9

Vier Tage später begann vor dem obersten Gerichtshof für Straftaten im Old Bailey die Verhandlung gegen Caleb Stone. Die Vertretung der Anklage übernahm Oliver Rathbone, die Verteidigung Ebenezer Goode. Goode war ein Kronanwalt von großer Ausstrahlung und Begabung. Er hatte den Fall nicht wegen des Honorars übernommen - es gab keins -, sondern der grundsätzlichen Bedeutung der Angelegenheit und vielleicht sogar noch mehr der damit verbundenen Herausforderung wegen. Rathbone kannte ihn flüchtig. Sie waren schon früher Gegner vor Gericht gewesen. Goode war ein Mann von Mitte Vierzig, groß und ziemlich hager, aber seine hervorstechendsten Merkmale waren seine vorstehenden, sehr hellen, blaugrauen Augen und sein offenes, strahlendes Lächeln. Er verstand es zu begeistern und besaß einen höchst exzentrischen Sinn für Humor. Außerdem war er ein leidenschaftlicher Katzenliebhaber.

Die Zuschauerplätze waren nicht so dicht besetzt wie bei einer Verhandlung gegen ein Mitglied der besseren Gesellschaft oder wegen eines Verbrechens, dessen Opfer ein schillernderer Charakter als Angus Stonefield gewesen wäre. Nichts deutete auf einen Sittenskandal hin, und anscheinend war auch kein Geld im Spiel. Und da es keine Leiche gab, mußte erst noch bewiesen werden, daß es überhaupt einen Mord gegeben hatte. Die Leute, die gekommen waren, wollten vor allem das Duell zwischen Rathbone und Goode miterleben, bei dem es darum ging, eben diese Sache zu beweisen. Beide waren Meister des Wortgefechts vor Gericht.

Es war ein schöner, aber stürmischer Tag. Sonnenstrahlen fielen durch die Fenster und tauchten den Gerichtssaal in ein milchiges Licht, die Holzvertäfelung der Wände, den Fußboden und die geschnitzte Pracht des Richterstuhls. Die Geschworenen waren bereit, zwölf sorgfältig ausgesuchte Männer, die einen feierlichen Ernst verbreiteten. Sie waren erwiesenermaßen honorige Mitglieder der Gesellschaft und erfüllten die notwendige Bedingung finanzieller Unabhängigkeit.

Rathbone rief seinen ersten Zeugen auf, Genevieve Stonefield Als sie durch den Gerichtssaal ging und die Stufen zum Zeugenstand erklomm, ging nur ein leises Raunen durch die Reihen der Zuschauer. Auf Rathbones Anraten trug sie nicht Schwarz, sondern eine Mischung aus Dunkelgrau und Marineblau. Ihr Kleid war schlicht, unauffällig und überaus schmeichelhaft. Sie sah müde und angespannt aus, aber die ihr innewohnende Leidenschaft und der Ausdruck von Intelligenz in ihrem Gesicht wurden dadurch noch verstärkt, und als sie sich auf der obersten Stufe umdrehte und in den Saal blickte, war das Interesse der Zuschauer geweckt. Ein Mann sog überrascht die Luft ein, und eine Frau schnalzte mit der Zunge.

Rathbone lächelte. Genau diese Art Frau war Genevieve Stonefield. Sie rief Gefühle wach, vielleicht Neid bei den weiblichen Zuschauern, selbst wenn sie nicht recht wußten, warum. Etwas in ihr wartete noch darauf, geweckt zu werden, etwas Elementareres, als es die meisten Frauen besaßen. Er mußte allergrößte Vorsicht walten lassen. Vielleicht konnte man von Glück sagen, daß für die Geschworenenbank grundsätzlich nur Männer in Frage kamen.

Sie wurde vereidigt und gab Namen und Adresse an, wobei sie Rathbone ernst ansah, als wäre außer ihm niemand im Saal. Nicht ein einziges Mal irrten ihre Augen zu den Geschworenen oder dem Richter hinüber, ja nicht einmal den Gerichtsbeamten, der ihr die Bibel gab, sah sie an.

Rathbone erhob sich und ging auf den Zeugenstand zu, blieb aber ein kleines Stück davor stehen, damit er sich nicht den Hals verrenken mußte, um sie ansehen zu können. Dann begann er in gelassenem Tonfall seine Befragung.

»Mrs. Stonefield, würden Sie dem Gericht bitte alles erzählen, was Ihnen über die Ereignisse an dem letzten Tag, an dem Sie Ihren Mann gesehen haben, in Erinnerung geblieben ist? Beginnen Sie mit Ihrer Unterhaltung beim Frühstück.«

Sie holte tief Luft, und in ihrer Stimme lag nur ein kaum merkliches Zittern, als sie antwortete.

»Es war nichts Besonderes in der Post gewesen«, sagte sie.

»Einige Briefe von Freunden, eine Einladung…« Sie hielt inne und konnte sich nur mit beträchtlicher Anstrengung unter Kontrolle halten. Es war nichts Sichtbares, keine Tränen, kein Zittern, kein unbeholfenes Tasten nach einem Taschentuch, nur ein langes Zögern, bevor sie weitersprach. »Die Einladung bezog sich auf einen Musikabend drei Tage später, und er meinte, wir sollten hingehen. Es war ein Violinkonzert. Er hatte eine besondere Vorliebe für Geigenmusik. Er fand, daß der Klang der Geige einen Menschen auf eine Art und Weise anrühren könne, wie es kein anderes Musikinstrument vermochte.«

»Also haben Sie die Einladung angenommen?« unterbrach Rathbone sie. »Im Glauben, daß er jede Absicht hatte, das Konzert zu besuchen?«

»Ja.« Sie holte noch einmal tief Luft. »Ich habe mich später überhaupt nicht entschuldigt! Die Leute müssen mich für sehr unhöflich halten. Ich habe die Sache einfach vergessen.«

»Wenn man Sie damals nicht verstanden hat, so bin ich mir ganz sicher, daß man es heute tun wird«, versicherte er ihr.

»Bitte, fahren Sie fort.«

»Angus bekam ein oder zwei Rechnungen, die den Haushalt betrafen und um die er sich kümmern wollte, wenn er wieder zurück war. Dann ist er ins Geschäft gegangen. Er sagte, er würde zum Abendessen zu Hause sein.«

»Haben Sie ihn seither noch einmal gesehen, Mrs. Stonefield?«

Ihre Stimme war sehr leise, beinahe ein Flüstern. »Nein.«

»Haben Sie Nachrichten von ihm erhalten, in welcher Form auch immer?«

»Nein.«

Rathbone ging einen Schritt nach links und verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß. Er war sich beinahe körperlich bewußt, daß Ebenezer Goode sich auf seinem Stuhl zurücklehnte ein Lächeln auf dem Gesicht und die Augen leuchtend und wachsam. Er war gelassen, zuversichtlich, aber niemals so sorglos, irgend etwas für selbstverständlich zu halten.

Hinter der Absperrung für die Angeklagten stand Caleb Stone völlig reglos da. Sein Haar war lang und dicht und wild gelockt, so daß es den verwegenen Ausdruck seines Gesichts mit dem üppigen Mund und den strahlendgrünen Augen noch unterstrich. Gerade seine absolute Bewegungslosigkeit zog alle Blicke auf sich in einem Raum, in dem alle anderen hin und wieder nervös auf ihren Plätzen hin und her rutschten, sich an der Nase oder an einem Ohr kratzten oder sich umdrehten, um jemanden anzusehen oder mit einem Nachbarn zu tuscheln. Der einzige Mensch, der nicht einmal in seine Richtung schaute, war Genevieve, als könne sie es nicht ertragen, sein Gesicht zu sehen, welches das genaue Ebenbild ihres geliebten Mannes zu sein schien.

»Mrs. Stonefield«, fuhr Rathbone fort. »War Ihr Mann früher schon einmal über Nacht nicht zu Hause?«

»O ja, recht oft sogar. Seine Geschäfte machten ab und zu eine Reise notwendig.«

»Gab es Ihres Wissens nach noch andere Gründe für seine Abwesenheit?«

»Ja…« Sie sah ihn unverwandt an, äußerlich wie erstarrt in ihrem marineblauen und grauen Wollkleid mit den Seidenbesätzen. »Er ist regelmäßig ins East End der Stadt gefahren, nach Limehouse, um seinen Bruder zu besuchen. Er war…« Ihr schienen für den Augenblick die Worte zu fehlen.

Caleb starrte sie an, als wollte er sie zwingen, ihm ihren Blick zuzuwenden, aber sie tat es nicht.

Einige der Geschworenen waren da weit höflicher.

»Er war ihm sehr zugetan?« beendete Rathbone den Satz für sie.

Ebenezer Goode richtete sich in seinem Stuhl auf. Rathbone beeinflußte die Zeugin, aber das war nicht der richtige Zeitpunkt für ihn, um Einwände zu erheben.

»In gewisser Weise hat er ihn geliebt«, sagte Genevieve stirnrunzelnd, wobei sie immer noch sorgfältig darauf achtete, nicht zum Angeklagten hinüberzusehen. »Ich glaube, er empfand auch eine Art Mitleid für ihn, weil…«

Diesmal stand Ebenezer Goode wirklich auf.

»Ja ja«, meinte der Richter und hob mit einer schnellen, beschwichtigenden Geste die Hand. »Mrs. Stonefield, was Sie glauben, ist kein Beweis, es sei denn, Sie können uns Gründe für Ihre Überzeugung nennen. Hat Ihr Mann einem solchen Gefühl Ausdruck verliehen?«

Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Nein, Mylord. Aber ich hatte den Eindruck. Warum hätte er sonst immer wieder zu Caleb fahren sollen, trotz der Art und Weise, wie dieser ihn behandelte, wenn nicht aus Loyalität und einer Art Mitleid? Selbst wenn ihm schlimmste Verletzungen zugefügt wurden, hat er ihn mir gegenüber immer in Schutz genommen.«

Der Richter, ein kleiner hagerer Mann mit einem so müden Gesicht, daß man den Eindruck hatte, er habe seit Jahren schlecht geschlafen, sah sie mit geduldigem Verständnis an.

»Meinen Sie, seine Gefühle seien verletzt worden, Ma'am, oder sprechen Sie von körperlichen Verletzungen?«

»Von beidem, Mylord. Aber wenn ich hier nicht sagen darf, was ich instinktiv erraten habe und was ich weiß, weil ich meinen Mann kannte, sondern nur, was ich wirklich beweisen kann, dann will ich nur sagen, daß er körperliche Verletzungen davongetragen hat. Es waren Prellungen, Hautabschürfungen und mehr als einmal oberflächliche Stichwunden, die von Messern oder ähnlichen Gegenständen herrührten.«

Rathbone hätte es nicht besser planen können. Jetzt gab es keinen Mann und keine Frau mehr im ganzen Gerichtssaal, deren Aufmerksamkeit nicht geweckt worden wäre. Sämtliche Geschworene saßen kerzengerade auf ihren Plätzen und sahen zum Zeugenstand hinüber. Das kummervolle Gesicht des Richters war streng. In der Menge sah Rathbone Hester Latterly, die neben Lady Ravensbrook saß; letztere war aschfahl und sah aus, als sei sie in den letzten fünf oder sechs Wochen um zehn Jahre gealtert.

Monk hatte ihm erzählt, daß sie an Typhus erkrankt war. Die Krankheit hatte eindeutig ihren Tribut gefordert. Aber selbst in diesem geschwächten Zustand war sie immer noch eine bemerkenswerte Frau, und nichts konnte die Einzigartigkeit ihres Charakters verändern.

Ebenezer Goode biß sich auf die Lippen und rollte ganz leicht mit den Augen.

Caleb Stone stieß ein kurzes bellendes Lachen aus, und die Wachen, die zu beiden Seiten neben ihm standen, rückten ein wenig näher an ihn heran; der Abscheu stand ihnen ins Gesicht geschrieben.

Der Richter blickte zu Rathbone hinüber.

»Haben wir richtig verstanden, Mrs. Stonefield«, griff Rathbone den Faden wieder auf, »daß Ihr Mann von diesen Besuchen bei seinem Bruder mit Verletzungen zurückkehrte, die manchmal ziemlich ernst und schmerzhaft waren - und daß er trotzdem immer wieder zu ihm gefahren ist?«

»Ja«, sagte sie mit ruhiger Stimme.

»Welche Erklärung hat er Ihnen für sein ungewöhnliches Verhalten gegeben?« wollte Rathbone wissen.

»Daß Caleb sein Bruder war«, antwortete sie, »und daß er ihn nicht im Stich lassen könne. Caleb hatte sonst niemanden. Sie waren Zwillinge, und das Band zwischen ihnen durfte nicht zerrissen werden, auch nicht von Calebs Haß und seiner Eifersucht.«

Auf der Anklagebank hielt Caleb mit seinen gefesselten Händen, die kräftig und schlank waren, das Geländer umklammert, bis seine Knöchel weiß geworden waren.

Rathbone betete darum, daß sie sich ganz genau daran erinnern würde, was sie abgesprochen hatten. Bisher war die Befragung perfekt gelaufen.

»Hatten Sie keine Angst, daß seine Verletzungen eines Tages ernsterer Natur sein könnten?« fragte er. »Daß er vielleicht zum Krüppel gemacht werden könnte?«

Ihr Gesicht war bleich und angespannt, und nach wie vor starrte sie unverwandt vor sich hin.

»Ja - ich hatte furchtbare Angst davor. Ich hab' ihn angefleht, nicht wieder hinzugehen.«

»Aber Ihre Bitte konnte seine Meinung nicht ändern?«

»Nein. Er sagte, er könne Caleb nicht fallenlassen.« Sie ignorierte Calebs Schnauben, aus dem Verachtung und beinahe so etwas wie Qual sprachen. »Er mußte immer an den Jungen denken, der er gewesen war«, sagte sie erstickt. »Und an all das, was sie als Kinder geteilt hatten, den Kummer um den Tod ihrer Eltern…« Sie blinzelte mehrmals, und die Mühe, die es sie kostete, nicht die Beherrschung zu verlieren, war offensichtlich.

Rathbone widerstand der Versuchung, die Geschworenen anzusehen, aber er konnte beinahe spüren, wie ihr Mitleid sich einer warmen Woge gleich über den Raum legte.

In der Menge erblickte er Enid Ravensbrooks ausgezehrtes Gesicht, das vor Mitleid für den Kummer, den sie so gut nachempfinden konnte, weich geworden war. Es verriet eine solche Tiefe des Mitgefühls, daß Rathbone nicht umhinkonnte, flüchtig darüber nachzudenken, ob vielleicht auch sie als Kind solche Einsamkeit erfahren hatte.

»Ja?« drängte er Genevieve sanft zum Weitersprechen.

»Ihr Gefühl absoluter Einsamkeit«, fuhr sie fort. »Und die Träume und Ängste, die sie geteilt haben. Wenn sie krank waren oder sich fürchteten, wandten sie sich immer einander zu. Es war niemand sonst da, dem sie am Herzen gelegen hätten. Das konnte er nicht vergessen, ganz gleich, was Caleb ihm jetzt auch antun mochte. Er war sich immer der Tatsache bewußt, daß das Leben gut zu ihm gewesen war und daß Calebs Schicksal sich als weniger glücklich erwiesen hatte.«

Auf der Anklagebank stieß Caleb einen Laut aus, der halb Stöhnen, halb Knurren war. Einer der Gefängniswärter legte ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter. Der andere grinste höhnisch.

»Hat er das gesagt, Mrs. Stonefield?« hakte Rathbone nach.

»Hat er diese Worte benutzt, oder ist das eine Vermutung von Ihnen?«

»Nein, er hat genau diese Worte benutzt, und das mehr als einmal.« Ihre Stimme klang jetzt klar und entschlossen. Es war eine Feststellung.

»Sie hatten Angst, daß Caleb Ihren Mann ernsthaft verletzen könnte, aus Neid auf seinen Erfolg und aus Haß?« fragte Rathbone.

»Ja.«

Ein leises Raunen ging durch den Raum, eine spürbare Bewegung. Die Sonne war hinter Wolken verschwunden, und im fahleren Licht wirkte das Holz des Saales grauer.

»Hatte er kein Verständnis für Ihre Gefühle?« fragte Rathbone weiter.

»O doch«, antwortete sie. »Er empfand genauso. Er hatte Angst, aber Angus war ein Mann, dem Pflicht und Ehre über alles gingen, selbst über sein eigenes Leben. Es war eine Frage der Loyalität. Er sagte, er sei Caleb für die Vergangenheit etwas schuldig, und er könne nicht damit leben, wenn er jetzt weglaufen würde.«

Einer der Geschworenen nickte zustimmend. Er blickte mit Verachtung zum Angeklagten hinüber.

»Worin bestand diese Schuld, Mrs. Stonefield?« wollte Rathbone wissen. »Hat er etwas dazu gesagt?«

»Es ging wohl nur darum, daß Caleb ihn, als sie noch Kinder waren, gelegentlich in Schutz genommen hat«, antwortete sie.

»Er hat nichts Genaueres darüber gesagt, aber ich glaube, er hat ihn gegen ältere Jungen verteidigt, die ihn aufzogen und schikanierten. Er hat auch davon gesprochen, daß ein Junge dabeigewesen sei, der besonders brutal war, und daß Caleb immer derjenige gewesen sei, der sich schützend vor ihn gestellt habe.« Plötzlich liefen ihr die Tränen übers Gesicht. »Das hat Angus nie vergessen.«

»Ich verstehe«, sagte Rathbone sanft und mit einem kleinen v? Lächeln. »Das ist ein Ehrgefühl, von dem ich glaube, daß wir alle es verstehen und bewundern.« Er gab den Geschworenen ein oder zwei Sekunden Zeit, um sich seine Worte einzuprägen. Wie schon zuvor, sah er sie auch jetzt nicht an. Das wäre viel zu plump gewesen. »Aber Sie glauben, daß er trotzdem Angst hatte«, fuhr er fort. »Warum, Mrs. Stonefield?«

»Weil er vor seinen Besuchen in Limehouse immer rastlos und in sich gekehrt war«, antwortete sie. »Ganz anders als sonst. Er wollte dann oft allein sein und ging dabei häufig im Zimmer auf und ab. Er war bleich, konnte nicht essen, seine Hände zitterten, und sein Mund war trocken. Wenn jemand so große Angst hat, Mr. Rathbone, ist es nicht schwer, das zu bemerken, vor allem, wenn es sich um jemanden handelt, den man gut kennt und liebt.«

»Natürlich«, murmelte er. Er war sich ganz deutlich der Tatsache bewußt, daß Caleb sich nun über das Geländer beugte und zwei Geschworene ihn anstarrten, als sei er ein wildes Tier und als würde er, wenn er nicht gefesselt wäre, vielleicht sogar mit einem Satz auf sie herunterspringen. »Gab es sonst noch etwas?«

»Manchmal hat er geträumt«, erwiderte sie. »Dann hat er laut aufgeschrien, Calebs Namen gerufen und gesagt: ›Nein! Nein!‹ Und dann wachte er schweißgebadet auf und zitterte am ganzen Leib.«

»Hat er Ihnen erzählt, worum es in diesen Träumen ging?«

»Nein. Er war zu aufgeregt.« Sie schloß die Augen, und ihre Stimme bebte. »Ich hielt ihn dann einfach in den Armen, bis er wieder einschlief, wie ich es bei einem Kind getan hätte.«

Im Gerichtssaal herrschte absolutes Schweigen. Ausnahmsweise hatte nun sogar Caleb den Kopf gesenkt, so daß man sein Gesicht nicht sehen konnte. In der Menge hörte man nur vereinzelte Seufzer von Leuten, die den Atem angehalten hatten und jetzt mühsam beherrscht wieder weiteratmeten.

Enid sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, und umklammerte Hesters Hand.

»Ich bin mir darüber im klaren, daß dies Ihnen nur Schmerz bringen kann«, nahm Rathbone seine Befragung nach einer kurzen Pause wieder auf, nachdem er Genevieve Zeit gelassen hatte, sich wieder zu sammeln. »Aber es gibt einige Fragen, die ich stellen muß. Als Ihr Mann nicht zurückkehrte, was haben Sie da unternommen?«

»Am nächsten Tag bin ich ins Geschäft gegangen und habe Mr. Arbuthnot, den Angestellten meines Mannes, gefragt, ob Angus vielleicht aus geschäftlichen Gründen unterwegs sei und die Nachricht an mich irgendwie verlorengegangen sein könnte. Er sagte, daß das nicht der Fall gewesen sei. Er…« Sie hielt inne.

»Ja, bitte erzählen Sie uns nicht, was Mr. Arbuthnot gesagt hat.« Rathbone lächelte ihr sanft zu. »Wir werden ihn zu gegebener Zeit selbst danach fragen. Erzählen Sie uns lediglich, was Sie als nächstes getan haben.«

»Ich habe noch einen Tag abgewartet, dann habe ich einen Detektiv aufgesucht, den man mir empfohlen hatte, einen Mr. William Monk.«

»Ich werde sowohl Mr. Arbuthnot als auch Mr. Monk als Zeugen aufrufen, Mylord«, sagte Rathbone und wandte sich dann wieder an Genevieve. »Was haben Sie Mr. Monk erzählt?«

»Ich habe ihm erklärt, daß ich befürchtete, mein Mann sei zu seinem Bruder gefahren, und Caleb habe ihn ermordet.« Sie zögerte nur einen Augenblick, umklammerte das Geländer mit beiden Händen, so daß sich der Stoff ihrer marineblauen Handschuhe über ihren Knöcheln spannte. »Ich habe ihn gebeten, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Beweise für das zu finden, was vorgefallen war. Er versprach, sich sofort der Sache anzunehmen.«

»Und als Ergebnis seiner Bemühungen in dieser Sache, Mrs. Stonefield, hat er Ihnen da gewisse Kleidungsstücke vorgelegt?«

Ihr Gesicht wurde noch bleicher, und diesmal brachte sie nicht mehr die Kraft auf, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Sie schluckte, und als sie sprach, brachte sie nur ein heiseres Flüstern zustande.

»Ja…«

Rathbone wandte sich an die Geschworenen. »Mit Erlaubnis Eurer Lordschaft möchte ich die Beweisstücke eins und zwei der Anklage vorlegen.«

»Bitte.« Der Richter nickte zustimmend.

Der Gerichtsdiener legte den Mantel und die Hose, die Monk von der Isle of Dogs mitgebracht hatte, vor den Richter. Sie waren noch in demselben Zustand, in dem er sie der Polizei übergeben hatte, schmutzig, blutbefleckt und stark zerrissen.

»Sind das die Kleidungsstücke, die er Ihnen gezeigt hat, Mrs. Stonefield?« fragte Rathbone und hielt sie hoch, so daß nicht nur sie, sondern alle im Raum Anwesenden sie sehen konnten. Die Folge war ein allgemeines Aufstöhnen. Er schaute zu Titus Niven hinüber, der zwei Reihen hinter Enid Ravensbrook saß; er war weiß wie die Wand, und in seinen Augen stand Zorn. Rathbone sah, wie Hester zusammenzuckte, aber er wußte, daß zumindest sie ihn verstand.

Genevieve schwankte auf ihrem Stuhl, und einen Augenblick lang dachte er, sie würde in Ohnmacht fallen. Er machte einen Schritt nach vorn, obwohl er ihr, da sich der Zeugenstand ein ganzes Stück über dem Boden befand, nicht wirklich hätte helfen können.

Einer der Geschworenen stöhnte auf. Wenn das Urteil von Sympathien und nicht von Tatsachen abhängig gewesen wäre und Ebenezer Goodes Auftritt nicht noch bevorgestanden hätte, hätte Rathbone den Fall in diesem Augenblick gewonnen.

Der einzige Mensch im Raum, der ungerührt zu sein schien, war Caleb. Er wirkte lediglich neugierig und leicht überrascht.

»Würden Sie sich bitte diese Kleidungsstücke ansehen, Mrs. Stonefield, und dem Gericht sagen, ob Sie sie wiedererkennen?« bat Rathbone sehr sanft, aber doch so laut, daß seine Stimme bis zur letzten Zuschauerreihe dringen mußte. Der ganze Saal schien den Atem anzuhalten, und es gab nicht das leiseste Geräusch im Raum, das von Rathbone abgelenkt hätte.

Sie sah die beiden Kleidungsstücke nur eine Sekunde lang an.

»Das sind die Kleider, die mein Mann getragen hat, als ich ihn das letzte Mal sah«, sagte sie, den Blick fest auf sein Gesicht geheftet. »Bitte, zwingen Sie mich nicht, sie anzufassen. Sie sind voll von seinem Blut!«

Ebenezer Goode öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Niemand hatte bewiesen, daß es sich um Angus' Blut handelte, aber er war zu klug, als daß er diese Sache in diesem Augenblick hätte weiterverfolgen wollen. Er warf Rathbone einen warnenden Blick zu. Die Schlacht konnte jederzeit beginnen, aber daran hatte er nie gezweifelt. Und er würde Genevieve nicht verschonen, sondern nur mit gerade soviel Vorsicht behandeln, wie notwendig war, um seiner eigenen Sache nicht zu schaden.

»Natürlich«, murmelte Rathbone. »Solange Sie keinerlei Zweifel haben, daß diese Dinge wirklich ihm gehört haben?«

»Ich habe keine Zweifel.« Ihre Stimme war heiser, aber deutlich. »Ich habe auch das Etikett des Schneiders im Futter erkannt, als Mr. Monk mir die Kleider neulich zeigte.«

»Vielen Dank, Mrs. Stonefield. Es ist nicht nötig, daß ich Sie weiter quäle, aber bitte bleiben Sie, wo Sie sind, für den Fall, daß mein gelehrter Freund von der Verteidigung mit Ihnen zu sprechen wünscht.« Er lächelte ihr zu und begegnete ihrem bemerkenswert ruhigen Blick für eine Sekunde, bevor er an seinen Platz zurückkehrte.

Ebenezer Goode erhob sich und lächelte sie mit verwirrendem Wohlwollen an. Er näherte sich beinahe unterwürfig dem Zeugenstand. Ein Raunen ging durch den Saal. Nur Caleb schien sich nicht für das jetzt Folgende zu interessieren. Er vermied es, Goode anzusehen.

»Mrs. Stonefield«, begann Goode, und seine Stimme klang voll und einschmeichelnd. »Es tut mir aufrichtig leid, Sie diesem Martyrium unterwerfen zu müssen, aber Sie verstehen sicher, daß es, sosehr wir alle mit Ihnen fühlen, meine Pflicht ist, gerade die meine, dafür zu sorgen, daß wir die Sache nicht dadurch beilegen, indem wir jemandem die Verantwortung aufbürden, der nicht wirklich schuldig ist. Ich bin sicher, das verstehen Sie.« Er hob hoffnungsvoll die Augenbrauen.

»Ja, ich verstehe«, antwortete sie.

»Natürlich tun Sie das. Sie sind eine großzügige Frau.« Er steckte die Hände in die Taschen und blickte zu ihr auf. Er lächelte immer noch. »Ich zweifle nicht daran, daß die Beziehung zwischen Ihrem Mann und seinem Bruder sehr schwierig war und daß sie gelegentlich Streit hatten. Alles andere wäre auch merkwürdig gewesen, da ihr Leben in so verschiedenen Bahnen verlief.« Er nahm die Hände aus den Taschen und benutzte sie zur Unterstreichung seiner Worte. »Ihr Mann hatte alles, was das Leben bieten kann: eine schöne und tugendhafte Frau, fünf gesunde Kinder, ein gepflegtes, behagliches Heim, in das er jeden Abend zurückkehren konnte, ein einträgliches Geschäft und die Wertschätzung, ja sogar die Freundschaft der Welt, sowohl in gesellschaftlicher als auch in beruflicher Hinsicht.«

Er schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen. »Wogegen der arme Caleb, aus welchen Gründen auch immer, nichts von alledem sein eigen nennt. Er hat keine Frau und keine Kinder. Er schläft, wo er gerade vor Kälte und Regen Schutz finden kann. Er ißt zu unregelmäßigen Zeiten. Er besitzt kaum mehr als die Kleider, die er am Leib trägt. Er verdient sich seinen Lebensunterhalt, wo er kann, und nur allzuoft mit Dingen, die andere Männer verachten würden. Und tatsächlich stößt er bei den Menschen auf Widerwillen und Ablehnung, und viele, das will ich zugeben, fürchten ihn, wie es vielleicht häufig Menschen widerfährt, die die Umstände zu verzweifelten Handlungen treiben.« Er lächelte den Geschworenen zu. »Ich werde nicht versuchen, ihn als bewundernswerten Mann darzustellen, nur als einen, der vielleicht zu Recht unser Mitleid verdient und dessen gelegentlicher Groll und Zorn auf seinen vom Glück begünstigten Bruder möglicherweise doch unser Verständnis finden kann.«

Er wandte sich ein wenig zur Seite, um die Zuschauer anzusehen. Dann fuhr er wieder herum und heftete seinen Blick erneut auf Genevieve: »Aber, Mrs. Stonefield, Sie sagen, daß Ihr Mann von diesen Besuchen im East End, vielleicht auch in Limehouse oder auf der Isle of Dogs, mit Prellungen und Schürfwunden manchmal sogar mit ernsten Verletzungen zurückkehrte. Das haben Sie doch gesagt, oder?«

»Ja.« Sie war verwirrt und auf der Hut.

»Als sei er in einen Streit verwickelt gewesen, vielleicht in einen ziemlich ernsten? So jedenfalls habe ich Sie verstanden. Ist das korrekt?«

»Ja.« Ihr Blick hätte sich beinahe zu Caleb hinüber verirrt, aber dann schaute sie schnell wieder geradeaus.

»Hat er ausdrücklich gesagt, daß Caleb ihm diese Verletzungen beigebracht habe, Mrs. Stonefield?« bedrängte Goode sie. »Bitte, denken Sie genau nach, und antworten Sie präzise.«

Sie schluckte und schaute zu Rathbone hinüber, der seinen Blick bewußt abwandte. Er durfte sich nicht dabei erwischen lassen, wie er ihr irgend etwas signalisierte. Sie mußte allein entscheiden, absolut allein, wenn ihre Aussage volles Gewicht haben sollte.

»Mrs. Stonefield?« Goode war ungeduldig.

»Es war doch Caleb, den er besucht hat!« protestierte sie.

»Natürlich war er es. Ich hatte auch keine anderen Möglichkeiten in Erwägung gezogen«, räumte Goode ein, wobei er auf diese Weise dafür sorgte, daß den Geschworenen klar war, daß es solche anderen Möglichkeiten durchaus gab. »Wir wollen sie nicht einmal erwähnen, zumindest nicht für den Augenblick. Aber hat er gesagt, daß Caleb ihm die Verletzungen zugefügt habe, Mrs. Stonefield? Das ist die entscheidende Frage. Ist es nicht möglich, daß Caleb in einen Kampf verwickelt war, und Ihr Mann ist ihm als loyaler Bruder zu Hilfe gekommen? Bitte, Ma'am, ist das unmöglich?«

»Nein, nein - nicht unmöglich, nehme ich an«, sagte sie widerwillig. »Aber…«

»Aber was?« Er war über alle Maßen höflich. »Aber Angus war kein Raufbold?« Er zog die Augenbrauen hoch. »Kein Mann, der sich leicht in eine Schlägerei hineinziehen ließ? Nicht so, wie Sie ihn kennen, da bin ich mir sicher, aber haben Sie ihn jemals in einem Gasthaus auf der Isle of Dogs erlebt? Manchmal muß ein Mann schon außerordentlich friedfertig oder sogar ein Feigling sein, um dort einem Kampf aus dem Weg zu gehen. Ist Caleb jemand, der Streit sucht? Könnte er diese Schlägereien angezettelt haben oder der Grund für sie gewesen sein?«

Rathbone erhob sich. »Wirklich, Mylord, wie könnte die Zeugin etwas Derartiges wissen? Wie mein gelehrter Freund hier bereits festgestellt hat, war sie niemals dort!«

Goode lächelte Rathbone mit übertriebener Höflichkeit und nicht ohne Humor an.

»Ach herrje, da bin ich in meine eigene Falle getappt. Ich gestehe meinen Irrtum ein.« Er wandte sich wieder an Genevieve. »Ich ziehe die Frage zurück, Ma'am, sie war absurd. Darf ich fragen, ob Sie es nach dem, was Ihr Mann Ihnen erzählt hat, für möglich halten, daß er bei einem Kampf oder einer Reihe von Schlägereien in Calebs Gesellschaft oder vielleicht auf dem Rückweg von einem Besuch bei ihm verletzt wurde, aber nicht direkt von Caleb selbst? Oder ist das unmöglich?«

»Es ist möglich«, räumte sie ein, aber alles in ihrem Gesicht und in ihrer Körperhaltung leugnete dies.

»Und das Blut auf diesen Kleidern«, sagte Goode, und sein Gesicht verzog sich vor Abscheu, »von denen ich bereit bin zu glauben, daß es die seinen sind. Vielleicht bin ich optimistisch, ja sogar voller Hoffnung, daß es sich doch nicht um sein Blut handelt, sondern um das irgendeiner anderen armen Seele, und daß er die Kleider einfach weggeworfen hat, weil sie auf diese Weise beschmutzt worden sind?«

»Aber wo ist er dann?« Sie beugte sich über das Geländer, und in ihrem Gesicht stand eine flehentliche Bitte. »Wo ist Angus?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen.« Goodes Gesichtsausdruck zeigte ehrliche Anteilnahme, ja sogar die Bitte um Verzeihung. »Aber als man sie fand, hatte er sie nicht am Leib, ob nun verletzt oder unverletzt, Ma'am. Ich gestehe, es sieht nicht gut für ihn aus, aber es gibt keinen Grund zu verzweifeln und ganz gewiß keinen Beweis für eine Tragödie. Lassen Sie uns nicht den Mut und die Hoffnung verlieren.« Er neigte ganz leicht den Kopf und kehrte mit einer schwungvollen Drehung zu seinem Platz zurück.

Der Richter sah mit amüsiertem, aber auch ein wenig gelangweiltem Blick zu Rathbone hinüber. »Mr. Rathbone, haben Sie noch irgendwelche Fragen an die Zeugin, bevor das Gericht sich über Mittag zurückzieht?«

»Nein danke, Mylord. Ich glaube, Mrs. Stonefield hat ihre Geschichte so klar erzählt, daß jeder sie verstanden hat.« Er hätte sie an dieser Stelle nur noch dazu zwingen können zu wiederholen, was sie bereits gesagt hatte. Es war eine Frage der Einschätzung, was die Geschworenen in die eine oder andere Richtung beeinflussen konnte. Er hielt Zurückhaltung für die beste Vorgehensweise. Er hatte ihre Gesichter beobachtet, ihre Reaktionen auf Genevieve. Er durfte es nicht übertreiben. Sollten sie sich doch ihre eigene Meinung über sie bilden. Ihre Entschlossenheit, die Interessen ihrer Kinder zu vertreten, konnte mißverstanden werden und das Bild beeinträchtigen.

Das Gericht erhob sich. Caleb wurde hinausgeführt, die Menge strömte aus dem Saal, um sich mit Erfrischungen zu versorgen, und Rathbone, Goode und der Richter nahmen, jeder für sich, in einer nahe gelegenen Taverne ein exzellentes Mahl ein. Am Nachmittag kehrten sie wieder ins Gericht zurück.

»Bitte, rufen Sie Ihren nächsten Zeugen auf, Mr. Rathbone«, verfügte der Richter. »Geben Sie uns etwas Handfestes in dieser Sache.«

Rathbone verbrachte den Rest des Tages damit, Stonefields Dienerschaft aufzurufen, damit diese bestätigte, was Genevieve über die Gelegenheiten, bei denen Angus nicht zu Hause war, erzählt hatte. Angus war häufig fort gewesen, aber nur, wenn er von einem Besuch bei Caleb zurückkehrte, war er verletzt. In zwei Fällen mußten die Wunden behandelt werden. Er hatte sich geweigert, einen Arzt hinzuzurufen, trotz der offensichtlichen Ernsthaftigkeit seiner Verletzungen, und Mrs. Stonefield hatte ihn selbst gepflegt. Sie verfügte über einige Begabung auf diesem Gebiet.

Hatte Mr. Stonefield lange gebraucht, um sich zu erholen?

Bei einer Gelegenheit war ihm nichts anderes übriggeblieben, als über eine Woche lang im Bett zu liegen. Es schien, als hätte er eine Menge Blut verloren.

Hatte er einen Grund für seine Verletzung angegeben?

Nein. Aber der Butler hatte mit angehört, wie Mr. Stonefield einmal von seinem Bruder sprach, und Mrs. Stonefield hatte kein Geheimnis aus ihrer Vermutung gemacht, daß Caleb die Schuld an seinen Verletzungen trug.

Die Gesichter der Geschworenen verrieten deutlich, wie sie selbst zu der Sache standen, wie groß ihre Verachtung für Caleb war, der sie überhaupt nicht beachtete, als spielten sie nicht die geringste Rolle in dieser Verhandlung.

Der Butler war sehr freimütig. Er ließ Goode keine Möglichkeit, ihm eine Falle zu stellen, und Goode war bei weitem zu klug, um sich von einem solchen Mann in Verlegenheit bringen zu lassen. Er war höflich und wohlwollend. Das einzige, was er hier erreichen konnte, war eine neuerliche Bekräftigung für die Geschworenen, daß die Frage, woher Angus' Verletzungen rührten, nach wie vor lediglich auf Vermutungen fußte. Angus hatte niemals ausdrücklich gesagt, daß Caleb ihn mit einem Messer bedroht habe. Er war überhaupt nicht ausführlicher auf irgendwelche dieser Streitigkeiten eingegangen. Alle Besucher im Raum glaubten, daß Caleb der Schuldige war; es stand auf ihren Gesichtern geschrieben, wenn sie zur Anklagebank sahen, und der höhnische, unverschämte Blick, mit dem Caleb seinerseits diese Leute bedachte, schien das zu bestätigen.

Der erste Verhandlungstag endete mit einer Verurteilung im Geiste, aber ohne Beweise, die der Richter im Sinne des Gesetzes hätte verwerten können, nur mit massiven Vermutungen und einer Zuschauerschar, die kein Hehl aus ihrer Verachtung machte.

Rathbone verließ das Gerichtsgebäude und fand beinahe sofort einen Hansom. Ohne nachzudenken, gab er dem Fahrer Weisung, ihn nach Primrose Hill zu bringen. Dort lebte sein Vater, ein ruhiger, gelehrsamer Mann von sanfter Natur und beunruhigend scharfem Verstand.

Sein Vater saß neben einem großen Holzfeuer und hatte die Füße auf das Kamingitter gelegt und ein Glas Rotwein neben sich stehen, als Oliver eintraf und gleich darauf von einem Diener hineingeführt wurde. Henry Rathbone blickte überrascht auf, dann huschte ein Schatten von Freude und auch Besorgnis über seine Züge.

»Setz dich«, sagte er und zeigte auf den Stuhl gegenüber.

»Wem?«

»Was trinkst du denn da?« Oliver setzte sich und gab sich einer tiefen Zufriedenheit hin, als die Wärme des Feuers ihn durchdrang. »Deinen Burgunder mag ich nicht besonders.«

»Das ist ein Bordeaux«, erwiderte Henry.

»Dann nehme ich ein Glas.«

Henry nickte dem Diener zu, der sogleich verschwand, um den Wein herbeizuholen.

»Du wirst dir die Füße verbrennen«, meinte Oliver kritisch.

»Das Schlimmste, was mir passieren kann, ist, daß ich mir die Sohlen von meinen Pantoffeln ansenge«, wandte Henry ein. Er fragte nicht, warum Oliver gekommen war. Er wußte, daß er es noch rechtzeitig erfahren würde.

Oliver ließ sich ein wenig tiefer in den Sessel sinken und nahm den Bordeaux von dem Diener entgegen, der gleich darauf das Zimmer verließ und die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich ins Schloß fallen ließ.

Die Asche im Kamin fiel zusammen, und Henry streckte die Hand aus, um ein weiteres Holzscheit aufzulegen. Es gab kein Geräusch im Raum, abgesehen vom Knistern des Feuers, kein Licht außer dem der Flammen und dem einer Gaslampe an der Wand gegenüber. Der Wind draußen war, genauso wie der einsetzende Regen, nicht zu hören.

»Ich denke darüber nach, mir einen neuen Hund zuzulegen«, bemerkte Henry. »Der alte Edgmore hat ein paar Retrieverwelpen. Einen davon mag ich ganz besonders.«

»Gute Idee«, meinte Oliver. Er würde das Thema von sich aus anschneiden müssen. »Diese Verhandlung macht mir Schwierigkeiten.«

»Das habe ich gehört.« Henry griff nach seiner Pfeife und führte sie zum Mund, machte sich jedoch nicht die Mühe, sie anzuzünden. Das tat er nur selten. »Warum? Was ist anders, als du erwartet hast?«

»Nichts, nehme ich an.«

»Welchen Grund gibt es dann, sich Sorgen zu machen?« Henry sah ihn mit seinen klaren hellblauen Augen an, die so ganz anders waren als die Olivers, der trotz seines blonden Haars sehr dunkle Augen hatte. »Irgend etwas hat dich aus dem Gleichgewicht gebracht. Ist es dein Verstand, oder sind es deine Gefühle? Meinst du, du wirst verlieren, obwohl du gewinnen solltest, oder gewinnen, obwohl du verlieren solltest?«

Oliver konnte nicht umhin zu lächeln. »Verlieren, obwohl ich gewinnen sollte, denke ich.«

»Faß den Fall für mich zusammen.« Er nahm die Pfeife aus dem Mund und richtete den Stiel geistesabwesend auf Oliver.

»Und sprich nicht mit mir, als wäre ich ein Geschworener! Sag mir einfach die Wahrheit.«

Oliver stieß ein kurzes scharfes Lachen aus und zählte die nackten Tatsachen auf, soweit sie ihm bekannt waren. Seine eigenen Eindrücke erwähnte er nur dann, wenn er glaubte, daß sie zum Verständnis beitrugen und nicht durch Beweise gestützt wurden. Als er geendet hatte, sah er seinen Vater in Erwartung einer Antwort an.

»Das ist also wieder mal ein Fall von Monk«, bemerkte Henry. »Hast du Hester noch einmal gesehen? Wie geht es ihr?« Oliver fühlte sich unbehaglich. Das war ein Thema, über das er nicht nachdenken und erst recht nicht diskutieren wollte.

»Es ist äußerst schwierig, die Geschworenen in einem Mordfall ohne eine Leiche zu einem Schuldspruch zu bewegen«, sagte er gereizt. »Aber wenn je ein Mann verdient hat zu hängen, dann ist es Caleb Stone. Je mehr ich von Angus erfahre, um so mehr bewundere ich ihn und um so verabscheuungswürdiger erscheint mir Caleb. Der Mann ist gewalttätig, zerstörerisch - ein Ungeheuer.«

»Aber…« Henry hob die Augenbrauen und sah Oliver wohlwollend an.

»Er scheint nicht die leisesten Gewissensbisse zu haben«, fuhr Oliver fort. »Nicht einmal, wenn er die Witwe seines Bruders ansieht - und er weiß, daß fünf Kinder da sind, und niemand kann sagen, was jetzt aus ihnen werden wird…« Er hielt inne.

»Zweifelst du an seiner Schuld?« fragte Henry und nahm einen Schluck von seinem Bordeaux.

Oliver ergriff ebenfalls sein Glas. Der Wein leuchtete im Widerschein des Feuers rubinrot, und sein klares, kräftiges Aroma stieg ihm zu Kopf.

»Nein. Er ist nur auf eine so vitale Art und Weise präsent. Selbst wenn ich ihn nicht ansehe, was ich so gut wie nie tue, bin ich mir seiner Gefühle bewußt, seines Zorns… und seiner Qual… und seiner Intelligenz.«

»Und wenn du gewinnst, wird man ihn hängen.«

»Ja.«

»Und das stört dich?«

»Ja.«

»Und wenn du verlierst, wird er ein freier Mann sein, schuldig und freigesprochen.«

»Ja.«

»Ich kann dir nicht helfen, außer mit einem ruhigen Abend am Feuer und einem weiteren Glas Bordeaux. Du weißt bereits, was ich sagen würde.«

»Ja, natürlich weiß ich das. Ich nehme an, ich wollte es mir einfach nicht selbst sagen.« Er nahm genußvoll einen weiteren Schluck aus seinem Glas. Wenigstens bis es Zeit für ihn war, wieder nach Hause zu fahren, würde er die Angelegenheit auf sich beruhen lassen.

Monk war nicht im Gericht gewesen. Man würde ihn als Zeugen aufrufen, daher konnte er der Verhandlung nicht eher beiwohnen, als bis er seine Aussage gemacht hatte, und er verspürte kein Verlangen, in den Fluren herumzulungern, um hier und da eine Neuigkeit aufzuschnappen.

Von Drusilla Wyndham hatte er nichts mehr gehört. Wenn sie die Polizei wegen seines angeblichen Übergriffs hinzuziehen wollte, hatte sie die Angelegenheit offensichtlich hinausgezögert. Er hielt es für weit wahrscheinlicher, daß sie um die Sinnlosigkeit einer solchen Anklage wußte und ihn mit Hilfe von Gerüchten ruinieren wollte, einer langsameren und subtileren Art der Folter, die außerdem viel mehr Erfolg versprach. Er würde warten müssen, das Damoklesschwert über seinem Haupt, ohne zu wissen, wann es auf ihn herabstürzte.

Er ging aufs Polizeirevier, um mit Evan zu sprechen, wo er erfuhr, daß man diesen ins Crouch End geschickt hatte, um jemanden zu befragen, der des Einbruchs verdächtigt wurde. Man erwartete ihn erst morgen wieder auf dem Revier. Außerdem konnte er ohnehin nur wenig für Monk tun, solange er nicht wenigstens wußte, um welchen Fall es ging, falls es überhaupt einen gab.

Monk eilte über das kalte Pflaster und nahm die Windstöße, die ihm ins Gesicht bliesen, kaum wahr. Eine Kutsche fuhr zu dicht am Straßenrand an ihm vorbei, und ihre Räder gerieten in den Rinnstein und durchnäßten ihn. Seine Hose flatterte feucht um seine Knöchel.

Was hatte er Drusilla angetan? Was hatte er irgendeiner Frau jemals angetan? Er wußte so wenig über sein Privatleben. Er hatte seiner Schwester Beth niemals regelmäßig geschrieben. Das wußte er aus den wenigen Briefen von ihr, die er aufbewahrt hatte. Er hatte Runcorn verachtet und war zumindest teilweise verantwortlich für das aggressive, selbstsüchtige Verhalten, das dieser jetzt ihm gegenüber an den Tag legte. Runcorn hatte Monks Geringschätzung während seiner gesamten beruflichen Karriere zu spüren bekommen. Seine zu Anfang nur leichte Abneigung gegen ihn hatte sich in Angst verwandelt, und das nicht ohne Grund. Monk hatte seine Schwächen erkannt und sie ausgenutzt.

Das war nichts, was Bewunderung verdient hätte.

Nun gut, Runcorn war kein besonders liebenswerter Mensch, er war engstirnig, egozentrisch und ein Feigling ohne jede Spur von Großmut. Aber seine Zusammenarbeit mit Monk hatte ihn noch ärmer gemacht, nicht reicher.

Wen gab es sonst noch? Niemanden aus der Vergangenheit, soweit er wußte. Vielleicht hatte er wenigstens Hermione gut behandelt! Es schien, als sei sie diejenige gewesen, die ihn fallengelassen hatte. Aber wenn er sie länger gekannt, wenn sie ihn nicht so bitter enttäuscht hätte, wäre es möglich gewesen, ihr mit der Zeit vielleicht auch weh getan zu haben.

Es war nutzlos, diesen Gedanken weiter zu verfolgen.

Er überquerte die Straße, ohne auf die Pferdeäpfel zu achten, die noch nicht weggekehrt worden waren.

Was war mit der Gegenwart, der kurzen Spanne von zwei Jahren seit dem Unfall? Sein Benehmen Evan gegenüber war durchaus ehrenwert gewesen. Dessen war er sich absolut sicher. Und Callandra gegenüber auch. Sie hatte ihn gern und mochte ihn wirklich. Dieses Wissen gehörte zu seinem kostbarsten Besitz, und er klammerte sich mit einer Heftigkeit daran, die er noch vor einem Monat nicht für möglich gehalten hätte.

Aber Callandra war über Fünfzig. Ein weit ehrlicherer Spiegel wäre Hester gewesen. Wie hatte er Hester behandelt, die an seiner Seite so schreckliche Dinge erleben mußte, die im Angesicht von Fehlschlägen und Widerständen ohne jede Frage tapfer und treu zu ihm gestanden hatte?

Aber auch er war für sie dagewesen, als sie in Gefahr schwebte. Er hatte nicht einen Augenblick an ihrer Ehre oder Unschuld gezweifelt. Er hatte Tag und Nacht gearbeitet, um sie zu retten. Er hatte nicht einmal darüber nachdenken müssen: Nichts anderes wäre für ihn in Frage gekommen. Nichts anderes war ihm in den Sinn gekommen.

Aber wie hatte er sie als Frau behandelt?

Wenn er ehrlich war, mußte er sich eingestehen, daß er grundsätzlich schroff und kritisch, ja sogar beleidigend gewesen war. Er hatte es mit Absicht getan, weil er sie verletzen wollte, weil sie auf irgendeine unverständliche Art und Weise - ja was? Warum fühlte er sich so unbehaglich in ihrer Gegenwart? Weil eine elementare Wahrheit in ihr steckte, über die er nichts wissen wollte, weil sie etwas in ihm ansprach, das zu empfinden er sich nicht leisten konnte. Sie war fordernd, unbequem, kritisch. Sie verlangte etwas von ihm, das zu geben er nicht bereit war - Veränderung, Ungewißheit, Schmerz. Sie besaß die komplizierte Natur eines Mannes, nicht jedoch dessen Tugenden und Unbefangenheit. Sie verlangte Freundschaft von ihm.

Aber Drusilla war ganz anders. Die Art und Weise, wie er Hester sah, hatte nichts damit zu tun.

Er überquerte die nächste Straße, wobei er einem Karren aus dem Weg gehen mußte.

Er war glücklich mit Drusilla gewesen, hatte ihre Gesellschaft genossen. Sie war witzig, unbeschwert, geistreich, weiblich. Sie stellte keine intellektuellen Anforderungen, erzwang keine moralischen Urteile. Sie hatte nichts, was ihn ärgerte oder aus der Fassung brachte. Nein, Hester war in dieser Hinsicht kein Maßstab.

Aber hatte er Hester verletzt? War er von Natur aus selbstsüchtig, grausam? Und war er das immer schon gewesen? Das war nicht völlig auszuschließen… und in Wirklichkeit ging es eigentlich genau darum.

Er hatte nichts übrig für selbstsüchtige Menschen. Diese Eigenschaft war in jeder Hinsicht verachtenswert, eine geistige Schwäche, die jede andere Tugend überlagerte, am Ende selbst Mut und Aufrichtigkeit. Galt das auch für ihn? War er im Grunde ein Mann ohne Großmut? Drehte sich alles nur um seine eigenen Interessen?

Was für eine absolute und abgrundtiefe Einsamkeit. Es war seine eigene Bestrafung, schrecklicher als alles, was ein Außenstehender ihm auferlegen konnte.

Er mußte es wissen! Warum haßte Drusilla ihn?

Er konnte nichts tun, bis Evan zurückkehrte und er mit Sicherheit wußte, ob es sich um einen seiner Fälle handelte oder nicht. Wenn nicht, dann mußte er als nächstes nach Norfolk reisen, aber er durfte London nicht verlassen, bevor er in der Stonefield-Verhandlung ausgesagt hatte.

Er konnte die Polizei bei ihrer weiteren Suche am Fluß nach Angus' Leiche unterstützen. Nicht daß große Hoffnung bestünde, sie jetzt noch zu finden, aber es sollte nichts unversucht bleiben. Wenn sie eine Leiche fanden, wäre der Fall Caleb endgültig abgeschlossen. Wenn je ein Mann es verdient hätte, gehängt zu werden, dann Caleb. Wichtiger noch, es würde Genevieve aus der seelischen und finanziellen Bedrängnis erlösen. Wenn er an ihre Qual und ihren Mut dachte, an ihren tragischen Verlust, verblaßte daneben sein eigenes Dilemma.

Es war ein klarer, kalter Nachmittag, als er in dem kleinen Boot stand, das von den Stufen am Shadwell Dock ablegte und stromabwärts fuhr, während der Wind ihm ins Gesicht blies. Sie nahmen sich das nördliche Ufer vor. Ein anderes Boot suchte das Südufer ab.

Die Luft war erfüllt vom Geruch der Flut und Abwässer, dem Plätschern und Schlurfen, mit dem die Wellen des Kielwassers größerer Schiffe gegen die Pfosten und Planken der Piers schlugen. Sie befanden sich inmitten von Lastenseglern und Kähnen auf dem Weg zur Ostküste, von Passagierschiffen unterwegs nach Frankreich und Holland und schnellen Klippern, die in alle Teile des Empire und der Welt ausliefen.

Sie gingen an jedem Dock an Land, suchten jeden Hof und jede Treppe ab, stocherten in jedem Holzhaufen, in jedem Stapel Stoffballen herum, untersuchten jeden Schiffsrumpf, jede dunkle Stelle im Fluß und schauten unter jedes im Wasser schwimmende Treibgut. Sorgfältig nahmen sie sich die schweren Pfosten der Piers vor, an die in früheren Zeiten gefangene Seeräuber festgebunden worden waren, damit die hereinkommende Flut am Morgen sie ertränkte.

Monk war durchgefroren. Seine Füße und seine Hose waren durchnäßt, nachdem er immer wieder vom Boot aus in den Kies am Ufer gesprungen war. Sein Körper schmerzte, die nassen Seile hatten ihm Handflächen und Knöchel aufgeschürft, und er war hungrig.

Als die Dämmerung hereinbrach, bohrte sich die Kälte mit Nadeln in die Haut, und die Feuchtigkeit auf den Pflastersteinen am Ufer verwandelte sich in Eis. Die Flut wälzte sich wieder landeinwärts. Sie befanden sich hinter Woolwich und dem Königlichen Arsenal; sie waren bis zum Ende von Gallion's Reach hinuntergefahren. Vor ihnen lag Barking Reach.

»Nichts«, sagte der Sergeant kopfschüttelnd. »Wir verschwenden nur unsere Zeit. Wenn er überhaupt in den Fluß geworfen wurde, ist er jetzt lange weg. Armer Teufel.« Er hob den Arm, und das Boot schaukelte leicht. »Alles klar, Männer. Wir können genausogut nach Hause fahren. Gott weiß, daß es heute nacht mal wieder höllisch kalt wird. Reicht mal die Flasche mit dem Rum durch. Wir sind verdammt weit weg von zu Hause.«

»Wir werden ihn schon irgendwo finden«, meinte einer der anderen lakonisch. »Früher oder später gibt das Meer die Toten frei.«

»Vielleicht«, gab der Sergeant ihm recht. »Aber nicht mehr heute abend, Jungs.«

Sie wendeten in einem weiten Bogen und legten sich mit ihrem ganzen Gewicht in die Riemen, zu müde, um mich noch länger zu unterhalten. Das Ufer war nur ein besonders dunkler Bereich in der Nacht, der von gelben Lichtern erhellt wurde, Kutschenlaternen, die sich langsam von einem Ort zum anderen bewegten. Die Geräusche von dort waren über das Wasser nur schwach zu hören, das Rattern von Rädern, ein Ruf, das Knirschen von Rundhölzern in der Mitte des Flusses.

Es war eine gute Stunde später, als sie mit einem festen Gegenstand im Wasser zusammenstießen und der Mann am Bug Meldung machte. Es dauerte dann noch zwanzig Minuten, während derer sie sich im Lampenlicht abmühten und das kleine Boot hin und her schwankte, bis sie die Leiche hereingeholt hatten und untersuchen konnten.

Monk spürte, wie sein Magen sich vor Ekel zusammenkrampfte, und einen Augenblick lang fürchtete er, sich übergeben zu müssen.

Es waren die Überreste eines Mannes von Ende Dreißig oder Anfang Vierzig, soviel konnte man noch sehen. Er war seit geraumer Zeit tot, nach Monks Einschätzung etwas mehr als eine Woche. Seine Gesichtszüge waren vom Flußwasser und seinen natürlichen Bewohnern bereits übel zugerichtet. Was seine Kleider betraf, so konnte man nur noch sagen, daß es sich um ein Hemd und eine Art Hose gehandelt haben mußte, aber von welcher Qualität oder Farbe, ließ sich nicht mehr feststellen.

»Nun?« fragte der Sergeant an Monk gewandt. »Ist er das?« Um seinen Mund lag ein bitteres Lächeln und in seinen Augen Hoffnungslosigkeit. »Puh! Armer Teufel. Kein menschliches Wesen sollte so enden.«

Monk riß sich zusammen und betrachtete die Leiche genauer. Er war überrascht, daß sein Magen sich wieder beruhigt hatte, obwohl er zitterte. Er mußte solche Dinge schon früher gesehen haben. Der Mann war groß und kräftig gebaut, sein Haar von dunkler Farbe und dicht. Es gab nichts, was dagegen sprach, daß es sich um Angus Stonefield handelte.

»Ich weiß nicht. Könnte sein«, sagte er mit einem Gefühl von Traurigkeit, das ihn um ein Haar überwältigt hätte, ganz so, als hätte er bis zu diesem Augenblick immer noch geglaubt, daß Angus vielleicht noch lebte.

Der Sergeant seufzte. »Ich fürchte, wir müssen seine Frau fragen, obwohl ich weiß Gott nicht der Meinung bin, daß irgendeine Frau so etwas sehen sollte… schon gar nicht, wenn es sich um ihren Mann handelt.«

»Bringen Sie ihn ins Leichenschauhaus«, sagte Monk leise, obwohl er sich haßte für das, was er tat, noch bevor er es ganz ausgesprochen hatte. Plötzlich schien es ihm ganz leicht, Caleb zu hängen. Aber sein Zorn reichte jetzt nicht einmal mehr dazu aus. »Ich werde sie hinbringen. Es muß sein. Vielleicht gibt es irgendwelche Merkmale an seinem Körper, wo die Kleider ihn geschützt haben, irgend etwas, das sie wiedererkennen könnte… oder das es zumindest wahrscheinlich erscheinen läßt.«

Der Sergeant blickte ihm im Licht der Lampe forschend ins Gesicht und nickte dann langsam. »Recht haben Sie, Sir. So werden wir's machen. Kommt Jungs, geht wieder an die Ruder. Oder wollt ihr vielleicht so lange auf dem verdammten Fluß bleiben, bis wir festfrieren?«

»Ja, Mr. Monk?« Genevieve sah ihn an, und ihr Gesicht spiegelte ihre Angst wider, die auch schon in ihren Augen stand. Man hatte ihn ins Wohnzimmer geführt. Die größeren, offizielleren Räume benutzte sie nicht mehr, wahrscheinlich, um die Heizkosten zu sparen. Sie sah erschöpft aus. Er wußte, daß sie den ganzen Tag über auf dem Gericht gewesen war, und einen großen Teil davon hatte sie im Zeugenstand zugebracht. Der Anblick Calebs, der ihrem Mann äußerlich so ähnlich sah, mußte die schlimmste Prüfung ihres Lebens gewesen sein. Und jetzt würde er ihr Leiden möglicherweise noch vergrößern müssen.

Aber es ließ sich nicht vermeiden. Niemand konnte ihr das abnehmen. Wenn sein Gesicht unbeschädigt geblieben und noch zu erkennen gewesen wäre, hätten Ravensbrook oder Mr. Arbuthnot dies auf sich nehmen können, um sie zu schonen. So wie die Dinge lagen, konnte nur sie die verborgenen kleinen Geheimnisse seines Körpers kennen - soweit das noch möglich war.

Monk befand sich nicht oft in der Verlegenheit, daß ihm die Worte fehlten. Er hatte seit dem grausigen Fund im Fluß darüber nachgedacht, wußte aber immer noch nicht, wie er ihr diese Neuigkeit am besten beibringen sollte.

»Was ist passiert, Mr. Monk?« Sie ließ sein Gesicht keine Sekunde lang aus den Augen. »Haben Sie Angus gefunden? Ist das der Grund, warum es Ihnen so schwerfällt, mit mir zu sprechen?«

»Ich weiß es nicht.« Es war lächerlich, daß sie ihm half, während er doch derjenige sein sollte, der ihr beistehen sollte. Es war ihr Kummer, ihr Verlust, nicht seiner. »Wir haben eine Leiche gefunden, aber wir brauchen jemanden, der Angus gut genug kannte, um ihn zu identifizieren.«

»Ich verstehe nicht…« Sie schwankte ein klein wenig. »Was versuchen Sie mir zu sagen?« Sie schluckte. »Ist es Angus oder nicht? Sie haben Caleb gesehen. Ich kann eine Vielzahl von Unterschieden zwischen ihnen erkennen, aber ihre Augen müßten gleich sein, so daß sie selbst entscheiden können, ob es Angus ist oder nicht!« In ihrer Stimme und in ihrem Blick lag eine wachsende Panik. »Bitte! Diese… diese Ungewißheit ist schlimmer als jede Wahrheit.« Sie stand mit verkrampften Händen vor ihm, und ihr Körper war so angespannt, daß sie zitterte.

»Wenn ich es wüßte, Mrs. Stonefield, würde ich Sie dem nicht aussetzen!« sagte er verzweifelt. »Wenn Lord Ravensbrook es uns hätte sagen können, hätte ich ihn darum gebeten. Aber der Fluß hat das Gesicht entstellt. Nur da, wo die Kleider seinen Körper bedeckt haben, ist er unversehrt geblieben. Das ist der Grund, warum nur Sie es uns sagen können.«

Sie zog scharf die Luft ein, versuchte zu sprechen und brachte keinen Laut hervor.

Alles in ihm drängte danach, sie berühren zu dürfen, ihr auf irgendeine Art und Weise Kraft zu spenden. Aber das wäre eine unmögliche Zudringlichkeit gewesen.

»Möchten Sie, daß jemand Sie begleitet?« fragte er. »Haben Sie eine Kammerzofe? Oder sollen wir bei Mr. Niven vorbeifahren? Ich nehme an, Lord Ravensbrooks Gegenwart wäre Ihnen nicht angenehm?« Es war eine, Frage, aber er konnte die Antwort der Art entnehmen, wie ihr Hals sich versteifte.

»Nein… nein, vielen Dank. Ich denke, ich ziehe es vor, außer Ihnen niemanden mitzunehmen. Wenn Sie so freundlich sein wollen? Ich habe schon früher Tote gesehen, aber natürlich nicht meinen eigenen Mann oder jemanden, der… nicht unversehrt ist… wie Sie sagten.«

»Natürlich.« Er bot ihr sofort seinen Arm. »Wollen Sie sofort mitkommen, oder möchten Sie erst noch einen Schluck Brandy zu sich nehmen?«

»Ich trinke keinen Alkohol, vielen Dank. Ich werde meine Zofe bitten, mir meinen Mantel zu bringen, dann bin ich soweit. Ich möchte das schnell hinter mich bringen.«

Sie fuhren schweigend ihrem Ziel entgegen. Es gab nichts Wichtiges zu sagen, und alles Unwichtige wäre zu diesem Zeitpunkt ebenso schmerzlich wie absurd gewesen. Die Droschke holperte durch die Dunkelheit, vorbei an den Straßenlaternen, deren Licht vom Nebel und Rauch reflektiert wurde. Man hörte keinen Laut, abgesehen von dem Klappern der Hufe auf dem Pflaster und dem Rattern der Räder und einem gelegentlichen Spritzen von Wasser, wenn sie in einen besonders tiefen Rinnstein gerieten.

Als sie am Leichenschauhaus ankamen, blieb die Kutsche mit einem Ruck stehen. Monk kletterte hinaus und half Genevieve beim Aussteigen. Sie überquerten den Gehsteig und gingen die Stufen hinauf. Ein einsamer Constable wartete auf sie, unglücklich und mit bleichem Gesicht. Er führte sie hinein.

Im Haus roch es sauber und ein wenig schal, der undefinierbare Geruch, der etwas anderes überdecken sollte, den Geruch der gewaschenen und häufig schon halb verwesten Körper der Toten.

Der Constable führte sie in einen kleinen Raum, in dem, verhüllt von einem Laken, eine Leiche auf einem Holztisch lag. Für gewöhnlich zog man das Laken nur so weit herunter, daß das Gesicht zu erkennen war. In diesem Fall war das der am schlimmsten entstellte Teil des Mannes. Jemand hatte so viel Weitsicht bewiesen, den Kopf mit einem zusätzlichen Tuch zu verhüllen. Der Angestellte zog den Stoff vom Hals nach unten, so daß Schultern, Oberarme, Brust und Unterleib sichtbar wurden.

Genevieve stand völlig reglos da, als könne sie sich nicht von der Stelle bewegen. Monk fürchtete, daß sie, sobald sie es tat, zusammenbrechen würde, und doch konnte sie von ihrem Platz aus nicht genug sehen, um mehr als den Oberkörper eines gutgebauten Mannes zu erkennen. Wenn Angus nicht irgendeine schwere Anomalität aufzuweisen hatte, würde sie näher herangehen müssen, um feststellen zu können, ob er es war oder nicht.

Er nahm ihren Arm.

»Mrs. Stonefield?« sagte er sanft. »Ihre Qual ist völlig natürlich, genauso wie Ihr Abscheu, aber wir wissen nicht, ob es sich hier um Ihren Mann handelt oder nicht. Ohne Ihre Hilfe werden wir es nie erfahren. Bitte… nehmen Sie all Ihren Mut zusammen und sehen Sie hin.«

Sie machte mit geschlossenen Augen einen Schritt nach vorn, dann einen zweiten und schließlich einen dritten. Monk hielt sie an. Sie war jetzt nah genug.

Sie standen schweigend nebeneinander, und auch von draußen drang kein Laut in den Raum. Man hörte nicht einmal einen Atemzug. Selbst die Lampen schienen ohne das leiseste Zischen zu brennen, als verschlucke die Luft jedes Geräusch.

Genevieve öffnete die Augen und blickte auf die nackte Brust vor ihr.

»Nein«, flüsterte sie, und die Tränen quollen aus ihren Augen, Tränen der Erleichterung wie auch der Verzweiflung. »Das ist nicht mein Ehemann. Bitte, ziehen Sie das Laken wieder über den armen Mann. Ich weiß nicht, wer er ist.«

»Es ist nicht Angus?« fragte Monk noch einmal nach. »Sind Sie da völlig sicher?«

»Ja.« Sie wandte sich von der Leiche ab. »Er hat keine Narben. Angus hatte ein einzigartiges Muster von Narben auf seiner Brust, an der Stelle, an der er einmal verletzt worden war; es war eine Stichwunde, die er sich bei einem seiner Besuche bei Caleb zugezogen hatte. Ich weiß genau, wo die Wunde ist. Ich habe sie selbst genäht. Dieser Mann hat keine solche Narbe.«

Monk führte sie zur Tür. »Es tut mir leid, daß ich Sie hierhergebracht habe«, sagte er bitter. »Ich hätte Ihnen das erspart, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte, es anderweitig in Erfahrung zu bringen.« Er nickte dem Angestellten des Leichenschauhauses zu, und der Constable folgte ihnen hinaus.

»Ich weiß, daß Sie mir das gern erspart hätten, Mr. Monk«, erwiderte sie mit einem kleinen Hüsteln. Sie legte sich die Hand übers Gesicht und taumelte. Er gab ihr Halt, und der Constable trat schnell an ihre andere Seite. Gemeinsam führten sie sie zum Eingang und hinaus in die frische Nachtluft.

»Vielen Dank.« Monk sah den Constable an. »Ich werde Mrs. Stonefield nach Hause bringen.«

»Ja, Sir. Gute Nacht, Sir. Ma'am.«

Als Caleb Stones Verhandlung am folgenden Tag wieder aufgenommen wurde, hatte Rathbone bereits Kenntnis von den Ereignissen des letzten Abends. Er bedauerte die Tatsache,, daß Genevieve sich dieser Tortur unterziehen mußte, genauso wie die Erkenntnis, daß es sich nicht um Angus' Leiche handelte. Gleichzeitig bewegte ihr Verhalten ihn zutiefst. Sie hätte es sich so leicht machen können. Es war unwahrscheinlich, daß irgend jemand ihr widersprochen hätte, wenn sie den Mann als ihren Gatten identifiziert hätte.

»Sie muß doch wenigstens für einen Augenblick lang in Versuchung gewesen sein?« fragte er Monk, als sie im Regen die Stufen zum Gerichtsgebäude hinaufgingen. »Man hätte sie kaum wegen eines solchen Irrtums vor Gericht gestellt, selbst wenn man ihr jemals etwas hätte nachweisen können. Und es wäre die perfekte Lösung für all ihre Nöte gewesen.«

»Und für unsere«, fügte Monk grimmig hinzu, während er Rathbone durch die gewaltigen Türen folgte und seinen Schirm von der Nässe befreite, bevor er ihn zusammenklappte. »Aber nein. Sie hat nur ein einziges Mal hingesehen und festgestellt, daß er es nicht sein konnte. Sie hatte keine Zweifel. Was ihr während der Fahrt zum Leichenschauhaus durch den Kopf gegangen ist oder während der wenigen Augenblicke, bevor sie ihn sah, werden wir wahrscheinlich niemals erfahren. Falls sie in Versuchung war, etwas anderes zu sagen, so hat sie dieser Versuchung jedenfalls widerstanden.«

»Bemerkenswerte Frau«, sagte Rathbone leise, während er den Hut abnahm. »Ich wünschte, ich könnte sicherer sein, daß wir etwas für sie erreichen werden.«

»Wenig Hoffnung?« fragte Monk.

»Nicht so, wie die Dinge sich im Augenblick entwickeln«, entgegnete Rathbone. »Aber ich werde mein Bestes tun. Noch sind wir nicht geschlagen.«

Der erste Zeuge des Tages war Monk selbst. Er berichtete über seine Suche nach Angus, die ihn schließlich zu der Entdeckung von Angus' Kleidern bei den Bettlern in der East India Dock Road geführt hatte, wo er sie gegen seine eigenen Gewänder getauscht hatte, um sie in die Hand zu bekommen.

Dann erzählte er von seiner Verfolgung Calebs, bei der auch die Polizei zugegen gewesen war, und seiner Verhaftung in den Sümpfen. Ihre frühere Begegnung erwähnte Rathbone nicht, da alles, was Caleb damals gesagt hatte, im Prozeß nicht verwendbar war, weil es keine Zeugen dafür gab. Archie McLeish hatte auf der anderen Seite der behelfsmäßigen Tür gestanden und war damit außer Hörweite gewesen.

Als Rathbone fertig war, erhob sich Ebenezer Goode. Er sah Monk aufmerksam an und hielt seinem Blick mühelos stand. Er erkannte in seinem Gegenüber einen Mann vom Fach. Seine Augen funkelten, und seine Lippen öffneten sich zu einem wölfischen Lächeln, das alle Zähne entblößte, aber er war viel zu klug, um anzugreifen, wo er nicht siegen konnte.

»Wissen Sie, wo Angus Stonefield sich zur Zeit aufhält, Mr. Monk?« fragte er sehr freundlich, als führten sie in irgendeiner Taverne bei einem Glas Bier ein beiläufiges Gespräch.

»Nein«, erwiderte Monk.

»Wissen Sie mit Sicherheit, Mr. Monk, und unwiderlegbar, ob er lebt oder ob er tot ist?«

»Nein.«

Goodes Lächeln wurde, wenn das überhaupt möglich war, noch breiter.

»Nein«, wiederholte er. »Genausowenig, wie irgend jemand sonst es weiß! Vielen Dank, das wäre alles.«

Rathbone erhob sich und rief Lord Ravensbrook in den Zeugenstand. Eine leichte Bewegung im Zuschauerraum verriet ein gewisses Interesse, das jedoch nicht übermäßig groß war. Der Fall entglitt ihm, das wußte Rathbone.

Ravensbrook trat mit großer äußerlicher Gelassenheit in den Zeugenstand, aber sein Körper wirkte steif, und seine Augen blickten starr geradeaus. Er wäre vielleicht mit derselben Anspannung und dem verzweifelten Mut einem Erschießungskommando gegenübergetreten. Enid saß wieder im Zuschauerraum, mit Hester neben sich, aber er schien sich ihrer Anwesenheit gar nicht bewußt zu sein und suchte noch viel weniger ihren Blick.

Nach seiner Vereidigung begann Rathbone mit der Befragung.

»Mylord, Sie haben beide Brüder seit ihrer Geburt gekannt, nicht war?«

»Nicht seit ihrer Geburt«, korrigierte Ravensbrook ihn. »Seit dem Tod ihrer Eltern. Sie waren damals gerade fünf Jahre alt.«

»Ich bitte um Verzeihung.« Rathbone formulierte die Frage neu. »Sie haben sie gekannt. Sie sind mit ihnen verwandt, nicht wahr?«

»Ja.« Ravensbrook schluckte sichtbar. Rathbone konnte selbst von seinem Platz aus sehen, wie seine Kehle sich zuschnürte, so schwer fiel es ihm zu antworten. Für einen Mann seines Charakters - stolz, unnahbar und dazu erzogen, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten und sie nur selten in Worte zu fassen, selbst wenn nichts Unschickliches daran war - mußte diese Erfahrung an Folter grenzen.

»Als sie allein auf der Welt standen«, fuhr Rathbone fort, dem das, was er tun mußte, zutiefst verhaßt war, aber er konnte nicht anders. Ohne diesen Hintergrund gab es keinen Fall. Vielleicht gab es noch nicht einmal mit ihm einen. Setzte er diesen Mann für nichts und wieder nichts dieser raffinierten Folter öffentlicher Schande aus? »Sie haben die beiden in ihrem Haus aufgenommen und für sie gesorgt, als wären sie Ihre eigenen Kinder. War das so?«

»Jawohl«, antwortete Ravensbrook grimmig. Er ließ Rathbones Gesicht keine Sekunde aus den Augen, als versuche er den Rest des Saals auszublenden und sich einzureden, sie seien allein, zwei Männer, die in der Abgeschiedenheit irgendeines Clubs ein zutiefst persönliches Gespräch führten.

»Es schien das Naheliegendste zu sein.«

»Jedenfalls für einen gütigen Menschen«, bemerkte Rathbone.

»Von ihrem fünften Lebensjahr an lebten Angus und Caleb Stonefield also in Ihrem Haus und wurden als Ihre Söhne großgezogen?«

»Ja.«

»Waren Sie damals verheiratet, Mylord?«

»Ich war Witwer. Meine erste Frau starb sehr jung.« Ein Schatten von Trauer huschte über sein Gesicht, dann war er wieder verschwunden. Es ging nicht an, sich vor anderen Menschen verletzlich zu zeigen. »Meine jetzige Frau habe ich einige Jahre danach geheiratet. Angus und Caleb waren damals bereits erwachsen und wohnten nicht mehr im Haus.« Er sah Enid immer noch nicht an, als fürchte er, sie auf diese Weise irgendwie in die Verwirrung seiner Gefühle hineinzuziehen, so als würde er sich damit noch weiter entblößen, als er es ohnehin schon tat.

»Sie waren also die einzige Familie, die die beiden hatten?« hakte Rathbone nach.«

Ebenezer Goode rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

Caleb entwand sich dem Griff des Wächters neben ihm, so daß seine Handschellen klirrten.

Der Richter beugte sich vor. »Worauf wollen Sie hinaus, Mr. Rathbone? Bisher scheinen Ihre Fragen lediglich das Offensichtliche zutage gefördert zu haben.«

»Jawohl, Mylord. Ich möchte Lord Ravensbrook nach der Beziehung der beiden Brüder zueinander befragen, so wie er sie von Kindheit an erlebt hat. Ich versuche lediglich klarzustellen, daß er als Experte in dieser Frage angesehen werden kann.«

»Das ist Ihnen bereits gelungen. Bitte, fahren Sie fort.« Rathbone verbeugte sich und wandte sich dann wieder an Ravensbrook.

»Als Sie sie seinerzeit kennenlernten, Mylord, waren die beiden einander da sehr zugetan?«

Ravensbrook zögerte nur eine Sekunde lang. Auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck von Verwirrung und Abscheu, als fände er es qualvoll, diese Frage zu beantworten.

»Ja, sie haben sich extrem… nahegestanden. Damals gab es noch keine Kluft zwischen ihnen.«

»Wann haben Sie erstmals eine solche Kluft bemerkt?« Ravensbrook antwortete nicht. Sein Gesicht offenbarte Schmerz und Widerwillen, Gefühle, die kaum überraschend waren. Die Erinnerung an jene Zeit, da Angus und Caleb einander geliebt hatten, war ein besonders bitterer Kontrast zur Gegenwart. Das Mitleid für ihn im Saal war geradezu greifbar.

»Mylord«, drang Rathbone in ihn. »Wann haben Sie das erste Mal so etwas wie eine Kluft zwischen den beiden Brüdern bemerkt? Wir müssen es wissen, und Sie sind der einzige, der es uns sagen kann.«

»Natürlich«, erwiderte Ravensbrook entschlossen. »Es war fast drei Jahre nach ihrer Ankunft. Angus war immer ein… ein ruhiges Kind, fleißig und gehorsam. Caleb schien ihm das zu verübeln.

Es war viel schwieriger, ihn an eine gewisse Disziplin zu gewöhnen als seinen Bruder. Er nahm jede Zurechtweisung übel. Er hatte ein unglückliches Temperament.«

Auf der Anklagebank sah man, wie Calebs Kopf ruckartig in die Höhe fuhr, und diese Bewegung erregte die Aufmerksamkeit mehrerer Geschworener. Sie betrachteten ihn mit neu erwachtem Interesse.

»Beruhte die Entfremdung der Brüder auf Gegenseitigkeit?« fragte Rathbone.

Wieder zögerte Ravensbrook so lange, daß Rathbone sich genötigt sah, die Frage zu wiederholen.

»Man hatte nicht den Eindruck«, sagte Ravensbrook endlich.

»Gewiß, im Laufe der Zeit wurde Angus noch… eifriger in seinen Studien, ein noch angenehmerer Gefährte…«

Caleb stieß ein Schnauben aus, das beinahe ein Aufschrei war. Zorn lag in diesem einen Laut, aber auch ein unterschwelliger Schmerz, und Rathbone spürte plötzlich das Gewicht der Ablehnung, das dahinterstand. Nach all diesen Jahren waren die Verwirrung und die bittere Erkenntnis, erst an zweiter Stelle zu stehen, das Wissen, daß der Bruder bevorzugt wurde, noch immer nicht vergessen. Er dachte an seinen eigenen Vater und das Band zwischen ihnen. Er konnte sich nicht daran erinnern, daß er jemals das Gefühl gehabt hatte, es würde von irgend etwas bedroht. Eifersucht war ihm fremd.

»Und Caleb war anders?« fragte er nach.

Ravensbrooks Kiefer verkrampfte sich, und sein Gesicht war sehr blaß. »Ja«, sagte er tonlos. »Er war rebellisch, streitsüchtig, ein verstocktes Kind.«

»Haben Sie ihn geliebt?« Diese Frage hatte er ursprünglich nicht stellen wollen. Sie hatte nichts mit seinem Fall zu tun. Er sprach, ohne nachzudenken, nur aus einer jähen, überwältigenden Gefühlsaufwallung heraus, die unentschuldbar war und absolut unprofessionell.

»Natürlich«, antwortete Ravensbrook und zog seine dunklen Augenbrauen ganz leicht in die Höhe. »Man entzieht einem Familienmitglied doch nicht seine Loyalität oder seine Zuneigung, nur weil es von anderer Natur ist. Man hofft, daß es mit einiger Fürsorge seinen Schwierigkeiten entwachsen wird.«

»Und ist Caleb ihnen entwachsen?« Ravensbrook antwortete nicht.

»Ist er dem Neid auf seinen Bruder je entwachsen?« Rathbone ließ nicht locker. »Sind sie einander je wieder so nahe gewesen wie mit fünf Jahren?«

Ravensbrooks Gesicht war angespannt, konzentriert und voller Bitterkeit, als zwinge er sich eine eiserne Beherrschung auf.

»Ich hatte nicht den Eindruck.«

Von der Anklagebank war ein kurzes, bellendes Hohngelächter zu hören, und der Richter fuhr herum, um Caleb einen strafenden Blick zuzuwerfen. Er hatte bereits tief Luft geholt, um ihn zurechtzuweisen, falls er noch einen weiteren Laut von sich geben sollte. Einer der Geschworenen runzelte die Stirn, ein anderer schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen.

Ebenezer Goode versteifte sich. Es war das erste negative Zeichen in seinem Fall, obwohl er Calebs Benehmen gewiß gekannt haben mußte, die Tatsache, daß sein Gesichtsausdruck allein schon gegen ihn sprach. Es gab keine Beweise, zumindest bisher nicht, die ganze Sache beruhte auf Vermutungen und Einschätzungen, war eine Frage der Interpretation.

Rathbone wollte den einmal eingeschlagenen Weg weiter verfolgen.

»Lord Ravensbrook, würden Sie dem Gericht bitte in groben Zügen die Beziehung zwischen den beiden Brüdern schildern, wie sie sich während ihrer Jugend in Ihrem Haus entwickelte? Ist Ihnen zum Beispiel dieselbe Erziehung zuteil geworden?«

Ein bitteres Lächeln zuckte um Ravensbrooks fein geschnittenen Mund und war sofort wieder verschwunden.

»Genau dieselbe«, erwiderte er. »Sie hatten einen Lehrer, der sie gemeinsam unterrichtete. Nur die Art und Weise, wie sie darauf reagierten, war anders. Ich habe sie in jeder Hinsicht gleich behandelt, genauso wie der Rest des Personals.«

»Sie meinen, alle, wirklich alle, hätten die beiden gleich behandelt?« Rathbone heuchelte Überraschung. »Es müßte doch einige gegeben haben, die den einen oder den anderen vorzogen? Sie sagten, die beiden Jungen entwickelten sich in zunehmendem Maß auseinander.«

Caleb beugte sich auf der Anklagebank vor, sein Gesicht verriet höchste Aufmerksamkeit, und er hörte konzentriert zu.

Ravensbrook mußte sich dessen bewußt sein, aber er stand völlig reglos da. Er hätte aus Stein gemeißelt sein können. Er war ein Mann, der mit qualvoll langsamen Schritten durch einen Alptraum wandelte, und dieses Gefühl spiegelte sich in jeder Faser seines Körpers wider.

Enid schien sein Gesicht nicht für eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

»Lord Ravensbrook!« Rathbone hatte das Gefühl, seine Aufmerksamkeit erregen zu müssen, bevor es überhaupt Sinn hatte, daß er seine Frage wiederholte.

Ravensbrook sah langsam zu ihm hinunter.

»Lord Ravensbrook, Sie haben uns erzählt, wie verschieden diese beiden Jungen wurden. Die Menschen, die mit ihnen zu tun hatten, mußten doch gewiß unterschiedlich für sie empfinden? Angus besaß jeden Vorzug - Ehrlichkeit, Demut, Dankbarkeit, Großzügigkeit -, während Caleb aggressiv war, faul und undankbar. Wenn das so war, konnten die Menschen den beiden Brüdern dann wirklich mit gleicher Zuneigung begegnen?«

»Vielleicht habe ich mehr für mich selbst als für andere gesprochen«, räumte Ravensbrook widerwillig und mit starrer Miene ein. »Ich habe mein Bestes getan, das nicht zuzulassen, aber im Dorf mag so etwas natürlich vorgekommen sein. Darauf hatte ich keinen Einfluß.«

»Das Dorf?« Rathbone hatte es versäumt, Ravensbrook zu fragen, wo die beiden Jungen ihre Kindheit verbracht hatten. Ihm hätte klar sein müssen, daß es nicht London gewesen sein konnte.

»Mein Landhaus in Berkshire«, erklärte Ravensbrook, dessen Gesicht plötzlich weiß geworden war. »Die Atmosphäre dort war besser für sie geeignet als die in der Stadt. Sie konnten Reiten, Jagen und Fischen lernen.« Er holte tief Luft.

»Männliche Betätigungen. Sie haben auch ein wenig über das Land gelernt und die Verantwortung eines Mannes gegenüber seinen Mitmenschen.«

Ein oder zwei Leute im Raum ließen zustimmendes Gemurmel hören. Enid sah verwirrt aus, Caleb verbittert.

»Eine sehr privilegierte Kindheit, will es mir scheinen«, erwiderte Rathbone lächelnd.

»Ich habe ihnen alles gegeben, was ich ihnen geben konnte«, sagte Ravensbrook ohne besonderen Ausdruck, abgesehen vielleicht von einem gewissen Ernst, der der Trauer entspringen mochte oder vielleicht auch nur eine Wirkung des Lichts auf seinem leidenschaftslosen Gesicht mit den aristokratischen Zügen und den dunklen Augen unter ihren kurzen Brauen war.

»Sie sagen, daß die Eifersucht zwischen ihnen zugenommen hätte«, fuhr Rathbone fort. Er hatte es mit einem Zeugen zu tun, der nahezu feindselig war, und er mußte ihm jedes einzelne Wort mühsam entlocken. Er verstand den Mann. Die Notwendigkeit, die privatesten Dinge aus der eigenen Familie dem öffentlichen Blick preiszugeben, vor allem den sensationslüsternen Gaffern, das war etwas, das kein anständiger Mann sich wünschen würde, und für einen Menschen wie Milo Ravensbrook mußte es genauso schlimm sein wie die Notwendigkeit, sich feindlichem Feuer zu stellen. Aber es war unvermeidlich, wenn sie Gerechtigkeit wollten und nicht nur eine Strafe für Caleb, sondern auch finanzielle Sicherheit für Genevieve und ihre Kinder. »Würden Sie dem Gericht bitte ein Beispiel für jedwede Zwischenfälle geben, an die Sie sich erinnern können? Wie verhielten sich die beiden Jungen zueinander, wie reagierten sie bei Auseinandersetzungen und Streitigkeiten…«

Ravensbrook fixierte einen Punkt irgendwo über den Köpfen der Menge.

»Das würde ich lieber vermeiden.«

»Selbstverständlich«, erwiderte Rathbone bedauernd.

»Niemand hat den Wunsch, sich an solche Dinge zu erinnern, aber ich fürchte, es ist notwendig, wenn wir die Wahrheit dieser gegenwärtigen Tragödie aufdecken wollen. Ich bin sicher, das ist auch Ihr Wunsch.« Das stimmte nicht ganz; er war sich durchaus nicht so sicher. Vielleicht wäre es Ravensbrook lieber gewesen, die Sache auf sich beruhen zu lassen, damit sie als ein ungelöstes Rätsel langsam in der Erinnerung verblaßte. Aber das konnte er natürlich nicht sagen.

Es entstand ein langes Schweigen. Einer der Geschworenen hustete und förderte ein großes Taschentuch zutage. Ein anderer rutschte auf seinem Stuhl hin und her, als sei er peinlich berührt. Der Richter starrte Ravensbrook an, Ebenezer Goode, sah mit erwartungsvoller Miene erst Ravensbrook, dann Rathbone ins Gesicht.

Aber es war Caleb, der die Spannung löste.

»Du hast es vergessen, wie?« rief er zum Zeugenstand hinunter. Er hatte seine Lippen zurückgezogen und die Zähne entblößt, so daß er Ähnlichkeit mit einem wilden Tier hatte.

»Vergessen, daß Angus solche Angst vor deinem verdammten schwarzen Pferd hatte - aber ich habe es geritten! Vergessen, wie wütend du warst…«

»Ruhe!« Der Richter schlug mit seinem Hammer auf das Pult, aber Caleb schenkte ihm keine Beachtung, sondern beugte sich über die Brüstung; seine gefesselten Hände umklammerten das Geländer, und seine Augen funkelten. Seine Miene verriet blinden Haß, der beängstigend wirkte. Er strahlte eine Kraft und einen Zorn aus, die die Menschen im Gerichtssaal selbst noch aus einiger Entfernung spüren konnten.

»… weil ich das Tier unter Kontrolle hatte und du nicht«, fuhr Caleb fort, immer noch ohne den Richter eines Blickes zu würdigen. Es war, als gäbe es niemanden im Raum außer ihm und Ravensbrook. »Erinnerst du dich daran, wie du mich geschlagen hast, weil ich die Pfirsiche aus dem Gewächshaus genommen habe?«

Goode war aufgesprungen, konnte aber nichts tun.

»Das war sieben Jahre davor«, erwiderte Ravensbrook, der Caleb nicht ansah, sondern an ihm vorbeistarrte. »Du hattest sämtliche Pfirsiche genommen. Du hattest eine Strafe verdient.«

Der Richter griff abermals zu seinem Hammer.

»Mr. Goode, entweder sorgen Sie dafür, daß Ihr Mandant die Regeln dieses Gerichts befolgt, oder ich werde ihn aus dem Saal bringen lassen und den Fall in seiner Abwesenheit verhandeln. Bitte, machen Sie ihm das klar, Sir.«

Caleb fuhr herum, und sein Gesicht war vor Zorn verzerrt.

»Reden Sie nicht über einen Dritten mit mir, als wäre ich nicht hier, verdammt noch mal! Ich kann hören, was Sie sagen, und ich verstehe Sie. Welchen verfluchten Unterschied macht es überhaupt, ob ich hier bin oder nicht? Sie sagen über mich, was Sie sagen wollen. Sie glauben, was Sie wollen. Sie werden die Dinge sehen, wie Sie sie sehen wollen!« Seine Stimme wurde noch lauter. »Welche Rolle spielt die Wahrheit schon? Was interessiert es Sie, wer wen getötet hat, solange Ihre Welt dieselbe bleibt, mit denselben bequemen, beruhigenden Lügen? Vertuschen Sie ruhig alles! Begraben Sie es! Setzen Sie ein weißes Kreuz darauf, und sprechen Sie ein Gebet zu Ihrem Gott, damit er Ihnen verzeiht, und dann gehen Sie, und vergessen Sie. Ich werde Sie alle in der Hölle wiedersehen, dessen dürfen Sie sich gewiß sein! Ich werde dort sein und auf Sie warten!«

Der Richter sah müde und traurig aus. »Bringen Sie den Gefangenen hinaus«, wies er die Wärter an.

Caleb sank plötzlich in sich zusammen und schlug die Hände vors Gesicht.

Ebenezer Goode stand auf und ging ein gutes Stück auf die Anklagebank zu.

»Mylord, dürfte ich um eine kurze Vertagung bitten, damit ich meinen Mandanten beraten kann? Ich glaube, ich kann ihn dazu bewegen, in Zukunft Schweigen zu bewahren.«

»Das ist nicht nötig«, unterbrach ihn Caleb und hob den Kopf wieder. »Ich werde nicht noch einmal sprechen. Es gibt nichts mehr zu sagen.«

Der Richter sah zu Rathbone hinüber.

»Ich bin bereit fortzufahren, Mylord«, erwiderte Rathbone. Er hatte nicht den Wunsch, die Stimmung durch eine Vertagung zu verändern.

»Noch so ein Ausbruch, und ich werde entsprechende Verfügungen treffen«, warnte der Richter.

»Jawohl, Mylord.« Goode kehrte zu seinem Platz zurück, ohne noch einen Blick auf den Angeklagten zu werfen.

Rathbone sah Lord Ravensbrook wieder an.

»Ich denke, ein Teil meiner Fragen ist bereits beantwortet worden, aber wenn Sie bitte noch ein oder zwei Vorfälle erwähnen könnten, bekäme das Gericht ein besseres Bild. Wie erging es den beiden Brüdern zum Beispiel bei ihren akademischen Studien?«

Ravensbrooks Körper war so steif, als nähme er an einer Militärparade teil.

»Angus hielt sich hervorragend, vor allem in Mathematik, Geschichte und Geographie«, sagte er, den Blick ins Leere gerichtet. »Er interessierte sich weniger für Latein und die Klassiker, aber er studierte sie dennoch, weil ich es wünschte. Er war ein wirklich bewundernswerter Junge und hat mich überreich für alles belohnt, was ich je für ihn getan habe.«

Der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht und verschwand wieder.

»Ich glaube, in späteren Jahren zumindest hat er den Wert des Lateinischen erkannt. Diese Sprache ist eine so einzigartige Disziplin für den Geist. Diese Notwendigkeit hat er stets eingesehen. Ganz im Gegensatz zu Caleb. Caleb war widerspenstig, immer bereit zu rebellieren, wollte vernichten und zerstören. Das war ein Charakterzug den ich nie unter Kontrolle bekam. Ich habe alles versucht, was mir zu Gebote stand, und in allem bin ich gescheitert.«

»Und wie stand er zu Angus' Erfolg?« fragte Rathbone. Ravensbrooks Stimme war hart und leise. »Zuerst hat er seinen Erfolg lediglich mit Widerwillen zur Kenntnis genommen. Später haben seine Gefühle sich in richtiggehenden Haß verwandelt, in eine Eifersucht, die er anscheinend nicht beherrschen konnte.«

»Hat er je zu körperlicher Gewalt gegriffen?«

Die Gefühle, die sich Ravensbrooks nun bemächtigten, gingen so tief, daß er ganz leicht zu zittern begann, und seine Haut spannte sich bleich über seine hohen, schmalen Wangenknochen. Aber zumindest für Rathbone war sein Gesichtsausdruck undurchdringlich. Die Gefühle, die in ihm tobten, konnten Zorn, Enttäuschung, Wissen um sein Versagen sein, Schuldbewußtsein oder nichts anderes als ein quälender Kummer.

»Ich kann Ihnen nichts Derartiges berichten, was ich selbst erlebt hätte«, sagte Ravensbrook beinahe lautlos, und doch waren seine Worte in einem völlig stillen Raum, in dem kein Mensch sich rührte, gut zu hören. Nicht ein Stiefel quietschte, nicht ein Rock raschelte. »Wenn Sie miteinander rangen, habe ich sie nie dabei beobachtet.«

»Hat einer von ihnen jemals Verletzungen davongetragen, die sie sich ansonsten nicht erklären konnten?« Rathbone steuerte auf das unvermeidliche Thema zu.

Caleb saß völlig bewegungslos auf der Anklagebank, den Kopf gesenkt, das Gesicht verborgen, als hätte er seine Niederlage bereits akzeptiert.

»Ich kann mich an nichts erinnern«, antwortete Ravensbrook.

»Es ist nur natürlich, daß Jungen auf Bäume klettern, Pferde reiten und gefährliche Kutschfahrten unternehmen.« Die starre Haltung seines Kiefers ließ keinen Zweifel daran, daß er nicht mehr zu dieser Sache sagen würde.

»Natürlich.« Rathbone verbeugte sich und nahm die Entscheidung des anderen Mannes hin. »In welchem Alter verließen sie ihr Zuhause, um verschiedene Wege einzuschlagen, Mylord?«

Ravensbrook zuckte zusammen, als hätte man ihn geschlagen.

»Angus trat kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag in eine Handelsfirma in London ein. Es waren Bekannte von mir, und sie waren froh, ihn zu sich nehmen zu können.« In seinem Tonfall schwang Stolz mit, und er hielt den Kopf ein klein wenig höher. »Es schien eine hervorragende Gelegenheit zu sein, und er griff mit beiden Händen zu. Er hatte allergrößten Erfolg. Es dauerte nicht lange, bis er in der Firma aufstieg und schließlich, wie Sie ja wissen, sein eigenes Geschäft gründete.«

»Und Caleb?« fragte Rathbone.

»Caleb ging kurz vorher weg. Er spazierte einfach aus dem Haus. Ich habe gerüchteweise gehört, daß man ihn im Dorf gesehen hätte, Geschichten über Schlägereien und unmäßiges Trinken. « Ravensbrook schwieg einen Augenblick. Im ganzen Saal war kein Laut zu hören. »Dann verstummten die Gerüchte«, fuhr er fort. »Ich nehme an, das war zu der Zeit, als er nach London ging.«

»Aber er hat keine Stellung angenommen, nichts dergleichen?«

»Nicht, daß ich wüßte.«

»Haben Sie versucht, eine Stellung für ihn zu finden?« Ravensbrook zuckte leicht zusammen. »Ich konnte ihn niemandem empfehlen. Das wäre nicht ehrlich gewesen. Er war ein gewalttätiger und betrügerischer Mann und schien nur über sehr wenige Fähigkeiten zu verfügen, die von irgendwelchem Nutzen sein konnten.«

Zwischen den anderen Zuschauern saß Enid Ravensbrook sehr still auf ihrem Stuhl, und auf ihrem Gesicht spiegelte sich ein solches Mitleid wider, daß man hätte denken können, dieser Kummer hätte ihr schlimmer zugesetzt als die Krankheit. Hester legte einen Arm um sie und zog sie mit einer Sanftheit zu sich heran, als fürchte sie, die andere Frau zu zerbrechen.

»Ich verstehe«, murmelte Rathbone. »Vielen Dank, Mylord. Hat er zu dieser Zeit Haß oder Eifersucht gegen seinen Bruder bekundet, der alles zu haben und zu sein schien, was er nicht hatte oder war?«

»Ja, sehr häufig«, gab Ravensbrook zu. »Er haßte und verachtete seinen Bruder.«

»Er verachtete ihn?« Rathbone täuschte Überraschung vor. Ravensbrooks Gesicht drückte Bitterkeit aus. »Er hielt Angus für schwach und abhängig, fand, daß er weder Mut noch Persönlichkeit besaß. Er hielt ihn für einen Feigling und sagte das auch. Ich nehme an, das war seine Art, sich für sein eigenes Versagen zu entschuldigen, zumindest sich selbst gegenüber.«

»Möglich!« meinte Rathbone nickend. »Es widerstrebt uns, zumindest den meisten von uns, eigene Fehler zuzugeben. Vielen Dank, Mylord. Das ist alles, was ich Sie fragen wollte. Wenn Sie so freundlich wären, im Zeugenstand zu bleiben, damit mein gelehrter Freund mit Ihnen sprechen kann.«

Ebenezer Goode war höflich und zumindest äußerlich auch sehr herzlich. Er erhob sich und schlenderte auf den Zeugenstand zu, und sein Gesicht spiegelte ehrliches Interesse wider.

»All das muß sehr schmerzlich für Sie sein, Lord Ravensbrook. Das wäre es für jeden. Ich werde mich so kurz fassen wie möglich.« Er seufzte. »Sie haben ein lebhaftes Bild von zwei Brüdern gezeichnet, die ihr Leben mit einer tiefen inneren Verbundenheit begonnen und sich dann auseinanderentwickelt haben, der eine liebenswert, gehorsam, talentiert; der andere rebellisch, unkonventionell und, ob zu Recht oder zu Unrecht, von dem Eindruck beseelt, weniger geliebt zu werden. Es war nicht überraschend, daß er Widerwillen und Eifersucht an den Tag legte.« Er sah die Geschworenen mit seinem strahlenden, wölfischen Lächeln an.

»Es ist ganz normal, daß Brüder gelegentlich miteinander streiten und sich prügeln. Das kann Ihnen jeder Familienvater erzählen. Und doch behaupten Sie, Sie seien nie bei einer solchen Prügelei zugegen gewesen?«

»Das ist korrekt.« Ravensbrooks Gesicht war völlig ausdruckslos.

»Und die daraus folgenden Verletzungen, ob sie nun von Schlägereien oder anderen Beschäftigungen herrührten, denen junge Männer eben nachgehen«, fuhr Goode fort, »wie zum Beispiel Reiten oder das Erklimmen von Bäumen - waren diese Verletzungen ernst? Gab es zum Beispiel gebrochene Knochen, Gehirnerschütterungen, gefährliche Blutungen?«

»Nein, lediglich Schürfwunden und einige ernstere Prellungen.« Ravensbrook zuckte mit keiner Miene, und seine Stimme war so tonlos wie zuvor.

»Bitte, sagen Sie mir, Mylord, ob einer der Brüder schwerere Verletzungen davontrug als der andere?« fragte Goode.

»Nein. Nein, soweit ich mich erinnern kann, standen sie da einander in nichts nach.«

Goode zuckte die Achseln.

»Und es war nichts Ernstes dabei, nichts, was Sie für eine schwerere Verletzung halten würden, nichts, das die Absicht offenbarte, zu zerstümmeln oder dauerhaften Schaden zuzufügen?«

»Nein.«

»Mit anderen Worten, es war nicht mehr, als sie oder ich in unserer Jugend aushalten mußten?«

»Ja, wenn Sie es so ausdrücken wollen«, pflichtete Ravensbrook ihm bei; seine Stimme verriet noch immer nicht das leiseste Interesse, als finde er das ganze Thema ziemlich ermüdend.

»Ihres Wissens hat diese bedauerliche Eifersucht also nie zu Schlimmerem als Worten geführt?« drängte Goode ihn.

»Meines Wissens nicht, nein.«

Goode schenkte dem Gericht sein breites, strahlendes Lächeln.

»Vielen Dank, Mylord. Das wäre alles.«

Und so ging die Verhandlung weiter, zog sich durch den Nachmittag und auch noch über den folgenden Tag hin. Rathbone rief Arbuthnot auf, der aussagte, daß Angus am Tag seines Verschwindens im Büro gewesen sei, daß eine Frau ihn besucht habe, woraufhin er erklärte, daß er seinen Bruder besuchen wolle. Allerdings habe er auch seine Absicht mitgeteilt, spätestens am folgenden Tag zurückzusein.

Ebenezer Goode konnte seine Glaubwürdigkeit nicht erschüttern und versuchte es auch gar nicht erst.

Als nächstes kamen eine Reihe von Zeugen aus Limehouse und der Isle of Dogs zu Wort, die alle ihren kleinen Teil zu dem Bild beitrugen. Es nahm langsam, wenn auch noch immer undeutlich Gestalt an. Aber auch hier gab es nur Andeutungen, nichts, das endgültige Klarheit hätte schaffen können. Aber das Bild war düster, eine Szenerie wie geschaffen für eine Tragödie, und jeder im Gerichtssaal konnte sie wie einen eisigen Lufthauch spüren.

Rathbone bemerkte am Rande, daß Hester neben Enid Ravensbrook saß; dunkel nahm er ihre Gesichter wahr, während sie die Parade eingeschüchterter und besorgter Menschen vorbeiziehen sahen, die einer nach dem anderen das Mosaik vervollständigten, winzige Farbtupfer zu der Geschichte, die immer noch so voller Lücken war. Er drängte all diese Eindrücke in den Hintergrund seines Bewußtseins. Ihre Gefühle durften keine Rolle für ihn spielen. Genausowenig durften die Calebs es tun, der jetzt von der Anklagebank aus in die Menge hinunterstarrte, obwohl Rathbone nicht wußte, wessen Gesichter er beobachtete, aber seine Miene zeigte noch immer dieselbe Mischung aus Angst, Schmerz und Triumph.

Auch Ebenezer Goode befragte die Zeugen, um klarzustellen, wie dürftig ihre Beweise waren. Das Bild blieb bruchstückhaft, verzerrt, trügerisch. Aber er konnte nichts gegen das unaufhörlich stärker werdende Gefühl von Haß ausrichten, nichts gegen die Überzeugung, daß Angus Stonefield tot war und daß der Mann auf der Anklagebank, der soviel unterdrückte Gewalttätigkeit ausstrahlte, den Tod seines Bruders, auf welche Weise auch immer, herbeigeführt hatte.