, der das blutdurchtränkte Taschentuch immer noch an Ravensbrooks Brust preßte, trat dann einen Schritt auf ihn zu und ließ sich auf die Knie sinken. »Wo haben Sie sich verletzt?« fragte sie, als spräche sie mit einem Kind - beruhigend, aber mit großer Autorität.

Er hob den Kopf und starrte sie an.

»Wo sind Sie verletzt?« wiederholte sie, legte ihre Hand sanft auf die des Wärters und zog das Taschentuch ganz langsam weg. Kein Blutschwall war die Folge; das Blut schien an dieser Stelle bereits geronnen zu sein. »Bitte, erlauben Sie mir, Ihnen den Mantel auszuziehen«, sagte sie. »Ich muß sehen, ob Sie noch bluten.« Es war eine überflüssige Bemerkung. Seine Brust war so voller Blut, daß er nach wie vor bluten mußte.

»Ist das klug, Miss?« fragte Jimson. Er war mit ihr zurückgekehrt und sah Ravensbrook zweifelnd an. »Macht die Sache vielleicht noch schlimmer. Besser, wir warten, bis der Arzt kommt. Man hat nach ihm geschickt.«

»Ziehen Sie den Mantel aus!« Hester schenkte ihm keine Beachtung und machte sich daran, ihn vorsichtig aus dem Kleidungsstück zu schälen. Er reagierte nicht, und sie bewegte seine Arme ein wenig zur Seite. »Nehmen Sie den anderen!« sagte sie zu Monk. »Der Mantel wird herunterrutschen, wenn Sie es richtig machen.«

Er tat wie geheißen, und Hester zog dem Verletzten mit sanfter Entschlossenheit den Mantel aus und gab ihn dann Monk. Das Hemd darunter war lange nicht so blutdurchtränkt, wie Monk erwartet hatte. Es gab nur vier Wunden, die er sehen konnte, eine vorne an der linken Schulter, eine am linken Unterarm und zwei auf der rechten Seite der Brust. Keine der Wunden war sehr groß oder blutete übermäßig. Nur die an der Schulter, auf die er seine Hand gelegt hatte, war noch feucht.

»Das sieht nicht allzu schlimm aus«, sagte Hester nüchtern. Sie wandte sich an den ersten Wärter. »Ich nehme nicht an, daß Sie Verbandszeug hier haben? Nein, das dachte ich mir schon. Haben Sie irgendwelche Tücher?«

Der Mann zögerte.

»Gut.« Sie nickte. »Dann ziehen Sie Ihr Hemd aus. Das wird genügen. Ich brauche nur die Schöße.« Sie lächelte spöttisch.

»Und Ihr Hemd brauche ich auch, Mr. Rathbone, denke ich. Ich brauche weißen Stoff.« Monk und seine makellos saubere Wäsche ignorierte sie. Selbst in einer solchen Notlage schien sie sich seiner geringen Finanzen bewußt zu sein.

Rathbone holte scharf Luft, und der Gedanke an voluminöse Unterröcke schoß ihm durch den Kopf und war sofort wieder verschwunden.

»Haben Sie irgendwelchen Alkohol da?« fragte sie den Wärter. »Ein wenig Brandy als Stärkungsmittel vielleicht?« Sie sah Ravensbrook an. »Haben Sie eine Taschenflasche, Mylord?«

»Ich brauche keinen Brandy«, sagte er mit einem ganz leichten Kopfschütteln. »Tun Sie einfach, was nötig ist, Miss.«

»Ich hatte nicht die Absicht, Ihnen davon zu trinken zu geben«, antwortete sie. »Haben Sie eine Flasche dabei?«

Er sah sie mit scheinbarem Unverständnis an.

»Ist Ihnen nicht gut, Miss?« fragte der Wärter besorgt.

Ein winziges Lächeln spielte um ihre Lippen. »Ich wollte die Wunden säubern. Wasser wird genügen, wenn nichts anderes da ist, aber Brandy wäre besser gewesen.«

Rathbone reichte ihr das Wasserglas, das Ravensbrook abgelehnt hatte. Monk griff in Ravensbrooks Jackentasche und fand eine flache, silberne, mit einer Gravur verzierte Flasche, öffnete sie und stellte sie in Hesters Reichweite.

Schweigend sahen die Männer ihr bei der Arbeit zu, wie sie das Blut zuerst mit Lappen von dem rauhen Hemd des Wärters entfernte und die Verletzungen dann mit ein wenig Brandy säuberte. Der Alkohol schien in den Wunden zu brennen, denn Ravensbrook entrang sich ein unwillkürlicher Fluch, er biß die Zähne zusammen und schluckte vor Schmerz.

Aber selbst Monk konnte sehen, daß die Wunden nicht tief waren, eher Schnitte und Risse als wirkliche Stichwunden.

Als die Wunden versorgt waren, verband Hester die Verletzungen mit Bandagen, die beinahe zur Gänze von Rathbones feinem ägyptischem Baumwollhemd stammten, das sie mit großer Hingabe und beträchtlicher Geschicklichkeit und, wie Monk glaubte, einem gewissen Maß an Befriedigung in Streifen riß. Er warf Rathbone einen Blick zu und sah ihn zusammenzucken, als der Stoff riß.

»Vielen Dank«, sagte Ravensbrook steif, als sie fertig war.

»Ich bin Ihnen sehr verpflichtet, Miss Latterly. Sie sind äußerst tüchtig. Wo ist meine Frau?«

»In ihrer Droschke, Mylord«, erwiderte sie. »Ich denke doch, daß sie mittlerweile zu Hause sein wird. Ich habe mir die Freiheit genommen, dem Kutscher Anweisung zu geben, sie heimzubringen. Sie hätte krank werden können, wenn sie bei dieser Kälte noch länger hätte warten müssen. Ich bin sicher, man wird Ihnen sofort einen Hansom besorgen können.«

»Ja«, sagte er nach einem kurzen Moment. »Natürlich.« Er sah Rathbone an. »Wenn Sie mich brauchen, können Sie mich in meinem Haus finden. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, was es noch zu tun oder zu sagen gäbe. Ich nehme an, der Richter wird veranlassen, was immer er für nötig hält, und damit ist die Sache dann wohl zu Ende. Guten Tag noch, die Herren.« Er stand auf und ging sehr aufrecht, wenn auch mit einem leichten Taumeln, auf die Tür zu. »Oh.« Er drehte sich um und sah Rathbone an. »Ich nehme an, daß ich die Freiheit haben werde, ihm ein ordentliches Begräbnis zu geben? Schließlich ist er nicht schuldig gesprochen worden, und ich bin sein einziger Verwandter.« Er schluckte gequält.

»Ich sehe keinen Grund, was dagegen spräche«, meinte Rathbone, der plötzlich den gewaltigen Verlust nachempfinden konnte, den dieser Mann gerade erlitten hatte, einen Verlust, der tiefer ging als bei einem gewöhnlichen Todesfall. »Ich werde mich um die Formalitäten kümmern, wenn Sie wünschen, Mylord.«

»Tja. Tja, vielen Dank«, erwiderte Ravensbrook. »Guten Tag.« Er ging durch die Tür. Jetzt, da sie nicht länger verschlossen war, schwang sie hinter ihm wieder auf.

Hester schaute zu der Zelle hinüber.

»Sie brauchen nicht hineinzugehen.« Rathbone verstellte ihr den Weg. »Es ist sehr unerfreulich.«

»Vielen Dank für Ihr Feingefühl, Oliver«, sagte sie bedrückt.

»Aber ich habe weit mehr Tote gesehen als Sie. Ich komme schon zurecht.« Mit diesen Worten ging sie hinein und streifte dabei leicht seine Schulter. Er hatte seine Jacke wieder angezogen, was seltsam aussah, da er jetzt kein Hemd mehr darunter trug.

In der Zelle blieb sie einen Augenblick still stehen und schaute hinunter auf die zusammengekrümmte Gestalt Caleb Stones. Sie betrachtete ihn eine Weile, bevor sie die Stirn ein wenig kraus zog. Dann stieß sie einen Seufzer aus, straffte sich und ging wieder hinaus. Ihr Blick traf sich mit dem Rathbones.

»Was werden Sie jetzt tun?« fragte sie leise.

»Nach Hause fahren und mir ein Hemd holen«, erwiderte er mit einem verzerrten Lächeln. »Sonst gibt es nichts mehr zu tun hier, meine Liebe, auf keinen Fall mehr, der Anklage oder Verteidigung erforderte wenn Mrs. Stonefield wünscht, daß ich sie in der Angelegenheit der offiziellen Anerkennung des Todes ihres Mannes vertrete, dann werde ich das natürlich tun. Zuerst müssen wir uns um diese Angelegenheit hier kümmern, was der Richter wohl übernehmen wird, wenn das Gericht morgen wieder tagt.« Da ist doch noch etwas, das Ihnen Sorgen macht, oder?« fragte Monk plötzlich und sah sie eindringlich an. »Was ist es?«

»ich… bin mir nicht ganz sicher, glaube ich…« Sie schien angestrengt nachzudenken, war aber offensichtlich nicht bereit, mehr zu sagen.

»Dann kommen Sie mit mir, und lassen Sie uns zusammen essen«, lud Rathbone sie ein, wobei er mit einer einfachen Geste auch Monk einschloß. »Das heißt, wenn Sie nicht mit Lady Ravensbrook zurückkehren oder nach Limehouse fahren müssen?« Sie schüttelte den Kopf. »Was den Typhus betrifft, haben wir das Schlimmste überstanden. Es hat jetzt schon seit mehr als zwei Tagen keine neuen Fälle gegeben, und viele der Patienten, die noch im Hospital sind, erholen sich langsam. Ich… ich würde gern noch etwas mehr über Caleb Stone nachdenken.«

Bevor sie dieses Thema jedoch auch nur berührten, nahmen sie ein wohlschmeckendes Mahl ein. Rathbones Haus war warm und still und in der zurückhaltenden Art der Regency-Epoche mit ihren klaren Farben möbliert, wie es ein halbes Jahrhundert zuvor Mode gewesen war. Das ganze Haus verströmte Behaglichkeit und vermittelte ein Gefühl von Weite. Hester hatte nicht gedacht, daß sie überhaupt etwas essen wollte, aber als man die Speisen auftrug, ohne daß sie etwas zu ihrer Zubereitung hatte beitragen müssen, stellte sie fest, daß sie doch recht hungrig war. Als sie den letzten Gang beendet hatten, lehnte Rathbone sich zurück und sah sie an.

»Und was ist es, das Ihnen Sorgen bereitet? Fürchten Sie, daß es Selbstmord war? Und wenn ja, spielt das wirklich eine Rolle?

Wem wäre damit geholfen, wenn wir es beweisen würden, es könnten?«

»Warum sollte er zu diesem Zeitpunkt Selbstmord begangen haben?« fragte sie und tastete sich vorsichtig; durch die Gedanken, die in ihrem Kopf durcheinanderliefen, die Erinnerung an die Wunden, die sie gesehen hatte, und an das kleine, sehr scharfe Messer, das beinahe wie ein Skalpell war und mit der Spitze der Klinge in Calebs Hals gesteckt hatte, während sein silberner Griff in einer Blutlache neben ihm gelegen hatte. »Seine Verteidigung hatte noch nicht einmal begonnen!«

»Vielleicht hatte er keine Hoffnung auf Erfolg?« meinte Monk. »Das glauben Sie doch selbst nicht«, sagte Rathbone sofort. »Könnte er sich in einem Anfall von Reue getötet haben? Vielleicht haben die Zeugenaussagen, die wir gehört haben, ihm die Sache erst so richtig bewußt gemacht. Ein wahrscheinlicherer Grund wäre da meiner Meinung nach die Begegnung mit Ravensbrook gewesen und das Wissen, welchen Kummer er ihm bereitet hatte, ihm und natürlich auch Genevieve.«

»Genevieve?« Monk hob die Augenbrauen. »Er haßte sie. Sie war ein Teil von all dem, was er an Angus verachtete - die bequeme, gottesfürchtige Ehefrau mit ihrem lächelnden, selbstzufriedenen Gesicht und ihrer totalen Ignoranz der Tragödie und der häßlichen Realität jener Art von Leben, wie er es führte, ihre Unwissenheit, was Armut und Elend und Schmutz bedeuteten.«

»Sie wissen nichts über Genevieve, nicht wahr?« Hester sah von einem der Männer zum anderen und entdeckte nichts als Verständnislosigkeit in ihren Gesichtern. »Nein, natürlich wissen Sie es nicht. Sie ist in Limehouse aufgewachsen…«

Rathbone war überrascht. Er saß völlig reglos da, und nur seine Lippen öffneten sich ein klein wenig.

Monk dagegen stieß ein ungläubiges Schnauben aus und hob die Hand, als wolle er den Gedanken als völlig absurd abtun, wobei er mit dem Ellbogen gegen sein leeres Weinglas stieß, so daß es klirrend gegen ein anderes fiel.

»Jawohl, so ist es!« sagte Hester scharf. »Ich habe fast einen Monat in Limehouse verbracht, und ich kenne die Menschen, mit denen sie aufgewachsen ist. Sie erinnern sich an sie. Ihr Name war damals Ginny Motson.«

Monk sah sie erstaunt an. Sein Gesicht spiegelte keinen anderen Ausdruck als Überraschung wider.

»Ich nehme an, Sie würden so etwas nicht behaupten, wenn Sie sich da nicht absolut sicher wären«, sagte Rathbone ernst.

»Das ist kein Gerücht, oder?«

»Nein, natürlich nicht«, antwortete Hester. »Sie hat es mir selbst erzählt, als ihr klarwurde, daß ich es erraten hatte.«

Eine Weile saßen sie schweigend da und versuchten sich an diesen neuen und erstaunlichen Gedanken zu gewöhnen. Der Butler kam herein und räumte das restliche Geschirr ab, bevor er Monk und Rathbone ein Glas Portwein anbot. Er verbeugte sich höflich vor Hester, schenkte ihr ansonsten aber keine Beachtung. Sie verwirrte ihn, und seine Unsicherheit stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Das würde eine ganze Reihe von Dingen erklären«, räumte Monk schließlich ein. »Vor allem ihre panische Angst vor Armut. Keine Frau, die sie nicht am eigenen Leib erfahren hat, würde sich so davor fürchten, wie sie es tut. Ich dachte, es sei einfach die Liebe zum Luxus. Ich bin froh, daß ich mich geirrt habe.«

Hester lächelte. Sie kannte Monks Verwundbarkeit, wenn es um gewisse Frauen ging. Er hatte sich schon zuvor als erschreckend schlechter Menschenkenner erwiesen, aber das erwähnte sie nicht. Das war gerade jetzt ein besonders heikles Thema.

»Dann war es Angus oder vielleicht Caleb, der ihr beigebracht hat, wie sich eine Dame zu bewegen und zu benehmen hat?« überlegte Rathbone. »Wenn es Caleb war, dann könnte das ausschlaggebend gewesen sein, um seine Rivalität mit Angus in Haß zu verwandeln. Sie hat Angus kennengelernt, als er Caleb besuchte, und vielleicht hat sie sich in ihn verliebt, oder, was einen weniger für sie einnehmen würde, sie hat eine Chance gesehen, aus der Armut und dem Schmutz von Limehouse herauszukommen, und sie hat diese Chance genutzt.«

»Und Sie glauben, Caleb hat sie vielleicht geliebt?« fragte Hester und zog die Augenbrauen hoch. »So sehr, daß er später Angus tötete, weil er sie ihm weggenommen hatte, und jetzt, als er sie im Gerichtssaal wiedersah, quälte ihn die Reue so sehr, daß er sich mitten in der Verhandlung das Leben nahm? Und Lady Ravensbrook hat es zugelassen und ist jetzt bereit, diesen Umstand zu vertuschen? Nein!« Sie schüttelte energisch den Kopf. » Sie hat erzählt, daß sie nie etwas mit Caleb zu tun hatte, und ich glaube ihr. Sie hatte keinen Grund zu lügen. Außerdem ergibt es Sinn. Wenn das, was Sie sagen, der Wahrheit entspräche hätte er als er nach Papier und Tinte schickte, niedergeschrieben was immer er ihr noch sagen wollte. Es sei denn, Sie glauben Lord Ravensbrook hätte das Papier an sich genommen. Aber warum sollte er das tun?«

Rathbone blickte in seinen Port, der im Kerzenlicht rubinrot funkelte, aber er rührte sich nicht.

»Sie haben recht«, gab er zu. »Es ergibt keinen Sinn.«

»Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Caleb Stone sich aus Reue das Leben nehmen würde«, fügte Monk hinzu.

»Es war nicht nur Haß, der ihn antrieb. Ich weiß nicht, was es noch war, ein schreckliches Gefühl, das seine Krallen in sein Herz oder seinen Bauch geschlagen hatte oder in beides, aber hinter dem Ganzen standen auch eine ungebändigte Lebenslust, eine Art Schmerz. Aber spielt das alles jetzt noch eine Rolle?« Er sah von einem zum anderen, aber der Schatten in seinen Augen und das Gefühl der Traurigkeit in ihm beantworteten die Frage nachdrücklicher, als Worte es vermocht hätten.

Keiner der beiden machte sich die Mühe, die Frage zu bejahen. Die Antwort lag greifbar in der Luft, in dem ruhigen Kerzenlicht auf dem Tisch, das auf unbenutztem Silber funkelte und in den blutroten Farben der Portgläser aufblitzte.

»Wenn es kein Selbstmord war, dann war es entweder ein Unfall oder ein Mord«, stellte Rathbone fest. Er sah Hester an.

»Haben sich die Dinge wirklich genau so abgespielt, wie Ravensbrook sagte?«

»Nein.« Sie war sich ihrer Sache ganz sicher. »Es könnte ein Unfall gewesen sein, aber wenn es so war, wie er sagte, warum hat er dann nicht sofort um Hilfe gerufen, als Caleb ihn angriff?«

»Das hat er nicht getan«, sagte Rathbone langsam. »Er kann es nicht getan haben. Und seinem eigenen Bericht zufolge hat er kurz mit ihm gekämpft, einige Sekunden lang vielleicht, aber die Tatsache, daß es einen Kampf gegeben hat, war offensichtlich.«

»Einen Kampf, in dem Lord Ravensbrook versuchte, sich zu schützen.« Monk griff den Faden auf. »Womit er im Prinzip Erfolg hatte. Seine Wunden sind nur geringfügig. Aber Caleb wurde getötet, und zwar durch einen ganz besonders unglücklichen Zufall.« Er schnitt ein Gesicht.

»Wenn Caleb ihn angegriffen hat, warum hat er dann nicht sofort um Hilfe gerufen?« fragte Hester.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht in der verzweifelten Hoffnung, die Sache regeln zu können, ohne daß die Wärter davon erfuhren?« schlug Rathbone vor. »Es wäre ein fataler Beweis gegen ihn gewesen, wenn das Gericht davon erfahren hätte, und selbst wenn niemand es zur Sprache gebracht hätte, hätte man aus Ravensbrooks Verletzungen allein schon mühelos die richtigen Schlüsse ziehen können.«

»Unvernünftig unter den gegebenen Umständen«, meinte Monk.

»Menschen sind oft unvernünftig«, entgegnete Hester. »Aber ich glaube nicht, daß sie im Falle eines unerwarteten Angriffs einen so komplizierten Gedankengang entwickeln können. Hätten Sie, wenn jemand Sie in einem Augenblick anspringen würde, in dem Sie es am wenigsten erwarten, an solche Dinge gedacht? Hätten Sie an irgend etwas anderes gedacht als daran, sich zu verteidigen? Wenn eine Waffe im Spiel war und der Angreifer jünger und stärker als Sie war und Sie wußten, daß er schon einen Mann getötet hatte und daß ihm die Gefahr drohte, gehängt zu werden, so daß er nichts zu verlieren hatte, selbst wenn man ihn der Tat überführte, hätten Sie dann überhaupt an irgend etwas gedacht oder einfach nur um Ihr Leben gekämpft?«

Rathbone biß sich auf die Lippen. »Wenn Caleb Stone mich angegriffen hätte, hätte ich nur einen Gedanken gehabt - überleben«, gab er zu. Ein Muskel in seinem Gesicht zuckte.

»Aber ich bin nicht sein Vater…«

Monk zuckte die Achseln. »Als ich ihn den Fluß hinunter verfolgte, habe ich überhaupt nicht nachgedacht. Ich hatte nichts anderes im Sinn, als ihn zu fangen. Ich habe nicht einmal meine verstauchten Knöchel und blauen Flecken bemerkt.«

Rathbone sah Hester an. »Sind Sie sicher, daß er nicht sofort aufgeschrien hat, nach dem ersten Schrecken über den Angriff? Es könnte einen Augenblick gedauert haben, bis er ihn abgewehrt und seine Sinne wieder beisammen hatte.«

»Er hatte vier verschiedene Wunden«, antwortete sie. »Und die waren allesamt sauber. Er könnte in den nächsten ein oder zwei Tagen noch ein paar blaue Flecken dazubekommen, und seine Kleider waren ein wenig zerrissen, wie es bei einem Kampf passiert. Aber Caleb hatte nur eine echte Verletzung, und das war die Stichwunde an seiner Kehle, die ihn getötet hat.«

»Was wollen Sie damit sagen?« Rathbone beugte sich vor.

»Daß Ravensbrook sich geirrt hat oder daß er in irgendeinem wesentlichen Punkt lügt?«

»Ja, das glaube ich. Ich glaube, daß er lügt«, antwortete sie nachdrücklich. »Ich weiß nur nicht, warum.«

Monk nippte an seinem Port und blickte von einem zum anderen.

»Sie meinen, es hat einen beträchtlichen Kampf gegeben, bevor er um Hilfe rief?« hakte Rathbone nach. »Welchen Grund sollte er haben? Wenn es kein Selbstmord und kein Unfall war, wollen Sie dann behaupten, daß Ravensbrook ihn ermordet hat? Warum um alles in der Welt sollte er das tun? Doch nicht nur, um sicherzustellen, daß man ihn nicht hängen konnte? Das ist ziemlich absurd.«

»Dann gibt es irgend etwas, das wir nicht wissen«, antwortete Hester. »Etwas, das der Sache einen Sinn verleihen würde… oder wenn nicht einen Sinn, dann zumindest etwas, das man nachvollziehen könnte.«

»Menschen töten aus den verschiedensten Gründen«, sagte Rathbone nachdenklich. »Habgier, Angst, Haß. Wenn die Tat unvernünftig ist, dann hat sie ihre Wurzeln vielleicht einfach in tiefen Gefühlen, aber wenn sie vernünftig ist, dann resultiert sie aus etwas, das früher geschehen ist und um zu verhindern, daß in Zukunft noch etwas anderes geschieht, um sich selbst oder jemanden, den man liebt, vor Verlust oder Schmerz zu bewahren.«

»Was könnte Caleb Ravensbrook, abgesehen von einer Verurteilung, antun? Welche Schande konnte er über ihn bringen, jetzt, da er sich bereits so gründlich in Schande gestürzt hatte?« Monk schüttelte den Kopf. »Hester hat recht. Es muß etwas ganz Wesentliches geben, das wir nicht wissen, etwas, auf das wir bisher überhaupt noch nicht gestoßen sind.« Er drehte sich zu Rathbone. »Was wäre als nächstes passiert, wenn Caleb weitergelebt hätte?«

»Morgen hätte die Verteidigung begonnen«, erwiderte Rathbone langsam, und seine Sinne schärften sich plötzlich, während er sein Weinglas weiter ignorierte. »Vielleicht sollten wir mit Ebenezer Goode sprechen? Ich dachte, ich wüßte, was er tun würde, aber vielleicht weiß ich es doch nicht.«

Monk sah ihn an. »Was hätte er tun können? Auf Wahnsinn plädieren? Das beste Argument, das er hat, war, daß es sich um einen Unfall handelte, daß Caleb nicht die Absicht hatte, seinen Bruder zu töten, und daß er, als es dann doch geschehen war, in Panik geriet. Entweder das, oder er hätte versuchen können, die Geschworenen davon zu überzeugen, daß es nicht genug Beweise gibt, um behaupten zu können, daß Angus überhaupt tot ist. Und ich glaube nicht, daß er damit durchgekommen wäre.«

»Dann ist das vielleicht des Rätsels Lösung.« Rathbone ballte seine Hände auf dem weißen Tischtuch zu Fäusten. »Er wollte irgendeinen Beweis vorlegen, um zu zeigen, daß Angus nicht der gerechte und ehrenwerte Mann war, für den wir alle ihn hielten. Das wäre ein guter Grund gewesen, ihn zu töten. Um Angus' guten Namen zu retten und den Genevieves. Vielleicht um Caleb daran zu hindern, irgendeine entsetzliche Wahrheit über seinen Bruder zu enthüllen?«

»Glauben Sie, Lord Ravensbrook hätte Caleb getötet, um Genevieve zu schützen?« Monk sah ihn skeptisch an. »Nach dem, was ich beobachtet habe, könnte man ihr Verhältnis zueinander bestenfalls kühl nennen.«

»Dann wollte er sich selbst schützen«, wandte Rathbone unerbittlich ein und beugte sich noch ein wenig weiter vor.

»Oder er wollte Angus beschützen oder sein Andenken. Schließlich war er der einzige Sohn, den er je hatte. Man kann einen Sohn auf eine seltsame leidenschaftliche und besitzergreifende Art lieben, als wäre er ein Teil von einem selbst. Ich habe einige sehr vielschichtige Gefühlsbeziehungen zwischen Eltern und Kindern erlebt.«

»Und Caleb?« fragte Monk, der seine Lippen zu einem bitteren Lächeln verzogen hatte.

»Das weiß Gott allein«, seufzte Rathbone. »Vielleicht wollte er ihm das Urteil und den Henker ersparen. Das würde ich niemandem wünschen. Es ist eine grauenvolle Art zu sterben. Es ist nicht der eigentliche Sturz in die Tiefe und das Seil um den Hals, das sich mit einem Ruck zuzieht und einem das Genick bricht, sobald sich die Falltür öffnet, es ist das bewußte Stunde um Stunde, Minute um Minute sich dahinziehende Warten auf die festgesetzte letzte Stunde. Es ist eine ausgeklügelte Grausamkeit, die jeden, der damit zu tun hat, seiner Würde beraubt.«

»Dann sollten wir vielleicht wirklich Mr. Goode fragen«, entschied Hester. »Wenn wir es überhaupt wissen wollen. Wollen wir es wissen?«

»Ja«, sagte Monk, ohne zu zögern. »Ich möchte es wissen, selbst wenn ich nichts deswegen unternehmen will.«

Rathbones Augen weiteten sich. »Könnten Sie das über sich bringen… Zu wissen und nichts zu unternehmen?«

Monk öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, änderte dann aber seine Meinung. Er zuckte die Achseln und trank den Rest seines Portweins aus, ohne Rathbone oder Hester anzusehen.

Rathbone läutete nach dem Butler, der wenige Sekunden später eintrat.

»Ich möchte, daß Sie Ebenezer Goode ein Schreiben überbringen, und zwar sofort«, befahl Rathbone. »Es ist von entscheidender Wichtigkeit, daß wir ihn sprechen, bevor das Gericht morgen wieder zusammentritt. Ich nehme an, er wird zu Hause sein, aber wenn nicht, ist die Sache wichtig genug, um ihn aufzuspüren, wo immer er ist. Holen Sie Ihren Mantel, und ich setze währenddessen das Schreiben auf. Nehmen Sie einen Hansom.«

Der Butler verzog keine Miene; sein Gesicht blieb genauso teilnahmslos, als hätte Rathbone ihn lediglich gebeten, ihm noch eine Flasche Port zu bringen.

»Jawohl, Sir. Es handelt sich um die Adresse auf dem Westbourne Place, Sir?«

»Ja.« Rathbone stand auf. »Und beeilen Sie sich.«

Es dauerte über anderthalb Stunden, bis Ebenezer Goode mit langen Schritten ins Zimmer trat. Er trug einen weiten Mantel und hatte sich einen breitrandigen Hut auf den Kopf gestülpt; in seinen Augen lag ein erwartungsvoller Blick.

»Nun?« fragte er, sobald er in der Tür stand. Er verbeugte sich kurz und schwungvoll vor Hester und ignorierte sie dann, um Rathbone und Monk anzusehen. »Was kann jetzt noch so wichtig sein, daß es nicht bis morgen früh hätte warten können? Haben Sie eine Leiche gefunden?«

»Ja und nein.« Rathbone zeigte auf einen Sessel. Sie hatten sich ins Wohnzimmer zurückgezogen und saßen bequem vor einem lodernden Kaminfeuer. »Kennen Sie Miss Hester Latterly? Sie sind der Dame natürlich bekannt.«

»Miss Latterly. Guten Tag.« Goode deutete eine Verbeugung an. »Was zum Teufel wollen Sie damit sagen, Rathbone? Haben Sie Angus Stonefields Leiche gefunden oder nicht?«

»Nein, wir haben sie nicht gefunden. Aber mit Calebs Tod verhält es sich nicht annähernd so einfach, wie wir zuerst angenommen haben.«

Goode, der erst die halbe Strecke zu dem ihm zugewiesenen Sessel zurückgelegt hatte, erstarrte.

»Wie? In welcher Hinsicht? Ist Ravensbrook schwerer verletzt, als man uns gesagt hat?«

Er ließ sich in den Sessel fallen.

»Nein«, antwortete Hester. »Nur einige geringfügige Schnitte an Unterarm und Schultern. Sie werden ihm eine Weile Verdruß bereiten, aber keine der Wunden ist ernst.«

Goode sah sie scharf an.

»Miss Latterly ist Krankenschwester«, sagte Monk ziemlich hastig. »Sie war auf der Krim und hat mehr Verwundete versorgt, als Sie Fälle verhandelt haben. Sie hielt sich glücklicherweise in der Nähe des Gerichts auf und kam Lord Ravensbrook zu Hilfe.«

»Ich verstehe.« Ein Hauch von Interesse erhellte Goodes Miene. »Darf ich Ihrem Tonfall und Ihrer seltsamen Wortwahl entnehmen, Miss Latterly, daß da Ihrer Meinung nach noch mehr dahintersteckt, als Sie bisher gesagt haben?«

»Es geht schlicht und einfach um folgendes, Mr. Goode«, erklärte Monk. »Uns fällt keine Erklärung ein, die zu den Tatsachen, zu allen Tatsachen paßt, deshalb haben wir das Gefühl, daß es etwas wirklich Schwerwiegendes gibt, von dem wir keine Kenntnis haben.«

Goodes Augenbrauen schossen in die Höhe. »Und Sie denken, ich wüßte etwas?« sagte er ungläubig. »Ich habe nicht die leiseste Vorstellung, warum Caleb Lord Ravensbrook hätte angreifen sollen. Er könnte ihn durchaus gehaßt haben, weil er ihm Angus so offensichtlich vorzog und vielleicht immer vorgezogen hatte, aber das alles ist doch ziemlich klar. Übrigens, welche Tatsachen passen Ihrer Meinung nach nicht ins Bild?« Wieder sah er Hester an.

»Die Tatsache, daß Lord Ravensbrook erst dann um Hilfe rief, nachdem er bereits - wenn auch nur geringfügig - verletzt war«, antwortete sie. »Und Caleb hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine tödliche Stichwunde, seine Halsschlagader war getroffen - und er war tot.«

Er beugte sich vor und sah sie durchdringend an.

»Wollen Sie damit andeuten, Ma'am, daß Lord Ravensbrook einen aktiven Anteil an Calebs Tod hatte, sei es bei einem Selbstmord, sei es bei einem Mord?«

»Nicht ganz. Wir halten es nicht für wahrscheinlich, daß Caleb sich selbst getötet haben könnte. Warum sollte er? Seine Verteidigung hatte noch nicht einmal begonnen.« Sie sah ihn direkt an. »Hatte er nicht doch noch eine gewisse Chance, einer Verurteilung zu entgehen oder zumindest keines schlimmeren Verbrechens für schuldig befunden zu werden, als daß er einen tödlichen Unfall nicht gemeldet hatte? Wenn ich ihn verteidigt hätte«, sie schenkte Goode, der sichtbar überrascht war, keine weitere Beachtung, »hätte ich darauf plädiert, daß es eine Prügelei gegeben habe, bei der Angus unglücklicherweise zu Tode kam; vielleicht ist er in den Fluß gestürzt und hat sich den Kopf angeschlagen, und Caleb hatte Angst, den Vorfall zu melden, da er nicht beweisen konnte, was passiert war; und angesichts der ständigen Streitigkeiten zwischen ihnen und dem Wissen um seinen eigenen Ruf befürchtete er, daß niemand ihm glauben würde. Schließlich gibt es keine Zeugen, die etwas anderes behaupten können.«

Goode lehnte sich in seinem Sessel zurück und streckte seine langen Beine aus.

»Hm, so hätten Sie also seine Verteidigung aufgebaut?«

»Ja«, sagte sie entschlossen. »Sie nicht?«

Ein plötzliches strahlendes Lächeln machte sich in seinem Gesicht breit. »O doch, Ma'am, genau das hätte ich getan, vor allem der Schwere der Beweise wegen, die die Anklage vorgebracht hat. Ich denke, es hätte nicht ausgereicht, das Ganze einfach als unbewiesen zurückzuweisen. Die Geschworenen mochten Caleb Stone nicht, und Mrs. Stonefield erfreut sich beträchtlicher Sympathien.«

»War es das, was Sie vorhatten?« wollte Rathbone wissen.

»Wollten Sie morgen Caleb Stone in den Zeugenstand rufen?«

»Natürlich«, antwortete Goode. »Ich habe doch sonst keine Zeugen. Warum? Welches Licht könnte das auf seinen Tod werfen?«

»Gar keins, es sei denn, wir wüßten, was er sagen wollte.« Zum erstenmal hatte nun auch Monk das Wort ergriffen. »Um es kurz zu machen, wollte er etwas über Angus sagen, das es gerechtfertigt hätte, ihn zu töten, um es geheimzuhalten?«

»Ravensbrook?« fragte Goode schrill. »Sie denken, Lord Ravensbrook hat Caleb in seiner Zelle ermordet, um ihn zum Schweigen zu bringen?«

»Offensichtlich denken Sie das nicht«, sagte Rathbone trocken. »Daher können Sie nicht wissen, was eine solche Möglichkeit nahelegen würde.«

»Oder er begreift die Tragweite dessen, was er weiß, nicht.« Monk war nicht bereit, so einfach aufzugeben. »Vielleicht weiß er, worum es geht, sieht aber die Bedeutung dieser Sache nicht oder ihre Konsequenzen.« Er fuhr herum und sah Goode direkt an. »Was wollte er sagen?«

Goode biß sich auf die Lippen. »Nun, bei einem normalen Mandanten würde ich die Antwort natürlich kennen, sonst würde ich die Fragen gar nicht erst stellen. Aber bei Stone konnte ich lediglich raten. Natürlich hat er mir gesagt, daß er behaupten würde, es habe sich um einen Unfall gehandelt, daß der Haß auf Gegenseitigkeit beruhte und daß er Angus nicht mehr zerstört hätte, als Angus ihn zu zerstören wünschte.« Er schlug die Beine übereinander, stützte die Ellbogen auf die Lehnen seines Sessels und legte die Fingerspitzen aneinander.

»Sie müssen verstehen, daß er sich pausenlos in Andeutungen erging und in Paradoxa, und die Hälfte der Zeit hat er einfach nur gelacht. Wenn ich geglaubt hätte, daß es eine Hilfe für ihn gewesen wäre, hätte ich auf Wahnsinn plädiert.« Er sah die drei anderen abwechselnd an, und in seinem Blick stand Mitleid und Unverständnis. »Aber wer will schon sein Leben in Bedlam beschließen? Ich glaube, ich würde mich lieber hängen lassen. Manchmal war er absolut klar, ganz und gar bei Verstand. Er war mit Sicherheit höchst intelligent und gut erzogen. Wenn er es wollte, konnte er sich wunderbar ausdrücken. Zu anderen Zeiten klang er wie jeder andere Raufbold von der Isle of Dogs.«

»Sie wissen also wirklich nicht, was er sagen wollte?« schloß Rathbone.

»Hätten Sie es gewußt? Ich weiß nur, was ich ihn fragen wollte.«

»Und was war das?« fragten Rathbone und Monk gleichzeitig.

»Ich wollte ihn natürlich nach seinem Streit mit Angus fragen und nach den Hintergründen ihrer Streitigkeiten«, erwiderte Goode.

»Nach Angus!« Monk schlug sich auf die Schenkel. Dann fuhr er herum und sah Hester an. »Dann müssen wir herausfinden, was er sagen wollte, worum es bei ihrem Streit wirklich ging, wenn wir wissen wollen, ob die Sache es wert wäre, ihn dafür zu töten. Wollen wir das wissen?«

»Ich will es auf jeden Fall wissen!« sagte Goode sofort.

»Schuldig oder nicht, er war mein Mandant. Wenn er ermordet wurde, aus welchem Grund auch immer, will ich es nicht nur wissen, ich will es auch beweisen.«

»Wem?« fragte Rathbone. »Das Gericht wird nicht warten, während wir Angus Stonefields Jugend erforschen.«

»Es ist ein unnatürlicher Tod«, stellte Goode fest. »Es wird eine gerichtliche Untersuchung der Todesursache geben.«

»Eine Formalität«, entgegnete Rathbone. »Ravensbrook wird seine Aussage zu Protokoll geben. Die Wärter werden sie bestätigen. Der Arzt wird die Todesursache bestätigen, und die ganze Sache wird als unglücklicher Unfall abgetan werden. Jeder wird sagen: ›Was für eine Schande!‹ und dabei denken:

›Was für eine Erleichterung!‹ Man wird die Sache zu den Akten legen und sich dem nächsten Fall widmen.«

»Es könnte Tage, vielleicht Wochen dauern, bis wir herausfinden, was Caleb sagen wollte, das von solcher Tragweite war«, sagte Monk wütend. »Können Sie die Sache nicht hinauszögern?«

»Für eine Weile vielleicht, ja.« Rathbone sah Goode an. »Was meinen Sie?«

»Wir können es versuchen.« Goodes Stimme klang ein wenig energischer. »Ja, verdammt noch mal, wir können es natürlich versuchen!« Er fuhr herum. »Miss Latterly?«

»Ja?«

»Können wir mit Ihrer Unterstützung rechnen? Können Sie sich als Zeugin der Ereignisse so vage und widersprüchlich wie nur möglich verhalten? Geben Sie dem Gericht Gründe zum Nachdenken und um Fragen zu stellen.«

»Natürlich«, sagte sie sofort. »Aber wer wird Monk helfen, Angus' Leben zu ergründen? Das kann er nicht allein tun.«

»Wir alle werden ihm helfen, jedenfalls bis die gerichtliche Untersuchung beginnt«, sagte Goode einfach. »Bis dahin werden wir zumindest eine Vorstellung davon haben, wonach wir eigentlich suchen und an wen wir uns deswegen wenden können.«

»Wir müssen den Leichenbeschauer so weit bringen, daß er glaubt, es könnte sich um einen Mord gehandelt haben«, fügte Rathbone mit wachsendem Eifer hinzu. »Wenn er die Sache für einen Unfall oder einen Selbstmord hält, wird er sie einfach zu den Akten legen. Und verdammt, es wird hart werden. Der einzige mögliche Schuldige ist Ravensbrook, und das würde keinem Leichenbeschauer, den ich kenne, in den Kram passen.«

»Dann machen wir uns besser sofort an die Arbeit«, stellte Monk entschlossen fest. Er sah Goode an. »Ich nehme an, Sie werden eine volle gerichtliche Untersuchung für Ihren Mandanten fordern und genug Zeit, um Beweise zu sammeln?« Dann wandte er sich an Rathbone. »Und Sie werden darum bitten, die Krone repräsentieren zu dürfen, da Sie der Ankläger sind?« Schließlich sah er Hester an, deren Einverständnis er voraussetzte, ohne daß es ihm auch nur in den Sinn gekommen wäre, danach zu fragen. »Sie und ich, wir werden uns Angus' Vergangenheit vornehmen. Wir müssen natürlich getrennt vorgehen, denn die Zeit ist viel zu knapp, um zusammenzuarbeiten. Sie wissen bereits viel mehr über Genevieve als ich.« Belustigung und Selbstironie zuckten in seinem Gesicht auf. »Und Sie scheinen ihren Charakter weit besser einschätzen zu können als ich. Bringen Sie bei ihr so viel wie möglich über Angus in Erfahrung, einschließlich der Frage, wo, wann und wie sie einander kennengelernt haben. Entlocken Sie ihr alles, was sie über seine Beziehung zu Caleb - und zu Ravensbrook weiß. Die Wahrheit diesmal. Ich werde zu Ravensbrooks Landsitz fahren und sehen, was ich dort herausfinden kann. Schließlich sind die beiden Brüder ja dort aufgewachsen.«

»Was ist mit der Isle of Dogs und Limehouse?« fragte Rathbone. »Das übernehme ich«, antwortete Hester sofort.

»Nachdem ich mit Genevieve gesprochen habe und vielleicht auch mit Titus Niven.«

Goode war entsetzt. »Sie können nicht nach Limehouse gehen, Miss Latterly! Sie haben ja nicht die leiseste Ahnung, was da auf Sie wartet, sonst würden Sie niemals auf solch einen Gedanken kommen. Eine Dame wie Sie würde…«

»Ich habe dort den ganzen letzten Monat Typhusopfer betreut, Mr. Goode«, sagte sie geduldig. »Ich bin in einer hervorragenden Position, Nachforschungen in diesem Teil der Stadt anzustellen. Ich möchte sagen, ich weiß mehr über die Menschen dort als irgend jemand sonst hier. Ich könnte Ihnen mindestens zweihundert Namen nennen und Ihnen auch von ihren Familien und Vorfahren berichten. Ich könnte Ihnen erzählen, wer die Toten waren, die sie in den letzten Wochen begraben haben. Die Leute werden eher mit mir reden als mit irgend jemandem von Ihnen. Das kann ich beschwören.«

Goode sah sie bestürzt und zutiefst beeindruckt an.

»Ich verstehe. Vielleicht sollte ich mich besser an die Dinge halten, von denen ich etwas verstehe. Wäre es sehr anmaßend von mir, wenn ich mich um Ihre Sicherheit sorgen würde?«

»Nicht im mindesten, aber wahrscheinlich völlig unnötig«, erwiderte sie mit einem großzügigen Lächeln. »Da Caleb tot ist, wird niemand mehr so versessen darauf sein, ihn zu verteidigen, und niemand braucht noch seine Rache zu fürchten, wenn er ihn verrät, weil er die Wahrheit sagt.«

Rathbone erhob sich. »Ich glaube, wir sollten alle erst einmal eine Nacht lang darüber schlafen, bevor wir anfangen. Ich schlage vor, daß wir uns in drei Tagen wieder hier treffen und über die Dinge reden, die wir bis dahin erfahren haben.«

»Einverstanden.« Goode erhob sich ebenfalls. »Miss Latterly, darf ich Ihnen einen Hansom besorgen und Sie nach Hause begleiten?«

»Vielen Dank«, nahm sie sein Angebot gnädig an. »Das wäre wirklich sehr freundlich. Es war ein recht anstrengender Tag.«