10

Nachdem er seine Aussage gemacht hatte, verließ Monk das Gerichtsgebäude. Es gab dort nichts für ihn zu tun, und seine innere Angst trieb ihn dazu, weiter nach der Wahrheit über Drusilla Wyndham zu suchen. Es ging nicht länger darum, was sie tun konnte, um seinem Ruf zu schaden und ihn seines Lebensunterhalts zu berauben, es ging um die Frage, was für ein Mensch er war, daß sie ihm so etwas antun wollte, etwas, das von ihr selbst einen solchen Preis forderte.

Sie hatte ihn beschuldigt, über sie hergefallen zu sein und versucht zu haben, sie zu vergewaltigen. War es möglich, daß er, obwohl er es diesmal ganz gewiß nicht getan hatte, bei irgendeiner früheren Gelegenheit nicht so unschuldig gewesen war?

Der Gedanke stieß ihn ab. Er konnte sich nicht vorstellen, daß es ihm ein wie auch immer geartetes Vergnügen bereitet hätte, eine Frau gegen ihren Willen zu nehmen. Es wäre ihm demütigend erschienen, und zwar für beide Seiten, ohne Zärtlichkeit oder Würde und ohne die Anteilnahme des Geistes, ohne irgendeine Gemeinsamkeit außer dem primitivsten körperlichen Kontakt, und im Anschluß daran die Scham und das Bedauern über das Vorgefallene.

Hatte er so etwas wirklich getan?

Nur wenn er zu jener Zeit ein vollkommen anderer Mensch gewesen war.

Aber die Angst quälte ihn, weckte ihn des Nachts mit einem Würgen in der Kehle und einem jähen Frösteln auf. Vielleicht war die Angst genauso schlimm wie die Wirklichkeit?

Nachdem er Old Bailey verlassen hatte, ging er direkt zu Evan. Er mußte die Unterlagen selbst einsehen, auch wenn er sich zu diesem Zweck nach Dienstschluß in das Polizeirevier als Zeuge oder als Verdächtiger in irgendeinem Fall hineinschmuggeln lassen mußte. Er wollte die Akten all jener seiner früherer Fälle studieren, die irgend jemandem Tod oder Ruin gebracht hatten.

Wieder mußte er auf Evan warten. Er ging unruhig auf und ab, außerstande, sich hinzusetzen; seine Phantasie quälte ihn mit Schreckensbildern.

Der diensthabende Polizist sah ihn mit einem gewissen Mitleid an.

»Sie sehen sehr mitgenommen aus, Mr. Monk«, bemerkte er.

»Wenn die Sache wirklich dringend ist, kann ich Ihnen sagen, wo Mr. Evan sich aufhält.«

»Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar«, erwiderte Monk. Er versuchte dem Mann zuzulächeln, aber er wußte, daß er nicht mehr als eine Grimasse zustande brachte.

»Great Coram Street Nummer fünfundzwanzig, direkt hinter dem Brunswick Square. Schätze, Sie wissen, wo das ist?«

»O ja.« Das war gegenüber dem Mecklenburg Square, wo sie die Leiche des Mannes gefunden hatten, den er vor seinem Unfall beinahe eigenhändig getötet hätte. Das würde er nie vergessen. »Ja, ich weiß Bescheid, vielen Dank.« Wie ein Blitz aus heiterem Himmel fiel ihm plötzlich der Name des Sergeants ein. »Parsons.«

Das Gesicht des Mannes leuchtete auf. Ihm war nicht klar gewesen, daß Monk sich an ihn erinnerte.

»Gern geschehen, Sir. Ganz bestimmt.«

Monk stürzte aus dem Revier und hielt am Ende der Straße einen Hansom an, schwang sich hinauf und rief dem Fahrer die Adresse zu, noch bevor er sich auf den Sitz geworfen hatte.

Anschließend blieb ihm nichts anderes übrig, als in dem eisigen Wind auf der Great Coram Street zu warten, bis Evan seine Arbeit dort beendet hatte, aber als er aus dem Haus trat, erkannte er Monk sofort, vielleicht deshalb, weil Männer, die sich so kleideten, wie er es tat, selten an einem kalten Februartag untätig auf dem Gehsteig herumstanden.

»Ich habe die Lösung!« sagte er triumphierend, während er mit langen Schritten auf ihn zukam. Er zog die Schultern hoch und seinen Mantel enger um sich; er zitterte ein wenig, aber sein Gesicht strahlte im Bewußtsein seines Erfolgs.

Eine jähe Atemlosigkeit überfiel Monk, eine Hoffnung, die so schmerzlich war, daß sie ihn beinahe erstickte. Er mußte schlucken, bevor er sprechen konnte.

»Die Lösung?« Er wagte es nicht einmal, durchblicken zu lassen, daß er Evans Bemerkung auf Drusilla bezog, für den Fall, daß er sich irrte. Vielleicht hatte Evan lediglich von einer Entdeckung bezüglich seiner gegenwärtigen Nachforschungen gesprochen. Es fiel Monk sehr schwer, sich daran zu erinnern, daß es noch andere Fälle gab, andere Verbrechen, andere Menschen mit anderen Problemen.

»Ja, ich denke schon.« Evan schränkte seine selbstsichere Behauptung ein wenig ein, während er behende vom Straßenrand wegsprang, als eine Kutsche vorbeiratterte. »Im Zusammenhang mit einem der Fälle ist der Name Buckingham aufgetaucht.« Er berührte Monk am Arm und ging durch die Great Coram Street auf den großen Platz mit seinen kahlen Bäumen zu. Der Wind wehte ihnen eisig ins Gesicht. »Der Grund, warum ich so lange gebraucht habe, um darauf zu stoßen«, fuhr er fort, »ist der, daß es sich überhaupt nicht um ein Kapitalverbrechen gehandelt hat, nur um eine Veruntreuung, und nicht einmal um eine besonders schwerwiegende.«

Monk sagte nichts. Ihre Schritte hallten von den kalten Steinen wider. Es ergab keinen Sinn, zumindest bisher nicht.

»Ein gewisser Reginald Sallis hat Kirchenmittel veruntreut«, fuhr Evan mit seinem Bericht fort. »Eine Sache von zwanzig Pfund oder so, aber es wurde der Polizei gemeldet, und man hat Nachforschungen angestellt. Es war sehr unerfreulich, weil das Geld aus einem Waisenfonds stammte und der Verdacht auf eine Menge Leute fiel, bevor der Schuldige gefunden wurde.«

»Aber er wurde gefunden und überführt?« fragte Monk drängend. »Wir haben nicht den falschen Mann erwischt?«

»O nein«, versicherte Evan ihm, während er versuchte, mit ihm Schritt zu halten. »Es war eindeutig der richtige Mann. Gute Familie, aber ein bißchen leichtlebig. Attraktiver Bursche, wie es aussieht, oder zumindest hatte er eine glückliche Hand bei Frauen.«

»Wieso sagen Sie das?« fragte Monk schnell. Sie hatten den Platz erreicht und gingen über den Rasen auf den Landsdowne Place und das Foundling Hospital zu, das direkt vor ihnen lag. Sie mußten um das Gebäude herumgehen, um in die Guildford Street zu gelangen.

»Der Beweis für seine Schuld wurde von zwei jungen Damen sehr sorgfältig verborgen gehalten; beide waren anscheinend in ihn verliebt«, antwortete Evan. »Das heißt, um genauer zu sein, eine von ihnen empfand wohl sehr tief für den jungen Mann, während die andere, ihre Schwester, nur mit ihm geflirtet hat.«

»Aber das erklärt überhaupt nichts!« sagte Monk verzweifelt, während er sich an einem Husaren in Uniform vorbeidrängte.

»Eine romantische Rivalität zwischen zwei Schwestern, eine unbedeutende Unterschlagung, für die ein junger Lump… Was hat er bekommen? Ein Jahr? Fünf Jahre?«

»Zwei Jahre«, antwortete Evan, aber sein Gesicht wirkte plötzlich angespannt, und in seinen Augen leuchtete tiefes Mitleid auf. »Aber er ist in Coldbath Fields an Flecktyphus gestorben. Er war kein besonders angenehmer junger Mann, er hat der Kirche Geld gestohlen, das für wohltätige Zwecke bestimmt war, aber er hat es nicht verdient, allein und elend im Gefängnis dafür zu sterben.«

»War das meine Schuld?« Monk verspürte ebenfalls Mitleid. Er hatte das Gefängnis Coldbath Fields gesehen und hätte keinem menschlichen Wesen ein solches Schicksal gewünscht. Er konnte sich an die Kälte erinnern, die sich in die Knochen fraß, an die Feuchtigkeit der Wände, als weinten sie Tag und Nacht, an den Geruch von Moder und düstere Orte, in die niemals ein Hauch von frischer Luft drang. Man konnte die Verzweiflung dort förmlich schmecken. Wenn er die Augen schloß, sah er die Männer vor sich, mit kahlrasierten Köpfen, die mörderischen Anstrengungen ausgesetzt waren; tagein, tagaus mußten sie endlos, sinnlos Kanonenkugeln von einem Ort zum anderen schaffen, immer im Kreis herum. Und dann die Tretmühle, jene Käfige, die unter dem treffenden Namen »Schwanzschleifer« bekannt waren. Die erzwungene Stille, in der jede menschliche Äußerung verboten war, hallte ihm in den Ohren wider.

»War das meine Schuld?« fragte er noch einmal mit plötzlicher Heftigkeit. Er zwang Evan zum Stehenbleiben, indem er seinen Arm packte und so fest hielt, daß der andere Mann zusammenzuckte und ihn erschrocken ansah.

»Es war Ihr Werk«, sagte Evan, ohne seinem Blick auszuweichen. »Aber der Mann war schuldig. Das Urteil war Sache des Richters, damit hatten Sie nichts zu tun. Was Drusilla Buckingham Ihnen nicht vergeben hat, denke ich, ist die Tatsache, daß Sie sie benutzt haben, um an Sallis heranzukommen. Sie haben ihr erzählt, er habe sie mit ihrer eigenen Schwester Julia betrogen. In ihrem Zorn und ihrem Schmerz hat sie Ihnen gesagt, was Sie hören wollten.«

Monk spürte, wie die Kälte ihm bis ins Mark drang. Er nahm seine Füße auf dem Pflaster nicht mehr wahr, genausowenig wie die Kutschen, die die Guildford Street entlangfuhren, oder das Klirren des Pferdegeschirrs.

»Und hat er das getan?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Evan. »Es gab nichts, was darauf schließen ließ.«

Monk atmete langsam aus. Er haßte den bekümmerten Blick in Evans Augen, die standhafte Weigerung, eine Entschuldigung für sein Verhalten zu finden, aber er konnte auch nichts zu seiner Verteidigung sagen. Er empfand großen Abscheu für sich selbst. Der Mann mochte schuldig gewesen sein, aber warum hatte er die Sache so weit getrieben? War es das wert - die Eifersucht einer Frau zu mißbrauchen, damit sie ihren Geliebten an Coldbath Fields verriet, für ein paar Pfund aus einem Kirchenfonds, selbst wenn er für die Armen bestimmt war?

Heute hätte er nicht mehr so gehandelt. Er hätte ihn laufenlassen. Die Schande wäre genug gewesen. Wenn der Pfarrer es wußte, wenn sogar Drusilla es in ihrem Herzen wußte, hätte das nicht im Grunde genügt?

»Es gehört der Vergangenheit an«, sagte Evan leise. »Sie können es nicht mehr ungeschehen machen. Ich wünschte, ich wüßte, wie wir sie jetzt aufhalten könnten, aber mir fällt nichts ein.«

»Ich habe sie nicht wiedererkannt«, sagte Monk mit ernster Stimme, als wäre dieser Umstand von Bedeutung. »Ich habe Stunden in ihrer Gesellschaft verbracht, und ich habe mich an gar nichts erinnert, an überhaupt nichts.«

Evan ging weiter, und Monk folgte ihm.

»Nichts!« sagte Monk verzweifelt.

»Das ist doch nicht weiter überraschend.« Evan blickte stur geradeaus. »Sie hat ihren Namen geändert, und die Sache liegt mehrere Jahre zurück. Damals war auch die Mode eine andere. Ich schätze, sie hat ihr Aussehen ein wenig verändert. Das ist für eine Frau nicht weiter schwierig. Es war in unseren Augen nur eine ganz unbedeutende Sache, aber damals hat es einen großen Skandal gegeben. Man hatte Sallis vertraut, und außerdem kam auch die Romanze ans Tageslicht. Der Ruf beider Mädchen war ruiniert.«

Alle möglichen Gedanken schossen durch Monks Kopf, Entschuldigungen, die sich in nichts auflösten, bevor sie noch formuliert waren, Abscheu vor sich selbst, Reue, Verwirrung. Nichts von alledem war leicht in Worte zu fassen, und vielleicht blieben sie ohnehin besser ungesagt.

»Ich verstehe.« Er ging neben Evan her, und ihrer beider Schritte machten auf dem Pflaster nur ein einziges Geräusch.

»Vielen Dank.«

Sie überquerten die Guildford Street und gingen die Lamb's Conduit Street hinunter. Monk hatte keine Ahnung, welches Ziel sie ansteuerten. Er lief einfach hinter Evan her, war aber froh, daß sie offensichtlich nicht zum Mecklenburg Square wollten. Dort warteten ohnehin schon zu viele Alpträume auf ihn.

An diesem Abend besuchte Drusilla Wyndham, wie sie sich mittlerweile nannte, eine musikalische Soiree im Haus einer Dame der Gesellschaft. Sie hatte sich mit großer Sorgfalt gekleidet, um ihre Schönheit noch zu unterstreichen, und sie ging davon aus, daß sie eine gewisse Wirkung erzielen würde. Sie betrat den Raum mit hoch erhobenem Haupt, ihre Haut glühte vom Gefühl des inneren Triumphes, vom Wissen, daß sie den Becher der Rache bereits an den Lippen hielt und einen ersten Vorgeschmack davon schon auf ihrer Zunge spüren konnte.

Und sie erzielte tatsächlich eine Wirkung, allerdings eine ganz andere als die, die sie erwartet hatte. Ein Herr, der sich ihr gegenüber immer sehr galant gezeigt hatte, sah sie erschrocken an und wandte ihr dann den Rücken zu, als hätte er plötzlich jemanden erblickt, mit dem er unbedingt sprechen mußte.

Sie nahm die Sache nicht weiter ernst, bis Sir Percy Gainsborough gleichfalls so tat, als hätte er sie nicht gesehen, obwohl ganz offensichtlich war, daß es so war.

»Der ehrenwerte Gerald Hapsgood verschüttete sogar seinen Champagner, so heftig war sein Wunsch, ihr aus dem Weg zu gehen; erschrocken entschuldigte er sich bei der Dame, die neben ihm stand, und trat dann in seiner höchst unschicklichen Hast auf den Saum ihres Gewandes und konnte sein Gleichgewicht nur bewahren, indem er sich an Lady Burgoyne festhielt.

Die Herzogin von Granby warf ihr einen Blick zu, unter dem selbst Rahm gefroren wäre.

Insgesamt war es ein überaus unerfreulicher Abend, und sie ging früh nach Hause, verwirrt und aus der Fassung gebracht, und sie hatte nicht ein Wort von dem gesagt, was sie hatte sagen wollen.

Rathbone betrat am dritten Tag der Verhandlung den Gerichtssaal von Old Bailey mit kaum mehr Zuversicht als zu Beginn des Prozesses, aber seine Entschlossenheit war unvermindert. Er hatte gehofft, daß die Polizei Angus' Leiche finden würde, da sie sich dieser Aufgabe mit ihrer ganzen Kraft gewidmet hatte, aber ihm war von Anfang an klar gewesen, daß die Erfolgsaussichten in dieser Hinsicht gering waren. Es gab so viele andere Möglichkeiten, und Calebs höhnisches Verhalten Monk gegenüber, als dieser ihn in den Sümpfen von Greenwich gestellt hatte, hätte ihm eine Warnung sein müssen. Er hatte gesagt, daß sie Angus niemals finden würden.

Während der Richter den Saal betrat und seinen Platz einnahm und auch das letzte Getuschel verstummte, schaute Rathbone zu Caleb hinüber, und wieder sah er den höhnischen Ausdruck in seinem Gesicht, die Gewalttätigkeit, die so dicht unter der Oberfläche lag. Jede Faser seines Körpers verriet Arroganz.

»Sind Sie bereit fortzufahren, Mr. Rathbone?« fragte der Richter. War da eine Spur von Mitleid in seinem Gesicht, als glaube er, Rathbone könne nicht gewinnen? Er war ein ziemlich kleiner Mann mit einem hageren Gesicht voll feiner Linien, das einst kämpferisch gewesen war, jetzt aber müde wirkte.

»Ja, wenn das Gericht damit einverstanden ist, Mylord«, antwortete Rathbone. »Ich rufe Albert Swain in den Zeugenstand.«

»Albert Swain!« wiederholte der Gerichtsdiener laut. »Albert Swain in den Zeugenstand!«

Swain, ein großer, linkischer Mann, der so stark nuschelte, daß er beinahe jedes Wort wiederholen mußte, erzählte dem Gericht, daß er Caleb am Tag von Angus' Verschwinden gesehen habe, zerschunden und mit übel zugerichteter Kleidung. Ja, er glaube, es sei Blut gewesen. Ja, sein Gesicht war verschrammt und geschwollen, und er hatte eine Schnittwunde an der Wange. Welche anderen Verletzungen hatte der Mann sonst noch? Das konnte er nicht sagen. Er hatte nicht genau hingesehen.

Hatte er den Eindruck gehabt, daß Caleb humpelte oder sich bewegte, als bereite ihm irgendein Körperteil Schmerzen?

Daran konnte er sich nicht mehr erinnern.

Geben Sie sich mehr Mühe, drängte Rathbone ihn. Ja, Caleb hatte gehumpelt.

Auf welchem Bein?

Swain hatte keine Ahnung. Er glaubte, es sei das linke gewesen. Oder das rechte.

Rathbone dankte ihm.

Ebenezer Goode erhob sich, spielte mit dem Gedanken, den Mann mit wenigen Sätzen zu vernichten, und kam zu dem Ergebnis, daß es unhöflich gewesen wäre. Grausamkeit zahlte sich selten aus und ging außerdem gegen seine Natur.

Und überraschenderweise ließ sich der Zeuge, nachdem er seine Aussage gemacht hatte, nicht mehr davon abbringen. Er hatte ganz eindeutig gesehen, daß Caleb Stone in einem Kampf verwickelt gewesen war, und das war kein Irrtum. Er würde nichts hinzufügen. Er würde sich nicht beirren lassen. Er zog keine Schlüsse. Er war absolut sicher, daß es sich um den richtigen Tag handelte. Er hatte zwei Shilling verdient und sich seine Wolldecke vom Pfandleiher zurückgeholt. Das war ein Ereignis, das er nicht so leicht vergessen würde.

Zur Belohnung bekam er ein Nicken vom Richter und einen traurigen Seufzer vom Sprecher der Geschworenen.

»Äh, wirklich«, meinte Goode zum Schluß. »Vielen Dank, Mr. Swain. Das wäre alles.«

Rathbone rief seine letzte Zeugin auf, Selina Herries. Sie kam erklärtermaßen gegen ihren Willen, und nachdem sie den Zeugenstand betreten hatte, umklammerte sie das Geländer, mit steifem Rücken, den Kopf hoch erhoben. Sie trug ein tristes, graubraunes Kleid von einfachem Stoff, schicklichem und sittsamem Schnitt und sie hatte sich einen Schal umgelegt, so daß man in bezug auf ihre Taille nur Vermutungen anstellen konnte. Ihr Häubchen verbarg den größten Teil ihres Haars. Trotzdem war ihr Gesicht genau zu sehen, und nichts konnte von der Kraft und dem Kampfgeist, die die hohen Wangenknochen verrieten, ablenken, von den kühnen Augen und dem großzügigen Mund. Trotz der Tatsache, daß sie Angst hatte und sich zutiefst gegen das vor ihr Liegende sträubte, sah sie Rathbone direkt an und wartete ab, was er sagen würde.

Auf ihrem Platz auf den Zuschauerbänken drehte Genevieve sich langsam und widerstrebend um, um sie anzusehen. In irgendeiner Weise war dies ihr Spiegelbild, zumindest in manchen Punkten. Das war die Frau, die den Mann, der Angus getötet hatte, liebte. Ihrer beider Leben verliefen so unterschiedlich. Genevieve war Witwe, aber Selina stand ebenfalls kurz davor, einen schweren Verlust zu erleiden, der sie vielleicht noch schlimmer treffen würde als Genevieve.

Rathbone blickte von einer Frau zur anderen und bemerkte eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen und doch auch einen Funken desselben Muts und Trotzes.

Er konnte nicht umhin, auch Caleb anzusehen. Würde der Anblick Selinas so etwas wie Bedauern in ihm wecken, Verständnis nicht nur für Genevieves Lage, sondern auch die Erkenntnis, wie hoch der Preis war, den er selbst würde zahlen müssen? Hatte dieser Mann überhaupt so etwas wie menschliche Eigenschaften in sich, Sanftheit oder das Bedürfnis nach Geborgenheit?

Was er sah, als Caleb sich über das Geländer beugte, seine gefesselten Hände auf das Holz gestützt, war tiefste Verzweiflung, jene absolute Hoffnungslosigkeit, die sich einstellt, wenn man seine Niederlage erkennt oder zu kämpfen aufgehört hat.

Als dann auf den Zuschauerbänken Lord Ravensbrook eine Bewegung machte und Caleb ihn erblickte, kehrte der alte unversöhnliche Haß zurück und mit ihm der Wille zu kämpfen.

»Mr. Rathbone?« Der Richter wollte die Verhandlung wieder eröffnen.

»Ja, Mylord.« Er drehte sich zum Zeugenstand um. »Miss Herries«, begann er. Er stand ein wenig breitbeinig in dem freien Raum vor der Richterbank. »Sie wohnen in der Manila Street auf der Isle of Dogs, ist das richtig?«

»Ja, Sir.« Sie würde nicht ein einziges Wort mehr sagen als unbedingt nötig war.

»Sie sind mit dem Angeklagten, Caleb Stone, bekannt?« Ihr Blick blieb ruhig, sie sah nicht zu Caleb hinüber.

»Ja, Sir.«

»Wie lange kennen Sie ihn jetzt?«

»Ungefähr…« Sie zögerte. »Sechs, sieben Jahre, schätze ich.« Sie schluckte nervös und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

»Sechs oder sieben Jahre ist präzise genug.« Rathbone lächelte und versuchte, ihr ein wenig Selbstsicherheit zu geben.

»Wie oft sehen Sie ihn? Ungefähr?« Ihr Gesicht umwölkte sich, und er beeilte sich, ihr zu Hilfe zu kommen. »Jeden Tag? Oder vielleicht einmal die Woche? Oder einmal im Monat?«

»Er kommt und geht«, sagte sie vorsichtig. »Manchmal bleibt er zwei oder drei Tage, und dann ist er wieder weg. Vielleicht wochenlang, vielleicht kürzer. Das kann man nie wissen.«

»Ich verstehe. Aber im Laufe der Jahre haben Sie ihn gut kennengelernt?«

»Das kann man wohl sagen…«

»Ist er Ihr Liebhaber, Miss Herries?«

Ihr Blick flog kurz zu Caleb hinüber, dann schaute sie schnell wieder weg.

Ihrem Gesicht war keine Regung zu entnehmen. Ein Geschworener runzelte die Stirn. Jemand in der Menge kicherte.

»Soll ich die Frage anders formulieren?« erbot sich Rathbone.

»Sind Sie seine Frau?«

Caleb grinste, und seine grünen Augen leuchteten auf. Es war unmöglich festzustellen, was er dachte, oder auch nur zu ermitteln, ob dieser angespannte, beinahe wölfische Gesichtsausdruck Belustigung oder eine unausgesprochene Drohung bedeutete.

Selina hob ihr Kinn ein kleines Stück höher. Sie vermied es, irgend jemanden außer Rathbone anzusehen.

»Ja, so ist es.«

»Vielen Dank für Ihre Offenheit, Ma'am. Ich denke, wir können davon ausgehen, daß es niemanden gibt, der ihn besser kennt als Sie?«

»Könnte sein.« Sie war nach wie vor vorsichtig.

Es herrschte beinahe völlige Stille im Saal, nur ein oder zwei Leute bewegten sich. Selina gab nur das zu Protokoll, was ohnehin auf der Hand lag.

Rathbone war sich dessen bewußt. Sie war seine letzte Zeugin und seine letzte Chance. Aber trotz all ihrer Furcht vor dem Gericht würde sie Caleb nicht verraten. Nicht nur wegen ihrer Gefühle für diesen Mann und der Erinnerung an Augenblicke der Vertrautheit, sondern weil seine Rache, falls man ihn für nicht schuldig befand, schrecklich sein würde. Hinzu kam, daß sie auf der Isle of Dogs lebte; das war ihr Zuhause, und dort waren die Menschen, zu denen sie gehörte. Sie würden kein Verständnis haben für eine Frau, die ihren Mann verriet, ob nun aus Geldgier oder aus Angst um sich selbst. Welchen Preis das Gericht auch für ihre Loyalität fordern mochte, die Strafe für einen Vertrauensbruch mußte weit schlimmer sein. Es war eine Frage des Überlebens.

»Haben Sie auch seinen Bruder Angus gekannt?« fragte Rathbone mit hochgezogenen Augenbrauen.

Sie starrte ihn an, wie sie eine Schlange angesehen hätte.

»Hm.« Es war ein halbes Eingeständnis, und auch das hatte sie nur widerwillig gegeben. Ihre Stimme warnte ihn, daß sie nicht viel weiter gehen würde.

Rathbone lächelte. »Mr. Arbuthnot hat ausgesagt, daß Sie Angus in seinem Geschäft aufgesucht und ihn auch am Tag seines Verschwindens gesehen hätten. Ist das richtig?«

Ihr Gesicht verkrampfte sich vor Zorn. Es gab keinen Ausweg mehr.

»Ja…«

»Warum?«

»Was?«

»Warum?« wiederholte er. »Warum haben Sie Angus Stonefield aufgesucht?«

»Weil Caleb mich zu ihm geschickt hat.«

»Was ist zwischen Ihnen vorgefallen?«

»Nichts!«

»Ich meine, was haben Sie zu ihm gesagt, und was hat er zu Ihnen gesagt?«

»Oh. Weiß ich nicht mehr.« Es war eine Lüge, und jeder wußte das. Das leise Gemurmel der Zuschauer, das leichte Kopfschütteln der Geschworenen, der schnelle Blick des Richters, der von Selina zu Rathbone wanderte - das alles sprach eine deutliche Sprache.

Auch Selina sah es, aber sie glaubte, Rathbone besiegt zu haben.

Rathbone steckte die Hände in die Taschen und sah sie freundlich an.

»Wenn ich dann also behaupten würde, daß Sie ihm die Nachricht überbracht haben, daß Caleb ihn dringend sprechen wolle, noch am selben Tag, und daß er wünsche, sein Bruder solle sofort in die Schenke namens Polly House kommen oder ins Artichoke, dann könnten Sie nicht mit Sicherheit behaupten, daß es anders gewesen sei?«

»Ich…« In ihren Augen blitzte entschlossener Trotz auf, aber sie saß in der Falle. Es war ihr verhaßt, sich in Widersprüche zu verwickeln oder Entschuldigungen zu erfinden, die auf sie zurückfallen konnten. Sie war ihm einmal in die Falle gegangen.

»Vielleicht hat das Ihr Gedächtnis ein wenig aufgefrischt?« fragte Rathbone, wobei er sorgsam darauf achtete, daß kein Sarkasmus aus seiner Stimme klang.

Sie sagte nichts, aber er hatte einen kleinen Sieg errungen, was er an den Gesichtern der Geschworenen ablesen konnte. Wenn ihnen erst einmal klarwurde, daß sie bereit war, zu Ausflüchten zu greifen, ja sogar zu lügen, um Caleb zu schützen, würde das alles, was sie vielleicht noch zu seiner Verteidigung vorbringen konnte, in ein anderes Licht rücken.

»Haben Sie Angus Stonefield später an jenem Tag noch einmal gesehen, Miss Herries?« nahm Rathbone den Faden wieder auf. Sie sagte nichts.

»Sie müssen die Frage beantworten, Miss Herries«, warnte der Richter sie. »Wenn Sie das nicht tun, werde ich Sie wegen Mißachtung des Gerichts festnehmen lassen. Das bedeutet, ich kann Sie so lange ins Gefängnis stecken, bis Sie bereit sind zu antworten. Und natürlich steht es den Geschworenen frei, Ihr Schweigen in jeder Art zu deuten, wie es ihnen beliebt. Haben Sie mich verstanden?«

»Ich habe ihn gesehen«, sagte sie heiser und schluckte. Sie starrte vor sich hin und hielt ihren Kopf so steif, daß sie nicht einmal aus den Augenwinkeln sehen konnte, wie Caleb sich über das Geländer der Anklagebank beugte und sie anstarrte.

Rathbone heuchelte Interesse, als hätte er keine Ahnung von dem, was sie sagen würde.

Jetzt herrschte absolute Stille im Saal. »Im Polly«, sagte sie verdrossen. »Was hat er da getan?«

»Nichts.«

»Nichts?«

»Er hat einfach nur rumgestanden und auf Caleb gewartet, nehme ich an. Ich habe ihm gesagt, daß er ihn dort treffen würde.«

»Haben Sie auch gesehen, wie Caleb angekommen ist?«

»Nein.«

»Aber er hat Ihnen doch gesagt, daß er die Absicht hätte, dort hinzukommen?«

»Er hat es nicht eigens erwähnt. In der Taverne hat er sich immer mit Angus getroffen. Immer am gleichen Ort. Ich habe die beiden nicht einmal zusammen gesehen, und ich habe sie nie streiten gesehen, und das ist die Wahrheit, ob Sie mir glauben oder nicht!«

»Ich glaube Ihnen, Ma'am«, räumte Rathbone ein. »Aber haben Sie Caleb irgendwann später an diesem Tag gesehen?«

»Nein, habe ich nicht.«

Einer der Geschworenen schüttelte den Kopf, ein anderer hustete verstohlen in sein Taschentuch. Auf den Zuschauerbänken entstand eine leichte Unruhe.

Rathbone wandte sich vom Zeugenstand ab. Sein Blick suchte den Ebenezer Goodes, und er sah, wie sein Gegner ein wenig kläglich lächelte. Der Fall stand immer noch auf des Messers Schneide, aber wie unfreiwillig auch immer, so konnte Selina mit ihrer Aussage doch alles liefern, was nötig war, um das Gleichgewicht zu Calebs Ungunsten zu verschieben. Goode hatte nur wenig, was er in die Waagschale werfen konnte, und es würde ein gewagtes Spiel sein, Caleb selbst in den Zeugenstand zu rufen. Nicht einmal Goode konnte wissen, was dann passieren würde. Der Mann war tollkühn und wurde von so starken Gefühlen getrieben, daß es gefährlich war.

Rathbone drehte sich um seine eigene Achse, bevor er Selina wieder ansah. Sein Blick fiel dabei kurz auf Hester, die ziemlich weit vorne saß, neben Enid Ravensbrook, die blaß und angespannt aussah. Ihr Gesicht war voller Mitleid und verriet Spuren des schrecklichen Wartens auf einen endgültigen Beweis, während sie dem Augenblick immer näher kamen, in dem der Haß und die Eifersucht vieler Jahre zu guter Letzt in Mord mündeten.

Caleb hatte das Haus bereits verlassen, als sie Milo Ravensbrook heiratete, aber sie mußte trotzdem etwas für ihn empfunden haben, schon um ihres Mannes willen, der so viel für die beiden Jungen getan hatte.

Ganz gewiß aber kannte sie Angus und Genevieve und wußte nur allzugut um deren tragisches Schicksal.

Milo Ravensbrook saß an ihrer anderen Seite, sein Gesicht war so bleich, daß es beinahe blutleer schien, und seine dunklen Augen und geraden Brauen wirkten wie schwarze Pinselstriche auf grauweißem Wachs. Konnte ein Mensch sich einer grauenvolleren Enthüllung gegenübersehen als der, daß das eine Kind das andere getötet hatte? Es würde ihm nichts mehr bleiben.

Aber hätten sie, nachdem Angus' blutbefleckte Kleider erst einmal gefunden worden waren, irgend etwas anderes tun, einen anderen Weg einschlagen können?

Enid wandte sich ihm zu, und ihre Miene verriet eine Mischung aus Schmerz und der beinahe sicheren Erwartung, verletzt zu werden, als wisse sie bereits, daß er eine solche Vertraulichkeit zurückweisen würde, und konnte doch nicht umhin, es wenigstens zu versuchen. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Selbst von seinem Platz aus konnte Rathbone erkennen, wie dünn ihre Finger aussahen. Es waren erst dreieinhalb Wochen vergangen, seit sie die Krise ihrer Krankheit überwunden hatte.

Ravensbrook saß immer noch wie erstarrt da, als bemerke er ihre Gegenwart nicht einmal.

Es herrschte völlige Stille im Saal.

Rathbone richtete seinen Blick wieder auf Selina.

»Miss Herries, wann haben Sie Caleb wiedergesehen? Denken Sie gut nach, bevor Sie antworten. Ein Irrtum in dieser Sache könnte Sie einen hohen Preis kosten.«

Ebenezer Goode erhob sich halb, kam dann aber zu der Einsicht, daß er mit einem Einspruch nichts erreichen würde. Rathbone hatte sich zu vorsichtig ausgedrückt, als daß man seine Worte für eine Drohung halten konnte. Er ließ sich wieder auf seinen Platz sinken.

In der Menge ließ jemand einen Regenschirm fallen, versuchte ihn wieder aufzuheben und ließ ihn dann dort, wo er lag. »Miss Herries?«

Selina starrte Rathbone an, und er erwiderte ihren Blick so konzentriert, als könne er ihre Gedanken und Ängste lesen und sie gegeneinander abwägen.

Der Richter hob die Hände und faltete sie dann wieder.

»Am nächsten Tag«, antwortete Selina beinahe unhörbar.

»Hat er Angus erwähnt?«

»Nein…« Ihre Stimme war ein Flüstern.

»Würden Sie bitte etwas lauter sprechen, damit wir Sie hören können, Miss Herries«, ermahnte sie der Richter.

»Nein.«

»Überhaupt nicht?« bedrängte Rathborne sie.

»Nein.«

»Und er hat nicht gesagt, daß er ihn getroffen hätte?«

»Nein.«

»Und Sie haben nicht gefragt?« Rathbone gestattete es sich, die Augenbrauen in die Höhe zu ziehen. »War es Ihnen egal? Sie überraschen mich. Ging es nicht um das Geld für die Miete Ihrer Unterkunft, das Angus mitbringen sollte? Das muß doch eine ausgesprochen wichtige Sache für Sie gewesen sein?«

»Ich habe die Nachricht überbracht«, sagte sie tonlos. »Alles andere ging mich nichts an.«

»Und er hat es Ihnen nicht erzählt? Um Sie zu beruhigen, zum Beispiel? Wie ungehobelt von ihm. Vielleicht hatte er aber auch einfach schlechte Laune.«

Diesmal stand Ebenezer Goode tatsächlich auf.

»Mylord, mein gelehrter Freund macht da einige Andeutungen, für die er keine Gründe hat und die lediglich auf Spekulationen beruhen…«

»Ja, ja.« Der Richter gab ihm recht. »Mr. Rathbone, bitte, beeinflussen Sie Ihre Zeugin nicht mit solchen Bemerkungen. Sie müßten es eigentlich besser wissen. Stellen Sie Ihre Fragen, und kommen Sie zum Ende.«

»Mylord.« Er wandte sich wieder der Zeugin zu.

»Miss Herries, hatte Caleb schlechte Laune, als Sie ihn wiedersahen?«

»Nein.«

»War er vielleicht ein wenig verletzt?«

»Verletzt?« Sie klang mißtrauisch.

»Steif! Ein paar blaue Flecken?«

»Ja, hm…« Sie zögerte und dachte offensichtlich darüber nach, wie weit sie mit ihren Lügen gehen konnte. Ihr Blick huschte kurz zu Caleb hinüber, dann schaute sie schnell wieder in eine andere Richtung. Sie hatte Angst und wog ein Risiko gegen das andere ab.

Rathbone hatte Mitleid mit ihr, aber er konnte ihr das nicht ersparen. Sein Beruf hatte einige Seiten, die ihm nicht besonders gefielen.

Es wäre äußerst unklug gewesen, die Geschworenen auf ihr Dilemma aufmerksam zu machen. Sie hatten Calebs Gesicht gesehen. Sie kannten ihre Situation. Es war besser, sie selbst ihre Schlüsse ziehen zu lassen, als sie von oben herab zu Ergebnissen führen zu wollen und somit zu riskieren, daß sie ihn für übereifrig hielten.

»Ich bitte Sie nicht, uns zu erzählen, wie er zu etwaigen Verletzungen gekommen sein könnte, Miss Herries«, half er ihr weiter. »Wenn Sie es nicht wissen, sagen Sie uns lediglich, ob er in irgendeiner Weise verletzt war oder nicht. Sie sind ganz gewiß in der Lage, uns eine Antwort zu geben. Er war immerhin Ihr Liebhaber.«

»Er war verletzt, ja«, räumte sie ein. »Aber er hat nicht gesagt, was passiert ist, und ich stelle keine Fragen. Es gibt Unmengen Schlägereien in Limehouse und Blackwall. Jeden Abend und fast jeden Tag prügelt sich irgendwer. Caleb hat oft etwas abbekommen, aber er hat nie jemanden umgebracht, nicht, soweit ich weiß.« Sie hob das Kinn ein klein wenig an. »Nicht, daß ihm jemals einer überlegen gewesen wäre.«

»Das kann ich durchaus glauben, Ma'am. Ich habe gehört, daß er ein Mann mit beträchtlicher Körperkraft ist, der sich bestens darauf versteht, sich selbst zu verteidigen.«

Sie straffte sich ein wenig und hielt den Kopf sehr hoch.

»Das stimmt. Niemand schlägt Caleb Stone.«

Ihr Stolz ließ ihn Mitleid empfinden, und er wußte, ohne einen Blick auf die Geschworenen zu werfen, daß es außerdem die letzte Kleinigkeit war, die er brauchte, um Vermutungen in Überzeugung zu verwandeln.

»Vielen Dank, Miss Herries.« Er drehte sich zu Goode um.

»Ihre Zeugin, Sir.«

Goode erhob sich langsam, als sei er müde, und streckte dabei seine langen Beine. Er schlenderte durch den Saal und blieb vor dem Zeugenstand stehen, wo er zu Selina aufsah.

»Äh, Miss Herries. Erlauben Sie mir, Ihnen einige Fragen zu stellen. Es wird nicht lange dauern.« Er schenkte ihr ein betörendes Lächeln. Dem Ausdruck ihres Gesichts nach zu schließen, fand sie das möglicherweise noch beunruhigender als Rathbones Eleganz. »Und ich werde Ihnen auch keinen Schmerz damit bereiten«, fügte er hinzu.

»Mhm.«

»Wunderbar. Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet.« Er schob seine Daumen in die Armlöcher der Weste, die er unter seiner Robe trug. »Hat Caleb Ihnen erzählt, warum er seinen Bruder überhaupt um Geld bat, trotz der negativen Gefühle, die sie füreinander hegten? Oder warum sein Bruder überhaupt bereit war, es ihm zu geben?«

»Nein, über solche Dinge hat er mit mir nicht gesprochen. Ging mich nichts an. Angus hat ihm immer Geld gegeben, wenn er welches wollte. Fühlte sich schuldig, schätze ich.«

»Weswegen fühlte er sich schuldig, Miss Herries? War Angus verantwortlich für Calebs Mißgeschick?«

»Weiß ich nicht«, sagte sie scharf. »Vielleicht war er das! Vielleicht hat er dem alten Mann Sachen erzählt, um ihn gegen Caleb aufzubringen. Er war ja immer ganz der liebe Junge, konnte kein Wässerchen trüben. Woher soll ich wissen, wie's in ihm ausgesehen hat? Ich weiß nur, daß er jedesmal kam, wenn Caleb nach ihm schickte.«

»Ich verstehe. Und wirkte Angus irgendwie verängstigt, als sie ihm Calebs Nachricht überbracht haben?«

»Was?«

»Ich bitte um Entschuldigung. Hatten Sie das Gefühl, daß er Angst hatte oder sich irgendwelche Sorgen machte? Ging er nur ungern nach Limehouse?«

»Nein. Hmm… ich schätze, er wollte sein Geschäft nicht im Stich lassen, aber das hat er nie gern getan. Ist ja auch nicht schwer zu verstehen - wer würde schon gern aus einem schönen, warmen Büro in 'ner feinen Straße in irgend 'ne Kneipe auf der Isle of Dogs gehen?«

»Niemand, da haben Sie recht«, pflichtete Goode ihr bei.

»Aber abgesehen von diesem natürlichen Widerstreben war er wie immer?«

»Mhm.«

»Und er hatte sich schon häufig mit Caleb getroffen?«

»Mhm.«

»Er hat Ihnen nicht zum Beispiel angeboten, Ihnen das Geld zu geben, um sich den Weg nach Limehouse zu ersparen und damit die Notwendigkeit, Caleb überhaupt zu treffen?«

»Nein.« Sie sagte nicht mehr als dieses eine Wort, aber ihr Gesicht spiegelte Überraschung wider und auch so etwas wie Feindseligkeit.

Goode zögerte, schien seine weitere Frage stellen zu wollen, entschied sich dann jedoch dagegen.

Eine plötzliche Eingebung sagte Rathbone, welche Frage es gewesen wäre. Er beschloß, sie während des Kreuzverhörs selbst zu stellen. Goode hatte ihm gezeigt, welchen Weg er einschlagen mußte.

»Und als sie Caleb am Tag danach wiedersahen«, griff Goode seinen Faden wieder auf, »da hat er Angus mit keinem Wort erwähnt, stimmt das?«

»Mhm. Er hat überhaupt nicht von ihm gesprochen.« Ihr Gesicht war bleich; Rathbone war sicher, daß sie log. Er sah zu den Geschworenen hinüber und konnte an ihren Gesichtern genau ablesen, was sie empfanden. Niemand glaubte ihr.

»Wissen Sie, ob er seinen Bruder getötet hat, Miss Herries?« Goodes Stimme durchschnitt die Stille.

Irgendwo im Raum holte jemand hörbar Luft.

Caleb stieß einen kurzen, verächtlichen Schrei aus, der fast wie ein Bellen klang. »Nein«, sagte Selina und schüttelte so heftig den Kopf, als wolle sie etwas loswerden, das sie umklammert hielt. »Nein, ich habe keine Ahnung davon, und Sie haben kein Recht, so was zu behaupten!«

»Ich behaupte es nicht, Miss Herries«, versicherte Goode ihr.

»Ich tue mein Möglichstes, um diese Herren hier davon zu überzeugen«, er zeigte mit der Hand ungefähr dorthin, wo die Geschworenen saßen, »daß es nicht den geringsten Beweis dafür gibt, daß Angus überhaupt tot ist - überhaupt keinen endgültigen Beweis -, ganz zu schweigen davon, daß es einen Grund gibt, seinen Bruder dafür verantwortlich zu machen. Es gibt ein Dutzend anderer Möglichkeiten, wo Angus Stonefield sein könnte - und warum.«

Rathbone stand auf.

Der Richter seufzte. »Mr. Goode, dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sich an die Geschworenen zu wenden, weder direkt noch indirekt, und das wissen Sie sehr gut. Wenn Sie weitere Fragen an die Zeugin haben, fahren Sie bitte fort. Wenn nicht, dann erlauben Sie Mr. Rathbone, die Zeugin noch einmal zu befragen, wenn er das möchte.«

»Natürlich.« Goode verbeugte sich mit einer formellen, wenn auch ziemlich herausfordernden Geste und kehrte an seinen Platz zurück. »Mr. Rathbone!«

Rathbone sah Selina an. Er lächelte.

»Sie haben meinem gelehrten Freund gerade bestätigt, daß Caleb sich in der Vergangenheit häufig mit Angus getroffen hat und daß Sie davon wußten. Sie sagten gleichfalls, daß Caleb sich bei der Gelegenheit, um die es uns hier geht, nämlich dem letzten Tag, an dem Angus Stonefield je gesehen wurde, genauso verhalten hat wie immer.«

»Mhm.« Sie hatte das alles bereits zugegeben, und es schien nichts dagegen zu sprechen, es noch einmal zu bestätigen.

»Und doch schickte er nach seinem Bruder, und sein Bruder hat alles andere stehen und liegengelassen und folgte Calebs Aufforderung - suchte, soweit Sie wissen, eine öffentliche Schankwirtschaft auf der Isle of Dogs auf, einfach um Geld auszuhändigen, das er, da es sich ja um Ihre Miete handelte, genausogut hätte Ihnen geben können. Und wie Sie sagen, wer würde schon freiwillig ein warmes Büro verlassen, um…«

Der Richter wartete nicht auf Goode.

»Mr. Rathbone, Sie drehen sich im Kreis. Wenn Ihre Fragen ein Ziel haben, dann steuern Sie es jetzt bitte direkt an!«

»Sehr wohl, Mylord. Ich verfolge mit meinen Fragen tatsächlich ein Ziel. Miss Herries, Sie erzählen uns, daß es etwas völlig Normales war, daß Caleb nach seinem Bruder schickte, daß dieser kam und daß Caleb zerschunden, verletzt, vielleicht sogar aus mehreren Wunden blutend zurückkehrte und trotzdem bester Laune war, da er eine Prügelei für sich entschieden hatte. Und Sie haben ebenfalls gesagt, daß niemand Caleb Stone schlägt. Das muß auch seinen unglücklichen Bruder einschließen, der seither nicht mehr gesehen wurde! Nur seine blutbefleckten Kleider sind auf der Isle of Dogs gefunden worden!«

Selina sagte nichts. Ihr Gesicht war genauso weiß wie das Papier, auf das der Gerichtsschreiber kritzelte.

Auf der Anklagebank stieß Caleb Stone ein wildes Gelächter aus. Es wurde schriller und lauter, bis es den ganzen Saal auszufüllen und von der Holzvertäfelung widerzuhallen schien.

Der Richter schlug mit dem Hammer auf sein Pult und fand keine Beachtung - so ein Hammer war nicht mehr als ein Instrument, das den Takt zu dem folgenden Aufruhr schlug. Er verlangte Ruhe, und niemand hörte überhaupt hin. Calebs hysterisches Lachen übertönte alles andere. Die Wärter packten ihn, aber er stieß sie zur Seite.

In der Galerie stolperten die Journalisten übereinander, um aus dem Saal zu kommen und mit dem ersten Hansom, den sie erwischen konnten, der Fleet Street und den Extraausgaben entgegenzujagen.

Enid erhob sich in dem allgemeinen Tumult und schaute sich hilflos um. Sie versuchte mit Ravensbrook zu sprechen, aber er beachtete sie nicht, sondern starrte wie gebannt zur Anklagebank hinüber. Er schien nicht wahrzunehmen, was um ihn herum geschah, all die Aufregung und das Durcheinander, sondern war anscheinend ganz mit irgendeiner schrecklichen Wahrheit in seinem Innersten beschäftigt.

Der Richter schlug immer noch mit seinem Hammer auf das Holzpult, ein scharfes, dünnes, rhythmisches Geräusch ohne die geringste Wirkung.

Rathbone bedeutete Selina Herries, daß sie gehen dürfe. Sie drehte sich um und ging die Stufen des Zeugenstands hinunter, ohne Caleb eine Sekunde lang aus den Augen zu lassen.

Schließlich überwältigten die Wärter ihn, und er wurde weggeführt. Daraufhin kehrte zumindest zum Schein die Ordnung wieder ein.

Der Richter verkündete, hochrot im Gesicht, daß das Gericht sich vertagen wolle.

Draußen im Korridor prallte Rathbone, der ziemlich erschüttert war, beinahe mit Ebenezer Goode zusammen, der schockiert und unglücklich aussah.

»Hätte nicht gedacht, daß Sie das hinkriegen würden, mein lieber Freund«, sagte er mit einem Seufzer. »Aber nach den Mienen der Geschworenen zu schließen, würde ich jetzt jede Wette eingehen, daß Sie einen Schuldspruch erwirken. Ich hatte noch nie einen Mandanten, der so versessen auf seine eigene Zerstörung war.«

Rathbone lächelte, aber es war eine Geste der Höflichkeit, in der keine Freude lag. Sein Sieg würde ihm berufliche Befriedigung geben, aber es mangelte ihm auf seltsame Weise an dem gewohnten Gefühl des persönlichen Triumphes. Er hatte Caleb Stone für durch und durch verachtenswert gehalten. Jetzt waren seine Gefühle nicht mehr so eindeutig. Die Unberechenbarkeit Calebs und seine starke geistige Präsenz im Gerichtssaal, obwohl er bisher noch nicht einmal gehört worden war, untergruben sein Urteil, und er war sich, was das Ergebnis von Calebs Zeugenaussage betraf, bei weitem nicht so sicher wie Goode.

Lord und Lady Ravensbrook standen nur wenige Meter von ihnen entfernt. Sie sah aschfahl aus, wirkte aber fest entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. Ihr Mann stützte sie. Hester war vorübergehend von ihrer Seite gewichen, vielleicht, um die Kutsche herbeizurufen.

Ravensbrook hatte keine Skrupel, ihr Gespräch zu unterbrechen. »Mr. Goode! Ich muß mit Ihnen sprechen!«

Goode drehte sich höflich um, aber dann fiel sein Blick auf Enid. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich sofort, und an die Stelle des Erstaunens trat Besorgnis. Anscheinend hatte er sie noch nicht kennengelernt, ahnte aber, wer sie war.

»Meine liebe Dame, Sie können sich doch keineswegs schon von Ihrer Krankheit erholt haben. Bitte erlauben Sie mir, einen behaglicheren Platz für Sie zu suchen, wo Sie warten können.«

Ravensbrook erkannte mit einem Aufwallen von Ärger sein Versäumnis und stellte die beiden hastig vor. Goode verbeugte sich, ohne jedoch den Blick von Enids Gesicht abzuwenden. Unter den gegebenen Umständen war seine Aufmerksamkeit ein Kompliment, und sie konnte nicht umhin zu lächeln.

»Vielen Dank, Mr. Goode. Ich werde wohl in meiner Kutsche warten. Ich bin sicher, Miss Latterly ist gleich zurück, und bis dahin komme ich schon zurecht. Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie daran gedacht haben.«

»Aber überhaupt nicht«, versicherte er ihr. »Wir können Ihnen nicht erlauben, hier zu stehen, nicht einmal, bis Ihre Kutsche kommt. Ich hole Ihnen einen Stuhl.« Und ohne Ravensbrook und Rathbone weiter zu beachten, eilte er davon. Er mußte etwa zehn Meter weit gehen, um einen großen Holzstuhl zu finden, den er zu Enid trug und ihr anschließend half, darin Platz zu nehmen.

Nachdem diese Angelegenheit erledigt war, wandte Ravensbrook sich wieder an Goode, ohne Rathbone irgendwelche Beachtung zu schenken.

»Gibt es noch Hoffnung?« fragte er ohne weitere Umschweife. Sein Gesicht war immer noch starr und von den Nachwirkungen des Schocks gezeichnet.

Rathbone entfernte sich höflich einen Schritt, obwohl er damit nicht außer Hörweite war.

»Daß wir die Wahrheit herausfinden?« Goode hob die Augenbrauen. »Das bezweifle ich, Mylord. Ganz gewiß wird es uns nicht gelingen, sie zu beweisen. Ich wage zu sagen, daß das, was Angus zugestoßen ist, für immer eine Mutmaßung bleiben wird. Wenn Sie wissen wollen, wie der Spruch der Geschworenen ausfallen wird, so halte ich im Augenblick eine Verurteilung irgendeiner Art nicht für unwahrscheinlich, obwohl ich nicht zu sagen wage, ob das Urteil auf Mord oder Totschlag lauten wird.« Er holte tief Luft. »Zuerst müssen wir Calebs Geschichte hören. Die könnte jetzt etwas anders ausfallen als noch vor einigen Tagen. Er hat Zeugenaussagen gehört, die ihn vielleicht dazu bringen werden, etwas offener von der Begegnung mit seinem Bruder zu sprechen.«

»Sie haben die Absicht, ihn in den Zeugenstand zu rufen?« Ravensbrooks Körper war völlig steif und seine Haut wie Papier. »Fürchten Sie nicht, daß er sich mit seinen eigenen Worten ins Unglück stürzen wird, wenn er das nicht ohnehin schon getan hat? Ich bitte Sie, haben Sie Erbarmen und tun Sie es nicht. Wenn Sie es einfach dabei bewenden lassen, dann können Sie um seinetwillen darauf plädieren, daß es zu einem Streit gekommen sein müsse, der außer Kontrolle geriet, dann werden die Geschworenen vielleicht auf Totschlag erkennen oder sogar auf ein geringeres Vergehen, vielleicht nur auf einen Unfall mit Todesfolge.« Eine verwegene Hoffnung flackerte in seinen dunklen Augen auf. »Das wäre doch sicher im besten Interesse Ihres Mandanten? Er hat ganz offensichtlich den Verstand verloren. Vielleicht wäre er überhaupt am besten in Bedlam aufgehoben.«

Goode dachte einige Sekunden lang darüber nach.

»Möglicherweise«, räumte er ein; seine hochgezogenen Augenbrauen senkten sich wieder, und seine Stimme war sehr ruhig. »Aber die Geschworenen sind ihm nicht besonders wohlgesonnen. Sein eigenes Verhalten hat das bewirkt. Nach Bedlam würde ich nicht einmal einen Hund schicken. Ich glaube, ich muß ihm die Gelegenheit geben, seine Geschichte selbst zu erzählen. Es ist immer sehr viel unwahrscheinlicher, daß die Geschworenen einem Angeklagten glauben, der nicht selbst zu Wort gekommen ist.«

»Rathbone wird ihn vernichten!« rief Ravensbrook mit einem plötzlichen Aufwallen von Zorn. »Er wird, wenn man ihn drängt, wieder die Beherrschung verlieren, und er hat Angst. In einem solchen Zustand würde er alles sagen, einfach um zu schockieren.«

»Ich werde mir mein Urteil bilden, wenn ich mit ihm gesprochen habe«, versprach Goode. »Obwohl ich geneigt bin, Ihnen zuzustimmen.«

»Gott sei gedankt!«

»Natürlich ist es seine Entscheidung«, fügte Goode hinzu.

»Der Mann kämpft schließlich um sein Leben. Wenn er zu sprechen wünscht, muß man ihm die Möglichkeit dazu geben.«

»Können Sie als sein juristischer Berater ihn nicht vor sich selbst bewahren?« wollte Ravensbrook wissen.

»Ich kann ihm raten, das ist alles. Ich kann ihm nicht die Möglichkeit verwehren, zu seiner eigenen Verteidigung auszusagen.«

»Ich verstehe.« Ravensbrook warf einen Blick auf Rathbones Profil. »Dann hat er wohl kaum eine Chance. Da ich sein einziger noch lebender Verwandter bin und, sobald er erst verurteilt ist, vielleicht keine Gelegenheit mehr haben werde, mit ihm zu sprechen, würde ich ihn gern noch einmal sehen, und zwar allein. Heute zumindest ist er noch ein unschuldiger Mann.«

»Natürlich«, pflichtete Goode ihm schnell bei. »Soll ich das für Sie in die Wege leiten?«

»Ich werde Sie um Hilfe bitten, falls das nötig sein sollte«, antwortete Ravensbrook. »Ich danke Ihnen für das Angebot.« Er sah erst Rathbone an, dann Enid auf ihrem Stuhl.

Sie warf ihm einen langen, neugierigen, flehentlichen Blick zu, als gäbe es eine Frage, von der sie nicht wußte, wie sie sie in Worte fassen sollte.

Wenn er verstand, was sie meinte, ließ er sich nichts davon anmerken, weder in seiner Miene noch in seiner Haltung. Und er gab auch keine weiteren Erklärungen.

»Warte in der Kutsche auf mich«, sagte er zu ihr. »Dort hast du es bequemer. Miss Latterly ist sicher gleich wieder zurück.« Und ohne mehr zu sagen, verabschiedete er sich, um mit schnellen Schritten die Treppe hinunterzugehen, die zu den Zellen führte.

Etwa zwanzig Minuten später stand Rathbone draußen auf der Treppe zur Straße und sprach mit Monk, der gerade eingetroffen war. Ebenezer Goode kam die Treppe herunter und steuerte auf sie zu; sein Haar flatterte im Wind, und sein Gesicht war aschfahl. Er drängte sich an einem Gerichtsdiener vorbei, wobei er den Mann um ein Haar umgerannt hätte.

»Was ist passiert?« fragte Rathbone, plötzlich voll Furcht.

»Was ist geschehen, Mann? Sie sehen furchtbar aus!«

Goode packte ihn am Arm und drehte ihn halb zu sich um.

»Er ist tot! Es ist alles vorbei. Er ist tot!«

»Wer ist tot?« fragte Monk. »Wovon reden Sie?«

»Caleb.« Seine Stimme war heiser. »Caleb ist tot.«

»Das ist unmöglich!« Rathbone wußte, noch bevor er sie ausgesprochen hatte, wie töricht seine Worte waren. Er versuchte die Wirklichkeit zu leugnen, weil sie häßlich war und er sie nicht glauben wollte.

»Wie?« fragte Monk, ohne Rathbone noch einmal zu Wort kommen zu lassen. »Was ist passiert? Hat er sich selbst getötet?« Er stieß einen heftigen Fluch aus und hob die geballte Faust. »Wie konnten die Wärter nur so verdammt dumm sein? Obwohl ich nicht weiß, warum mich diese Sache so trifft! Für den armen Teufel ist es besser, als sich der langen Tortur eines gerichtlich verfügten Todes aussetzen zu müssen. Ich sollte eigentlich froh sein.« Er stieß die Worte zwischen den Zähnen hervor, und seine Stimme klang hart und heiser. »Warum kann ich es nicht?«

Rathbone schaute von Monk zu Goode. Dieselben widersprüchlichen Gefühle tobten auch in ihm. Er hätte dankbar sein müssen. Caleb hatte zu guter Letzt doch noch gestanden. Er hatte Erfolg gehabt. Die Worte des Duke of Wellington hallten in seinen Ohren wider - das Zweitschlimmste nach einer verlorenen Schlacht war eine gewonnene Schlacht. Diese Sache hatte nichts mit einem Sieg zu tun.

»Es war kein Selbstmord«, sagte Goode mit zittriger Stimme.

»Ravensbrook hat ihn in seiner Zelle besucht, so wie er es wünschte. Anscheinend hatte Caleb Angst, daß man ihn schuldig sprechen würde. Er sagte, er wolle eine schriftliche Aussage machen. Vielleicht hatte er vor, ein Geständnis abzulegen oder irgendeinen Hinweis zu geben, wer weiß? Ravensbrook kam jedenfalls noch einmal heraus, um sich eine Feder und ein Blatt Papier geben zu lassen. Beides hat er dann wieder mit hineingenommen. Anscheinend war die Feder stumpf. Er holte sein Taschenmesser heraus, um sie anzuspitzen…«

Rathbone wurde übel, als kenne er die Worte, noch bevor sie ausgesprochen wurden. »Caleb machte plötzlich einen Satz nach vorn, packte das Messer und griff Ravensbrook an«, sagte Goode, dessen Blick zwischen Rathbone und Monk hin und her ging.

Rathbone war überrascht. Es war also doch nicht so, wie er angenommen hatte.

»Sie haben miteinander gerungen«, fuhr Goode fort. »Der arme Ravensbrook hat eine schlimme Schnittwunde davongetragen.«

»Gott helfe ihm«, sagte Rathbone leise. »Das war nicht das Ende, das ich mir gewünscht habe, aber vielleicht ist es nicht das Schlimmste, was passieren konnte. Vielen Dank, Goode. Danke, daß Sie mir Bescheid gesagt haben.«