6

Am nächsten Morgen erwachte Monk mit einem Lächeln auf den Lippen. Er stand früh auf. Der Februarmorgen war dunkel und windig, und auf den Pfützen in den Straßen hatte sich eine Frostschicht gebildet, aber er machte sich schon vor acht wieder auf den Weg ins East End und nach Blackwall Reach. Er wollte Caleb Stone finden und würde nicht eher ruhen, bis es ihm gelungen war, ob nun heute, morgen oder übermorgen. Wenn der Mann noch lebte, war er zu zornig, zu auffällig und zu gut bekannt, um einfach so zu verschwinden.

Gegen neun erreichte er in dem spärlichen Tageslicht die Ufer von Blackwall Reach auf der Isle of Dogs. Diesmal hielt er sich nicht lange mit Pfandleihern und Straßenhändlern auf, sondern steuerte gleich die Orte an, an denen Caleb gegessen oder geschlafen haben konnte. Er versuchte es bei Pastetenverkäufern, in Bierhäusern und Tavernen, bei Vagabunden, die draußen in alten Kisten, ausgemusterten Segeln oder Planen schliefen, die sich aus verrottenden Seilen und zusammengenagelten Holzbrettern notdürftig einen Unterschlupf gebaut hatten.

Ja, ein alter Mann hatte ihn vorgestern abend gesehen, wie er von Gold Harbour hinunter zu den Blackwall Stairs schlenderte. Er hatte einen übergroßen Mantel getragen, dessen Schöße ihm heftig um die Beine geflattert waren wie gebrochene Flügel.

Ob er sicher sei, daß es Caleb war? Die Antwort war ein hohles Lachen.

Er fragte niemanden mehr danach, ob er sich sicher sei. Ihre Gesichter sagten es ihm. Eine junge Frau von vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahren rannte einfach weg. Ein einbeiniger Mann, der unbequem auf dem Pflaster hockte und mit schwieligen Händen Seile spleißte, meinte, er habe ihn gestern zur Polly House Tavern gehen sehen. Er habe sich mit schnellen Schritten gegen den Wind gestemmt und sehr selbstzufrieden gewirkt.

Monk suchte daraufhin seinerseits die Polly House Tavern auf, ein überraschend sauberes Lokal mit dunkler Eichenholzvertäfelung und dem Geruch von Talgkerzen, deren flackernde Lichter von einem Spiegel über der Theke reflektiert wurden. Selbst zu dieser frühen Morgenstunde waren ungefähr ein Dutzend Leute dort, die entweder Bier tranken oder sich irgendwelchen Pflichten widmeten, Dinge herbeiholten oder saubermachten.

»Ja?« fragte der Wirt vorsichtig. Monk paßte dem Aussehen nach durchaus ins Bild, war aber ein Fremder hier.

»Bier.« Monk beugte sich lässig über die Theke. Der Wirt zapfte das Bier und hielt ihm den Humpen hin.

Monk legte Threepence auf die Theke und dazu einen Penny für den Wirt, der das Geld ohne Kommentar entgegennahm.

»Kennen Sie Caleb Stone?« fragte Monk nach einiger Zeit.

»Vielleicht«, sagte der Wirt vorsichtig.

»Ob er wohl heute reinkommt?« fuhr Monk fort.

»Weiß nicht«, erwiderte der Wirt ausdruckslos.

Monk zog eine halbe Krone aus der Tasche und spielte mit ihr herum. Andere Gäste, die an der Bar saßen, verharrten regungslos, und das Geplauder im Hintergrund verstummte.

»Schade.« Monk nahm noch einen Schluck von seinem Bier.

»Kann man bei dem nie wissen«, sagte der Wirt wachsam.

»Kommt, wenn's ihm gefällt, und geht, wenn's ihm gefällt.«

»Gestern war er hier.« Monk ließ den Satz wie eine Feststellung klingen.

»Na und? Er kommt öfter hier vorbei.«

»Er war Dienstag vor zwei Wochen auch schon mal hier.

Haben Sie ihn da gesehen?«

»Wie soll ich das wissen?« fragte der Wirt mit ehrlicher Verblüffung. »Glauben Sie, ich schreib' mir alle auf, die hier reinkommen? Glauben Sie, ich hab' nichts Besseres zu tun?«

»Er war da.« Ein ziemlich kleiner Mann mit strahlendgrauen Augen beugte sich vor. »Er und sein Bruder, alle beide.«

»Ach nee! Und woher weißte das?« mischte sich ein gedrungener Mann in höhnischem Tonfall ein. »Woher willste wissen, daß es Dienstag war?«

»Weil es am selben Tag war, an dem der alte Winnie vom Wagen gefallen ist und sich den Schädel gebrochen hat«, erwiderte der kleine Mann triumphierend. »Das war am Dienstag, und am Dienstag sind auch Caleb und sein Bruder hiergewesen. Sahen so aus, als würden sie sich gleich an die Gurgel gehen, jawohl, alle beide fuchsteufelswild, mit Gesichtern wie der Tod persönlich, jawohl.«

Monk konnte sein Glück kaum fassen. »Vielen Dank, Mister…«

»Bickerstaff«, erwiderte der Mann, der sich über die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, freute.

»Vielen Dank, Mr. Bickerstaff«, ergänzte Monk. »Trinken Sie einen auf mich. Sie waren mir eine große Hilfe.« Er gab dem Mann die halbe Krone, und Bickerstaff griff zu, bevor solche Großzügigkeit sich als Trugbild erweisen konnte…

»Mach' ich«, versprach er hochtrabend. »Mr. Putney, wenn Sie so freundlich sein wollen, eine Runde für diese Herren hier, wo meine Freunde sind. Und für meinen neuen Freund hier auch. Und Sie selbst können sich auch einen genehmigen. Vergessen Sie sich selbst nicht.«

Der Wirt tat wie ihm geheißen.

Monk blieb noch eine halbe Stunde, aber trotz der unbeschwerten Freibierlaune erfuhr er nichts mehr, was ihm hätte von Nutzen sein können; das einzige, was er in Erfahrung brachte, war eine ausführlichere Beschreibung des Ortes, an dem Bickerstaff Caleb und Angus gesehen und ihren Streit mitbekommen hatte.

Den frühen Nachmittag verbrachte er mit der Verfolgung einer nicht besonders aufregenden Spur flußabwärts zu den East India Docks und nach Canning Town. Zweimal sah es so aus, als sei er Caleb direkt auf den Fersen, dann aber verlor sich die Spur, und er stand mutterseelenallein in dem grauen, windgepeitschten Regen an einem verlassenen Hafenbecken. Düstere, hochgeladene Lastkähne schoben sich lautlos durch den Nebel flußaufwärts, Stimmen klangen in einem seltsamen hohlen Singsang über das Wasser, und die hereindrängende Flut wisperte im Kies des Strandes.

Er versuchte von neuem sein Glück - mit hochgestelltem Kragen, nassen Füßen und entschlossener Miene. Caleb Stone würde ihm nicht entwischen, und wenn er jede Hütte und jedes Haus am Fluß durchkämmen mußte, jede verfallene, klapprige Holzbehausung, jeden Hafen und jeden Kai, jede dunkle, schlammüberzogene und vom Meerwasser überflutete Treppe, die in den Fluß hinunterführte. Er fragte, schikanierte, beschwatzte und bestach.

Gegen halb vier wurde das Licht schwächer. Er stand auf dem Canal Dock Yard und blickte über den Fluß zu den Chemiefabriken und den Greenwich Marshes auf der anderen Seite, die in Regen und Nebel gehüllt waren. Er hatte Caleb wieder einmal um Haaresbreite verpaßt, diesmal um nicht mehr als eine halbe Stunde. Er fluchte lange und ausgiebig.

Ein Kahnführer, breitschultrig und O-beinig, der am Stiel seiner Tonpfeife kaute, kam mit schaukelndem Gang auf ihn zu.

»Wollen Sie sich da vielleicht reinstürzen?« fragte er fröhlich.

»So wie Sie aus der Wäsche gucken, würde mich das nicht wundern. Aber das Wasser ist mächtig kalt. Verschlägt Ihnen den Atem, bestimmt.«

»Es ist überhaupt verdammt kalt hier draußen«, sagte Monk ungehalten.

»Aber das ist noch nichts im Vergleich zum Wasser«, entgegnete der Kahnführer, der immer noch lächelte. Er schob die Hand in die Tasche seines blauen Mantels und förderte eine Flasche zutage. »Nehmen Sie 'n Tropfen davon. Kuriert nicht viel außer der Kälte, aber das ist immerhin etwas!«

Monk zögerte. Es konnte irgendein Teufelszeug sein, aber er war durchgefroren und von Zorn erfüllt. Er war so nah am Ziel gewesen.

»Aber Sie kriegen nichts, wenn Sie reinspringen wollen, hören Sie«, sagte der Kahnführer und schnitt eine Grimasse.

»Verschwende doch keinen guten Rum. Jamaika, der Rum. Gibt nichts Besseres. Waren Sie schon mal in Jamaika?«

»Nein. Nein, war ich nicht.« Das war wahrscheinlich die Wahrheit, und außerdem spielte es kaum eine Rolle.

Der Mann hielt ihm die Flasche noch einmal hin.

Monk nahm sie und setzte sie an die Lippen. Es war Rum, und sogar ein guter. Er nahm einen Schluck und spürte das Feuer in seiner Kehle. Dann gab er die Flasche zurück.

»Vielen Dank.«

»Warum kommen Sie nicht weg vom Wasser und essen 'n bißchen was. Ich hab' eine Pastete. Sie können die Hälfte kriegen.«

Monk wußte, wie kostbar eine Pastete war, eine ganze Pastete. Die Freundlichkeit des Mannes machte ihm plötzlich seine eigene Verwundbarkeit bewußt. Es gab zu viele Dinge, an denen er hing.

»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte er freundlich. »Aber ich muß einen Mann finden, den ich gerade eben verpaßt habe.«

»Was für einen Mann?« erkundigte sich der Kahnführer zweifelnd, obwohl er die Veränderung in Monks Stimme nicht überhört haben konnte, auch wenn er seinen Gesichtsausdruck in dem schwächer werdenden Licht nicht erkennen konnte.

»Caleb Stone«, erwiderte Monk. »Ein gewalttätiger Mann, der fast mit Sicherheit seinen Bruder ermordet hat. Ich nehme nicht an, daß ich es beweisen kann, denn die Leiche könnte überall sein. Aber ich möchte für die Witwe herausfinden, ob er tot ist. Caleb selbst interessiert mich keinen Pfifferling.«

»Ach nein? Er hat seinen Bruder ermordet, und Ihnen ist es egal?« sagte der Kahnführer mit einem schrägen Seitenblick.

»Ich würde es beweisen, wenn ich könnte«, gab Monk zu.

»Aber ich werde dafür bezahlt, den Tod des Bruders zu beweisen, damit seine Witwe wenigstens bekommt, was ihr zusteht, und seine Kinder genug zu essen haben. Ich glaube, das ist ihr lieber als Rache. Würde Ihnen das nicht genauso gehen?«

»Doch, doch«, gab der Kahnführer ihm recht. »Doch, das wäre es. Sie suchen also Caleb?«

»Ja.« Monk starrte unverwandt auf den immer dunkler werdenden Fluß hinunter. Ob es einen Versuch wert war, jetzt noch auf die andere Seite überzusetzen? Er hatte keine Ahnung, wo er mit der Suche beginnen sollte oder ob Caleb mittlerweile zurückgekehrt war und gemütlich in irgendeiner behaglichen Kneipe auf der Isle of Dogs saß.

»Ich bring' Sie rüber«, erbot sich der Kahnführer plötzlich.

»Ich weiß, wo er hingegangen ist. Zumindest weiß ich, wo er sehr wahrscheinlich hingegangen ist. Ich hab' nichts übrig für Leute, die Kindern ihren Vater wegnehmen. Er ist ein übler Kerl, dieser Caleb.«

»Vielen Dank.« Monk nahm das Angebot des Mannes an, bevor dieser Zeit hatte, seine Meinung zu ändern. »Wie heißen Sie? Mein Name ist Monk.«

»Ach je. Paßt gar nicht zu Ihnen, es sei denn, es wäre einer der Mönche gemeint, die während der Inquisition die Leute auf den Scheiterhaufen zu bringen pflegten. Ich heiße Archie McLeish. Sie sollten besser mit mir kommen. Ich habe ein paar Schritte weiter ein Boot liegen. Nichts Dolles, kalt und naß, aber es wird uns auf die andere Seite bringen.« Dann drehte er sich um und schlenderte davon, wobei er auf den Außenkanten seiner Füße lief, als bewege sich die Erde unter ihm.

Monk holte ihn ein. »Die Inquisitoren, die Menschen für ihren Glauben verbrannt haben«, sagte er gereizt. »Mich kümmert es einen Dreck, was die Leute glauben, mich kümmert nur, was sie einander antun.«

»Sie sehen aus wie einer, der sich kümmert«, erwiderte Archie, ohne ihn anzusehen. »Sie möchte ich nicht auf den Fersen haben. Da wär' mir der Teufel dann doch noch lieber.« Er blieb an einer schmalen Treppe stehen, die zum Wasser hinunterführte, wo ein sehr kleines Boot sich sanft in der ansteigenden Flut wiegte. »Es kostet 'ne Menge, sich zu kümmern«, fügte er hinzu.

Monk wollte gerade leugnen, daß er sich um irgend etwas kümmerte, aber Archie hörte ihm nicht zu. Er löste mit gebeugtem Rücken die Vertäuung, die zu einem außergewöhnlich komplizierten Knoten gebunden war.

Monk stieg in das Boot, und Archie übernahm die Riemen. Mit ein paar geschickten Zügen wendete er das Boot, wobei er es gleichzeitig vorwärts trieb und steuerte. Das Ufer und die Treppe verschwanden schon nach wenigen Metern im Regen. Monk kam der Gedanke, daß niemand wußte, wo er war. Er hatte das Angebot angenommen, ohne auch nur die geringsten Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Archie McLeish konnte von Caleb dafür bezahlt worden sein, genau das zu tun! Er mußte wissen, daß er hinter ihm her war. Monk konnte in der Dunkelheit und dem Nebel auf dem Fluß über Bord gehen und mit der Ebbe aufs Meer hinausgetrieben werden; seine Leiche würde erst Tage später an Land gespült werden oder für immer verschwinden. Caleb Stone mochte zwar die Schuld daran tragen, aber niemand würde es beweisen können. Es wäre nur ein weiterer Unfall. Vielleicht würde Archie McLeish sogar behaupten, Monk habe sich selbst hineingestürzt.

Er umklammerte das Dollbord und war fest entschlossen, dem anderen im Ernstfall zumindest einen verdammt guten Kampf zu liefern. Archie McLeish würde mit ihm zusammen über Bord gehen.

Sie fuhren an zwei Kähnen vorüber, die in gleichmäßigem Tempo dahinglitten, dunkle Erhebungen im Nebel, Positionslichter gesetzt an Backbord und Steuerbord, Hunderte von Tonnen Fracht, die sie zu einem schwerfälligen Spielzeug der Wellen machten. Wenn sie einem dieser Boote in die Quere kamen, würden sie wie Streichhölzer zersplittert werden. Es gab keinen Laut außer dem Geräusch des Wassers, dem trostlosen Tuten eines Nebelhorns in der Ferne und hin und wieder ein paar lauten Stimmen.

Sie fuhren an einem Rahsegler vorbei, der vom Pool of London herunterkam; seine kahlen Spieren ragten über ihnen in den Nebel und erinnerten Monk an eine Reihe nebeneinander aufgebauter Galgen. Es wurde merklich kälter. Der rauhe Wind blies durch seinen Mantel, als wäre er aus dünner Baumwolle, und kühlte ihn aus bis auf die Knochen.

»Sie haben wohl Angst vor Caleb Stone, wie?« fragte Archie McLeish frohgemut.

»Nein«, fuhr Monk ihn an.

»Na ja, Sie sehen aber so aus.« Archie legte sich kräftig und mit seinem ganzen Gewicht in die Riemen. »Ich hab' das Gefühl, als würde ich einen Mann zum Henker rudern, wenn ich Sie so ansehe, wie Sie sich an meinem Boot festklammern - so als würde es wegschwimmen, wenn Sie es loslassen.«

Monk wurde klar, was für einen Anblick er bieten mußte, und rang sich ein Lächeln ab. Es könnte durchaus schlimmer sein.

»Sie werden ihn umbringen, was?« fragte Archie im Plauderton. »Das wäre sicher eine Möglichkeit. Dann hätten Sie wenigstens eine Leiche zum Vorzeigen. Ich schätze, niemand würde wissen, daß es nicht sein Bruder war. Ähnelten einander wie zwei Erbsen, heißt es.«

Monk lachte plötzlich auf. »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht - aber die Idee gefällt mir… wirklich brillant. Gerechtigkeit für alle, und das auf einen Schlag. Das Schlimme ist nur, ich weiß nicht, ob Angus tot ist. Er könnte auch noch leben.«

»Angus heißt der Bruder also«, sagte Archie mit weit aufgerissenen Augen. »Nun ja, ich weiß es ja auch nicht, glücklicherweise. So, ich werd' Sie nicht zurückfahren, weil ich nichts mit Mord zu tun haben will… nicht mal an jemandem wie Caleb Stone.«

Monk fing an zu lachen.

»Und was ist daran so komisch?« fragte Archie mürrisch.

»Ich mag ja ein ungehobelter Mensch sein und nicht so ein Gentleman, wie Sie anscheinend einer sind, obwohl, Gott weiß, schlimm genug aussehen tun Sie ja… Aber ich habe meine Grundsätze, genauso wie Sie!«

»Vielleicht sogar bessere«, räumte Monk ein. »Mir war vorhin der Gedanke gekommen, daß Sie mich ermorden könnten, hier draußen, mitten in dieser gottverlassenen Wasserwüste… auf Calebs Anweisung.«

Archie knurrte etwas Unverständliches, aber sein Zorn schien dahinzuschwinden.

»Na gut«, sagte er leise. »Na ja… hätte ich wohl tun können.« Dann ruderte er eine Weile schweigend weiter. Die Schatten der Chemiefabriken auf der anderen Seite ragten durch den Nebel auf, und Archie mußte die Ruder herumreißen, um einem Kahn auszuweichen, der von den kaum sichtbaren Kaimauern auf sie zutrieb.

»Sie werden wohl 'n bißchen Hilfe brauchen«, sagte Archie nach einigen weiteren Sekunden. »Jemanden wie Caleb kriegen Sie nicht auf eigene Faust.«

»Möglich«, meinte Monk. »Aber ich versuche nicht, ihn zu verhaften, ich will nur mit ihm sprechen.«

»Ach ja?« meinte Archie skeptisch. »Und Sie denken, er glaubt das, ja?«

Auf den ersten Blick war es unwahrscheinlich, und Monk hatte keine Lust, sich in weiteren Erklärungen zu ergehen, teilweise deshalb, weil er sich selbst nicht recht im klaren darüber war. Er hatte einfach keine andere Alternative, als Caleb aufzuspüren.

»Wenn Sie mir Ihre Hilfe anbieten wollen, bin ich Ihnen sehr dankbar«, sagte er spitz. »Was wollen Sie dafür? Es wird nicht einfach sein und auch nicht angenehm. Noch nicht mal unbedingt gefahrlos.«

Archie stieß ein angewidertes Grunzen aus. »Glauben Sie, ich bin ein Idiot? Ich weiß über diese Dinge ein bißchen besser Bescheid als Sie, Jungchen. Ich werde spaßeshalber mitkommen. Man braucht mich nicht für jede verdammte Kleinigkeit, die ich mache, zu bezahlen!«

Monk lächelte, obwohl er nicht sicher war, ob Archie das in der Dunkelheit sehen konnte.

»Vielen Dank«, sagte er huldvoll.

Archie brummte irgend etwas vor sich hin.

Sie kamen ans Ufer und vertäuten das Boot an einem Pfosten, der wie ein abgebrochener Zahn aus dem Schlamm ragte. Dann ging Archie den Strand hinauf, wo derbes Gras in dichten Büscheln wuchs. Vor ihnen flackerten einige Lichter auf, auf der anderen Seite der Felder, falls sie diese Bezeichnung überhaupt verdient hatten, obwohl Monk nach dem saugenden Geräusch, das seine Stiefel bei jedem Tritt verursachten, glaubte, sich auf Sumpfland zu befinden.

»Wo sind wir?« fragte er leise.

»Wir gehen Richtung Blackwall Lane«, antwortete Archie.

»Seien Sie leise, man hört hier ziemlich weit, auch wenn man das nicht für möglich hält.«

»Ist er hier?«

»Ja, er ist keine zehn Minuten vor uns hier angekommen.«

»Warum? Was gibt es hier, das ihn interessieren könnte?« Monk bemühte sich, mit dem anderen Schritt zu halten; er hatte das Gefühl, als klebe der Boden an seinen Füßen.

»Sind Sie nun hinter ihm her oder hinter was anderem?« fragte Archie aus der Finsternis vor ihm.

»Hinter ihm. Was hier sonst noch vorgeht, interessiert mich nicht«, erwiderte Monk.

»Dann seien Sie ruhig, und folgen Sie mir.«

Monk hatte den Eindruck, daß er ungefähr eine Viertelstunde lang durch die Dunkelheit stapfte, zuerst von den Sümpfen zur Straße und dann über härteren Boden auf die Lichter eines kleinen. Cottages zu, das sich in die schwarze Landschaft schmiegte und nur von dem schummrigen Licht einiger Öllampen in verschiedenen Fenstern beleuchtet wurde.

Archie klopfte an die Tür, und als sie sich öffnete, sprach er kurz auf sein Gegenüber ein, aber so leise, daß Monk nichts verstand. Dann kam er zurück, und die Tür schloß sich, so daß sie weiter in der bitterkalten Nacht standen. Archie wartete einige Sekunden, bis seine Augen sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann ging er zur anderen Seite der Halbinsel, zur gegenüberliegenden Biegung des Flusses.

Monk öffnete den Mund, um zu fragen, wohin sie gingen, änderte dann aber seine Meinung. Es war sinnlos. Er zog seinen Kragen noch höher, schob sich den Hut in die Stirn, vergrub seine Hände in den Manteltaschen und trottete weiter. Der unwirtliche Nebel schmeckte nach Salz, Kanalisation und dem übelriechenden Wasser, das dort, wo die Flut nicht hinkam, in Senken und Tümpeln stand. Die Kälte drang ihm bis in die Knochen.

Endlich erreichten sie das Trockendock am äußersten Ende der Landspitze, und Archie hob warnend die Hand.

Monk nahm den Geruch von Holzrauch wahr.

Vor ihnen stand ein mit Segeltuch überdeckter Holzverschlag. Archie zeigte mit der Hand auf den Bau, trat beiseite, um auf die andere Seite hinüberzugehen, und verschwand dann in die Dunkelheit, die ihn fast auf der Stelle verschluckte.

Monk holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Er hatte keine Waffe. Dann riß er die aus Holz und Segeltuch bestehende Tür auf.

Das Innere des Hauses maß etwa ein Dutzend Quadratmeter und war leer bis auf die Holzkisten, die sich an den Wänden stapelten. Nur die gegenüberliegende Wand, in der sich eine weitere Tür befand, war frei. Man konnte unmöglich sagen, was die Kisten enthielten. Aus einer Rolle Tauwerk war ein provisorischer Sitzplatz hergerichtet worden, aus ausgefasertem Hanf ein rohes Bett. In der Mitte der Hütte brannte ein Feuer und schickte Rauch und Flammen durch einen behelfsmäßigen Kamin. Es war angenehm warm nach der bitterkalten Nacht draußen, und Monk spürte, wie die Wärme sich in seinem Körper ausbreitete, noch während er den Mann, der neben dem Feuer hockte und mit seiner schwarzbehandschuhten Hand ein Stück Kohle wie eine Waffe umklammert hielt, näher betrachtete. Er war groß, kräftig gebaut und beweglich, aber es war sein Gesicht, das ganz besonders ins Auge fiel. Es war, als sei Enid Ravensbrooks Zeichnung zum Leben erwacht und doch wieder nicht. Die Knochenstruktur war die gleiche, der breite Kiefer und das spitze Kinn, die stark ausgeprägte Nase, die hohen Wangenknochen, ja sogar die grünen Augen. Aber das Fleisch des Gesichts war anders, die Lippen, die Linien, die von der Nase zu den Mundwinkeln liefen. Der Gesichtsausdruck war von Zorn und Spott geprägt und verriet in diesem Augenblick einen deutlichen Hang zur Gewalttätigkeit.

Es war unnötig zu fragen, ob er hier Caleb Stone gegenüberstand.

»Genevieve hat mich geschickt, damit ich nach Angus suche«, sagte Monk einfach, wobei er mit gestrafften Schultern im Eingang stehenblieb und ihn so versperrte.

Caleb stand ganz langsam auf.

»Sie suchen nach Angus, wie?« Er sagte das, als sei es gleichzeitig komisch und seltsam, aber er war offensichtlich darauf gefaßt, von einem Augenblick zum anderen eine plötzliche Bewegung machen zu müssen.

Monk beobachtete ihn und war sich dabei seines Gewichts und der Kohle in seiner Hand überdeutlich bewußt.

»Er ist nicht nach Hause gekommen…«

Caleb stieß ein kurzes, hartes Lachen aus. »Nein wirklich! Und glaubt Genevieve, ich wüßte das nicht?«

»Sie glaubt, Sie wissen es sehr gut«, sagte Monk kühl. »Sie glaubt, daß Sie dafür verantwortlich sind.«

»Ich halte ihn hier fest, wie?« Calebs Lächeln war voller Spott, voller Zorn. »Wir stehlen und raufen überall hier am Fluß! Ist es das, was sie denkt?« Er spie Monk die Worte geradezu ins Gesicht. Es war merkwürdig, ihn so zu sehen, in so alten und schmutzigen Kleidern, die ihre Farbe ganz und ihre Form beinahe verloren hatten, und doch mit Lederhandschuhen. Sein Haar war gelockt und überlang, vom Schmutz verfilzt, und auf seinem Kinn wuchsen dunkle Bartstoppeln. Und doch kamen trotz seines Hasses seine Worte mit der Klarheit und der gepflegten Aussprache seiner Jugend und der Erziehung, die Milo Ravensbrook ihm hatte angedeihen lassen. Monk war sich trotz der Verachtung, die er für diesen Mann empfand, dessen zwiespältiger Natur bewußt, spürte förmlich, wie aus dem vielversprechenden Jugendlichen eine so gründlich gescheiterte Existenz geworden war. Hätte er Angus nicht getötet, hätte Monk Mitleid mit ihm haben können, hätte sogar ein verschwommenes, ein wenig verändertes Spiegelbild seiner selbst in ihm gesehen. Er verstand sowohl den Zorn als auch die Hilflosigkeit.

»Und haben Sie das?« fragte Monk. »Das hatte ich nicht erwartet. Ich dachte eigentlich, Sie hätten ihn getötet.«

»Ihn getötet.« Caleb lächelte und entblößte diesmal eine Reihe ebenmäßiger Zähne. Er betastete die Kohle in seiner Hand, ohne Monk aus den Augen zu lassen. »Angus getötet?« Er lachte abermals, ein hartes, beinahe erstickt klingendes Geräusch. »Ja - ich schätze, sie hat recht. Ich habe Angus getötet!« Er warf den Kopf in den Nacken, sein Gelächter schwoll an, bis es fast an Hysterie grenzte.

Monk machte einen Schritt nach vorn.

Caleb hörte augenblicklich auf zu lachen, so plötzlich, als hätte ihm jemand eine Hand über den Mund gelegt. Er sah Monk an und hob seine Hand mit der Kohle ein Stückchen höher.

Monk erstarrte. Caleb hatte bereits seinen Bruder ermordet. Wenn er Monk hier in diesen verlassenen Sümpfen tötete, würde seine Leiche nicht gefunden, bevor sie nicht verrottet und unkenntlich war, falls sie überhaupt je gefunden wurde. Er würde um sein Leben kämpfen, aber Caleb war stark, an Gewalt, vielleicht sogar an das Töten gewöhnt, und er hatte nichts zu verlieren.

Ohne die leiseste Vorwarnung fuhr Caleb auf dem Absatz herum und stürzte auf das andere Ende der Hütte zu, krachte durch die notdürftig zusammengezimmerte Tür und warf Archie, der dahinter stand, der Länge nach in den Schlamm.

Als Monk sich ebenfalls durch den Eingang gezwängt hatte, kam Archie schon wieder ein wenig unbeholfen auf die Füße, und Caleb war in Regen und Dunkelheit verschwunden. Sie konnten das glucksende Geräusch seiner Schritte hören, dann noch einen Ausbruch von Gelächter, dann herrschte Stille.

Oliver Rathbone war einer der hervorragendsten Strafverteidiger des Jahrzehnts. Er besaß Scharfblick und Redegewandtheit und hatte ein hervorragendes Gespür für die Wahl des richtigen Zeitpunkts. Und was noch wichtiger war, er hatte den Mut, widersprüchliche und hoffnungslose Fälle zu übernehmen.

Er war in seinem Büro in der Vere Street hinter den Lincoln's Inn Fields, als sein Sekretär mit zweifelnder Miene ankündigte, daß Mr. Monk ihn in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen wünsche.

»Natürlich«, sagte Rathbone mit einem Anflug eines Lächelns um die Lippen. »Etwas ganz Gewöhnliches würde Monk niemals hierherbringen. Lassen Sie ihn eintreten.«

»Ja, Mr. Rathbone.« Der Sekretär zog sich zurück und schloß die Tür hinter sich.

Rathbone faltete die Papiere, in die er vertieft gewesen war, zusammen und schob sie zurück in den Ordner, in den sie gehörten, und band diesen zu. Seine Gefühle waren ebenfalls gemischt. Er hatte Monk immer für seine beruflichen Qualitäten bewundert - sie standen außer Frage, genauso wie sein Mut, den er im Umgang mit dem Verlust seines Gedächtnisses und seiner persönlichen Identität gezeigt hatte. Aber er fand ihn auch sehr schwierig und sein Benehmen, um es gelinde auszudrücken, ziemlich schroff. Und dann war da noch die Sache mit Hester Latterly. Ihre Zuneigung zu Monk irritierte Rathbone, obwohl es ihm widerstrebte, das zuzugeben. Monk behandelte sie ganz und gar nicht mit dem Respekt und der Aufmerksamkeit, die ihr gebührte. Und ihn selbst brachte Monk allzuoft dazu, seine gewohnte Toleranz, seine Geduld und sein besonnenes Urteil auf die Probe zu stellen.

Die Tür öffnete sich, und Monk trat ein. Er war tadellos gekleidet, wie gewöhnlich, sah aber müde und erschöpft aus. Die Haut unter seinen Augen war dunkel überschattet. Er schien angespannt zu sein.

»Guten Morgen, Monk.« Rathbone erhob sich, eine automatische Geste der Höflichkeit. »Was kann ich für Sie tun?«

Monk schloß die Tür hinter sich; er hatte nicht die Absicht, sich mit Nebensächlichkeiten aufzuhalten. Noch während er auf dem Stuhl gegenüber dem Schreibtisch Platz nahm und die Beine übereinanderschlug, begann er zu sprechen.

»Ich habe einen Fall, in dem ich Ihren Rat brauche.« Er gab Rathbone keine Gelegenheit, etwas darauf zu erwidern, sondern fuhr direkt fort, als hielte er es für selbstverständlich, daß der andere Mann damit einverstanden war. »Eine Frau hat mich wegen ihres Mannes, der verschwunden ist, aufgesucht. Ich habe ihn bis nach Blackwall auf der Isle of Dogs verfolgen können, wo er zuletzt gesehen wurde, und zwar in Gesellschaft seines Zwillingsbruders, der dort lebt, mehr oder weniger…«

»Einen Augenblick mal.« Rathbone hob die Hand. »Ich übernehme keine Fälle dieser Art. Scheidung oder ähnliches…«

»Das tue ich auch nicht!« sagte Monk knapp, obwohl er wußte, daß diese Feststellung, wenn sie überhaupt zutraf, sich nur auf die letzten Monate beziehen konnte. »Wenn Sie mir bitte gestatten würden, zu Ende zu sprechen«, fuhr Monk fort, »kann ich die Sache sehr viel früher auf den Punkt bringen.«

Rathbone seufzte und ließ die Hand sinken. Nach Monks Gesichtsausdruck zu urteilen, würde er so oder so weitersprechen. Rathbone schoß der Gedanke durch den Kopf, daß Monk, wenn er schon Klienten von der Isle of Dogs annahm, wahrhaftig keinen Grund hatte, so hochmütig zu sein, aber das würde sie nicht weiterbringen. Immerhin war durchaus denkbar, daß der Fall sich dennoch als interessant erweisen konnte.

»Die beiden Brüder hassen einander schon seit langem«, sagte Monk, ohne Rathbone aus den Augen zu lassen. »Caleb, derjenige, der in der Gegend von Blackwall lebt, bestreitet seinen Unterhalt mit Diebstahl, Einschüchterung und Gewalt. Angus, der Ehemann meiner Klientin, lebt in einem eleganten Teil von London und ist der Inbegriff an Respektabilität und geordnetem Familienleben. Er ist mit seinem Bruder in Verbindung geblieben, aus alter Verbundenheit, ein Gefühl, das nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Caleb war von einer starken Eifersucht auf ihn erfüllt.«

Rathbone sagte ganz bewußt nichts dazu.

Monk zögerte nur eine einzige Sekunde. Dann fuhr er fort:

»Die Ehefrau ist davon überzeugt, daß Caleb Angus' Mörder ist. Er hat ihn in der Vergangenheit häufig angegriffen. Ich habe Caleb in den Greenwich-Sümpfen aufgespürt, und er hat zugegeben, Angus getötet zu haben, aber ich kann keine Leiche finden.« Sein Gesichtsausdruck war angespannt. »Es gibt Dutzende von Möglichkeiten, wie er sich der Leiche entledigt haben könnte. Der Fluß ist eine der naheliegendsten, aber er könnte ihn auch in den Sümpfen vergraben haben, damit er dort verrottet, er könnte ihn im Frachtraum eines auslaufenden Schiffes versteckt oder ihn sogar persönlich bis zur Flußmündung gebracht und über Bord geworfen haben. Oder er könnte ihn in einem Gemeinschaftsgrab zusammen mit den Typhusopfern in Limehouse verscharrt haben. Niemand wird die Leichen dort herausholen, um sie zu identifizieren oder zu zählen!«

Rathbone lehnte sich in seinem bequemen Schreibtischstuhl zurück und legte die Fingerspitzen aneinander.

»Ich nehme an, daß niemand außer Ihnen Zeuge von Calebs Geständnis war?«

»Natürlich nicht.«

»Und welche Beweise haben Sie für diesen Mord, abgesehen von der Überzeugung der Ehefrau?« fragte Rathbone weiter.

»Sie ist keine unparteiische Zeugin. Ach, übrigens, wie stand er finanziell da? Und welche anderen… Interessen könnte seine Frau haben?«

Ein verächtlicher Ausdruck huschte über Monks Züge. »Er konnte nicht klagen, jedenfalls nicht, solange er sein Geschäft selbst leitete. Das Ganze hängt von seinem persönlichen Urteilsvermögen ab. Die Geschäfte werden sich rapide verschlechtern, wenn er nicht bald zurückkommt, und an den Nachlaß kommt man so ohne weiteres nicht heran. Und was die andere Frage betrifft - soweit ich es einschätzen kann, scheint sie eine überaus tugendhafte Frau zu sein; sie ist sehr schön, aber im Augenblick macht sie sich große Sorgen um das Wohlergehen ihrer Kinder.«

Der Ärger in Monks Stimme konnte bedeuten, daß es ihm mißfiel, daß jemand sein Urteil in Frage stellte. Andererseits, dachte Rathbone, legte das Maß an Eindringlichkeit in seinen Augen die Vermutung nahe, daß er ein gewisses Mitleid für die Frau empfand und ihr deshalb glaubte. Aber er war keineswegs sicher, ob Monk, der eine hervorragende Menschenkenntnis besaß, wenn es um Männer ging, wirklich genausoviel von Frauen verstand.

»Gibt es Zeugen für irgendwelche Streitigkeiten?« fragte er und kehrte damit zum eigentlichen Thema zurück. »Irgendeinen bestimmten Streitpunkt zwischen den beiden Brüdern, bei dem es um Besitz ging, eine Frau, ein Erbe oder eine alte Kränkung?«

»Ein Zeuge hat sie an dem Tag, als Angus verschwand, zusammen gesehen«, erwiderte Monk. »Und da haben Sie sich gestritten.«

»Kaum ein Grund, jemanden des Mordes anzuklagen!« meinte Rathbone trocken.

»Was muß ich vorweisen können, juristisch gesehen, meine ich?« Monks Gesicht war wie erstarrt. Es verriet Müdigkeit und Niedergeschlagenheit. Rathbone vermutete, daß er an dem Fall schon seit vielen Tagen ohne Ergebnisse gearbeitet hatte, und er wußte, die Chancen waren gering, falls es sie überhaupt gab.

»Nicht unbedingt eine Leiche.« Rathbone beugte sich ein wenig vor und behandelte Monk mit dem Ernst, den dieser erwartete.

»Wenn Sie beweisen können, daß Angus zur Isle of Dogs gegangen ist, daß es Mißstimmigkeiten zwischen den beiden Brüdern gegeben hat, daß sie sich häufig stritten oder prügelten, daß sie an diesem Tag zusammen gesehen wurden und daß niemand Angus seither zu Gesicht bekommen hatte, dann könnte das ausreichen, um die Polizei zu einer Suchaktion zu veranlassen. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß irgend jemand des Mordes überführt werden kann. Es ist nicht auszuschließen, daß Angus einen Unfall gehabt haben und in den Fluß gefallen sein könnte und daß die Leiche aufs Meer hinausgetrieben wurde. Er könnte sich sogar freiwillig abgesetzt und ein Schiff nach Gott weiß wohin genommen haben. Ich nehme an, Sie haben seine private und geschäftliche Finanzlage überprüft?«

»Natürlich! Daran gibt es nicht das geringste auszusetzen.«

»Dann sollten Sie besser versuchen, irgendwelche Beweise für einen Streit zu finden sowie glaubwürdige Zeugen herbeizuschaffen, die bestätigen, daß Angus den Schauplatz seiner letzten Begegnung mit seinem Bruder nicht verlassen hat. Bisher haben Sie nichts in der Hand, was polizeiliche Nachforschungen rechtfertigen würde. Tut mir leid.«

Monk fluchte und stand auf; sein Gesicht war starr vor ohnmächtiger Wut.

»Vielen Dank«, sagte er grimmig, ging zur Tür und verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen oder Rathbone anzusehen.

Rathbone saß fast eine Viertelstunde lang reglos da, bevor er den verschlossenen Aktenordner wieder öffnete. Entgegen seinem guten Vorsatz ließ ihn der Gedanke an Monks Dilemma, hinter dem offenbar ein schwieriger Fall steckte, nicht los. Monk schien davon überzeugt zu sein, daß ein Mord begangen worden war. Er wußte, wer getötet wurde, von wem, wo und warum, und doch konnte er nichts beweisen. Im Sinne des Gesetzes hatte alles seine Ordnung, aber moralisch betrachtet, handelte es sich um eine Monstrosität. Rathbone zermarterte sich das Gehirn, in welcher Weise er behilflich sein könnte.

Er lag die ganze Nacht wach, und trotzdem fiel ihm nichts ein. Monk war außer sich vor Zorn. Noch nie hatte er sich so ohnmächtig gefühlt. Er wußte, Caleb hatte Angus ermordet - der Mann hatte es sogar zugegeben -, und doch stand es nicht in seiner Macht, etwas in dieser Angelegenheit zu unternehmen. Er konnte nicht einmal Angus' Tod beweisen, um Genevieve zu helfen. Es war eine grauenvolle Ungerechtigkeit, die wie eine Wunde in ihm schwärte.

Aber er mußte Genevieve Bericht erstatten. Sie hatte ein Recht, wenigstens so viel zu wissen wie er.

Sie war nicht im Haus der Ravensbrooks. Ein adrettes Dienstmädchen mit frisch gestärkter Schürze und Häubchen informierte ihn darüber, daß Mrs. Stonefield nach Hause zurückgekehrt sei und jetzt nur noch tagsüber komme.

»Dann geht es Lady Ravensbrook besser?« erkundigte Monk sich schnell und mit einer Erleichterung, die ihn selbst überraschte.

»Ja, Sir, sie hat das Schlimmste überstanden, gedankt sei dem Herrn. Miss Latterly ist immer noch hier. Wollen Sie vielleicht mit ihr sprechen?«

Er zögerte nur einen Augenblick, währenddessen Hesters Gesicht mit solcher Klarheit vor seinem inneren Auge stand, daß er erschrak.

»Nein - vielen Dank. Ich muß mit Mrs. Stonefield sprechen. Ich werde es bei ihr zu Hause versuchen. Auf Wiedersehen.«

Genevieves Tür wurde von einem Hausmädchen geöffnet, das dem Aussehen nach etwa fünfzehn Jahre alt war; sein rundliches Gesicht wirkte verhärmt. Er nannte seinen Namen und fragte nach Genevieve. Sie führte ihn ins Besuchszimmer und bat ihn zu warten. Einen Augenblick später kehrte das Mädchen zurück und brachte ihn in den kleinen, sehr ordentlichen Salon mit einem Porträt der Königin, dem Klavier mit den schicklich verhüllten Beinen, einigen Stickereien und einer Reihe von Aquarellen, welche die Bucht von Neapel zeigten.

Was ihn für den Augenblick völlig sprachlos machte, war die Tatsache, daß Titus Niven am Feuer stand; sein Rock war immer noch so elegant geschnitten wie bei ihrer letzten Begegnung und auch genauso abgenutzt, seine Stiefel auf Hochglanz poliert und papierdünn, sein Gesicht noch immer geprägt von demselben Ausdruck trockenen, sarkastischen Humors. Genevieve stand dicht neben ihm, als hätten sie sich bis zu der Sekunde, als die Tür sich öffnete, angeregt unterhalten. Monk hatte das Gefühl zu stören.

Genevieve trat auf ihn zu, und ihr Gesicht verriet Interesse und Sorge. Sie war immer noch blaß, und um Augen und Mundwinkel zeigten sich nach wie vor Spuren von Anspannung, aber sie wirkte weniger niedergeschlagen, weniger verzweifelt. Sie war eine außerordentlich attraktive Frau. Hätte er nicht vor kurzem Drusilla Wyndham kennengelernt, hätten seine Gedanken möglicherweise länger bei diesem Gesicht verweilt.

»Guten Morgen, Mr. Monk. Haben Sie Neuigkeiten für mich?«

»Nicht die, die ich mir wünschen würde, Mrs. Stonefield, aber ich habe Caleb gefunden, unten in den Greenwich-Sümpfen.«

Sie schluckte, und ihre Augen weiteten sich. Titus Niven trat fast so, als sei es ihm selbst gar nicht bewußt, einen Schritt näher an sie heran und starrte ebenfalls wie gebannt auf Monk; ein Anflug von Furcht flackerte in seinen Zügen auf, machte aber sogleich eiserner Entschlossenheit Platz.

»Was hat er gesagt?« fragte Genevieve.

»Daß er Angus getötet habe, daß ich es aber niemals werde beweisen können.« Er zögerte. »Es tut mir leid.« Er wünschte, er könnte noch irgend etwas hinzufügen, aber da war nichts, was der Wahrheit entsprochen hätte oder sie in irgendeiner Weise hätte trösten oder ihr helfen können. Das einzige, was er ihr zu bieten hatte, war ein Ende der Qual, zwischen Hoffen und Bangen verharren zu müssen. Es war nicht gerecht; es war nicht fair.

Titus Niven streckte die Hand aus und berührte Genevieve ganz sanft am Arm; und so, als sei sie sich dessen kaum bewußt, suchte ihre Hand die seine.

»Sie meinen, mehr können Sie nicht tun?« fragte sie so leise, als kostete es sie unendlich viel Kraft, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten.

»Nein, das wollte ich damit nicht sagen«, erwiderte Monk, während er gleichzeitig angestrengt nachdachte, um nur ja nichts zu äußern, das sie in die Irre führen könnte. Seine Gedanken überschlugen sich, und häßliche Bilder bezüglich Titus Niven, die bisher kaum konkrete Gestalt angenommen hatten, gingen ihm durch den Kopf. »Ich habe keine große Hoffnung, daß ich ihm seine Schuld werde nachweisen können, obwohl es nicht unmöglich ist, aber ich werde auf jeden Fall weiterhin versuchen, Angus' Tod zu beweisen - wenn nicht direkt, dann indirekt. Natürlich immer vorausgesetzt, daß Sie das noch wollen?«

Die kurze Stille, die nun folgte, war von solcher Intensität, daß Monk das sanfte Rascheln der Asche im Kamin hören konnte.

»Ja«, antwortete Genevieve sehr leise. »Ja. Ich möchte, daß Sie weitermachen, zumindest für den Augenblick, obwohl ich nicht weiß, wie lange Lord Ravensbrook bereit ist, Sie zu bezahlen. Ich wäre Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie Ihre Rechnung zunächst einmal weiterlaufen lassen könnten. Es tut mir leid, Sie um so etwas bitten zu müssen, es erscheint so taktlos, aber unter den gegebenen Umständen bleibt mir nichts anderes übrig.«

Monk dachte an Callandra Daviot und fragte sich, ob sie wohl bereit war, ihn in finanzieller Hinsicht zu unterstützen, wenn er auch ohne von Genevieve oder Lord Ravensbrook dafür entlohnt zu werden - weiter an diesem Fall arbeitete. Er beschloß, sie so bald wie möglich danach zu fragen. Er mußte die Wahrheit herausfinden. Wenn Caleb Stone seinen Bruder aus Eifersucht getötet hatte, verdiente Genevieve einen Beweis für dieses Verbrechen, und Monk spürte sein eigenes Verlangen, Caleb dingfest zu machen, aufkeimen. Und wenn es eine andere Lösung gab, vielleicht sogar eine, in der auch Titus Niven eine Rolle spielte, wollte Monk es wissen. Oder vielleicht sollte er ehrlicherweise sagen, er wollte beweisen, daß es nicht so war. Diese Gedanken verfolgten ihn schon seit einiger Zeit, zu nebulös, um sie zu fassen, zu häßlich, um vergessen werden zu können.

»Natürlich werde ich das tun, Mrs. Stonefield«, sagte er laut.

»Es ist immerhin möglich, daß ich genügend Beweise finde oder zumindest genug ernsthafte Verdachtsmomente zusammentragen kann, um die Polizei zu veranlassen, die weiteren Nachforschungen zu übernehmen. Dann werden Ihnen natürlich keine weiteren Kosten entstehen.«

»Ich verstehe.«

»Ich habe gehört, Lady Ravensbrook habe das Schlimmste überstanden und werde sich gewiß wieder erholen?« fuhr er fort.

Sie lächelte, und Titus Niven schien sich ebenfalls zu entspannen, obwohl er ihr noch immer nicht von der Seite wich.

»Ja, so ist es, Gott sei gedankt. Sie war schrecklich krank, und es wird lange dauern, bis sie wieder ganz die alte ist, aber zumindest lebt sie noch, und das ist mehr, als ich vor zwei Tagen zu hoffen gewagt hätte.«

»Und Sie haben das Haus Ravensbrook wieder verlassen?« Ein Schatten legte sich über ihre Augen.

»Es ist nicht mehr nötig, daß ich die ganze Zeit dort bin. Miss Latterly ist sehr tüchtig, und was die häuslichen Pflichten betrifft, stehen natürlich Hausmädchen zur Verfügung. Ich gehe jeden Tag hin, aber für meine Kinder ist es viel besser, hier zu Hause zu sein.«

Monk wollte gerade Einwände erheben, weil er an die Unkosten für Heizung und Nahrungsmittel dachte, ja sogar an die weitere Beschäftigung ihrer eigenen Dienstboten, aber Titus Niven kam ihm zuvor.

»Es ist sehr freundlich von Ihnen, sich Sorgen zu machen, aber Mr. Stonefields Verschwinden bedeutet mehr als genug Kummer und Unruhe für seine Familie. Ich bin sicher, Sie sind meiner Meinung, daß es eine zusätzliche Härte bedeuten würde, wenn sie auch noch ihr Heim verlassen müßte, und es deshalb so lange wie möglich hinausgeschoben werden sollte.«

Viele Antworten gingen Monk durch den Kopf - die Behaglichkeit des Hauses Ravensbrook, vor allem jetzt im Winter; die wohlige Wärme, die dort herrschte; die guten Mahlzeiten; die Tatsache, daß Genevieve dort viele ihrer Sorgen und Verantwortungen abgenommen wurden; und auf der anderen Seite die Unmöglichkeit, daß sie Titus Niven dort empfangen konnte, wann immer sie wollte. Vielleicht war es so einfacher für sie, ihn, wenn die Zeit gekommen war, als neuen Direktor in Angus' Geschäft einzusetzen.

»Ja, da haben Sie wohl recht«, räumte er ein wenig ungehalten ein. »Ich werde weiter versuchen, so viele Beweise wie möglich zusammenzutragen. Erinnern Sie sich, ob Ihr Mann irgendwann einmal etwas darüber gesagt hat, wo er sich mit seinem Bruder traf, Mrs. Stonefield? Sie haben mir erzählt, daß er nie von seinen Besuchen sprach, aber möglicherweise hat er mit einer unbeabsichtigten Bemerkung auf die Umstände dieser Treffen oder die Örtlichkeiten, an denen sie stattfanden, hingewiesen; auch die kleinste Kleinigkeit könnte uns weiterhelfen.« Er beobachtete sie aufmerksam und forschte in ihrem Gesicht nach dem leisesten Anzeichen von Unaufrichtigkeit; er wollte herausfinden, ob sie ihm irgendwelche Informationen vorenthielt, Dinge, von denen sie etwas wußte, von denen sie aber nichts hätte wissen dürfen, wenn sie unschuldig war.

»Ich verstehe nicht recht, Mr. Monk.« Sie blinzelte. Er las nichts als Verwirrung in ihren Zügen.

»Haben sie zusammen gegessen oder ein Glas Bier getrunken, Zum Beispiel?« erklärte er sein Anliegen näher. »Haben sie sich in einem Haus getroffen oder im Freien, am Fluß oder am Ufer? In Gesellschaft anderer oder allein?«

»Ja, jetzt verstehe ich.« Aber gleich nachdem sie diese Worte ausgesprochen hatte, flackerte neuer Schmerz in ihren Augen auf.

»Sie wollen wissen, wo Sie nach… einer Leiche… suchen könnten.«

Titus Niven zuckte zusammen, und sein empfindsamer Mund verzog sich unwillig. Er warf Monk einen flehentlichen Blick zu, unterbrach ihn jedoch nicht, obwohl seine Zurückhaltung ihn offenbar Anstrengung kostete.

»Oder nach einem Zeugen«, ergänzte Monk.

»Mir fällt nichts ein, sonst hätte ich es Ihnen schon berichtet.« Sie schüttelte den Kopf. »Wie ich schon sagte, er hat nie mit mir über seine Treffen mit Caleb gesprochen. Sie haben ihn immer sehr aufgeregt. Aber ein oder zweimal waren seine Kleider feucht und rochen nach Salz und Fisch.« Sie holte tief Luft.

»Und nach anderen Dingen, die ich Ihnen nicht näher beschreiben kann, die aber äußerst unerfreulich waren.«

»Ich verstehe. Vielen Dank.« Er hatte sich gefragt, ob sie ihn vielleicht ganz vorsichtig zu dem Ort führen würde, an dem Angus sich befand. Wenn sie etwas wußte, dann würde sie es früher oder später tun. Sie brauchte den Beweis für seinen Tod. So, wie sie jetzt in diesem eleganten Raum stand und wußte, daß er langsam, aber sicher seiner Kostbarkeiten beraubt werden würde, und angesichts des winzigen Kohlehäufleins, das im Kamin glomm, und ihres bleichen, von Müdigkeit und Angst gezeichneten Gesichts war es ihm fast unmöglich zu glauben, daß sie auch nur das geringste zu verbergen hatte. Aber er hatte sich schon früher geirrt. Und die Tatsache, daß er Niven mochte, bedeutete ebenfalls nichts. Er mußte den Dingen auf den Grund gehen. »Dann werde ich mich jetzt verabschieden. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Ma'am. Mr. Niven.«

Den Rest des Tages und auch die Hälfte des nächsten verbrachte er mit der Verfolgung aller ihm noch verbliebenen Spuren und hatte damit nicht den geringsten Erfolg. Selbst die kritischsten Zungen in der Nachbarschaft wußten nichts anderes zu berichten, als daß Genevieve genauso respektabel war wie ihr Mann, eine tugendhafte Frau, in jeder Hinsicht so tugendhaft, daß es schon fast an Langweiligkeit grenzte. Wenn sie irgendwelche Untugenden besaß, dann waren es Vorsicht im Umgang mit Geld, dem sie eine außerordentliche Bedeutung beimaß, und ein Sinn für Humor. Sie stand in dem Ruf, häufiger zu lachen, als es sich ziemte, und bei den unpassendsten Gelegenheiten.

Titus Niven war ein Freund der Familie, und das galt für Angus genauso wie für sie. Und nein, niemand konnte sich einer Gelegenheit entsinnen, daß er sie besucht hatte, ohne daß Angus anwesend war.

Wenn es eine heimliche Beziehung zwischen den beiden gab, dann hatten sie diesen Umstand außerordentlich geschickt verborgen. Titus Niven hatte Grund, Angus Stonefield zu beneiden, sowohl in beruflicher wie in privater Hinsicht; vielleicht hatte er sogar Grund, ihn zu hassen, aber dafür gab es keinerlei Beweise.

Am frühen Nachmittag fuhr Monk wieder ins East End, nach Limehouse und zu dem notdürftig eingerichteten Typhushospital, um Callandra Daviot zu sprechen. Er wollte aus mehreren Gründen mit ihr reden, aber an erster Stelle stand die finanzielle Frage. Es war offensichtlich, daß Genevieve, wenn Lord Ravensbrook ihr seine Unterstützung entzog, ihn nicht mehr lange bezahlen konnte, und es war in moralischer Hinsicht indiskutabel, daß er Geld von ihr nahm. Die Hoffnung, daß er vielleicht doch noch irgendwelche Beweise fand, war gering. Und doch war er fest entschlossen, dem Fall bis zum bitteren Ende nachzugehen.

Außerdem brauchte er Hilfe, und das Fieberhospital war ein guter Ort, sich bessere Ortskenntnisse zu verschaffen. Er verfluchte seine eigene Unzulänglichkeit. Wenn er nicht sein Gedächtnis verloren hätte, würde er sich wahrscheinlich an alle möglichen Leute erinnern, an die er sich in einem solchen Falle wenden konnte.

Er stapfte über die Gill Street, den Kragen zum Schutz gegen den Wind hochgestellt, und der Gestank von Ruß und Abfallhaufen stieg ihm übelkeitserregend in die Nase. Die gewaltige Silhouette des alten Lagerhauses hob sich vor ihm grau gegen den grauen Himmel ab. Er beschleunigte seinen Schritt, gerade als es zu regnen begann, und schaffte es, den Eingang zu erreichen, bevor er naß wurde.

Der Geruch der Krankheit stieg ihm augenblicklich in Nase und Kehle; er war anders als der gewohnte säuerliche, beißende Gestank draußen, an den er sich mittlerweile gewöhnt hatte. Dieser Geruch war strenger und aufdringlicher, und trotz höchster Willensanstrengung seinerseits machte er ihm angst. Hier ging es nicht um die Belange des Lebens; hier ging es um Schmerz und Tod und um die Nähe des Todes. Die Atmosphäre hier hüllte ihn wie Nebel ein, und er mußte sich dazu zwingen, nicht davonzulaufen. Er schämte und verachtete sich für seine Schwäche.

Dann sah er die Frau mit Namen Mary auf sich zukommen, einen zugedeckten Eimer in der Hand. Er wußte, was darin sein mußte, und sein Magen krampfte sich zusammen.

»Ist Lady Callandra hier?« fragte er sie. Seine Stimme klang brüchig.

»Ja.« Ihr Haar klebte naß von Regen und Schweiß am Kopf, und ihre Haut wies einen gräulichen Schimmer von der Anstrengung der vergangenen Tage auf. Sie hatte keine Kraft mehr, höflich zu sein oder Ehrfurcht vor der Autorität anderer aufzubringen. »Da drin.« Sie wies mit dem Kopf zur Seite, irgendwo in das geräumige Lagerhaus hinein, und setzte ihren Weg dann fort.

»Vielen Dank.« Monk betrat widerstrebend den höhlenartigen Raum. Er sah genauso aus wie beim letztenmal, schwach beleuchtet von Kerzen, der Boden bedeckt mit Stroh und Segeltuch, mit Menschenleibern, die sich wie Höcker unter ihren Decken ausnahmen. An beiden Enden des Raums verströmten schwarze Kanonenöfen Wärme und den Geruch von Kohle, während aus den großen Kesseln Dampf aufstieg. Die brennenden Tabakblätter bescherten ihm überdies ein unangenehmes Kratzen in der Kehle. Hester hatte einmal davon gesprochen, daß man diese Methode bei der Armee zur Ausräucherung anwandte.

Er brauchte einen Moment, bis seine Augen sich an die schwache Beleuchtung gewöhnt hatten, dann sah er Callandra neben einer der Gestalten auf dem Stroh stehen. Kristian Beck stand ihr gegenüber; sie waren ganz in ihr Gespräch vertieft.

Er war sich einer Bewegung zu seiner Linken bewußt, und als er sich umdrehte, sah er Hester auf sich zukommen. Das Kerzenlicht, das strenge graue Kleid und ihr unattraktiv im Nacken zusammengebundenes Haar ließen sie noch magerer erscheinen als sonst. Ihre Augen wirkten größer, als er sie in Erinnerung hatte, und um ihren Mund lag ein weicherer Zug, als habe ihre Fähigkeit, Leidenschaft oder Schmerz zu empfinden, zugenommen. Er wünschte aus tiefstem Herzen, er wäre nicht gekommen. Er wollte sie nicht sehen, schon gar nicht hier. Enid Ravensbrook hatte sich in diesem Raum mit Typhus angesteckt und wäre beinahe gestorben. Dieser Gedanke quälte, überdeckte beinahe alles andere.

»Haben Sie irgendwelche Fortschritte mit Ihrem Fall gemacht?« fragte sie, sobald sie nahe genug war, um mit ihm sprechen zu können, ohne belauscht zu werden.

»Nichts Endgültiges«, erwiderte er. »Ich habe Caleb gefunden, aber nicht Angus.«

»Was ist passiert?« Ihre Miene verriet aufrichtiges Interesse. Er wollte es ihr nicht erzählen, weil er nicht an diesem schrecklichen Ort mit ihr reden wollte. Mit ein wenig Glück wäre sie im Haus der Ravensbrooks gewesen.

»Warum sind Sie nicht bei Lady Ravensbrook?« fragte er barsch. »Sie kann sich nicht zur Gänze erholt haben.«

»Im Augenblick ist Genevieve an der Reihe«, sagte sie überrascht. »Callandra braucht hier ebenfalls Hilfe. Ich hätte doch gedacht, daß Ihnen das einleuchtet. Ihrer schlechten Laune entnehme ich, daß Ihr Gespräch mit Caleb Stone unbefriedigend war? Ich weiß nicht, was Sie anderes erwartet haben, doch nicht, daß er den Mord gestehen und Sie zu der Leiche führen würde.«

»Im Gegenteil«, sagte er ungeduldig. »Er hat gestanden.«

Sie hob die Augenbrauen. »Und Sie zu der Leiche geführt?«

»Nein…«

»Dann war das Geständnis nicht viel wert, oder? Hat er Ihnen verraten, wie er ihn getötet hat oder wo?«

»Nein.«

»Oder wenigstens, warum?«

Sie hatte ihn gründlich in Rage gebracht. Es wäre nicht so empörend gewesen, wenn sie immer so bockbeinig und unintelligent gewesen wäre, aber es stiegen Erinnerungen an andere Gelegenheiten in ihm auf, Gelegenheiten, bei denen sie so anders gewesen war, mutig und mit kristallklarem Verstand. Er hätte ihr die Umstände zugute halten müssen. Vielleicht war es nur natürlich, daß Sie ihm im Augenblick ein wenig begriffsstutzig erschien. Aber er hätte viel darum gegeben, wenn sie überhaupt nicht hiergewesen wäre. Es widerstrebte ihm zutiefst, sie deswegen bewundern zu müssen. Es war wie Galle in seinem Mund, bitter, wie der Geschmack von Angst. Vielleicht war es genau das - Angst.

»Hat er Ihnen gesagt, warum?« unterbrach sie seinen Gedankenfluß. »Das wäre vielleicht hilfreich.«

Der dunkle Höcker des Körpers, der ihnen am nächsten lag, stöhnte auf und warf sich unruhig auf dem Stroh hin und her.

»Nein«, sagte Monk schroff. »Nein, das hat er nicht getan.«

»Wahrscheinlich spielt es auch keine Rolle, außer natürlich, daß man dadurch vielleicht einen Hinweis bekommen hätte…« Sie hielt inne. »Ich weiß nicht, worauf.«

»Natürlich spielt es eine Rolle«, widersprach er ihr sofort. »Er hat die Tat möglicherweise nicht allein verübt. Vielleicht hat Genevieve ihn dazu angestiftet.«

Sie erschrak. »Genevieve! Das ist lächerlich! Warum sollte sie? Sie hat durch Angus' Tod alles zu verlieren und nichts zu gewinnen.«

»Sie hat ein hübsches Erbe zu gewinnen«, bemerkte er. »Und nach einer angemessenen Wartezeit die Freiheit, sich erneut zu verheiraten.«

»Was bringt Sie auf den Gedanken, daß sie das wollen könnte?« fragte sie ärgerlich. Dieser Gedanke war ihr offensichtlich ebenso neu, wie er ihr abscheulich erschien.

»Alles spricht dafür, daß sie ihren Mann von ganzem Herzen geliebt hat. Was bringt Sie auf den Gedanken, es könne sich anders verhalten haben?« Das war eine Herausforderung. Sie lag deutlich sichtbar in ihren Augen und in ihrer Stimme.

Er antwortete mit gleicher Schärfe. »Ihre enge Freundschaft mit Titus Niven, die für eine Frau, die möglicherweise gerade erst zur Witwe geworden ist, doch reichlich bemerkenswert scheint. Ihr Mann ist nicht einmal für tot erklärt worden, ganz zu schweigen davon, daß er in seinem Grab läge.«

»Sie haben einen verdorbenen Geist.« Sie sah ihn vernichtend an. »Mr. Niven ist ein Freund der Familie. Für die meisten Menschen ist es völlig natürlich, einem Freund in einer Zeit der Trauer beizustehen. Es überrascht mich, daß Sie das nicht bei anderen beobachtet haben, auch wenn Ihnen selbst ein solcher Gedanke fernliegt.«

»Wenn ich gerade meine Frau verloren hätte, würde ich mich nicht der attraktivsten Frau zuwenden, die ich finden kann«, erwiderte er. »Ich würde mir Trost von einem anderen Mann holen.«

Ihre Verachtung wuchs. »Seien Sie nicht so naiv. Wenn Sie eine Frau wären, würden Sie sich schon aufgrund praktischer Erwägungen eher an einen Mann als an eine Frau wenden. Nicht daß die Männer die besseren Tröster wären; es geht lediglich darum, daß sie von anderen Menschen ernster genommen werden. Die Leute halten Frauen grundsätzlich für unfähig, ob sie es nun sind oder nicht. Und natürlich haben sie keine eigene rechtliche Position.«

Bevor er die genau passende vernichtende Bemerkung machen konnte, trat Callandra zu ihnen. Sie sah ebenfalls müde und derangiert aus, und ihre Kleider waren verschmutzt, aber ihr Gesicht verriet, daß sie sich freute, ihn zu sehen.

»Hallo, William. Macht Ihr Fall Fortschritte? Ich nehme an, das ist der Grund, warum Sie hier sind?« Geistesabwesend strich sie sich das Haar aus dem Gesicht, wobei sie es gleichzeitig mit Ruß vom Herd verschmierte, aber ihre Stimme klang frischer, und ein von innen kommender Glanz trat in ihre Augen. Sie hielt seinem Blick ohne einen Wimpernschlag stand. »Können wir Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein? Wir haben eine ganze Menge über diesen abscheulichen Mann mit Namen Caleb Stone gehört. Ich bin nicht sicher, ob Ihnen das etwas nützen würde.«

»Es könnte mir sogar sehr viel nützen«, sagte er schnell. »Ich habe ihn mittlerweile gefunden, und er hat zugegeben, Angus getötet zu haben, aber es fehlt noch immer die Leiche. Selbst wenn ich Calebs Schuld niemals beweisen kann, so sehr ich es mir auch wünschte, ist das Wichtigste, daß ich die Behörden um der Witwe willen von Angus' Tod überzeugen kann.«

»Ja natürlich. Ich verstehe.«

»Können wir uns hier irgendwo ein wenig ungestörter unterhalten?« fragte er, während er den Blick von Hester abwandte.

Callandra verbarg ein leises Lächeln, entschuldigte sich dann und führte Monk in den kleinen Vorratsraum, in dem sie sich bei ihrem letzten Treffen schon unterhalten hatten. Hester kehrte unterdessen wieder zu ihren Pflichten zurück.

»Sie scheinen schlecht gelaunt zu sein, William«, bemerkte sie, sobald die Tür geschlossen war. Sie setzte sich auf den einzigen Stuhl, und er nahm halb rittlings auf der Bank Platz.

»Ist es der Ärger über Ihren Fall, oder haben Sie sich wieder einmal mit Hester gestritten?«

»Immer, wenn ich sie sehe, ist sie noch unvernünftiger und halsstarriger als beim letztenmal«, antwortete er. »Und einfach unerträglich selbstgerecht. Das ist eine ausgesprochen unschöne Eigenschaft, vor allem bei einer Frau. Auch scheint ihr vollkommen die Fähigkeit abzugehen zu gefallen, und das sollte doch wohl einer der größten Vorzüge einer Frau sein, außerdem ist sie völlig humorlos.«

»Ich verstehe.« Callandra nickte und schob sich die letzte widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr. »Was für ein Glück, daß Sie so empfinden. Wenn sie nun an Typhus erkranken würde wie die arme Enid Ravensbrook, wären Sie nicht so unglücklich, wie wenn Sie Hester gern hätten oder liebenswert fänden.«

Wie ungeheuerlich, so etwas zu sagen! Der Gedanke, Hester könne genauso entsetzlich krank werden wie Enid Ravensbrook oder diese armen Seelen hier, war erschreckend. Er jagte ihm einen kalten Schauder über den Rücken, und ihm war, als friere er innerlich. Natürlich würde sie nicht in einer so luxuriösen Umgebung versorgt werden wie Enid. Niemand würde Tag und Nacht bei ihr sitzen, um sie mit der Hingabe zu pflegen, die zu ihrem Überleben notwendig war. Er konnte es natürlich versuchen, und er würde es auch versuchen. Aber er hatte nicht das notwendige Wissen. Wie konnte Callandra etwas so absolut Herzloses sagen?

»Nun, sprechen wir lieber über diesen Fall«, sagte sie fröhlich und ignorierte seine Gefühle vollkommen. »Die Sache klingt sehr hoffnungslos. Was wollen Sie als nächstes unternehmen? Oder haben Sie den Fall abgeschrieben?«

Er wollte gerade eine ausgesprochen bissige Antwort geben, als er die Belustigung in ihren Augen bemerkte; plötzlich kam er sich sehr töricht vor, und für eine Sekunde konnte er sich glasklar daran erinnern, wie er als Kind an einem Küchentisch gestanden und das Kinn darauf gestützt hatte, um seiner Mutter beim Ausrollen von Kuchenteig zuzusehen. Sie hatte gerade etwas zu ihm gesagt, das ihm klarmachte, daß sie beinahe alles wußte und er fast nichts. Diese Erkenntnis war einerseits sehr demütigend gewesen, andererseits aber auch, zumindest zu dieser Zeit, sehr tröstlich.

»Nein, ich habe den Fall nicht aufgegeben«, sagte er, und seine Stimme klang viel sanfter, als er beabsichtigt hatte. »Ich werde so lange, wie ich nur kann, weitermachen, bis ich Belege dafür gefunden habe, daß Angus tot ist. Ich würde von Herzen gern beweisen, daß Caleb ihn ermordet hat, aber das wird vielleicht nicht möglich sein.«

Ihre ziemlich unregelmäßigen Augenbrauen hoben sich. »Hat Mrs. Stonefield die notwendigen Mittel dafür? Nach dem, was Sie mir bisher erzählt haben, hatte ich den Eindruck, daß sie da gewisse Schwierigkeiten hat oder jedenfalls in Kürze bekommen dürfte.«

»Nein, sie hat diese Mittel nicht, und deshalb hat sich Lord Ravensbrook bereit erklärt, für die Nachforschungen aufzukommen. Sie befürchtet jedoch, daß er die Zahlungen einstellen könnte.«

Sollte er sie fragen? Sie hatte nur sehr geringen Anteil an dem Fall genommen. Sie konnte den Ausbruch von Typhus als die dringendere Angelegenheit betrachten, und vielleicht hatte sie recht damit. Seine Vorstellung von der Höhe der Summe, die sie für solche Dinge erübrigen konnte, war vage.

»Dann würde ich mit Freuden Ihr Honorar übernehmen, solange Sie glauben, daß es Sinn hat weiterzumachen.« Sie sah ihm direkt in die Augen. »Das heißt, solange es Mrs. Stonefield oder ihren Kindern nützt.«

»Ich danke Ihnen«, sagte er demütig.

»Habe ich da richtig gehört, daß Sie sagten, Sie hätten ein wenig mehr über Caleb Stone erfahren?« erkundigte sie sich neugierig. »Darüber, wo er wohnt, wenn man sagen kann, daß er überhaupt irgendwo wohnt. Nach allem, was mir zu Ohren gekommen ist, verbringt er eine Menge Zeit damit, von einem Ort zum anderen zu ziehen. Wahrscheinlich, um seinen Feinden aus dem Weg zu gehen, die den Gerüchten nach Legion sein dürften.«

»Ja. Alles, was Sie wissen oder gehört haben, könnte nützlich sein«, erwiderte er. »Wenn ich einen Zeugen hätte, der zuerst die beiden Brüder zusammen und dann Caleb allein gesehen hat, würde ich wissen, wo man nach einer Leiche suchen könnte. Selbst wenn ich keine finde, würde es vielleicht ausreichen, um die Polizei zu bewegen, den Fall aufzugreifen. Angus Stonefield war ein allseits respektierter Mann.«

»Ich begreife, warum Sie das wollen, William.« Mühsam erhob sie sich von ihrem Platz. »Ich mag zwar die letzten Wochen mit der Pflege der Kranken hier beschäftigt gewesen sein, aber meinen Verstand habe ich deshalb nicht verloren. Ich werde Hester zu Ihnen schicken. Sie hat noch mehr Zeit mit diesen Menschen zugebracht als ich, vor allem mit Mary. Ich habe mich mit den verängstigten, verbitterten Männern im Gemeinderat herumgeschlagen, und sie haben genug geredet, um eine ganze Bibliothek mit ihren Worten zu füllen, vorausgesetzt man akzeptiert, daß alle Bücher den gleichen Inhalt haben; aber nichts, was sie gesagt haben, hätte auch nur den leisesten Nutzen für Mensch oder Tier.« Und bevor er widersprechen konnte, verließ sie das Zimmer, und er saß im Licht einer Talgkerze allein an dem Tisch, schaute die mit Wasserflecken verunstalteten Wände an und wartete auf Hester.

Es vergingen einige Minuten, bevor sie kam, und als sie endlich erschien, fühlte er sich zutiefst unbehaglich.

Sie schloß die Tür hinter sich.

Er stand automatisch auf, bis sie auf dem Stuhl Platz genommen hatte. Sie begann ohne Umschweife zu reden. Callandra mußte ihr sein Anliegen erklärt haben.

»Alle hier fürchten sich vor Caleb«, sagte sie ernst. »Er scheint sich in der ganzen Gegend herumzutreiben, die sich von der East India Dock Road zum Fluß erstreckt…«

»Die Isle of Dogs«, unterbrach er sie. »Das weiß ich bereits.«

»Auf beiden Seiten«, fuhr sie fort, ohne ihm weitere Beachtung zu schenken. »Und in den Greenwich-Sümpfen bis nach Bugsby's Reach hinunter. Die meiste Zeit über weiß niemand genau, wo er steckt. Er schläft auf den Werften, auf Lastkähnen und manchmal bei Selina Herries, die Sie bereits kennen.«

»Ja, die kenne ich tatsächlich«, meinte er ungeduldig.

Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ich glaube nicht, daß irgend jemand Caleb verraten würde, es sei denn, er könnte sicher sein, daß er dessen Rache nicht zu fürchten braucht. Und von Selina würde man ohnehin nichts erfahren. Sie mag zwar Angst vor ihm haben, aber auf ihre Art liebt sie ihn auch.«

Man hörte das Klirren von Eimern auf der anderen Seite der Tür, aber niemand kam herein.

Monk beugte sich vor. »Woher wissen Sie das? Kennen Sie sie?« Es war töricht, daß dieser Gedanke ihn erregte, aber das hier war möglicherweise seine letzte Chance, wenn es ihm gelang, eine Möglichkeit zu finden, ihr Vertrauen zu gewinnen.

»Vielleicht hat auch sie nur Angst vor ihm.«

Hester lächelte. Das Lächeln ließ ihr Gesicht aufleuchten; es löschte die Müdigkeit nicht aus, überlagerte sie jedoch.

»Ich bezweifle nicht, daß sie Angst vor ihm hat«, gab sie ihm recht. »Und ich habe auch keinen Zweifel daran, daß sie bisweilen Grund dazu hat. Aber nach allem, was man so hört, liebt sie ihn auf ihre Weise wirklich und ist sogar ziemlich stolz auf ihn.«

»Stolz auf ihn! Weswegen denn in Gottes Namen? Der Mann ist in jeder Hinsicht ein Versager.« Sobald er das gesagt hatte, wünschte er, er hätte andere Worte gewählt. Es war eine Verurteilung, und plötzlich stand ihm wieder Calebs lebhaftes Gesicht mit seinem Zorn und seiner Intelligenz deutlich vor Augen. Er hätte so viel mehr sein können. Er hätte alles sein können, was Angus war. Statt dessen hatte Eifersucht seine Seele zerfressen, bis er in einem leidenschaftlichen Ausbruch von Haß einen Mord begangen und damit nicht nur seinen Bruder getötet, sondern auch alles zerstört hatte, was von ihm selbst übriggeblieben war. Monk verspürte Mitleid, aber auch Abscheu. Und doch kannte er dieses Gefühl des Hasses. Es war nur Gottes Gnade zu verdanken, daß er nicht selbst getötet hatte. War Angus möglicherweise ebenfalls ein Heuchler gewesen, ein charmanter, raubgieriger Lump, der zu klug war, um sich erwischen zu lassen?

Hester unterbrach seine Gedankengänge nicht. Er wünschte, sie hätte es getan. Statt dessen sah sie ihn einfach nur an und wartete. Sie kannte ihn gut. Er fühlte sich unbehaglich.

»Nun?« fragte er. »In welcher Hinsicht ist sie stolz auf ihn?«

»Weil niemand ihn betrügt oder ihn beleidigt«, antwortete sie, und ihrem Tonfall ließ sich entnehmen, daß sie nur das, was offensichtlich war, aussprach. »Er ist stark. Jeder kennt seinen Namen. Die Tatsache, daß er sie ausgewählt hat, machte sie zu einer wichtigen Persönlichkeit. Die Leute wagen es auch nicht mehr, sie zu übervorteilen.«

Er stand auf, wandte sich ab und schob seine Hände tief in die Taschen.

»Und das ist der Gipfel ihres Ehrgeizes? Dem meistgehaßten und gefürchteten Mann auf der Isle of Dogs zu gehören! Gott, was für ein Leben!« Er erinnerte sich an Selinas hübsches Gesicht mit dem großen Mund und den kühnen Augen, an ihren stolzen, wiegenden Gang. Sie hatte mehr verdient als das.

»Sie hat es besser als die meisten Frauen hier in der Gegend«, sagte Hester schnell. »Sie friert und hungert nicht, und niemand schubst sie herum.«

»Außer Caleb!« sagte er.

»Es ist immerhin etwas«, erwiderte sie ruhig. »Viele Menschen haben den Traum, dem Leben dort zu entrinnen, aber wenigen gelingt es, und wenn, schaffen sie es nicht weiter als bis zu den Bordellen oben in Haymarket oder Schlimmerem.«

Er zuckte zusammen, nicht über ihre Sprache, sondern über die Wahrheit, die sich hinter ihren Worten verbarg.

»Mary erzählt von einem hübschen Mädchen, dem die Flucht gelungen ist, eine Ginny Soundso«, fuhr sie fort, obwohl er nicht weiter interessiert daran war. »Dachte, sie hätte geheiratet; aber das war wohl mehr eine Hoffnung als eine Tatsache. Die feinen Herren heiraten keine Mädchen, die sie in Limehouse auflesen.«

Es war die grausame Realität, und wenn diese Worte aus seinem eigenen Mund gekommen wären, hätte er gesagt, es sei lediglich die Wahrheit. Aus ihrem Mund aber hatten sie eine Grobheit und Endgültigkeit, die ihn ärgerte.

»Wissen Sie überhaupt irgend etwas, was meinen Nachforschungen dienlich sein könnte?« fragte er schroff. »Daß Selina ihn nicht verraten wird, hilft mir nicht weiter.«

»Sie haben mich gefragt«, bemerkte sie. »Aber ich kann Ihnen die Namen einiger seiner Feinde nennen, die ihn nur allzugern vernichtet sehen würden, wenn sie selbst dabei keinen Schaden nähmen.«

»Ach?« Er konnte seine Erregung nicht verbergen. Es war ihm selbst nicht gelungen, etwas so Konkretes herauszufinden. Natürlich brachte man ihr hier ein Vertrauen entgegen, das er selbst niemals genießen würde. Sie lebte und arbeitete unter diesen Menschen, riskierte jeden Tag ihr eigenes Leben, um ihnen in ihrer allergrößten Not beizustehen. »Wer? Wo finde ich diese Leute?«

Sie gab ihm eine Liste von fünf Namen - einem Mann, drei Frauen und einem Jungen - und wußte auch, wo alle fünf zu finden waren.

»Vielen Dank«, sagte er aufrichtig. »Das ist ganz hervorragend. Wenn eine dieser Personen mir etwas berichten kann, ist es vielleicht möglich, Mrs. Stonefield doch noch zu helfen. Ich werde mich sofort auf die Suche machen.«

Aber das tat er dann doch nicht. An diesem Abend hatte er sich mit Drusilla verabredet, und das war ein Vergnügen, auf das er nicht verzichten mochte. Nicht einmal um Genevieve Stonefields willen wollte er diese Verabredung absagen, um statt dessen in Dunkelheit und Kälte durch die Elendsviertel von Limehouse zu ziehen. Diese Sache konnte bis morgen warten und würde dann auch erheblich einfacher und sicherer sein. Caleb mußte wissen, daß Monk ihn nach wie vor verfolgte. Er war kein Mann, der untätig abwartete, bis man ihm Handschellen anlegte.

Das Wetter hatte sich aufgeklart. Es war ein trockener, kühler Abend, an dem nur die allgegenwärtige Dunstglocke die Sterne verbarg.

Um halb acht stieg Monk tadellos gekleidet aus einer Droschke, um Drusilla an der Treppe der Britischen Archäologischen Gesellschaft in der Sackville Street abzuholen. Sie hatte ihn darum gebeten, sie dort zu treffen, weil sie, wie sie sagte, mit einer überaus langweiligen Freundin vereinbart hatte, mit ihr zu Abend zu speisen. Sie hatte die Verabredung abgesagt, aber um lange und unnötige Erklärungen zu vermeiden, wollte sie lieber nicht zu Hause sein.

Sie traf pünktlich um halb acht ein, so wie sie es versprochen hatte. Sie trug ein Seidengewand mit weiten Röcken, das die Farbe von durch Brandy betrachtetem Kerzenlicht hatte. Es stand ihr wunderbar zu Gesicht. Sie schien in Gold und Bronzetöne getaucht zu sein, und ihre Haut war von einer Zartheit und Wärme, wie er sie noch nie bei einer Frau gesehen hatte.

»Ist etwas nicht in Ordnung?« erkundigte sie sich lachend.

»Sie schauen so ernst drein, William!«

Der Klang seines Namens aus ihrem Mund erfüllte ihn mit Freude. Es kostete ihn einige Mühe, sich wieder zu fassen.

»Nein, alles bestens. Ich habe sogar Neuigkeiten, die mir vielleicht doch noch helfen werden herauszufinden, wo der arme Angus Stonefield zu Tode gekommen ist.«

»Ach?« sagte sie eifrig, während sie seinen Arm ergriff und sich zum Gehen wandte. »Die ganze Sache scheint furchtbar tragisch zu sein. Hat er es nur aus Eifersucht getan, was meinen Sie? Warum jetzt? Er muß doch schon seit Jahren eifersüchtig auf ihn gewesen sein.« Sie schauderte ein wenig. »Ich frage mich, was wohl passiert ist, daß sich die Dinge plötzlich verändert haben? Ich glaube nicht, daß es wirklich wichtig ist, aber wüßten Sie es nicht auch gern?« Sie wandte sich zu ihm um und sah ihn neugierig an. »Meinen Sie nicht, daß die Frage, warum die Menschen tun, was sie tun, zu den interessantesten Fragen überhaupt zählt?«

»O ja, da bin ich ganz Ihrer Meinung.« Sie konnte nicht ahnen, daß sie damit einen Nerv getroffen hatte, konnte nicht wissen, wie viele von seinen eigenen Taten er nur vom Hörensagen her kannte, ohne sich selbst daran zu erinnern, so daß er auch nicht wissen konnte, warum er so gehandelt hatte. So viele Handlungen lassen sich entschuldigen, wenn man die Gründe dafür kennt.

»Sie sehen so traurig aus.« Sie betrachtete forschend mit ihren großen haselnußbraunen Augen sein Gesicht. »Wohin wollen wir gehen, damit ich Sie ein wenig aufheitern kann? Glauben Sie immer noch, daß die Witwe mit der Sache nichts zu tun hat? Glauben Sie, sie könnte Caleb in jüngster Zeit vielleicht kennengelernt haben?«

Die Idee war seltsam. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, daß die in gesellschaftlicher Hinsicht so korrekte, im Umgang mit Geld so vorsichtige, häusliche Genevieve auch nur das geringste Interesse an diesem gewalttätigen, einsamen Caleb haben konnte, einem Mann, der von der Hand in den Mund lebte, der niemals wußte, was er morgen essen oder wo er heute schlafen sollte.

»Nein, das glaube ich nicht!«

»Warum nicht?« hakte sie nach. »Schließlich muß er seinem Bruder sehr ähnlich sehen. Er müßte etwas an sich haben, das sie anzieht.« Sie lächelte, und das Lächeln war sogar in ihren Augen.

»Ich weiß. Sie sagen, Angus sei sehr respektabel und in jeder Hinsicht tugendhaft gewesen.« Sie zuckte die Schultern. »Aber vielleicht war er gerade deswegen langweilig? Einige besonders respektable Leute sind das nämlich, wissen Sie das nicht?«

Er sagte nichts.

»Kennen Sie nicht selbst auch einige sehr ehrenwerte Damen, die fürchterlich langweilig sind?« Sie sah ihn durch ihre langen Wimpern von der Seite an.

Er erwiderte ihr Lächeln. Wenn er es geleugnet hätte, würde sie ihm nicht geglaubt haben, keinen Augenblick lang. Und vielleicht war Angus tatsächlich alles, was Genevieve sich von einem Ehemann erhoffte und erwartete, aber er konnte durchaus auch ein Langweiler gewesen sein.

»Wenn es so wäre, was glauben Sie, wo die beiden sich kennengelernt haben könnten?« fragte sie nachdenklich. »Wo würde eine angesehene Frau mit begrenzter Kenntnis der weniger angenehmen Seiten der menschlichen Gesellschaft hingehen, um sich mit einem Liebhaber zu treffen?«

»Das würde ganz davon abhängen, ob der Liebhaber Titus Niven oder Caleb heißt«, erwiderte er; er nahm die Idee nicht wirklich ernst, aber es machte ihm Spaß, auf Drusillas Phantasievorstellungen einzugehen. Es war ein weit amüsanterer Abend als jeder, den er in einem Konzertsaal oder bei einem Vortrag verbracht hatte, wie tiefgründig dessen Thema auch gewesen sein mochte.

Sie überquerten die Straße, und er drückte ihren Arm eine Spur fester an sich. Es war ein angenehmes Gefühl, ein Hauch von Wärme in dem unbarmherzigen Wind, der die Straße hinunterblies und zwischen die Gebäude fuhr, um den Gestank von tausend qualmenden Schornsteinen auf sie zuzuwehen.

Langsam gewann er Gefallen an der Sache.

»Sie könnte sich vielleicht nach etwas Spaß gesehnt haben«, sagte er wohlgelaunt. »Wenn Angus ein Langweiler war, dann würde sie sicher nach etwas Ausschau halten, das für ihn niemals in Frage käme.«

»Ein Variete!« sagte sie lachend. »Ein Spielsalon. Ein Marionettentheater, vielleicht Punch and Judy? Ein Orchester oder ein Straßenmusikant? Es gibt so viele Dinge, die ein Mann mit einer Krämerseele niemals tun würde, die aber trotzdem großen Spaß machen - finden Sie nicht auch? Wie wär's mit einem Leierkasten? Einem Basar?« Sie kicherte leise. »Einem Guckkasten? Einem Boxkampf mit bloßen Fäusten?«

»Was wissen Sie denn von diesen Boxkämpfen?« fragte er überrascht. Es war ein ebenso brutaler wie ungesetzlicher Sport.

Sie winkte ab. »Oh, gar nichts! Ich habe mir nur vorgestellt, daß sie etwas wirklich Tollkühnes tun würde, an einem Ort, an dem Angus sie nie vermuten und an dem auch niemand aus ihren gesellschaftlichen Kreisen jemals verkehren würde«, meinte sie. »Die Leute könnten reden, und das kann sie nicht brauchen - schon gar nicht, wenn sie an seiner Ermordung beteiligt war.«

»Es würde keine Rolle spielen, wenn jemand sie mit Caleb sehen würde«, stellte er fest. »Im Lampenlicht oder im Schatten würde jeder Caleb, wenn er nur halbwegs anständig gekleidet ist, für Angus halten.«

»Oh!« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Ja, natürlich. Das hatte ich ganz vergessen.« Daraufhin gingen sie etwa fünfzig Meter schweigend nebeneinander her. Sie kamen an eine Straßenkreuzung, und er führte sie um den Piccadilly Circus herum und auf der anderen Seite zum Haymarket. Die meisten Vergnügungen, von denen sie gesprochen hatte, wurden hier angeboten, in der Great Windmill Street oder auf der Shaftesbury Avenue.

Als sie sich im Lichtkreis der Gaslaternen und der erleuchteten Schaufenster befanden, inmitten ungezählter Theater und anderer Besucher, trafen sie auf Frauen, die in arroganter Haltung und mit einladendem Schwung ihrer Hüften an ihnen vorüberschlenderten. Röcke tanzten über das Pflaster, und hin und wieder war eine schlanke Fessel zu sehen.

Alle möglichen Arten von Frauen waren hier vertreten: junge Mädchen vom Land mit frischen Gesichtern; bleiche, raffinierte Verführerinnen; Frauen, die Putzmacherinnen oder Schneiderinnen gewesen waren oder in häuslichen Diensten gestanden hatten bis sie durch einen Fehltritt ihre Stellungen verloren, und schließlich ältere Frauen, von denen einige schon von Geschlechtskrankheiten gezeichnet waren.

Junge, gutgekleidete Herren schlenderten an ihnen vorüber und trafen ihre Wahl für den Abend. Andere Männer waren älter, einige hatten bereits silberne Strähnen im Haar. Ab und an verschwanden zwei Leute Arm in Arm im Eingang irgendeines Hauses, das ihnen für kurze Zeit Unterschlupf bieten mochte.

Kutschen holperten vorbei, und aus ihrem Innern ertönte Gelächter. Grelle Theaterreklamen versprachen Melodramen und prickelnde Spannung. Monk und Drusilla kamen an einem Kohleofen vorbei, auf dem Eßkastanien geröstet wurden, und einen Augenblick lang umfing sie ein Schwall heißer Luft.

»Hätten Sie gern ein paar Kastanien?« fragte er.

»O ja! Ja. Schrecklich gern«, antwortete sie schnell. »Ich habe schon jahrelang keine mehr gegessen.«

Er kaufte für drei Pence Kastanien, die sie sich teilten; während sie vorsichtig an den heißen Früchten knabberten und aufpaßten, daß sie sich nicht die Lippen oder die Zunge verbrannten, sahen sie einander an. Die Kastanien waren köstlich.

Um sie herum war Gelächter, und ein Hauch von Gefahr lag in der Luft. Einige Männer liefen mit hochgestellten Kragen und tief in die Stirn gezogenen Hüten an ihnen vorbei, um Vergnügungen nachzugehen, bei denen sie lieber nicht erkannt werden wollten. Andere gaben sich völlig ungezwungen und flanierten mit frechen Bemerkungen auf den Lippen den Gehweg entlang.

Drusilla drückte sich näher an Monk, ihre Augen leuchteten, ihr Gesicht wirkte weich und glühte in einer inneren Erregung, die ihrer Haut einen strahlenden Glanz verlieh, der sie noch hübscher erscheinen ließ als sonst.

Sie kamen an einem Guckkasten vorbei. Flüchtig kam ihm der Gedanke, daß sie hier eigentlich gar nichts ausrichten konnten, da sie keinerlei Möglichkeit hatten, in Erfahrung zu bringen, ob Genevieve diesen Ort jemals aufgesucht hatte, und wenn ja, mit wem.

Er besaß kein Bild von ihr, das er herumzeigen konnte. Aber wenn er diesen Gedanken geäußert hätte, hätte er Drusilla den Spaß verdorben, und nur das zählte im Augenblick für ihn. Es war durchaus vorstellbar, daß Genevieve an einem Komplott zur Ermordung ihres Mannes beteiligt war, aber er glaubte es nicht. Ohne eine Leiche hätte sie nichts zu gewinnen und alles zu verlieren.

Eine Stunde später, als sie die Greek Street Richtung Soho Square hinaufgingen, kam das Thema wieder zur Sprache, und er mußte ihr eine Antwort geben.

»Aber vielleicht taucht die Leiche ja noch auf?« sagte sie, während sie vom Gehsteig auf die Straße trat. Dann stolzierte sie ein paar Schritte über das Pflaster und ahmte die Liebesdienerinnen nach, nur um sogleich wieder in fröhliches Gelächter auszubrechen. »Es tut mir leid!« sagte sie ausgelassen. »Aber es macht solchen Spaß, einen Abend lang einmal auf nichts achten zu müssen, nicht darüber nachzudenken, ob alles korrekt ist oder ob die alte Lady Soundso meine Worte mißbilligen könnte. Ein solches Gefühl von Freiheit ist einfach herrlich. Vielen Dank, William, für diesen einzigartigen Abend!« Und bevor er etwas erwidern konnte, lief sie weiter. »Vielleicht halten sie die Leiche aus irgendeinem Grund versteckt?«

»Aus welchem Grund?« fragte er amüsiert. Er war im Augenblick zu glücklich, um sich allzu viele Gedanken über die Ungereimtheiten in diesem Fall zu machen. Morgen war immer noch Zeit genug, die Sache ernsthaft weiterzuverfolgen. Der heutige Abend gehörte ganz ihm und Drusilla.

»Äh!« Sie blieb plötzlich stehen und wirbelte mit weit aufgerissenen Augen zu ihm herum. »Ich hab's! Was ist, wenn Angus wieder auftaucht, gesund und munter, und behauptet, er sei bei einem schrecklichen Kampf mit Caleb verletzt worden, vielleicht am Kopf, so daß er außerstande war, mit irgend jemandem Kontakt aufzunehmen. Er war bewußtlos, lag im Delirium. Er glaubt, Caleb sei tot…«

»Aber das ist er nicht«, bemerkte Monk. »Ich habe ihn gesehen, und er hat zugegeben, Angus getötet zu haben. In…«

»Nein, nein!« unterbrach sie ihn eifrig. »Warten Sie! Unterbrechen Sie mich nicht immer. Natürlich lebt er - und er hat es getan! Verstehen Sie nicht? Der Angus, der auftaucht, ist in Wirklichkeit Caleb. Er und Genevieve haben Angus um die Ecke gebracht, und wenn es zu spät ist, um die beiden noch voneinander unterscheiden zu können, und die Leiche ausreichend«, sie krauste die Nase, »verwest ist, können die Ärzte nur noch feststellen, daß es sich um einen der Brüder handelt! Bis dahin gibt es kein Gesicht mehr, das man erkennen könnte, keine gepflegten glatten Hände mit sauberen Fingernägeln, diese Dinge meine ich. Wenn sie sagt, der Mann, der zurückkehrt, sei Angus, wer könnte das dann bestreiten?« Ihre Hand legte sich fester um seinen Arm. »William, das ist brillant. Es erklärt alles!«

Er suchte nach einer Unstimmigkeit in ihrer Darlegung, fand aber keine. Er glaubte es nicht, aber es war durchaus möglich. Je länger er darüber nachdachte, um so wahrscheinlicher erschien es ihm.

»Nicht wahr?« fragte sie mit kindlichem Eifer. »Sagen Sie mir, daß ich eine brillante Detektivin bin, William! Sie müssen mich als Partnerin akzeptieren - ich werde Theorien finden, die all Ihre Fälle erklären. Dann können Sie hingehen und die Beweise dafür finden.«

»Eine wunderbare Idee«, sagte er lächelnd. »Wollen wir sie mit einem Abendessen besiegeln?«

»Ja, ja gern. Mit Champagner.« Sie sah sich auf der hell erleuchteten Straße mit ihren einladenden Fenstern um. »Wo wollen wir essen? Bitte, lassen Sie uns irgendwo hingehen, wo es aufregend, anrüchig und einfach herrlich ist. Ich bin sicher, Sie wissen da etwas.«

Das hatte er wahrscheinlich auch gewußt, vor seinem Unfall. Jetzt konnte er nur raten. Er durfte sie nirgendwo hinbringen, wo sie sich langweilen würde oder wo etwas passieren konnte, das sie in Verlegenheit brachte oder abstieß. Und natürlich konnte er nicht erwarten, daß Callandra die Rechnung dafür bezahlte. Sie würde es nicht billigen und als Betrug an Hester betrachten, ganz gleich, wie absurd diese Einstellung war. Und sie war wirklich absurd. Die Beziehung zu Hester war er nicht freiwillig eingegangen, sondern entsprang den Umständen, die sie zusammengeführt hatten. Sie war weit entfernt von Romantik und eher eine Art Zusammenarbeit auf gewissen Gebieten, man könnte fast sagen, eine Geschäftsbeziehung.

Drusilla sah ihn mit erwartungsvollen, leuchtenden Augen an.

»Natürlich«, erwiderte er, da er es nicht wagte, seine Unwissenheit preiszugeben. »Es ist nur ein kleines Stück von hier entfernt.« Mit etwas Glück würde er auf den nächsten zwei oder dreihundert Metern ein passendes Lokal finden. Es wimmelte hier nur so von Cafes, Tavernen und Kaffeehäusern.

»Wunderbar«, sagte sie glücklich und ging weiter. »Ich bin nämlich wirklich hungrig. Wie undamenhaft von mir, das zuzugeben. Das ist ein weiterer Punkt an diesem Abend, der mir so sehr gefällt. Ich darf hungrig sein! Ich kann sogar trinken, was ich möchte. Vielleicht entscheide ich mich doch nicht für Champagner. Vielleicht trinke ich ein Stout. Oder ein Porter.«

Sie genossen ein hervorragendes Mahl in einer Taverne, in der der Wirt obszöne Witze erzählte und bei jeder Gelegenheit in schallendes Gelächter ausbrach. Einer der Stammgäste verspottete verschiedene Politiker und Mitglieder der königlichen Familie. Die Atmosphäre war anheimelnd und herzlich, und eine Vielzahl von angenehmen Düften stieg ihnen in die Nase und gab ihnen das Gefühl, in eine andere Welt eingetaucht zu sein, meilenweit entfernt von ihrer eigenen.

Danach gingen sie fast bis zum Ende der Straße, zurück zum Soho Square, bevor er einen Hansom anhielt, um sie nach Hause zu bringen. Er selbst wollte zur Fitzroy Street weiterfahren.

Mit einiger Überraschung stellte er fest, daß er keine Ahnung hatte, wo sie wohnte, und hörte aufmerksam zu, als sie dem Fahrer eine Adresse am Rand von Mayfair nannte. Sie saßen dicht nebeneinander in dem Wechselspiel von Licht und Dunkelheit, während sie über die Oxford Street nach Westen rollten und dann nach links auf die North Audley Street abbogen. Er konnte sich nicht daran erinnern, daß er sich jemals so wohl in der Gesellschaft eines anderen Menschen gefühlt hatte, ohne auch nur einen Augenblick lang gereizt oder gelangweilt zu sein. Er freute sich bereits von ganzem Herzen auf ihr nächstes Treffen. Sobald der Fall Angus Stonefield abgeschlossen war, würde er sich andere Dinge einfallen lassen, um sie zu unterhalten.

Sie kamen an einem großen Haus vorbei, in dem sich irgendeine Festlichkeit ihrem Ende näherte. Die Straße war voller Kutschen, und sie mußten das Tempo drosseln. Überall brannten Lichter, Fackeln und Kutschenlaternen, und aus den offenen Türen fiel der Lichtschein ungezählter Kronleuchter. Mindestens ein Dutzend Leute stand auf dem Gehweg, und fünf oder sechs befanden sich auf der Straße. Livrierte Lakaien halfen einer Frau, ihre ausladenden Röcke in ihrer Kutsche zu verstauen. Stallburschen hielten die Pferde, Kutscher zogen die Zügel an.

Plötzlich machte Drusilla einen Ruck nach vorn. Ihr Gesicht hatte sich vollkommen verändert; blinder Haß verzerrte ihre Züge. Sie griff sich an das Mieder ihres Gewandes und riß es mit einer einzigen heftigen Bewegung auf, zerfetzte den Stoff, entblößte ihr bleiches Fleisch und schlitzte es mit ihren Fingernägeln auf, bis es blutete. Sie schrie, wieder und wieder, grell und durchdringend, als stünde sie Todesängste aus. Sie trommelte mit ihren Fäusten auf seine Brust, stieß ihn zur Seite und sprang kopfüber auf die Straße, wo sie der Länge nach auf dem Pflaster landete. Sofort raffte sie sich auf, immer noch schreiend, und rannte auf den erstaunten Lakaien zu, der versuchte, ein erschrockenes Pferd unter Kontrolle zu halten, das durch den Lärm unruhig geworden war.

Monk war zu sprachlos, um auch nur zu begreifen, was da geschah. Erst als ein anderer Lakai versuchte, in den Hansom zu klettern, und mit vor Zorn verzerrtem Gesicht schrie: »Lump! Rohling!« kam plötzlich wieder Leben in ihn. Monk hob den Fuß und beförderte den Mann mit einem kräftigen Tritt nach draußen, bevor er dem Kutscher den Befehl zuschrie weiterzufahren.

Die Droschke machte einen Satz nach vorn; der Fahrer schien eher erschrocken als gehorsam, und Monk wurde hart gegen den Sitz geschleudert. Es dauerte einen Augenblick, bis er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, und da fuhren sie auch schon in sehr schnellem Tempo nach Süden.

»Fitzroy Street!« rief er dem Fahrer zu. »So schnell Sie können! Haben Sie mich verstanden?«

Der Fahrer erwiderte irgend etwas Unverständliches, und einen Augenblick später wurde die Kutsche gewendet. Monk war wie betäubt. Er konnte es nicht begreifen. Es war so, als hätte er plötzlich den Verstand verloren, als sei er binnen einer Sekunde dem Wahnsinn verfallen. Im einen Augenblick waren sie enge Freunde gewesen, glücklich und fröhlich, im nächsten war es, als hätte sie sich eine Maske vom Gesicht gerissen, und darunter war etwas Gräßliches zum Vorschein gekommen, ein haßerfülltes Geschöpf, das dem Irrsinn verfallen war und nicht davor zurückschreckte, sich aus einer fahrenden Kutsche zu stürzen.

Und die Anschuldigung, die sie gegen ihn erhoben hatte, konnte ihn ruinieren. Erst als er die Fitzroy Street erreichte und die Droschke anhielt, wurde ihm die Bedeutung dessen, was sie getan hatte, klar. Alles stand da im Gesicht des Kutschers zu lesen, das Entsetzen und die Verachtung.

Er öffnete den Mund, um seine Unschuld zu beteuern, und begriff die Nutzlosigkeit eines solchen Versuchs. Er entlohnte den Mann, bevor er mit langen Schritten den Fußweg entlang, die Treppe hinauf und durch die Haustür ging. Die Kälte, die er verspürte, drang ihm bis in die Knochen.