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Fast stündlich wurden neue Fieberkranke in das Nothospital in Limehouse gebracht. Das einzig Gute daran war, daß damit auch mehr Freiwillige kamen, die bei dem wenigen, was an praktischer Pflege getan werden konnte, halfen, die beim Ausleeren der Eimer und beim Waschen zur Hand gingen sowie Decken und Laken reinigten und schmutziges Stroh gegen frisches austauschten. Männer aus der Nachbarschaft trugen die Toten fort.

»Wo bringen sie sie hin?« fragte Enid Ravensbrook, als sie einmal spät am Nachmittag zusammen in dem kleinen Raum saßen, in dem Monk mit Callandra und Hester gesprochen hatte. Drei Kranke waren in der vergangenen Nacht gestorben. Kristian war seit dem Vorabend dagewesen und hatte sich eine kurze Pause gegönnt, um nach Hause zu gehen, sich zu waschen, die Kleider zu wechseln und ein paar Stunden zu schlafen, bevor er in sein eigenes Krankenhaus zurückkehrte. Aber selbst im günstigsten Fall konnte er wenig ausrichten. Es gab kein bekanntes Medikament gegen Typhus; das Beste, was man für die Patienten tun konnte, war eine ständige Pflege, um ihre Leiden zu lindern, die Temperatur niedrig zu halten und den Körper mit der notwendigen Flüssigkeit und den Geist mit Lebenswillen zu versorgen.

Callandra blickte überrascht auf. »Ich weiß nicht«, sagte sie.

»Ich gestehe, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Ich nehme an…« Sie hielt inne. »Nein, das ist lächerlich. Kein Leichenbestatter würde sich eines Fieberopfers annehmen. Außerdem sind es zu viele.«

»Sie müssen begraben werden«, beharrte Enid, die auf dem klapprigen Stuhl saß, auf dem Monk neulich Platz genommen hatte. Callandra saß auf dem anderen Stuhl, Hester auf dem Fußboden. »Wenn die Leichenbestatter es nicht tun, wer dann? Man kann kaum erwarten, daß die Totengräber die Leichen aufbahren und all die anderen Dinge tun, die der Anstand erfordert. Das einzige, worauf sie sich verstehen, ist das Vergraben von Särgen. Die Sargbauer sind die einzigen Menschen, die von dieser Sache profitieren.« Sie holte tief Luft und stieß einen leisen Seufzer aus. »Wenigstens ist es etwas wärmer geworden. Oder haben wir einfach mehr Kohlen im Ofen?«

»Ich bin völlig durchgefroren.« Callandra schauderte und schlang die Arme um sich. »Hester, haben Sie mehr Kohlen aufgelegt?«

»Nein.« Hester schüttelte den Kopf. »Das wage ich nicht, sonst gehen sie uns noch aus. Wir haben ohnehin nur noch genug für zwei Tage. Ich wollte mit Bert darüber reden, aber ich habe es vergessen.«

»Ich frage ihn das nächstemal, wenn ich ihn sehe«, entgegnete Callandra.

»Ich weiß nicht, wo er hingegangen ist.« Enid starrte sie an. Sie sah sehr bleich aus; nur auf ihren Wangen brannten rote Flecken. Sie war erschöpft. Sie war seit zwei Tagen nicht mehr zu Hause gewesen und hatte nur, wann immer sich die Gelegenheit bot, ein wenig auf dem Fußboden in diesem Raum geschlafen. »Er ist vor über zwei Stunden fortgegangen«, fügte sie hinzu. »Ich habe ihn gebeten, den Leichenbestatter aufzusuchen, aber ich glaube nicht, daß er mich gehört hat.«

Hester sah Callandra an.

»Es müssen so viele Beerdigungen sein«, fuhr Enid fort; sie sprach mehr zu sich selbst als zu den beiden anderen. Ihr Gesicht war sehr blaß, und auf Stirn und Unterlippe schimmerte eine dünne Schweißschicht. Sie blickte auf. »Wissen Sie, auf welchen Friedhof man die Toten bringt?« Sie wandte sich an Callandra.

»Nein, ich weiß es nicht«, erwiderte Callandra leise.

»Ich werde es herausfinden.« Enid seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Das spielt doch keine Rolle!« Callandra sah an ihr vorbei zu Hester hinüber.

»Und ob es das tut«, beharrte Enid. »Die Leute könnten fragen, Verwandte vielleicht.«

»Die Toten werden jetzt nicht mehr einzeln begraben.« Hester gab die Antwort, vor der Callandra zurückgeschreckt war.

»Was?« Enid fuhr herum. Bis auf die Fieberflecken auf ihren Wangen war alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen, und ihre Augen waren hohl, als hätte man sie geschlagen.

»Sie kommen in Gemeinschaftsgräber«, erklärte Hester ruhig.

»Grämen Sie sich deswegen nicht.« Sie streckte die Hand aus und berührte Enid ganz sanft am Arm. Die Kerze auf dem Tisch flackerte, erlosch beinahe und brannte dann mit neuer Kraft weiter. »Den Toten ist es egal.«

»Aber was ist mit den Lebenden?« protestierte Enid. »Was ist, wenn all das vorüber ist und die Menschen trauern wollen, wenn sie einen Ort brauchen, an dem sie sich an die, die sie verloren haben, erinnern können?«

»Es wird keinen geben«, antwortete Hester. »So ist es im Krieg auch. Das einzige, was man der Familie eines Soldaten sagen kann, ist, daß er dem Tod tapfer ins Auge gesehen hat und, wenn er in einem Krankenhaus gestorben ist, daß jemand da war, der sich um ihn gekümmert hat. Mehr kann man nicht tun.«

»O doch«, schaltete Callandra sich schnell ein. »Man kann ihnen sagen, daß er nicht ohne Grund gestorben ist, daß er seinem Land gedient hat. Hier kann man nur sagen, daß die Leute gestorben sind, weil der verfluchte Gemeinderat keine Abwasserkanäle bauen wollte und die Leute zu arm waren, um es selbst zu tun. Das wird kaum jemanden trösten.« Sie sah Enid an und runzelte die Stirn. »Die Leute sind auch deshalb gestorben, weil sie halb verhungert waren und den ganzen Winter frieren mußten, und die Hälfte von ihnen hat Rachitis oder Tuberkulose oder leidet unter den Folgen irgendeiner anderen Kinderkrankheit. Aber man kann kaum auf einen Grabstein schreiben, selbst wenn man einen hätte, daß die Menschen daran gestorben sind, daß sie in der falschen Zeit und am falschen Ort geboren wurden. Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sehen nicht gut aus.«

»Ich habe Kopfschmerzen«, gestand Enid. »Ich dachte, ich wäre nur müde, aber ich fühle mich jetzt, nachdem ich mich hingesetzt habe, noch schlechter als zuvor. Ich dachte, mir sei heiß, aber vielleicht friere ich auch. Es tut mir leid - das klingt alles so lächerlich…«

Hester stand auf und ging durch den Raum zu Enid hinüber, beugte sich über sie und sah ihr forschend ins Gesicht, in die Augen. Dann legte sie ihr die Hand auf die Stirn. Sie war glühend heiß.

»Ist es…?« wisperte Enid; die Frage war zu entsetzlich, um sie auszusprechen.

Hester nickte. »Kommen Sie. Ich bringe Sie nach Hause.«

»Aber…«, begann Enid, bis sie begriff, daß es sinnlos war. Mit größter Mühe erhob sie sich von ihrem Stuhl, schwankte und sackte in sich zusammen. Hester und Callandra konnten sie gerade rechtzeitig auffangen, um sie wieder auf den Stuhl hinuntersinken zu lassen.

»Sie müssen nach Hause fahren«, sagte Callandra mit fester Stimme. »Wir kommen hier schon zurecht.«

»Aber ich kann nicht einfach so weggehen!« wandte Enid ein.

»Es ist soviel zu tun! Ich…«

»O doch, das können Sie.« Callandra zwang sich zu einem Lächeln, in dem Müdigkeit, Geduld und tiefer Kummer lagen.

Sie berührte Enid ganz sanft, aber ohne auch nur einen Anflug von Unentschlossenheit. »Sie werden uns hier nur ablenken, weil wir uns nicht so um Sie kümmern können, wie wir es gern täten. Hester wird Sie nach Hause bringen.«

»Aber…« Enid schluckte schwer, krümmte sich zusammen und stöhnte auf. »Es tut mir leid… Ich glaube, ich muß mich übergeben.«

Callandra sah Hester direkt in die Augen.

»Holen Sie einen Eimer«, befahl sie. »Und dann sagen Sie Mary Bescheid. Außerdem sollten Sie nach einem Hansom Ausschau halten.«

»Natürlich.« Es gab nichts zu diskutieren, keinen Einwand, den man hätte erheben können. Sie ging aus dem Zimmer und kehrte Sekunden später mit einem Eimer zurück, bevor sie nach Mary zu suchen begann, die am anderen Ende des Raums eine Frau kalt abwusch, die so hohes Fieber hatte, daß sie beinahe empfindungslos war. Die Binsenfackeln an den Wänden ließen dunkle Schatten über das Stroh und die undeutlichen Gestalten der Körper unter den Decken huschen. Es war kein Laut zu hören bis auf das Rascheln der vom Fieber verursachten Zuckungen, das Murmeln und die Schreie der Delirierenden und, wenn man in die Nähe der Fenster kam, natürlich das Trommeln des Regens draußen.

»Ich glaube, es geht ihr ein wenig besser«, sagte Mary hoffnungsvoll, als sie Hester bemerkte.

»Gut.« Hester machte keinen Versuch zu widersprechen.

»Lady Ravensbrook hat jetzt ebenfalls das Fieber. Ich hole einen Hansom, der sie nach Hause bringen kann. Lady Callandra wird hierbleiben, und Dr. Beck wird später am Abend zurückkommen. Sieh zu, ob du etwas mehr Holz auftreiben kannst. Alf meinte, am Hafen gebe es noch etwas verrottetes Bauholz. Es wird wohl naß sein, aber wenn wir es hier drinnen aufbewahren, trocknet es vielleicht ein wenig. Außerdem wird es sicher furchtbar Funken sprühen, aber in den Ofen ist das nicht so schlimm.«

»Ja, Miss. Ich…«

»Was?«

»Das mit Lady Ravensbrook tut mir leid.« Auf Marys Gesicht spiegelte sich ehrliche Sorge wider. Das konnte man selbst in dem diffusen Licht deutlich sehen. »Es ist wirklich eine Schande.« Mary schüttelte den Kopf. »Hätte nicht gedacht, daß eine kräftige Dame wie sie sich anstecken könnte. Passen Sie ja auf sich auf, Miss. An Ihnen ist auch nicht viel dran.« Sie musterte Hesters ziemlich magere Gestalt mit wohlmeinender Aufrichtigkeit. »Sie haben auch nicht viel dagegenzusetzen. Wenn Sie die Hälfte Ihres Gewichts verlieren, bleibt nichts mehr von Ihnen übrig.«

Hester konnte dieser Logik nicht recht zustimmen, aber sie erhob auch keine Einwände. Sie zog ihren Umhang fester um sich und ging die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus.

Draußen war es stockdunkel, und der stürmische Wind peitschte den Regen über die Gehsteige. Die einsame Gaslaterne an der Ecke warf ein milchiges Licht durch den Regen, dessen Schein sie zum Park Place führte. Wahrscheinlich würde sie den schmalen Limehouse Causeway hinauf zur West India Dock Road gehen müssen, bevor sie einen Hansom fand. Sie zog ihren Umhang fester um sich und senkte den Kopf, damit der Regen ihr nicht ins Gesicht fiel. Es war weniger als eine halbe Meile.

Sie begegnete einigen Passanten. Es war noch immer früh am Abend, und die Männer kehrten von der Arbeit aus den Fabriken, Hafendocks und Lagerhäusern zurück. Ein oder zwei nickten ihr zu, als ihre Wege sich in dem trüben Licht einer Straßenlaterne kreuzten. Sie war für viele Menschen, die eines der vom Typhus befallenen Opfer kannten oder liebten, eine vertraute Gestalt geworden, aber für die meisten war sie nur eine von vielen grauen Frauengestalten, die sie nicht weiter interessierte.

Die West India Dock Road war belebter. Dort herrschte reger Verkehr von Lastkarren, Rollwagen und mit Ballen beladenen Fuhrwerken, die in Richtung Kai oder Lagerhäuser unterwegs waren, mit Waren, die im Hafen gelöscht worden waren oder am nächsten Morgen verschifft werden sollten, von pferdegezogenen Omnibussen, einem Krankenwagen und allen möglichen Kutschen und Karren von gewöhnlicherer Bauart. Es gab weder Hansoms noch Broughams oder elegante Zweiergespanne.

Es dauerte zehn Minuten, bevor es ihr gelang, einen Hansom zu entdecken, der nach einem Fahrgast Ausschau hielt.

»Ecke Park Street und Gill Street, bitte«, sagte sie.

»Das sind bloß fünf Minuten von hier«, protestierte der Kutscher mit einem Blick auf ihren nassen Umhang, ihre abgetragenen Stiefel und ihr tristes Kleid. »Stimmt was nicht mit Ihren Beinen? Sehen Sie mal, Schätzchen, das ist Ihr Geld nicht wert. Sie können den Weg zu Fuß gehen, und nasser, als Sie schon sind, können Sie dabei auch nicht mehr werden!«

»Das weiß ich, vielen Dank.« Sie zwang sich zu einem Lächeln.

»Ich habe eine Freundin dort, die nach Westen will, den ganzen Weg bis nach Mayfair. Dafür brauche ich Sie.«

»Mayfair?« fragte er ungläubig. »Was um alles in der Welt könnte jemand aus Mayfair hier zu suchen haben?«

Sie erwog die Möglichkeit, ihm zu sagen, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, entschied sich dann aber schnell dagegen. Sie brauchte ihn unbedingt. Enid war zu krank, um warten zu können, bis sie einen anderen Droschker gefunden hatte, der weniger mißtrauisch und neugierig war.

»Sie wohnt dort. Sie hat uns geholfen, das Fieberhospital aufzubauen!« sagte sie in dem ihr eigenen, äußerst kultivierten Englisch.

»Hat wohl genug von Limehouse, was?« sagte er trocken, aber in seiner Stimme lag keine Unfreundlichkeit mehr. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, da er mit dem Rücken zum Licht saß.

»Für eine Weile«, erwiderte sie. »Sie braucht frische Kleider und etwas Geld.« Das war eine Lüge, aber ihren Zwecken war damit auf jeden Fall besser gedient. Wenn sie ihm die Wahrheit sagte, gab er seinem Pferd vielleicht die Peitsche, und sie würde ihn nie wieder sehen.

»Steigen Sie ein!« sagte er leutselig. »Sie kletterte in die Droschke, ohne ihre nassen Röcke zu beachten, die ihr gegen die Knöchel klatschten; sie hatte kaum Platz genommen, als die Kutsche sich mit einem Ruck in Bewegung setzte.

Wie er gesagt hatte, dauerte es keine fünf Minuten, bis sie vor dem Fieberkrankenhaus standen. Sie ging hinein, um Enid zu holen, die mittlerweile so benommen und schwach war, daß sie nicht mehr ohne Hilfe gehen konnte. Hester und Callandra mußten sie auf beiden Seiten stützen, und Hester dankte Gott mit einem stillen Gebet, daß die Straßenlaterne nicht direkt neben dem Haus stand und der Droschker nur die schwankenden Gestalten von drei Frauen erkennen konnte und nichts davon bemerkte, wie geisterhaft die Frau in der Mitte aussah mit ihrem aschfahlen Gesicht, den halbgeschlossenen Augen und der schweißnassen Haut.

Er betrachtete sie neugierig durch die Finsternis und schnaubte leise. Er hatte schon früher feine Leute betrunken gesehen, aber der Anblick einer betrunkenen Frau machte ihm immer besonders zu schaffen. Irgendwie war es schlimmer als bei einem Mann, und es ließen sich kaum die gleichen Entschuldigungen dafür finden. Andererseits, wenn sie Geld für die Kranken gab, wollte er sich mit seinem Urteil zurückhalten… ausnahmsweise.

»Steigen Sie ein!« forderte er sie auf und beruhigte sein Pferd, das die Angst witterte, den Kopf hochwarf und einen Schritt zur Seite machen wollte. »Stillgestanden!« befahl er und zog die Zügel fester. »Na komm schon!« Dann wandte er sich wieder an seine Fahrgäste. »Ich fahre Sie nach Hause.«

Die Fahrt war ein Alptraum. Als sie das Ravensbrooksche Haus erreicht hatten, war Enid abwechselnd heiß und kalt, und sie schien außerstande, ihren heftig zitternden Körper unter Kontrolle zu halten; ihr Geist irrte umher, als befände sie sich in einem Zustand zwischen Wachen und Träumen.

Sobald sie vorgefahren waren, riß Hester die Tür auf und stürzte fast auf den Gehsteig. Dann rief sie dem Droschker zu, daß er genau dort warten sollte, wo er stand. Nachdem sie die Stufen zum Haus hinaufgeeilt war, zog sie heftig am Klingelzug, dann noch einmal und schließlich ein drittesmal.

Ein Lakai öffnete die Tür; seine starre Miene verriet Zorn und Mißbilligung. Als er eine bleiche, durchnäßte junge Frau mit wilden Augen und ohne Hut vor sich sah, kannte seine Wut keine Grenzen. Er war gut einsachtzig groß, wie man es bei einem Lakaien erwarten durfte, und verfügte über wohlgeformte Beine und einen geziemend hochmütigen Mund.

»Lady Ravensbrook sitzt in diesem Hansom und ist furchtbar krank!« sagte Hester barsch. »Würden Sie mir bitte helfen, sie ins Haus zu tragen und dann nach ihrer Zofe zu schicken und nach allen anderen, die gebraucht werden, damit sie es bequem hat.«

»Und wer bitte sind Sie, wenn ich fragen darf?« Er zeigte zwar Reaktion, ließ sich aber so leicht von niemandem überrumpeln.

»Hester Latterly«, antwortete sie schroff. »Ich bin Krankenschwester. Lady Ravensbrook ist sehr krank. Würden Sie sich bitte beeilen, statt hier wie eine Salzsäule in der Tür zu stehen!«

Er wußte, wo sie gewesen war und warum. Offensichtlich lagen ihm noch andere Einwände auf der Zunge.

»Sind Sie schwerhörig?« fragte sie, nun etwas lauter. »Gehen Sie, und holen Sie Ihre Herrin, bevor sie ohnmächtig wird und sich verletzt.«

»Ja, Ma'am.« Plötzlich setzte er sich in Bewegung und ging mit ausholenden Schritten an ihr vorbei, die Treppe hinunter und über den im Lampenlicht feucht glitzernden Gehsteig zu dem Hansom hinüber, dessen Droschker nervös die Zügel von einer Hand in die andere nahm, während er die Haustür anstarrte, als sei sie ein offenes Grab.

Der Lakai riß die Tür auf und streckte mit einem Gesichtsausdruck, als treibe er sein Pferd in die Schlacht, Kopf und Schultern durch die Tür, um Enid, die bewußtlos auf den Sitz gesunken war, aus der Kutsche zu heben. Sobald er sie zu fassen bekommen hatte, was selbst für einen Mann mit seiner Kraft kein leichtes Unterfangen war, zog er sie heraus, straffte sich und trug sie auf den Armen über den Gehweg zum Hauseingang.

Hester machte einen Schritt die Treppe hinunter und suchte in ihrem Retikül nach Geld, um den Kutscher zu entlohnen, aber der hatte es so eilig, sein Pferd wieder in Marsch zu setzen, daß er bereits hochaufgerichtet die lange Peitsche über dem Kopf des Tieres kreisen ließ. Bevor sie ihn erreichen konnte, war er schon wieder auf der Straße und beschleunigte das Tempo.

Sie war nur für einen kurzen Augenblick überrascht. Er wußte, woher sein Fahrgast kam, und als er des Hauses und des livrierten Dieners ansichtig wurde, hatte er die Wahrheit erraten. Er wollte sie nicht in seiner Nähe haben oder irgend etwas aus ihrer Hand entgegennehmen, nicht einmal Geld.

Hester seufzte, folgte dann dem Lakaien ms Haus und schloß die Tür hinter sich.

Der Mann stand unschlüssig inmitten der Halle, und Enid lag hilflos wie eine Stoffpuppe in seinen Armen.

Hester suchte nach einem Klingelzug, um Hilfe herbeizuholen.

»Wo ist die Glocke?« fragte sie scharf.

Er wies mit dem Kopf auf einen hübsch gearbeiteten Klingelzug. Außer dem Lakaien war bisher vom Personal noch niemand erschienen, wahrscheinlich, weil sie wußten, daß es zu seinen Pflichten gehörte, die Tür zu öffnen. Sie ging auf den Klingelzug zu und zerrte heftiger daran, als sie beabsichtigt hatte.

Beinahe augenblicklich erschien ein Stubenmädchen; es sah zuerst zum Lakaien, dann zu Enid und wurde schlagartig fahl im Gesicht.

»Ein Unfall?« fragte sie mit einem leichten Stottern.

»Fieber«, antwortete Hester und ging auf sie zu. »Sie sollte sofort ins Bett gebracht werden. Ich bin Krankenschwester. Wenn Lord Ravensbrook es wünscht, werde ich bleiben und mich um sie kümmern. Ist er zu Hause?«

»Nein, Ma'am.«

»Ich glaube, Sie sollten nach ihm schicken. Sie ist sehr krank.«

»Sie hätten sie früher nach Hause bringen sollen«, sagte der Lakai tadelnd. »Sie hatten kein Recht, sie so lange in diesem Hospital zu behalten, daß sie in einen solchen Zustand geraten konnte.«

»Es kam sehr plötzlich.« Hester konnte sich nur mit Mühe beherrschen. Sie war zu müde und zu sehr um Enid besorgt, um die Geduld aufbringen zu können, mit irgend jemandem zu streiten, vor allem nicht mit einem Lakaien. »Um Himmels willen, stehen Sie nicht da rum, bringen Sie sie nach oben, und zeigen Sie mir, wo ich sauberes Wasser finden kann, ein Nachthemd, Handtücher, Laken und eine Waschschale - genauer gesagt zwei Schalen. Nun beeilen Sie sich doch endlich, Mann!«

»Ich hole Dingle«, sagte das Stubenmädchen hastig. Und ohne weiter zu erklären, wer diese Person war, drehte sie sich auf dem Absatz um und ging zurück durch die mit grünem Fries ausgeschlagene Tür, ohne diese wieder hinter sich zu schließen. Hester folgte dem Diener eine breite, geschwungene Treppe hinauf und über den Flur zur Tür von Enids Schlafzimmer. Dann öffnete sie sie für ihn, und er ging hinein und legte Enid aufs Bett. Es war ein schönes Zimmer, ganz in Rosa und Grün gehalten, mit chinesischen Blumenstilleben an den Wänden.

Aber dies war nicht der rechte Zeitpunkt, um sich mit irgend etwas anderem als den notwendigsten Dingen zu beschäftigen, dem Wasserkrug auf der Kommode, der Porzellanschale und zwei Handtüchern.

»Füllen Sie die Schale mit lauwarmem Wasser«, befahl Hester.

»Wir haben heißes…«

»Ich will kein heißes! Ich versuche das Fieber zu senken, nicht, es in die Höhe zu treiben. Und noch eine Schale. Irgendeine, das ist völlig egal. Und bitte machen Sie schnell.«

Mit einem deutlichen Aufblitzen von Ärger über ihr Benehmen nahm er den Krug, ging aus dem Raum und ließ die Tür hinter sich einen Spaltbreit offen.

Er war gerade lange genug fort gewesen, daß Hester sich auf das Bett neben Enid setzen und sie ängstlich betrachten konnte, während diese begann, sich hin und her zu wälzen, als die Tür abermals weit aufgerissen wurde und eine Frau von ungefähr vierzig Jahren ms Zimmer eilte. Sie war eine schlichte, unelegante Erscheinung und trug ein graues Wollkleid, das sehr streng wirkte, aber außerordentlich gut geschnitten war und eine aufrechte und wohlgeformte Figur betonte. Im Augenblick schien sie jedoch in einem Zustand großer Unruhe zu sein.

»Ich bin Dingle, Lady Ravensbrooks Zofe«, verkündete sie, sah dabei jedoch nicht Hester an, sondern nur Enid. »Was ist geschehen? Ist es Typhus?«

»Ja, ich fürchte schon. Können Sie mir helfen, sie auszukleiden und dafür zu sorgen, daß sie es so bequem wie möglich hat?«

Sie machten sich zusammen an die Arbeit, aber es war keine leichte Aufgabe. Enid hatte jetzt Schmerzen am ganzen Körper, in den Knochen und Gelenken, ja sogar ihre Haut reagierte empfindlich auf jede Berührung, und sie hatte solche Kopfschmerzen, daß sie es nicht ertragen konnte, die Augen zu öffnen. Sie schien immer wieder das Bewußtsein zu verlieren, nur um Augenblicke später wieder zu sich zu kommen, und wenn ihr in der einen Sekunde noch entsetzlich heiß war, so konnte sie in der nächsten schon vor Kälte zittern.

Das einzige, was man für sie tun konnte, war, sie in regelmäßigen Abständen mit kühlem Wasser abzuwaschen, um das Fieber zumindest ein wenig zu senken. Es gab Augenblicke, in denen die Kranke die beiden anderen Frauen wahrnahm, aber meistenteils tat sie das nicht. Der Raum schwankte, blähte sich auf und verschwand wie eine grauenvolle Vision im Spiegel, die bis zur Unkenntlichkeit verzerrt war.

Es dauerte fast zwei Stunden, bis es an der Tür klopfte und ein kleines und sehr verängstigtes Hausmädchen, das sicheren Abstand zum Krankenzimmer hielt, sie darüber informierte, daß Seine Lordschaft zu Hause sei, und ob die Miss ihn bitte sofort in der Bibliothek aufsuchen könne.

Also ließ sie Enid bis zu ihrer Rückkehr in Dingles Obhut; bis dahin würde es notwendig sein, die Wäsche zum erstenmal zu wechseln. Jetzt aber folgte Hester dem Hausmädchen, um dem Wunsch Seiner Lordschaft nachzukommen. Die Bibliothek lag im Erdgeschoß auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs. Es war ein ruhiger, behaglich möblierter Raum mit einer Vielzahl von Eichenregalen. Im Kamin brannte ein großes Feuer. Man brauchte kaum genauer hinzusehen, um das glänzende Holz, die Wärme, den schwachen Duft nach Lavendel, Bienenwachs und Leder wahrzunehmen und zu wissen, welchen Luxus all dies verkörperte.

Milo Ravensbrook stand am Fenster, drehte sich jedoch sofort um, als er Hesters Schritte hörte.

»Schließen Sie die Tür, Miss…«

»Latterly.«

»Ja, Miss Latterly.« Er wartete, bis sie seiner Bitte nachgekommen war. Er war ein hochgewachsener Mann und sah auf eine dunkle, äußerst aristokratische Art und Weise außerordentlich gut aus. In seinem Gesicht schienen sich Temperament und Charme gleichzeitig zu spiegeln. Er mochte ein wunderbarer Freund sein, amüsant, intelligent und von rascher Auffassungsgabe, aber sie hatte auch den Eindruck, daß er ein unversöhnlicher Feind werden konnte. »Man hat mich darüber informiert, daß Sie Lady Ravensbrook nach Hause gebracht haben, nachdem Ihnen klarwurde, daß sie krank ist«, sagte er und ließ die Feststellung halb wie eine Frage klingen.

»Ja, Mylord.« Sie wartete darauf, daß er weitersprach, und suchte in seinen Zügen nach Furcht oder Mitgefühl. Sein Gesicht zeigte keine Regung. Der Mann hatte etwas Steifes an sich, das zum einen seiner Natur entsprach und zum anderen eine Folge der strengen, auf Selbstbeherrschung ausgerichteten Erziehung war. Sie hatte schon viele solcher Männer kennengelernt, sowohl in der Aristokratie als auch in der Armee. Sie waren in Familien hineingeboren worden, für die Macht und Verantwortung etwas so Selbstverständliches waren wie Privilegien. Sie erwarteten den Respekt und den Gehorsam anderer und betrachteten die Selbstdisziplin, die ihnen seit Kindertagen beigebracht wurde, als Preis, den sie dafür zahlen mußten - mit all der Härte gegenüber jedweden Schwächen, seien sie gefühlsmäßiger oder körperlicher Natur. Er stand stramm wie ein Soldat in der Bibliothek, umgeben von den warmen Farben von altem Holz, Samt und Leder, und es war ihr unmöglich, ihn einzuschätzen. Wenn Sorge um seine Frau ihn quälte, verstand er es meisterlich, diesen Umstand vor ihr zu verbergen. Wenn es ihm widerstrebte, sie als Pflegerin zu engagieren, oder wenn er Angst hatte, sich ebenfalls anzustecken, so ließ er sich auch davon nichts anmerken.

»Mein Lakai sagte, Sie seien Krankenschwester. Ist das korrekt?« Er bewegte die Lippen so wenig beim Sprechen, daß ihr schwerfiel, ihn zu verstehen, aber Hester hörte eine Veränderung in seinem Tonfall, als er das Wort »Krankenschwester« aussprach, das seine Gefühle verriet. Krankenschwestern waren im allgemeinen Frauen der übelsten Sorte; oft waren sie betrunken, unehrlich und von einem Äußeren, das es ihnen erschwerte, wenn nicht unmöglich machte, den lohnenderen Beruf der Prostituierten zu ergreifen. Ihre Pflichten bestanden überwiegend im Schrubben und Ausleeren von Eimern; gelegentlich mußten sie gebrauchtes Verbandsmaterial wegschaffen oder neue Bandagen anlegen und sich um die Wäsche kümmern. Die eigentliche Fürsorge für die Patienten oblag den Ärzten, ganz besonders, wenn es um Entscheidungen ging, die Versorgung von Wunden oder die Ausgabe von Medikamenten.

Natürlich waren sich seit Florence Nightingales Wirken auf der Krim viele Menschen der Tatsache bewußt, daß eine Krankenschwester weit mehr sein konnte, aber das war beileibe nicht die Regel. Lord Ravensbrook gehörte offensichtlich der Riege der Skeptiker an. Wenn man ihn nicht dazu herausforderte, würde er gewiß nicht zu unverhohlenen Beleidigungen greifen, aber in seinen Augen war sie nicht besser als Mary oder irgendeine andere der Frauen aus dem East End, die in dem Pesthaus arbeiteten. Hester spürte, wie sich ihr Körper vor Zorn versteifte und ihre Kiefermuskeln sich verkrampften. Trotz all ihrer Unwissenheit und des Schmutzes, aus dem sie kam, besaß Mary ein mitfühlendes Herz, das seinen Respekt verdient hätte.

Sie bemühte sich, noch aufrechter zu stehen.

»Ja, ich bin Krankenschwester.« Sie fügte kein »Sir« hinzu.

»Ich habe meinen Beruf auf der Krim erlernt, bei Miss Nightingale. Meine Familie war nicht damit einverstanden, was mich nicht weiter überrascht hat. Man fand, ich solle zu Hause bleiben und einen passenden Mann heiraten. Aber das war nicht der Weg, den ich einzuschlagen wünschte.« Sie sah in seinem Gesicht, daß er nicht das leiseste Interesse an ihrem Leben hatte oder an den Gründen für ihre Entscheidung, aber es war klar, daß er, wenn auch widerwillig, einen gewissen Respekt empfand. Ihre Arbeit auf der Krim verdiente Anerkennung, das konnte nicht einmal er leugnen.

»Ich verstehe. Wahrscheinlich haben Sie auch schon früher Fieberkranke versorgt und nicht erst in Limehouse?«

»Bedauernswerterweise ja.«

Er hob seine schwarzen Augenbrauen, die sich über seinen tiefliegenden Augen wölbten.

»Bedauernswerterweise? Aber verschafft Ihnen das nicht den Vorteil der Erfahrung?«

»Es ist keine schöne Erfahrung. Ich habe zu viele Menschen sterben sehen, deren Tod zu vermeiden gewesen wäre.«

Seine Miene wurde düster. »Ich interessiere mich nicht für Ihre politischen Ansichten, Miss - ähm - Latterly. Mein einziges Interesse gilt Ihrer Fähigkeit und Ihrer Bereitschaft, meine Frau zu betreuen.«

»Natürlich bin ich dazu bereit. Und ich bin genausogut in der Lage dazu wie jede andere auch.«

»Dann müssen wir nur noch die Frage Ihrer Entlohnung klären.«

»Ich betrachte Lady Ravensbrook als Freundin«, sagte sie eisig. »Ich erwarte keine Entlohnung.« Bedauern konnte sie ihre Antwort später noch. Sie brauchte das Geld, brauchte es dringend, aber es war ihr eine ungeheure Befriedigung, ihn jetzt in die Schranken zu weisen. Das waren ein wenig Kälte oder Hunger schon wert.

Er war verblüfft. Das konnte sie in seinem Gesicht lesen. Er betrachtete ihre schmutzigen, verknitterten Kleider von äußerst mittelmäßiger Qualität, ihr müdes Gesicht und das zerzauste Haar, und ein winziger Anflug von Belustigung huschte über seinen Mund und verschwand sofort wieder.

»Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet«, nahm er ihr Angebot an. »Dingle wird sich um die anfallende Wäsche kümmern und Ihnen alles, was Sie an Mahlzeiten benötigen, zubereiten und servieren, aber da sie mit den anderen Dienstboten in Berührung kommt, wird sie das Krankenzimmer nicht betreten. Ich habe die Verantwortung zu tun, was ich kann, um zu verhindern, daß das Fieber sich im ganzen Haus ausbreitet und von dort aus seinen Weg Gott weiß wohin findet.«

»Natürlich«, sagte sie gelassen und dachte im stillen darüber nach, wie wichtig er selbst sich wohl nehmen mochte, ob er das Krankenzimmer betreten würde… oder nicht.

»Wir werden Ihnen ein Bett ins Ankleidezimmer stellen, wo Sie sich ausruhen können«, fuhr er fort. »Sollen wir jemanden zu Ihnen nach Hause schicken, der Ihnen Kleider zum Wechseln holt? Falls Sie das nicht wünschen, bin ich sicher, daß Dingle etwas für Sie finden wird. Sie scheinen eine ähnliche Figur zu haben.«

Bei dem Gedanken an Dingles sauberes, von ersten Altersfältchen gezeichnetes Gesicht und ihre betont schlichten Kleider fand Hester diesen Vergleich nicht besonders schmeichelhaft, aber andererseits hatte Dingle eine überraschend gute Figur für eine so harte Frau, also war das vielleicht doch kein Grund, deprimiert zu sein.

»Vielen Dank«, erwiderte sie knapp. »Ich fürchte, ich habe zu Hause auch nicht mehr viele Kleider. Ich war jetzt so viele Tage in Limehouse, daß ich keine Gelegenheit hatte zu waschen.«

»Nun gut.« Bei der Erwähnung von Limehouse spannte sich seine Miene erneut an, und sein Mißfallen über Enids Aktivitäten dort wurde so deutlich sichtbar, daß es keiner Worte bedurfte nicht daß er auch nur im Traum daran gedacht hätte, dieses Thema mit ihr zu erörtern. »Dann sind wir uns also einig? Sie bleiben hier, solange es nötig ist.« Es war eine Feststellung, und soweit es ihn betraf, war die Angelegenheit damit erledigt.

»Sie wird möglicherweise die ganze Zeit über Pflege brauchen«, bemerkte sie. »Tag und Nacht, wenn die Krise kommt.«

»Würde das über Ihre Kräfte gehen, Miss - Latterly?«

Sie hörte, wie jemand leise hinter ihr durch den Flur ging; dann verklangen die Schritte ganz, als die betreffende Person ein anderes Zimmer betrat.

»Ja, das würde es«, sagte sie entschlossen. »Vor allem, da ich eine gewisse moralische Verpflichtung gegenüber dem Krankenhaus in Limehouse habe. Ich kann Lady Callandra nicht ohne jede erfahrene Hilfe allein lassen.«

Ein Ausdruck von Zorn blitzte in seinem Gesicht auf. Er zog scharf die Luft ein.

»Meine Frau ist mir sehr viel wichtiger, Miss Latterly, als eine Handvoll armer Schlucker im East End, die ohnehin sterben werden, wenn nicht an dieser Krankheit, so an irgendeiner anderen. Falls Sie einen Lohn wünschen, dann sagen Sie das bitte. Es ist nicht unehrenhaft, sich für seine Arbeit bezahlen zu lassen.«

Sie schluckte die Antwort, die ihr auf der Zunge lag, hinunter, wenn es sie auch einige Mühe kostete. Sie war zu müde, um sich mit solchen Nichtigkeiten wie Arroganz und irrigen Auffassungen zu beschäftigen.

»Für mich persönlich ist sie ebenfalls wichtiger, Mylord.« Sie sah ihm sehr direkt in die Augen. »Aber eine Verpflichtung kann wichtiger sein als die eigenen gefühlsmäßigen Bindungen und ganz gewiß wichtiger als die eigenen Wünsche. Ich könnte mir vorstellen, daß Sie daran genauso fest glauben, wie ich es tue? Ich bin Krankenschwester, und ich lasse nicht einen Patienten wegen eines anderen im Stich, ganz gleich, welcher Natur meine persönlichen Gefühle sein mögen.«

Eine schwache Röte überzog sein Gesicht, und in seinen Augen spiegelte sich Erbitterung und Zorn wider. Aber Hester hatte ihn beschämt, und sie beide wußten es.

»Haben Sie eine Freundin oder eine Verwandte, die sich um Ihre Frau kümmern könnte, während ich fort bin?« fragte sie leise. »Ich könnte ihr zeigen, was getan werden muß.«

Er dachte einen Augenblick nach. »Ich nehme an, das wäre durchaus möglich. Ich kann nicht zulassen, daß Dingle im Krankenzimmer ein und aus geht und die Seuche im ganzen Haus verbreitet. Aber Genevieve ist vielleicht bereit, die notwendige Zeit hier zuzubringen. Das Personal kann sich um ihre Kinder kümmern. Das wäre eine gute Lösung. Es würde ihr für den Augenblick weiterhelfen; sie würde uns einen großen Dienst erweisen und sich nicht verpflichtet fühlen müssen. Sie ist eine sehr stolze Frau.«

»Genevieve?« Es spielte eigentlich keine Rolle, von wem er sprach, aber sie wollte es trotzdem gern wissen.

»Eine Verwandte«, erwiderte er kühl. »Eine angeheiratete Verwandte. Außerdem eine sehr angenehme junge Frau, die sich im Augenblick in einer schwierigen Lage befindet. Das ist wirklich die beste Lösung. Ich werde mich sofort darum kümmern.«

Und so kam es, daß Hester im Ravensbrookschen Haus untergebracht wurde, mit dem versprochenen Bett im Ankleidezimmer und Kleidung zum Wechseln von Dingle, die ihr einigermaßen paßte.

Enid war sehr krank. Sie hatte so hohes Fieber, daß sie nicht zu wissen schien, wo sie war, und Hester nicht einmal erkannte, wenn sie ganz sanft auf sie einredete, ihr ein kühles Tuch auf die Stirn legte oder sie beim Namen rief. Sie hatte fortwährend Durst und war so schwach, daß sie nicht ohne Hilfe trinken konnte, aber immerhin gelang es ihr, das abgekochte und mit Honig und Salz versetzte Wasser, das Hester ihr gab, bei sich zu behalten. Ihrer Miene war abzulesen, daß das Gebräu sehr unangenehm schmeckte, aber Hester wußte aus Erfahrung, daß Wasser allein dem Körper nicht die notwendigen Nährstoffe geben konnte, und so ließ sie sich von Enids geflüsterten Protesten nicht beirren.

Ungefähr gegen halb zehn am Abend klopfte es an der Schlafzimmertür, und als sie öffnete, fand sie sich einer Frau gegenüber, die vielleicht ein oder zwei Jahre älter war als Hester selbst, deren Gesicht jedoch, wie sie sofort bemerkte, weit hübscher war als das ihre, mit einer natürlichen Offenheit, die ihr auf Anhieb gefiel.

»Ja?« fragte sie. Die Frau war schlicht gekleidet, aber sowohl der Stoff als auch der Schnitt ihres Gewandes waren exzellent und ihre Aufmachung insgesamt viel schmeichelhafter, als man es einer Dienerin zugestehen würde. Sie wußte, noch bevor sie etwas sagte, daß dies die Verwandte war, die Lord Ravensbrook angekündigt hatte.

»Ich bin Genevieve Stonefield«, stellte die Frau sich vor. »Ich bin gekommen, um Ihnen bei der Pflege Tante Enids zu helfen. Ich habe gehört, daß sie schrecklich krank ist.«

Hester öffnete die Tür ein wenig weiter. »Ja, ich fürchte, das stimmt. Ich bin sehr dankbar, daß Sie gekommen sind, Mrs. - Stonefield sagten Sie?« Der Name klang irgendwie vertraut, aber sie konnte ihn im Augenblick nicht einordnen.

»Ja.« Sie trat ein wenig nervös ein und warf gleichzeitig einen Blick auf das große Bett, in dem Enid mit weißem Gesicht und nassem Haar, das ihr an der Stirn klebte, lag. Das Zimmer wurde nur von der Gaslampe an der gegenüberliegenden Wand erleuchtet, die ein sanftes Zischen von sich gab und lange Schatten an die Wand warf. »Wie kann ich Ihnen helfen?« fragte sie. »Ich - ich habe noch nie jemanden gepflegt außer meinen eigenen Kindern, und da ging es immer nur um Erkältungen und Schnupfen - nichts wie das hier. Robert hatte einmal eine Mandelentzündung, aber das kann man wohl kaum vergleichen.«

Hester begriff sofort, daß Genevieve große Angst hatte, und sie konnte es ihr nicht verübeln. Für sie selbst war eine solche Krankheit nur erträglich, weil sie schon vieles in der Art erlebt hatte. Sie konnte sich noch gut an ihre erste Nacht im Lazarett von Scutari erinnern. Sie hatte sich so unzulänglich gefühlt, hatte jedes Stöhnen und jede noch so schwache Bewegung wahrgenommen. Die Minuten hatten sich dahingeschleppt, als würde es nie wieder Tag werden. Die nächste Nacht war sogar noch schlimmer gewesen, weil sie nun wußte, wie lang und verzweifelt sich die Stunden hinziehen würden. Wenn sie hätte fortlaufen können, hätte sie es getan. Nur das Mitleid für die Männer und die Scham über sich selbst hielten sie an ihrem Platz.

»Sie können kaum etwas tun, um ihr zu helfen, außer ihr das Wasser aus diesem Krug zu geben.« Hester schloß die Tür und deutete auf den kleinen blauen Porzellankrug auf dem Nachttisch. »In dem anderen ist nur klares Wasser für die Tücher, mit denen Sie sie so kühl wie nur möglich halten müssen. Waschen Sie ihr Stirn, Hände und Hals so oft es geht. Alle zehn Minuten, wenn Sie den Eindruck haben, daß es ihr Linderung bringt. Sie hat sich nur ganz am Anfang übergeben, seither nicht mehr, aber falls sie in dieser Hinsicht in Not geraten sollte, müssen Sie darauf gefaßt sein. Da drüben steht eine Schale.« Sie zeigte Genevieve, was sie meinte.

»Vielen Dank«, antwortete Genevieve heiser. Sie sah zutiefst erschrocken aus. »Sie gehen doch noch nicht sofort, oder?«

»Nein«, versicherte Hester ihr. »Und wenn ich gehe, dann nur ins Nebenzimmer, um ein paar Stunden zu schlafen.« Sie zeigte auf die Tür des Ankleideraums. »Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich mich das letzte Mal hingelegt habe, aber ich glaube, daß es vorgestern war, obwohl das wahrscheinlich nicht stimmt.«

»Ich wußte gar nicht, daß sie schon so lange krank ist!« Genevieve war entsetzt. »Warum hat Lord Ravensbrook nicht früher nach mir geschickt?«

»O nein, sie ist erst heute krank geworden. Wir waren unten in Limehouse, wo der Typhus ausgebrochen ist«, erwiderte Hester, während sie an das Bett der Kranken trat.

»Entschuldigen Sie, ich habe mich wohl nicht sehr klar ausgedrückt.«

Genevieve schluckte, und ihre Kehle krampfte sich zusammen, als müsse sie ersticken.

»Limehouse?«

»Ja. Da haben wir im Augenblick einen schlimmen Ausbruch der Seuche. Wir haben ein stillgelegtes Lagerhaus notdürftig in ein Hospital verwandelt.«

»Oh. Das ist sehr lobenswert von Ihnen. Ich glaube, Limehouse ist alles andere als angenehm. Natürlich kenne ich es nicht«, fügte sie hastig hinzu.

»Nein«, erwiderte Hester. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß irgendein Verwandter von Lord Ravensbrook Limehouse oder irgendeinen anderen Ort im East End kannte. »Bevor ich gehe, sollten wir die Bettwäsche wechseln. Zu zweit ist das sehr viel einfacher. Dingle wird die schmutzigen Laken holen und sich um alles weitere kümmern.«

Hester hatte bereits gute Nacht gesagt und war schon fast an der Tür des Ankleidezimmers angelangt, als Genevieves Stimme sie noch einmal aufhielt.

»Miss Latterly! Was - was können Sie für die Menschen in Limehouse tun? Das ist etwas anderes als hier, nicht wahr? Und wird es nicht - nun ja - furchtbar viele Kranke geben?«

»Ja und nein, es ist nicht so wie hier.« Genevieve mit ihrem bezaubernden Gesicht und ihren gutgeschnittenen Kleidern konnte nicht die leiseste Vorstellung von dem behelfsmäßigen Fieberhospital in Limehouse haben, von dem Gestank, dem Leiden, dem entsetzlichen, unnötigen Schmutz, den überquellenden Abfallhaufen, dem Hunger und der Hoffnungslosigkeit. Es hatte keinen Sinn, ihr das alles zu sagen, und es wäre auch nicht besonders gütig gewesen. »Wir tun, was wir können«, sagte sie kurz. »Das ist schon eine Hilfe. Selbst wenn nur jemand dort ist, der versucht, die Menschen kühl und sauber zu halten und ihnen ein wenig Haferschleim einzuflößen, ist das besser als nichts.«

»Ja, natürlich.« Sie schien das Thema noch weiter erörtern zu wollen, aber vor weiteren Fragen zurückzuschrecken. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Mrs. Stonefield.«

Erst als Hester sich in der Wasserschüssel, die man für sie heraufgebracht hatte, das Gesicht wusch, fiel ihr der Name plötzlich wieder ein. Stonefield. Das war der Name des Mannes, den Monk in Limehouse suchte. Er hatte gesagt, Stonefield sei ein respektabler Mann, der plötzlich verschwunden war, ohne ersichtlichen Grund bis auf den, daß er seinen Bruder im East End besucht hatte. Und seine Frau fürchtete, er sei tot.

Aber Enid hätte doch sicher etwas gesagt, wenn sie Monks Fragen gehört hätte? Allerdings war Enid nicht im Zimmer gewesen, nur Monk, Callandra und sie selbst. Im Augenblick war sie jedoch zu müde, weiter darüber nachzudenken. Das einzige, was sie wollte, war, sich den Staub aus den Augen zu wischen, das warme, saubere Wasser auf ihrer Haut zu spüren und sich dann niederzulegen und endlich nicht mehr gegen die Erschöpfung ankämpfen zu müssen.

Geweckt wurde sie von einem beharrlichen Rütteln und einer Stimme, die wieder und wieder ihren Namen flüsterte. Mit größter Mühe befreite sie sich aus den Fängen des Schlafs und stellte fest, daß ein graues, fahles Licht in den Raum fiel; Genevieves weißes, ängstliches Gesicht war nur Zentimeter von ihrem entfernt.

»Ja?« murmelte sie und bemühte sich, wach zu werden und den letzten Rest Schlaf abzuschütteln. Es konnte doch nicht schon Morgen sein? Sie hatte das Gefühl, als hätte sie sich gerade erst hingelegt.

»Miss Latterly! Tante Enids Zustand hat sich anscheinend verschlechtert. Ich habe es nicht gewagt, Sie noch länger schlafen zu lassen. Ich weiß, wie müde Sie sein müssen, aber…«

Hester raffte sich auf, tastete blind nach ihrem Morgenmantel und erinnerte sich dann daran, daß sie keinen hatte. Selbst ihr Nachthemd gehörte Dingle. Also ignorierte sie die Kälte - es brannte kein Feuer im Ankleidezimmer, obwohl es einen Kamin gab und ging an Genevieve vorbei ins Schlafzimmer.

Enid warf sich von einer Seite auf die andere und stieß leise, beinahe kindliche, wimmernde Klagelaute aus, als nehme sie ihre Umgebung überhaupt nicht mehr wahr. Sie schien vollends in ihre Fieberphantasien versunken zu sein. Auf ihrer Haut stand Schweiß, obwohl sich der Wasserkrug und ein Tuch auf dem Nachttisch befanden und das Tuch noch immer kühl und feucht war, als Hester danach griff. Ein Großteil des Honigwassers fehlte.

»Was sollen wir tun?« fragte Genevieve, die direkt hinter ihr stand, mit verzweifelter Stimme.

Es war wenig genug, was sie tun konnten, aber Hester hörte die Furcht und den Kummer aus Genevieves Stimme und spürte Mitleid mit ihr. Wenn sie tatsächlich Monks Auftraggeberin war, dann hatte sie im Augenblick genug eigene Sorgen.

»Versuchen Sie nur, das Fieber herunterzudrücken«, erwiderte sie. »Lassen Sie sich noch mehr Wasser heraufbringen, mindestens zwei Krüge, und kühl soll es sein, nicht mehr als handwarm allerhöchstens. Und vielleicht sollten wir uns auch noch mit mehr frischen Tüchern und Laken versorgen lassen.«

Genevieve machte sich daran, ihren Anweisungen zu folgen; sie war froh, überhaupt etwas tun zu können. Die Erleichterung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Als das Wasser und die Tücher kamen, legte Hester alles auf den Tisch und zog die Bettdecke zurück, um sich ans Werk zu machen. Enids Nachthemd war schweißnaß und klebte ihr am Leib.

»Ich glaube, wir ziehen ihr besser ein Unterhemd an«, meinte Hester. »Und wir müssen das Laken wieder wechseln. Es ist sehr zerknittert.« Sie streckte die Hand aus. »Und feucht.«

»Ich hole saubere Laken«, sagte Genevieve sofort, und bevor Hester etwas erwidern konnte, stürzte sie davon und begann, die Schubladen des Wäscheschranks zu durchstöbern.

Sie brachte das Unterhemd und ging dann gleich wieder fort, um ein Laken zu holen, während Hester Enid im Arm hielt und allein versuchte, ihr das durchnäßte Nachthemd auszuziehen. Enid tat, was sie nur konnte, aber sie war kaum bei Bewußtsein, und es war nur allzu offensichtlich, daß jede Berührung ihr weh tat und jede Bewegung ihr Schmerzen in Knochen und Gelenken verursachte. Hinzu kam, daß das Fieber ihre Sehkraft beeinträchtigte, so daß sie nichts richtig erkennen und nie einschätzen konnte, was ihre Hände zu fassen bekommen würden und was nicht.

Hester war ganz darauf bedacht, ihr möglichst wenig zusätzliche Schmerzen zu bereiten.

»Genevieve!« rief sie. »Bitte helfen Sie mir hier. Das Laken ist jetzt nicht so wichtig.«

Genevieve wandte sich von dem Wäscheschrank, vor dem sie stand, ab. Ihr Gesicht war fahl, und ihr Haar hatte sich aus den Nadeln gelöst. Sie sah sehr müde aus.

»Bitte«, sagte Hester noch einmal.

Genevieve zögerte. Das Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, als hätte sie nicht gehört oder nicht verstanden, was Hester gesagt hatte. Dann kam sie, als koste es sie ungeheure Kraft, herüber, stellte sich auf die andere Seite des Bettes, beugte sich mit gesenktem Kopf vor und nahm Enids schlaffen Körper in ihre Arme.

»Vielen Dank«, sagte Hester und zog der Kranken das Nachthemd über den Kopf. Schnell und so sanft sie nur konnte, wusch sie Enid am ganzen Körper mit kühlem Wasser ab. Genevieve trat wieder einen Schritt zurück, nahm ihr die benutzten Tücher ab, tauchte sie ins Wasser und wrang sie aus, bevor sie sie Hester zurückgab. Immer wieder wusch sie sich die Hände, ein oder zweimal, bis hinauf zum Ellbogen.

»Ich hole das saubere Laken«, erbot sie sich, sobald die Arbeit beendet war.

»Bitte, helfen Sie mir zuerst, ihr das Hemd überzustreifen, ja?« bat Hester.

Genevieve holte tief Luft und schluckte heftig, aber sie tat, worum sie gebeten worden war. Sie streckte die Arme aus, und Hester sah, wie sich ihre Muskeln strafften und ihre Hände zitterten. Erst da wurde ihr bewußt, wie sehr die andere Frau sich davor fürchtete, sich ebenfalls anzustecken. Hester hatte den Eindruck, daß Genevieve kurz davorstand, sich zu übergeben, so groß war ihre Angst.

Hester war nicht sicher, was sie empfand. Ein Wirrwarr widersprüchlichster Gefühle machte sich in ihr breit. Sie konnte es nur allzugut verstehen! Sie hatte bei ihren ersten Erfahrungen dieser Art dasselbe überwältigende Entsetzen verspürt. Jetzt hatte die Zeit ihr eine philosophischere Sichtweise vermittelt. Sie hatte Hunderte von Fällen erlebt, und die meisten ihrer Patienten waren gestorben, und doch hatte die Krankheit sie selbst nie befallen. Sie zog sich gelegentlich einmal eine Bronchitis oder Erkältung zu, aber nichts Ernsthaftes, obwohl auch das bisweilen unangenehm sein konnte.

»Es ist unwahrscheinlich, daß Sie sich anstecken«, sagte sie laut. »Ich habe mich nie angesteckt.«

Heiße Röte schoß in Genevieves Wangen.

»Ich schäme mich, daß ich solche Angst habe«, sagte sie stockend. »Ich fürchte nicht um mich - ich habe Angst um meine Kinder. Wenn mir etwas zustoßen würde, wäre niemand da, der sich um sie kümmert.«

»Sind Sie Witwe?« fragte Hester sanft. Vielleicht hätte sie an ihrer Stelle dasselbe empfunden. Es war mehr als natürlich, und jede andere Empfindung wäre kaum begreiflich gewesen.

»Ich…« Genevieve holte tief Luft. »Ich weiß es nicht. Es klingt absurd, aber ich weiß es tatsächlich nicht. Mein Mann ist verschwunden…«

»Das tut mir leid.« Sie meinte es ehrlich. »Das muß furchtbar für Sie sein - die Ungewißheit und die Einsamkeit.«

»Ja.« Genevieve amtete noch einmal tief durch und versuchte sich zu fassen. Ganz bedächtig ließ sie dann das saubere Baumwollhemd über Enids Körper gleiten, wobei sie ihr Möglichstes tat, ihr nicht mit ruckartigen, heftigen Bewegungen Schmerzen zubereiten.

»Wie lange?« fragte Hester, als sie das alte Laken abzogen.

»Zwölf Tage«, antwortete Genevieve. »Ich - ich weiß, es hört sich an, als hätte ich alle Hoffnung aufgegeben, aber ich glaube, er ist tot, denn ich weiß, wohin er gegangen ist, und wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, wäre er schon längst wieder nach Hause gekommen.«

Hester ging zum Wäscheschrank und holte das saubere Laken. Gemeinsam bezogen sie die Matratze, wobei sie Enid ganz sanft von einer Seite des Bettes zur anderen drehten.

»Wohin ist er gegangen?« fragte Hester.

»Nach Limehouse, um seinen Bruder zu besuchen«, antwortete Genevieve.

»Caleb Stone…«, sagte Hester langsam. »Ich habe von ihm gehört.«

Genevieves Augen weiteten sich. »Dann wissen Sie, daß meine Angst keineswegs eine bloße Torheit ist.«

»Nein«, stimmte Hester ihr aufrichtig zu. »Nach dem wenigen, was ich gehört habe, ist er ein sehr gewalttätiger Mann. Sind Sie sicher, daß Ihr Gatte zu ihm gegangen ist?«

»Ja.« In Genevieves Stimme lag nicht das leiseste Zögern. »Er ist ziemlich oft dort gewesen. Ich weiß, es scheint schwer begreiflich, denn Caleb ist so ein schrecklicher Mensch, daß es wohl nichts gibt, was für ihn gesprochen hätte, aber Sie müssen wissen, die beiden waren Zwillinge. Ihre Eltern starben, als sie noch ganz klein waren, und sie sind gemeinsam aufgewachsen.« Sie glättete das Laken und drückte es mit schnellen, vorsichtigen Bewegungen zwischen Matratze und Bettkante. »Lord Ravensbrook hat sie aufgenommen, aber er ist nur ein entfernter Cousin, und das alles war lange, bevor er Tante Enid heiratete. Sie sind von Dienern großgezogen worden. Sie hatten nur einander, wenn sie Zuneigung brauchten, lachten oder weinten. Wenn sie krank waren oder Angst hatten, war niemand da. Caleb war damals anders als heute. Angus spricht nicht viel darüber, ich glaube, es ist zu schmerzlich für ihn.« Ihr Gesicht verzog sich beim Gedanken an die Qual, die ihr Mann erlitten hatte, und an das Kind, das der Mann, den sie liebte, gewesen war und das sie nicht trösten konnte. Jetzt war sogar der Mann unerreichbar, und ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten.

Hester hätte ihr gern ein wenig Trost oder Hoffnung gespendet, aber es gab keinen Trost und keine Hoffnung, und es wäre grausam gewesen, etwas zu erfinden. Damit würde man sie nur ein zweites Mal durch diese Hölle aus Begreifen, Akzeptieren und Schmerz schicken.

»Sie müssen müde sein«, sagte sie statt dessen. »Lassen Sie Dingle uns etwas zum Frühstück heraufbringen. Dann sollten Sie sich umziehen, auf Ihr Zimmer gehen und schlafen.«

Sie hatten ihre Mahlzeit kaum beendet, als es energisch an der Tür klopfte und diese geöffnet wurde, bevor sie etwas erwidern konnten. Milo Ravensbrook trat ins Zimmer. Er schloß die Tür hinter sich und ging ein paar Meter weit in den Raum hinein. Er hatte nur einen kurzen Blick für Hester und Genevieve und sah dann mit ausdruckslosem Gesicht an ihnen vorbei zu Enid. Nach der Blässe und den roten Rändern unter seinen Augen zu urteilen, hatte er wahrscheinlich den größten Teil der Nacht wach gelegen.

»Wie geht es ihr?« fragte er, ohne eine der beiden anderen Frauen dabei anzusehen.

Genevieve sagte nichts.

»Sie ist sehr krank«, antwortete Hester zurückhaltend. »Aber die Tatsache, daß sie noch lebt, gibt Grund zur Hoffnung.«

Er fuhr zu ihr herum. »Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, nicht wahr! Ich hoffe, Sie sind freundlicher zu Ihren Patienten als zu deren Angehörigen!«

Hester hatte zu oft erlebt, daß Furcht in Zorn mündete, um selbst mit Zorn zu reagieren.

»Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt, Mylord. Wäre es Ihnen lieber, ich würde Ihnen erzählen, daß es ihr bessergeht, auch wenn das nicht stimmt?«

»Es geht nicht darum, was Sie sagen, Ma'am, es geht um die Art, wie Sie es sagen«, erwiderte er. Er würde nicht nachgeben.

Er hatte sie kritisiert, und daher mußte sie im Unrecht sein. Er würde ihr verzeihen, wann er es wollte. »Ich werde so bald wie möglich einen Arzt kommen lassen - noch innerhalb der nächsten Stunde. Ich wäre dankbar, wenn Sie hierbleiben würden, bis er meine Frau untersucht hat. Danach können Sie, falls er damit einverstanden ist, für kurze Zeit zu Ihren Patienten in Limehouse zurückkehren, vorausgesetzt, der Arzt ist der Meinung, daß Sie nicht noch mehr Ansteckungsgefahr ins Haus tragen sollten. Ich bin sicher, das ist auch Ihr Wunsch.«

Sie wollte gerade einen Einwand erheben, aber er ließ ihr keine Gelegenheit dazu. Statt dessen wandte er sich an Genevieve.

»Es freut mich, daß du kommen konntest, meine Liebe. Du bist nicht nur Enid eine große Hilfe, sondern gibst mir damit auch die Möglichkeit, dir in deinen gegenwärtigen Schwierigkeiten ein wenig beizustehen.« Sein Gesicht wurde ein klein wenig weicher, eine Spur von Zärtlichkeit legte sich um seinen Mund und war einen Augenblick später wieder verschwunden. »Und ich meine, daß wir als Familie in dieser schwierigen Zeit zusammenhalten und einander stützen sollten, falls es wirklich zum Schlimmsten kommt.« In seinem Gesicht zuckte es unwillkürlich. »Ich hoffe aufrichtig, daß das nicht passieren wird. Vielleicht stellen wir ja fest, daß es einen Unfall gegeben hat - etwas, das wieder in Ordnung gebracht werden kann. Caleb ist gewalttätig ja, er hat beinahe alle positiven Eigenschaften verloren, die er in seiner Jugend besaß -, aber es fällt mir schwer zu glauben, daß er Angus ganz bewußt verletzen würde.«

»Er haßt ihn«, sagte Genevieve, und aus ihrer Stimme klang eine innere Erschöpfung, die viel tiefer ging, als es die eine Nacht, in der sie Enid gepflegt hatte, die Schlaflosigkeit oder die Angst vor der Krankheit hätte erklären können. »Du weißt ja nicht, wie sehr!«

»Aber du auch nicht, meine Liebe«, sagte er, ohne noch einen weiteren Schritt in ihre Richtung zu machen. »Alles, was du gehört hast, ist Angus' Angst entsprungen und seinem überaus natürlichen Kummer über diese Situation und die negativen Veränderungen im Charakter seines Bruders. Ich weigere mich zu glauben, daß bereits alles verloren ist.«

»Vielen Dank«, flüsterte sie. Einen Augenblick lang leuchtete echte Dankbarkeit in ihrem Gesicht auf, und die plötzliche, neu geschöpfte Hoffnung ließ sie verletzlich wie ein Kind aussehen.

Hester wußte nicht, ob sie wütend auf ihn sein sollte, weil er diese Gedanken wieder in ihr hatte aufleben lassen, oder ob er ihr leid tun sollte wegen seines eigenen Schmerzes. Sie stellte sich den jungen Mann, der er gewesen sein mußte, vor, wie er zwei verwaiste kleine Knaben aufnahm und sie im Laufe der Zeit als seine eigenen Söhne betrachtete, wie er sie in seine Träume einschloß, wie er sie in die Künste und Wahrheiten des Lebens einwies und seine Erfahrungen und Ansichten mit ihnen teilte. Und dann mußte die Desillusionierung gekommen sein, während einer der beiden Jungen sich langsam zum Schlechten hin veränderte, böse wurde und sich Schritt für Schritt auf tragische Weise selbst zerstörte. Er hatte alles Gute, alle Sanftheit und alles Streben nach Tugend in sich ausgemerzt, bis er zu guter Letzt ganz allein dastand und sich einer Art Verzweiflung überließ. Gewiß wurde ein Mensch nur aus Verzweiflung zu dem, was Caleb Stone heute verkörperte.

Kein Wunder, daß Milo Ravensbrook im Krankenzimmer seiner Frau stand und sich weigerte zu glauben, daß ein Bruder den anderen ermordet haben konnte. Ihm drohte der Verlust all der Menschen, die er liebte, bis auf Genevieve und ihre Kinder, die durch Angus die letzten waren, in denen noch sein Blut floß.

Langsam wandte er sich ab und sah Enid an, dann versteifte er sich und ging mit bleichem Gesicht hinaus, unfähig, noch ein weiteres Wort zu sagen.

Gegen Mittag war der Arzt dagewesen und bereits wieder gegangen; auch er hatte kaum mehr als Mitleid anzubieten gehabt. Hester wollte gerade nach Limehouse aufbrechen, als sie in der Halle beinahe mit Monk zusammenstieß. Sie blieb abrupt stehen, eine Sekunde, nachdem auch er sie erkannt hatte.

»Was machen Sie denn hier?« wollte er wissen, aber in seinem Gesicht stand deutliche Erleichterung.

Trotz bester Vorsätze spürte sie, wie eine Woge der Freude in ihr aufstieg. Sie hatte nicht die Absicht, sich diesen Umstand zu erklären oder vor sich selbst zu rechtfertigen.

»Lady Ravensbrook ist krank. Ich pflege sie«, erwiderte sie.

In seinen Augen leuchtete ein Funke von schwarzem Humor auf, beinahe eine Art perverser Befriedigung. »Sie sind Limehouse aber ziemlich schnell leid geworden, wie? Was ist mit Callandra? Ist sie jetzt ganz allein dort, nachdem Sie und Lady Ravensbrook gegangen sind?«

»Ich bin gerade auf dem Weg dorthin«, erwiderte sie scharf und mit unüberhörbarem Zorn.

»Sehr intelligent«, sagte Monk sarkastisch. »Dann können Sie den Typhus gleich hierher zurückbringen, damit Lady Ravensbrook den auch noch bekommt. Ich hätte nicht gedacht, daß Sie so dumm sind! Weiß Lord Ravensbrook davon? Vielleicht ist ihm die Tragweite des Ganzen nicht klar, aber von Ihnen hätte ich mehr erwartet.«

»Sie hat bereits Typhus«, erwiderte sie und sah ihm direkt in die Augen. »Das ist das Risiko, das man eingeht, wenn man Fieberpatienten pflegt. Aber wie Sie bereits bemerkt haben, Callandra hat sehr wenig Hilfe, abgesehen von einigen ortsansässigen Frauen, die willig sind, aber keine Erfahrung haben. Der einzige, der ihr sonst noch zur Seite steht, ist Kristian. Sie müssen sich ein wenig ausruhen, daher, denke ich, werden sie sich wohl abwechseln. Sie brauchen jemanden, der ihnen eine Weile zur Hand geht, sei es auch nur, damit sie das Hospital verlassen können, um weitere Vorräte zu besorgen.«

Sein Gesicht war blaß, und er sah aufrichtig erschüttert aus.

»Wird sie sich davon erholen?« fragte er nach einem Augenblick des Schweigens.

»Ich hoffe es. Sie wird natürlich sehr müde sein, aber Kristian wird alles tun, was in seiner Macht steht, um… «

»Nicht Callandra, Sie Närrin«, fiel er ihr ins Wort. »Ich spreche von Lady Ravensbrook. Sie sagten, sie hätte Typhus.«

»Ja. Sie scheinen es nur sehr langsam zu begreifen, aber das ist der Grund, warum ich hier bin und mich um sie kümmere.«

»Und warum gehen Sie jetzt?« Er deutete mit dem Kopf auf die Hintertür, auf die sie zugesteuert war. »Geht es ihr denn gut genug, um allein gelassen zu werden?«

»Um Himmels willen, sie ist nicht allein«, fuhr sie ihn zornig an. »Genevieve Stonefield wird bei ihr sein, solange ich fort bin. Wir wechseln uns ab und tun alles, was wir können. Glauben Sie, ich würde einfach davonspazieren und eine Patientin allein lassen? Ich bin an Ihre grundlosen Kränkungen gewöhnt, aber selbst Sie müßten es eigentlich besser wissen.«

»Genevieve?« fragte er überrascht.

»Das ist es, was ich gesagt habe. Wahrscheinlich ist sie Ihre Klientin? Haben Sie irgendwelche Fortschritte gemacht? Als ich Sie das letzte Mal gesehen habe, schien Ihnen noch keinerlei Erfolg beschieden gewesen zu sein.«

»Ich verfüge jetzt über beträchtlich mehr Informationen«, antwortete er.

»Mit anderen Worten, nein«, deutete sie seine Feststellung.

»Glauben Sie wirklich, Sie haben genug Zeit und Talent, um neben Ihrer eigenen Arbeit auch meine zu machen?« fragte er mit einem neuerlichen Anflug von Sarkasmus. »Sie schätzen sich höher ein, als wohl gerechtfertigt ist.«

»Wen Sie zu Genevieve wollen«, entgegnete sie, »werden Sie wohl warten müssen. Sie kann Lady Ravensbrook nicht allein lassen, bevor ich zurückgekehrt bin.« Und mit diesen Worten ging sie an ihm vorbei und auf die Haustür zu; sie riß sie auf und überließ es dem Lakaien, sie hinter ihr zu schließen.

»Ich bin gekommen, um mit Lord Ravensbrook zu sprechen«, stieß Monk zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Sie unglaublich törichtes Frauenzimmer!«

Nichtsdestoweniger suchte Hester, müde wie sie war, am Abend desselben Tages Monks Unterkunft in der Fitzroy Street auf, um ihm die allgemeinen Informationen, die sie im Haus der Ravensbrooks über Angus und Caleb Stonefield erhalten hatte, zu übermitteln. Es war nicht viel, aber es würde vielleicht weiterhelfen. Dabei ging es ihr nicht so sehr um Monk als um Genevieve.

Es war eine winterliche Nacht, und sie hatte den Kragen ihres Umhangs hochgeschlagen und um Hals und Kinn gezogen. An ihrem Ziel angelangt, überquerte sie den Bürgersteig und stieg die Treppe empor. Dann klopfte sie forsch an die Tür, bevor sie ihre Meinung ändern konnte.

Sie trat einen Schritt zurück und kam gerade zu der Überzeugung, daß er nicht zu Hause war und sie alles getan hatte, was man von ihr verlangen konnte, als der Schlüssel im Schloß umgedreht und die Tür geöffnet wurde. Monk stand direkt vor ihr. Nach dem, was sie von seinem Gesicht sehen konnte, war er müde und mutlos. Er versuchte nicht, seine Überraschung darüber, sie zu sehen, zu verbergen.

Er tat ihr leid, und plötzlich war sie froh, daß sie gekommen war.

»Ich dachte, ich könnte Ihnen ein wenig von dem, was ich hier über Angus und Caleb erfahren habe, erzählen«, erklärte sie ihr Erscheinen.

»Sie haben etwas erfahren?« fragte er hastig und ließ sie eintreten.

Vielleicht hatte sie mit ihrer Feststellung übertrieben und ihm unberechtigte Hoffnungen gemacht. Sie kam sich ziemlich töricht vor.

»Nur einige Fakten, oder vielleicht sollte ich korrekterweise sagen, die Meinungen einiger Personen.«

»Wen meinen Sie? Um Himmels willen, kommen Sie doch herein! Ich will nicht hier auf der Schwelle stehen, selbst wenn Sie das nicht stört.« Er öffnete die Tür ein wenig weiter, und als sie an ihm vorbeigegangen war, schloß er sie hinter ihr.

»Warum sind Sie so wütend?« Sie beschloß, sich nicht länger zu verteidigen, sondern ihrerseits anzugreifen. Das entsprach ohnehin mehr ihrer Art. Sie wollte ihm nicht gestatten, ihr das Gefühl zu geben, sich ständig rechtfertigen zu müssen. »Wenn Ihr Fall schwierig ist, so ist das sehr bedauerlich«, fuhr sie fort, während sie an ihm vorbei in den nächsten Raum ging. »Aber Sie machen die Sache nicht besser, wenn Sie beleidigend werden, und außerdem ist das sehr kindisch. Sie sollten lernen, sich besser zu beherrschen.«

»Sind Sie den ganzen Weg hierhergekommen, und das noch zu dieser späten Stunde, um mir das zu sagen?« fragte er ungläubig, während er ihr folgte. »Sie sind eine eigensinnige, unglaublich arrogante Person, die sich in alles einmischt! Ihr Umgang mit den Kranken ist Ihnen zu Kopf gestiegen! Selbst bei Ihren vergeblichen Anstrengungen mit den Kranken muß es doch Nützlicheres für Sie zu tun geben! Gehen Sie, und leeren Sie ein paar Eimer, oder schrubben Sie einen Fußboden! Schüren Sie irgendwo ein Feuer! Trösten Sie jemanden, wenn Sie auch nur die leiseste Ahnung haben, wie.«

Sie zog ihren nassen Umhang aus und reichte ihn Monk.

»Wollen Sie etwas über Angus und Caleb wissen oder nicht?« Sie empfand es fast als Erleichterung, nun ihrerseits rüde reagieren zu können. Sie hatte so lange ihre Zunge gehütet und alle möglichen Gefühle in sich aufgestaut, Erinnerungen an Einsamkeit und Furcht, an Entsetzen und Erschöpfung, an vergangenen Schmerz, den sie nicht lindern konnte, an vielfachen Tod, dem sie hilflos und ohnmächtig gegenübergestanden hatte. All das brach sich nun viel vehementer und müheloser, als sie erwartet hatte, Bahn, und sie wollte nichts für Monk empfinden. Es war schön, beinahe wie ein vertrautes Ritual, mit ihm zu streiten. »Haben Sie wirklich ein Interesse daran, der armen Genevieve zu helfen, oder nehmen Sie nur ihr Geld?«

Sein Gesicht wurde weiß. Mit dieser letzten Bemerkung hatte sie ihn verletzt. Trotz all seiner Fehler wußte sie mit absoluter Sicherheit, daß ein solches Verhalten nicht in seiner Natur lag. Vielleicht hätte sie das nicht sagen dürfen. Aber andererseits war auch er nicht davor zurückgeschreckt, sie zu beleidigen.

»Es tut mir leid«, sagte er mit verkniffener Miene. »Mir war nicht klar, daß Sie diesmal etwas Nützliches zu sagen haben. Worum geht es?« Geistesabwesend legte er ihren Umhang über einen der Stühle.

Jetzt fühlte sie sich erst recht töricht. Es war nichts Nützliches. Vielleicht wußte er das ebenfalls? Sie holte tief Luft und sah ihn an. Seine grauen Augen waren kalt und voller Zorn.

»Lord Ravensbrook glaubt nicht, daß Caleb Angus etwas angetan haben würde«, begann sie. »Denn trotz all seiner Gewalttätigkeit sind sie Brüder und zusammen aufgewachsen; sie haben nach dem Tod ihrer Eltern ihre Einsamkeit und ihren Kummer geteilt. Aber er glaubt das, weil er sie beide liebt und es nicht ertragen könnte, wenn es anders wäre. Er hat bereits seine erste Frau verloren und dann die Eltern der Jungen, und jetzt ist Enid schrecklich krank, und Angus ist verschwunden.«

Er starrte sie an und wartete darauf, daß sie zum Ende kam. Ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren ein wenig dünn. »Aber Genevieve ist davon überzeugt, daß Caleb ihn getötet hat. Sie hat mir erzählt, daß Angus in der Vergangenheit oft mit Stichverletzungen nach Hause gekommen ist, von denen sonst niemand etwas wußte. Sie durfte keinen Arzt holen. Er schämte sich für diese Wunden. Ich glaube, das ist der Grund, warum sie Ihnen nichts davon erzählt hat. Sie möchte nicht, daß irgend jemand glaubt, Angus sei nicht in der Lage gewesen, sich einzugestehen, daß er ein Feigling war. Angus… « Sie wußte nicht, wie sie ihre Gedanken ausdrücken sollte, damit sie möglichst vernünftig klangen. Sie konnte Monks sarkastische Erwiderung beinahe hören, bevor sie selbst zu Ende gesprochen hatte. »Angus hat Caleb geliebt«, fuhr sie hastig fort. »Als Kinder haben sie sich sehr nahegestanden. Vielleicht existierte dieses Band für ihn nach wie vor, und er konnte einfach nicht glauben, daß Caleb eine Gefahr für ihn sein könnte. Vielleicht hat er sich sogar wegen seiner eigenen Erfolge schuldig gefühlt. Das mag auch der Grund gewesen sein, warum er ihn immer wieder aufgesucht hat - weil er ihm helfen wollte, um seines eigenen Gewissens willen. Und Mitleid kann für den, dem es gilt, sehr hart sein. Es kann sich tiefer in seine Seele hineinfressen als Haß oder Gleichgültigkeit.«

Er sah sie lange Zeit schweigend an. Sie wandte jedoch den Blick nicht ab, sondern starrte ihn ebenfalls an.

»Vielleicht«, räumte er nach einer Weile ein. Zum erstenmal konnte er sich eine Vorstellung von den Gefühlen Calebs machen, von den Ausbrüchen des Zorns, die in Gewalttätigkeit mündeten. »Das könnte einerseits erklären, warum Angus ihn nicht einfach vor die Hunde gehen ließ, was genau das zu sein scheint, was Caleb sich wünschte und verdient hätte, und warum Caleb dumm genug war, den einen Mann auf Erden zu töten, dem er noch nicht gleichgültig geworden war. Aber es hilft mir nicht dabei, Angus zu finden.«

»Nun, wenn es Caleb war, der ihn getötet hat, hätten Sie zumindest eine Vorstellung, wo Sie suchen können«, stellte sie fest. »Sie brauchen Ihre Zeit nicht länger bei dem Versuch verschwenden festzustellen, ob Angus eine heimliche Geliebte oder Spielschulden hatte. Er war wahrscheinlich genauso anständig, wie er zu sein schien, aber selbst wenn er das nicht war, müssen Sie sich nicht weiter damit beschäftigen, und ganz gewiß brauchen Sie Genevieve - oder Lord Ravensbrook - nichts davon zu sagen. Sie sind beide davon überzeugt, daß er ein außergewöhnlich guter Mensch war. Nach allem, was sie wissen, war er ehrenhaft, großzügig, geduldig, treu und durch und durch anständig. Er hat seinen Kindern Geschichten vorgelesen, seiner Frau Blumen geschenkt, hat gern am Klavier gesungen und konnte wunderbar Drachen steigen lassen. Wenn er tot ist, ist das doch schlimm genug, oder? Sie brauchen nicht auch noch seine Schwächen bloßzulegen, oder - nur um der Wahrheit genüge zu tun?«

»Ich tue es nicht der Wahrheit wegen«, sagte er und sein Gesicht verzog sich bei diesem Gedanken ärgerlich. »Ich will, im Namen der Wahrheit, herausfinden, was ihm zugestoßen ist.«

»Er ist ins East End gegangen, um seinen Zwillingsbruder zu besuchen, der ihn in einem Anfall von Brutalität, wie es seinen Neigungen entspricht, getötet hat! Fragen Sie die Menschen in Limehouse - sie haben Angst vor ihm!« fuhr sie drängend fort.

»Ich habe mit eigenen Augen zwei seiner Opfer gesehen, einen Jungen und eine Frau. Angus ist ihm einmal zu oft in die Quere gekommen, und Caleb hat ihn getötet - mag es ein Unfall oder Absicht gewesen sein. Sie müssen das um der Gerechtigkeit willen beweisen - damit Genevieve erfährt, was geschehen ist und einen gewissen Seelenfrieden wiederfinden kann - und entscheiden, was als nächstes zu tun ist.«

»Ich weiß, was ich zu tun habe«, sagte er schroff. »Das Wie ist sehr viel schwieriger zu ermitteln. Haben Sie da vielleicht genauso schnell einen Rat für mich zur Hand?«

Sie wünschte sich von Herzen, sie wäre in der Lage gewesen, ihm eine kurze und brillante Antwort zu geben, aber ihr wollte nichts einfallen, und bevor sie Zeit hatte, länger über die Sache nachzudenken, hörten sie ein kurzes scharfes Klopfen an der Tür.

Monk blickte überrascht auf, ging aber durch den Raum, um die Tür zu öffnen, und kehrte einen Augenblick später mit einer Frau zurück, die wunderschön gekleidet und ausgesprochen liebreizend war. Alles an ihr wirkte auf eine zwanglose und ungekünstelte Art und Weise weiblich, angefangen von ihrem weichen, honigfarbenen Haar unter ihrem Häubchen bis hin zu ihren schmalen, behandschuhten Händen und den zierlichen Stiefeln. Ihr Gesicht war schön. Ihre großen haselnußbraunen Augen unter den geschwungenen Brauen sahen Monk voller Freude und Hester voller Überraschung an.

»Störe ich Sie bei einer Unterredung mit einer Klientin?« erkundigte sie sich in entschuldigendem Tonfall. »Das tut mir wirklich leid. Ich kann selbstverständlich warten.«

Irgendwie war die Unterstellung, sie könne eine Klientin sein, sehr schmerzlich. Warum hatte die Frau automatisch angenommen, daß Hester keine Freundin Monks sein konnte?

»Nein, ich bin keine Klientin«, sagte Hester schärfer, als es ihr, sobald sie ihre eigene Stimme hörte, lieb war. »Ich habe Mr. Monk aufgesucht, um ihm einige Informationen zu geben, die sich vielleicht als nützlich erweisen könnten.«

»Wie freundlich von Ihnen, Miss…?«

»Latterly«, ergänzte Hester.

»Drusilla Wyndham.« Die Frau stellte sich selbst vor, bevor Monk die Gelegenheit dazu hatte. »Guten Tag.«

Hester starrte sie an. Sie wirkte sehr gelassen, und ihr Benehmen ließ keinen Zweifel daran, daß ihr Besuch, auch wenn sie sich im Augenblick in Monks Büro befanden, privater Natur war. Monk hatte sie nie zuvor erwähnt, aber es stand außer Frage, daß er sie kannte, und alles deutete darauf hin, daß er sie außerdem mochte. Das konnte man an seinem Gesichtsausdruck erkennen, an der Art, wie er dastand, mit gestrafften Schultern und dem leisen Lächeln, das um seine Lippen spielte, im Gegensatz zu dem harten Blick, der bis zu Drusillas Erscheinen in seinen Augen gestanden hatte.

Vielleicht kannte er sie von früher? Sie schien sich völlig ungezwungen in seiner Gesellschaft zu fühlen. Hester spürte, wie ihr Magen sich plötzlich zusammenkrampfte, als stürze sie ins Bodenlose. Natürlich mußte er in der Vergangenheit Frauen gekannt und wahrscheinlich auch geliebt haben. Um Himmels willen! Es war nicht einmal ausgeschlossen, daß er eine Ehefrau hatte! Konnte ein Mann so etwas vergessen? Wenn er wirklich geliebt hatte…?

Aber wäre Monk überhaupt in der Lage gewesen, irgend jemanden zu lieben? Hatte er die Fähigkeit zu uneingeschränkter und absoluter Liebe in sich, die Fähigkeit, sein Leben mit einem anderen Menschen zu teilen?

Ja. Für ein paar Augenblicke in jenem geschlossenen Raum in Edinburgh hatte er diese Fähigkeit bewiesen. Diese kurze Zeit war ihr kostbar wie ein leuchtender Stern in ihrer Erinnerung. Und doch tat sie auch weh, denn sie konnte sie nicht vergessen oder einfach beiseite schieben. Sie konnte nie mehr so an ihn denken, wie sie es früher getan hatte, ihm seinen Zorn und seine Kälte nie mehr ganz glauben, und vor allem konnte sie sich selbst nicht mehr einreden, daß es nichts an ihm gab, was sie wirklich begehrt hätte.

Drusilla Wyndham unterbrach ihre Unterhaltung mit Monk und hatte sich nun wieder zu Hester umgewandt, um sie mit ihren schönen, großen Augen fragend anzusehen.

»Wäre es Ihnen lieber, ich würde draußen warten, während Sie Ihre Unterhaltung hier beenden, Miss Latterly?« erkundigte sie sich höflich. »Ich möchte mich nicht aufdrängen oder Sie von Ihren weiteren Plänen für diesen Abend, die Sie gewiß haben, abhalten. Ich bin sicher, daß Sie Freunde haben, die Sie noch besuchen wollen, oder eine Familie, die auf Sie wartet.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Und es war auch eine sehr eindeutige Art, sie darauf hinzuweisen, daß sie nun gehen könne.

Hester spürte, wie sich ihr der Hals zuschnürte und ihre Schultern sich vor Verbitterung und Zorn verkrampften. Wie konnte diese Frau es wagen, sich so zu verhalten, als hätte sie irgendeinen Besitzanspruch auf Monk? Hester kannte ihn viel besser, als die andere Frau ihn je kennen würde. Sie hatte Seite an Seite mit ihm verzweifelte Kämpfe durchgestanden, hatte Hoffnung und Mut mit ihm geteilt, Mitleid und Furcht, Sieg und Niederlage. Sie hatten nebeneinander gestanden, als Ehre und Leben in Gefahr waren. Drusilla Wyndham wußte nichts von alldem!

Aber sie konnte alle möglichen anderen Dinge wissen. Vielleicht konnte sie Monk sogar etwas über seine Vergangenheit erzählen? Und wenn Hester ihn liebte - nein, das war absurd! Wenn sie eine wahre Freundin war, ein ehrenwerter Mensch, konnte sie nicht den Wunsch haben, ihm das vorzuenthalten.

»Natürlich«, sagte sie kalt. »Aber es besteht kein Grund dafür, daß Sie sich zurückziehen, Miss Wyndham. Alles Vertrauliche ist bereits gesagt worden.« Sie mußte die andere Frau wissen lassen, daß es vertrauliche Dinge zwischen ihr und Monk gab.

»Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.« Dann wandte sie sich wieder an Monk und sah die Belustigung auf seinem Gesicht, was sie zutiefst erzürnte und ihr brennende Röte in die Wangen trieb.

Drusilla lächelte. Vielleicht hatte auch sie sie besser durchschaut, als ihr lieb sein konnte. Sie fühlte sich auf einmal furchtbar nackt.

»Gute Nacht, Mr. Monk«, sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln. »Ich hoffe, Sie haben in Zukunft mehr Erfolg, als es bisher der Fall gewesen ist.« Mit diesen Worten ging Hester dann zur Tür und öffnete sie, bevor er Zeit hatte, ihr zuvorzukommen. Sie trat hinaus auf die kalte Straße und überließ es ihm, die Tür hinter ihr zu schließen.

Sobald Hester gegangen war, drehte Drusilla sich zu Monk um.

»Ich hoffe doch, mein Besuch kam nicht ungelegen? Ich wollte sie nicht in Verlegenheit bringen. Das arme Geschöpf sah völlig verwirrt aus. Sie sagte, es sei keine persönliche Angelegenheit, aber wollte sie da vielleicht nur höflich sein?« Aus ihren Worten sprach eine gewisse Sorge, aber in ihren Augen stand ein Funkeln, das enge Verwandtschaft mit Gelächter aufwies, und ihr Gesicht glühte.

»Durchaus nicht«, sagte Monk in bestimmtem Ton, obwohl er wußte, daß Hester erregt gewesen war. Das war etwas ganz Ungewöhnliches. Er hätte nie geglaubt, daß sie für ein so weibliches Gefühl wie Eifersucht empfänglich war. Er ärgerte sich um ihretwillen. Dieses Verhalten war völlig uncharakteristisch für sie - ein Riß in ihrem Schutzschild. Andererseits fühlte er sich auch geschmeichelt. »Sie hatte mir bereits gesagt, was sie zu sagen hatte«, erklärte er Drusilla und machte einen Schritt zurück, so daß sie näher ans Fenster treten konnte. »Sie hatte keinen Grund und auch nicht den Wunsch, länger zu bleiben. Sie wollte gerade gehen, als Sie kamen.« Er fügte nicht hinzu, daß er sich freute, sie zu sehen, aber sein Verhalten ihr gegenüber sprach eine deutliche Sprache, und das lag auch in seiner Absicht.

»Arbeiten Sie noch an einem anderen Fall außer dem, von dem Sie mir erzählt haben?« wollte sie wissen.

»Nein. Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten? Eine Tasse Tee? Oder eine Tasse heiße Schokolade? Es ist ein kalter Abend.«

»Vielen Dank.« Sie nahm seine Einladung an. »Das wäre wirklich schön. Ich gebe zu, daß ich in dem Hansom sehr gefroren habe. Es war sehr übereilt von mir hierherzukommen, da ich noch nicht einmal wußte, ob Sie zu Hause sein würden, ganz zu schweigen von der Frage, ob Sie auf Besuch vorbereitet wären. Ich habe mich geschämt, aber da war es schon zu spät, und ich war schon auf halbem Weg zu Ihnen. Vielen Dank.« Sie reichte ihm ihren Umhang, nahm ihre Haube ab und fuhr sich mit den Fingern anmutig durch die weichen Locken an ihren Schläfen. »Ich muß zugeben, daß ich ein ganz undamenhaftes Interesse an der Geschichte habe - Sie wissen schon, Ihre Nachforschungen bezüglich des unglückseligen Mannes, der verschwunden ist.« Sie sah ihn mit einem Lächeln an. »Ich habe mich bei den wenigen Bekannten, die ich in der Geographischen Gesellschaft habe, erkundigt, außerdem bei einem Musikverein, den ich kenne, und bei einer Debattiervereinigung, aber ich habe nichts erfahren, abgesehen davon, daß Mr. Stonefield einmal bei der Geographischen Gesellschaft Gast und anscheinend ein ruhiger und charmanter Mann war, der erklärte, er habe zu viele familiäre und geschäftliche Verpflichtungen, um der Gesellschaft häufiger einen Besuch abstatten zu können.« Ihr Blick wanderte durch das Zimmer, und sie registrierte die geschmackvollen, aber nicht gerade neuen Möbelstücke, das blankpolierte Holz, die satten, dunklen Farben des morgenländischen Teppichs und das absolute Fehlen jeglicher Fotografien oder persönlicher Erinnerungsstücke.

»Die anderen wußten überhaupt nichts über ihn«, fuhr sie fort.

»Höchstens dem Hörensagen nach - er galt als ein überaus ehrenwerter Mann, sehr anständig und immer bereit, großzügige Spenden für wohltätige Zwecke zu geben, ein regelmäßiger Kirchgänger und in jeder Hinsicht eine Stütze der Gesellschaft.« In ihren Augen stand ein lebhafter Blick, und ihre Wangen waren leicht gerötet. »Das ist sehr seltsam, nicht wahr? Ich fürchte zutiefst, daß seine arme Frau recht hat und ihm etwas zugestoßen ist.«

»Ja«, pflichtete Monk ihr ernst bei. Er stand neben dem Kaminsims, ganz in der Nähe des Feuers. Sie saß ihm gegenüber im Sessel, und ihre weiten Röcke berührten beinahe das Kamingitter. Fast geistesabwesend läutete er nach seiner Hauswirtin. »Ja, ich fürchte, es sieht mehr und mehr danach aus.«

»Was werden Sie als nächstes unternehmen?« fragte sie und blickte zu ihm auf. »Sie werden doch sicher versuchen, es zu beweisen? Wie sonst könnte der Gerechtigkeit Genüge getan werden?«

»Natürlich werde ich das versuchen.«

Es klopfte an der Tür, und seine Vermieterin stand vor ihm. Sie war von Natur aus ein fröhlicher Mensch und hatte ihre Skrupel, einen Detektiv zu beherbergen, überwunden; ja, mittlerweile war sie in gewisser Hinsicht sogar stolz darauf, weil sie weniger glücklichen Vermietern ähnlicher Etablissements in der Nachbarschaft, deren Mieter alltäglicheren Verrichtungen nachgingen, alle möglichen faszinierenden Dinge erzählen konnte.

»Ja, Mr. Monk? Was kann ich für Sie tun?« Sie musterte Drusilla mit unverhohlenem Interesse. Eine Dame von solcher Schönheit mußte entweder in furchtbarer Bedrängnis oder eine sehr verruchte und höchst gefährliche Person sein. Wie auch immer, die Sache war äußerst interessant. Nicht daß sie auch nur ein einziges Wort darüber verlauten lassen würde, falls sie Gelegenheit haben sollte, irgend etwas mitzuhören.

»Zwei Tassen heiße Schokolade, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Mrs. Mundy«, erwiderte er. »Es ist ein sehr unfreundlicher Abend.«

»Das ist es wirklich«, gab Mrs. Mundy ihm recht. »Nur ein Mensch in höchster Not würde an einem Winterabend zu dieser Stunde aus dem Haus gehen. Zwei Tassen heiße Schokolade, jawohl, Mr. Monk.« Und damit zog sie sich zurück.

»Was werden Sie als nächstes unternehmen?« fragte Drusilla, sobald die Tür geschlossen war. »Wie wollen Sie herausfinden, wohin er gegangen ist, und wie wollen Sie Caleb Stone finden?

Er ist doch gewiß der Schlüssel zu dem Ganzen, oder?«

»Das glaube ich auch«, meinte er, belustigt über ihren Eifer und, ganz gegen seine sonstige Art, ein wenig geschmeichelt. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, ganz gleich, wie bescheiden er auch erscheinen wollte, dieser Umstand trat deutlich zutage. Er reagierte entsprechend, denn auch er fand in ihr alles, was ihm an einer Frau gefiel: Sie war charmant, intelligent, selbstsicher, amüsant und besaß eine gewisse Weiblichkeit mit einer Spur Verletzbarkeit, was ihm sehr gefiel. Es war kein vollkommen ungewohntes Gefühl. Er konnte sich an nichts Genaues erinnern, aber er reagierte instinktiv ganz selbstverständlich und mit deutlichem Vergnügen.

»Also werden Sie ins East End gehen?« fragte sie mit leuchtenden Augen weiter.

»Ja«, antwortete er, während er sie belustigt ansah; er ließ es sich nicht nehmen, sie ein wenig auf die Folter zu spannen, er wußte, daß sie sich langweilte, daß sie nach Abenteuern lechzte, nach Erlebnissen, die ganz anders waren als alles, womit ihre Freundinnen prahlen konnten. Sie hatte Mut, daran zweifelte er nicht, und wahrscheinlich sogar den ehrlichen Wunsch, neue Erfahrungen zu machen und jemandem zu helfen, für den sie ein gewisses Mitleid empfand. Er wußte, was sie als nächstes sagen würde.

»Ich werde Ihnen helfen«, erbot sie sich. »Ich bin ein sehr guter Menschenkenner, vor allem, wenn es darum geht festzustellen, ob jemand lügt oder die Wahrheit sagt, und zusammen können wir mit doppelt so vielen Leuten sprechen wie Sie allein.«

»Sie können mich aber nicht in einem Kleid wie diesem begleiten.« Er musterte sie mit unverhohlener Anerkennung. Sie bot einen erfreulichen Anblick, war eine perfekte Mischung aus Geist und gutem Geschmack und überdies schön genug, um die Aufmerksamkeit eines jeden Mannes zu erregen. Bei alledem wirkte sie jedoch nicht überheblich, und sie verfügte über jenes Maß an Würde und Selbstbeherrschung, das keinen Zweifel daran aufkommen ließ, daß sie ihre eigene Herrin war und sich unter ihrer Schönheit noch unendlich viele Dinge verbargen, von denen kein Mann etwas erfahren würde, es sei denn, er gab seinerseits sehr viel von sich preis. Er stellte fest, daß er ganz eindeutig ihre Begleitung wünschte, ob sie ihm nun von Nutzen war oder nicht.

»Ich werde mir ein Kleid von meinem Hausmädchen borgen«, versprach sie. »Wann wollen wir beginnen?«

»Morgen früh«, antwortete er, wobei er sich nur den Anflug eines Lächelns gestattete. Dann fügte er mit hochgezogenen Augenbrauen hinzu: »Wäre acht Uhr zu früh für Sie?«

»Nicht im mindesten«, erwiderte sie mit vorgerecktem Kinn.

»Ich werde um acht Uhr hier sein, auf die Sekunde pünktlich.« Er grinste. »Wunderbar!«

Mrs. Mundy klopfte an die Tür und brachte die heiße Schokolade. Monk nahm seine Tasse entgegen, als enthielte sie Champagner.