10. KAPITEL
Jade trug einen dunklen Jogginganzug, als sie nach Mitternacht ihre Kabine verließ. Sicherheitshalber hatte sie eine Taschenlampe eingesteckt. Zwar waren die meisten Räume und sogar die Vorratsbunker auf der MS Kyrene hell beleuchtet. Aber Jade rechnete damit, dass sie auch völlig dunkle Ecken betreten musste. Sie kannte sich noch nicht in jedem Winkel des Schiffs aus. Beispielsweise im Maschinenraum war sie noch nicht gewesen.
Hinter ihr lagen einige Stunden Entertainment – sie hatte in der Disco ein lustiges Ratespiel veranstaltet. Dabei war sie innerlich mit den Nerven am Ende, aber die Passagiere hatten Jade zum Glück nichts angemerkt.
Sie wollte mit ihrer Suche im hinteren Teil des Schiffs beginnen.
Das Summen der Aggregate in den Kühlräumen wirkte beinah beruhigend. Jade verzichtete darauf, dort zu suchen. Bei den Temperaturen, die in diesen Kammern herrschten, konnte es bestimmt kein Mensch länger als ein paar Stunden aushalten. Und Jade ging fest davon aus, dass Ann noch lebte.
Allmählich wurden die Geräusche leiser. Auch in der Bordküche war längst Ruhe eingekehrt. Jade öffnete einige Vorratsbunker, in denen konservierte Lebensmittel aufbewahrt wurden. Auch hier deutete nichts auf ein Versteck, auf ein verborgenes Gefängnis hin.
Jade stieg noch tiefer hinab. Sie begegnete niemandem, und allmählich fand sie es in der Stille immer unheimlicher. Je weiter sie sich vom Oberdeck entfernte, desto nervöser wurde sie. Unwillkürlich erinnerte sie sich an den grässlichen Traum, der sie am Vortag beim Landausflug heimgesucht hatte. Sie war von einer düsteren Schreckensgestalt verfolgt worden.
Hatte sie gerade etwas gehört? Abrupt blieb Jade stehen. Sie lauschte. Es waren keine Schritte zu hören. Nichts deutete daraufhin, dass sie verfolgt wurde. Ich sehe schon Gespenster, dachte sie und schüttelte ärgerlich den Kopf.
Jade ging die nächste Treppe hinunter. Jetzt war sie weit unten im Schiffsrumpf. In diesem Teil des Schiffs war die Luft sehr feucht. Die Leuchtstoffröhren warfen ein fahles Licht auf die nackten Stahlplatten des Gangs. Jade führte sich vor Augen, dass sich jenseits der Außenhaut viele Millionen Hektoliter kaltes Atlantikwasser befanden. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen.
Plötzlich glaubte sie, ein Stöhnen oder Ächzen gehört zu haben. Dann hörte sie wieder nichts und fragte sich, ob sie es sich nur eingebildet hatte.
Unwillkürlich dachte sie an Schiffsratten. Ob es hier unten welche gab? Bisher hatte sie noch keine gesehen. Und an Bord des Kreuzfahrtschiffs wurde Sauberkeit ganz groß geschrieben. Andererseits verirrte sich bestimmt kein Passagier hierher … Im Gehen betrachtete Jade die kahlen und schmucklosen Wände und wartete darauf, jeden Moment die kleinen huschenden Körper sehen zu können, hunderte von ihnen.
Da hörte sie das Geräusch wieder.
Jetzt wusste sie, dass sie keine Ratten gehört hatte, sondern einen Menschen. Jade schlug das Herz bis zum Hals.
Sie öffnete den schweren Stahlriegel eines Vorratsbunkers unmittelbar vor ihr. Dort drin herrschte Finsternis. Jade leuchtete mit ihrer Taschenlampe hinein.
Auf den ersten Blick erkannte sie sie!
Sie sah genauso aus wie in ihrem Videotagebuch. Allerdings war ihr Haar strähnig und verklebt. Auf ihrer Haut schimmerte ein leichter Schweißfilm, es war in dem bullaugenlosen Raum alles andere als kühl. Ann konnte weder schreien noch sprechen, ihr war der Mund mit einem breiten Streifen Klebeband zugeklebt worden. Ihre Hand- und Fußgelenke waren gefesselt. Aber sie lebte und schien unverletzt zu sein!
Ann begann zu zittern, als die Tür geöffnet wurde. Das wunderte Jade nicht. Ann musste ja vermuten, dass ihr Kidnapper zu ihr gekommen war.
Jade stand an der Tür, den hell beleuchteten Flur hinter sich. Mit einer Hand tastete sie über die Stahlwand. Sie fand einen Lichtschalter und betätigte ihn.
Offenbar schmerzerfüllt kniff Ann die Augen zusammen. Die plötzliche Helligkeit musste ein Schock für sie sein. Erst jetzt sah Jade die leeren Regale in dem Raum. Der Kidnapper hatte eine Matratze in den Bunker geschafft, wie sie normalerweise für die Kojen in den Kabinen benutzt wurde.
Als Ann sich an das helle Licht gewöhnt hatte, blickte sie voller Hoffnung in Jades Gesicht.
„Hallo, ich bin Jade Walker. Du musst keine Angst haben, Ann. Ich werde dich erst einmal von diesem Klebeband befreien. Und die Fesseln nehme ich dir natürlich auch ab.“
Sie kniete sich neben sie und tat, was sie soeben angekündigt hatte.
Ann leckte sich über die trockenen Lippen. Aus dem Augenwinkel entdeckte Jade Essensreste und eine Mineralwasserflasche neben der Matratze. Schnell öffnete sie die Flasche und gab Ann zu trinken.
„Woher kennst du meinen Namen, Jade? Bist du von der Polizei?“
„Nein, ich bin Animateurin, so wie du. Ich wurde als deine Nachfolgerin eingestellt. Es hieß, du hättest in Oslo das Schiff verlassen. Aber ich habe immer gespürt, dass du noch an Bord bist – und zwar unfreiwillig.“
„Das kann man wohl sagen.“ Ann kämpfte mit den Tränen. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass es vorbei sein soll. Die vergangenen Tage sind mir vor wie ein böser Traum vorgekommen, der niemals endet.“
„Warst du die ganze Zeit hier eingesperrt?“
„Ja“, erwiderte sie mit brüchiger Stimme. „Nur gelegentlich hat er mich herausgelassen, um … Naja, weiter hinten auf dem Gang ist eine Toilette für die Crew. Aber er hat gedroht, mir die Kehle durchzuschneiden, wenn ich zu fliehen versuche.“
„Ich muss gestehen, dass ich dein Videotagebuch gefunden habe, Ann. Hast du den Mörder erkannt? Hat er dich gekidnappt?“
„Ja, das war der Kerl, der seinen Komplizen über Bord geworfen hat. Ich glaube, zuerst wollte er mich auch umbringen – als er gemerkt hat, dass ich eine Augenzeugin bin. Aber dann ist ihm wohl eingefallen, wie reich meine Eltern sind. Er hat schon mehrfach gesagt, dass er meinen Vater finanziell richtig ausbluten will.“
Während sie redeten, löste Jade sowohl die Handfesseln als auch die Fußfesseln. Ann massierte sich die Gelenke. Ihr blasses Gesicht hatte nun schon wieder etwas Farbe angenommen.
„Wer ist es, Ann? Wer hat dir das angetan?“
„Ich kenne seinen Namen nicht, aber er gehört zur Crew. Du weißt ja, wie viele Menschen an Bord der MS Kyrene arbeiten. Da kann man sich unmöglich bei jedem merken, wie er heißt. Auf jeden Fall gehört er zu den Maschinisten, und er sieht eigentlich gar nicht mal übel aus.“
„Danke für das Kompliment, Süße.“
Ann stieß einen Schreckensschrei aus, Jade wirbelte herum. Hinter ihr stand Rick im offenen Türrahmen. Er grinste spöttisch und hielt ein Messer in der Hand.
In diesem Moment fiel Jade ein, was sie die ganze Zeit über irritiert hatte. Ihr Blick fiel wieder auf Ricks Tattoo.
„Die Initialen RM – sie stehen für Rick Milner, nicht wahr? Du hast dich mir als Rick Andrews vorgestellt. Aber in Wirklichkeit heißt du Milner. Ist der Juwelendieb George Milner zufällig dein Vater?“
„Ja, genau! Du bist ja schlauer, als ich dachte, Schätzchen. Aber George Milner ist mein Dad. Als ich auf der MS Kyrene angeheuert habe, habe ich das lieber unter dem Mädchennamen meiner Mutter getan. Das erschien mir sicherer.“ Er grinste. „Kontakt zu meinem Vater habe ich aber immer noch. Leider war bei meinen Besuchen in der Strafanstalt immer ein Justizwachtmeister da. Deshalb konnte Dad mir keinen Tipp geben, wo genau sich die versteckten Juwelen befinden. – Aber du hast ja schon länger hinter mir her geschnüffelt. Wahrscheinlich weißt du das alles schon, oder?“
Jade senkte den Blick. Jetzt musste sie Zeit gewinnen, um eine Möglichkeit zu finden, sich und Ann zu retten. „Nein, nicht wirklich. Bis vor ein paar Stunden habe ich noch gedacht, Roxanne White wäre die Mörderin.“
Rick lachte. „Diese aufgedonnerte Tussi? Das ist wirklich lustig. Dann bist du doch nicht so clever, Schätzchen. Ich habe ja mitgekriegt, wonach du im Internet gesucht hast. Bevor du die Homepage wegklicken konntest, habe ich es gesehen.“
Aha, er ist ja richtig stolz auf sich, dachte Jade. „Wer ist der Mann, den du umgebracht hast?“, fragte sie geradeheraus.
„Er hieß Tom Arrow. Ich hatte ihn an Bord geschmuggelt, weil er ein genialer Einbrecher war. Ich dachte mir, mit seiner Hilfe finde ich den Schmuck im Handumdrehen. Stattdessen fing er an, Ärger zu machen. Wir hatten einfach zu viel Streit, dann musste ich ihn leider beseitigen.“
„Und mein Freund Henry?“, fragte Jade wütend. „Was hatte er dir getan? Du hast ihn doch niedergeschlagen, oder?“
„Wer sonst! Der kleine Kabinensteward war für meinen Geschmack zu nahe an Anns Gefängnis herangekommen. Da habe ich ihn vorsichtshalber ausgeknockt. Aber was soll die Aufregung? Er lebt doch noch, oder etwa nicht?“
Ricks zynische Art machte Jade zornig, aber sie riss sich zusammen. Wenn er noch ein paar Schritte näher kam, konnte sie ihn vielleicht mit einem Schlag mit der Taschenlampe ablenken und dann fliehen … „Und Anns Kabine hast du ausgeräumt, damit es so aussieht, als wäre sie in Oslo getürmt, ja?“
„Du hast es erraten, Jade. Anns Zeug liegt übrigens in dem Vorratsbunker nebenan, wenn du es unbedingt wissen musst. Und sie hat also ein Videotagebuch geführt, das ich übersehen habe? Und du hast das gesehen? Weißt du nicht, dass man nicht in fremde Tagebücher schaut?“
„Deine Ironie kannst du dir sparen, Rick. – Was hast du jetzt vor?“ Jade hatte sich unauffällig vor Ann geschoben.
„Was glaubst du wohl? Ich habe jetzt eben nicht mehr eine Geisel, sondern zwei. Mit deinem Wissen werde ich dich bestimmt nicht laufen lassen, Jade. Für dich kriege ich wahrscheinlich kein Lösegeld, aber wir beide können bestimmt eine Menge Spaß zusammen haben.“
Er schlenderte auf sie zu. „Ann hat einfach Pech gehabt. Sie hat mich ja schon mal erwischt, wie ich in einem Lüfterkopf nach den Juwelen gesucht habe. Da musste ich ihr klarmachen, dass sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollte. Später musste sie mir ja unbedingt noch dabei zusehen, wie ich Tom über Bord werfe. Pech gehabt. Du bist viel schlimmer, Jade. Du wolltest ja unbedingt Detektivin spielen. Das hast du jetzt davon.“
Jade erinnerte sich an die Episode mit dem Lüfterkopf. Und sie zweifelte nicht daran, dass Rick wieder zur Gewalt greifen würde. Schließlich hatte er schon einen Menschen auf dem Gewissen.
Auf gar keinen Fall wollte sie in die Hände dieses Verbrechers geraten. Ein Gutes hatte Ricks freimütiges Geständnis immerhin. Jade war dadurch so wütend geworden, dass ihr Zorn ihre Furcht in den Hintergrund gedrängt hatte. Rick war größer und stärker als sie, daran gab es keinen Zweifel. Für Jade gab es nur eine Chance, und die lag in einem Überraschungsangriff.
Als er dicht genug vor ihr stand, sprang sie unerwartet auf, wollte ihn entwaffnen und mit einem Judo-Fußfeger aushebeln, um ihn zu Boden zu bringen. Doch Rick hatte offensichtlich schon öfter mit Leuten gekämpft, die fernöstliche Kampfsportarten beherrschten. Er wich ihr aus und stieß sie gleichzeitig brutal nach hinten. Jade prallte mit dem Hinterkopf und dem Rücken gegen die stählerne Wand. Der Aufprall war so heftig, dass ihr für einen Moment die Luft wegblieb. Sie sah Sterne und ließ die Taschenlampe fallen.
Ann begann vor Entsetzen zu schreien. Von ihr konnte Jade keine Unterstützung erwarten. Sie war durch die Gefangenschaft so geschwächt und verängstigt, dass sie gegen Rick nichts ausrichten konnte. Vielleicht gehörte sie auch zu den Frauen, die nie gelernt hatten, sich zu wehren. Das wusste Jade natürlich nicht. Jade hingegen konnte sehr wohl austeilen, und das tat sie auch, wenn es sein musste. Doch nun pulsierte ein schrecklicher Schmerz durch ihren Kopf. Sie hob die Arme.
Doch bereits im nächsten Augenblick hatte Rick ihre Abwehr durchbrochen und Jade an der Kehle gepackt. Sie bekam kaum noch Luft.
Rick drehte sich halb zu Ann um. „Hör gefälligst mit dem Geschrei auf, oder du wirst es bitter bereuen!“
Ann verstummte sofort. Sie kam auch nicht auf die Idee fortzulaufen, sondern blieb auf der Matratze sitzen und zitterte vor Angst. Jade flehte stumm, dass Ann ihre Angst überwinden und Hilfe holen möge. Irgendetwas musste geschehen. Sie konnte sich gegen Rick nicht länger verteidigen und spürte, dass ihr allmählich schwarz vor Augen wurde. Wenn Rick nur noch etwas fester zudrückte, dann war es mit ihr vorbei.
In diesem Moment sah sie Peter an der Tür. Oder täuschte sie sich? Jade war sich nicht sicher, zwang sich jedoch die Augen offenzuhalten und Rick keinen Hinweis zu geben.
Plötzlich stürmte Peter in den Raum, stürzte sich auf Rick und zerrte ihn von Jade fort. Keuchend rang Jade nach Atem.
Die beiden gingen wild miteinander ringend zu Boden. Rick war kein Schwächling, aber Peter wusste, wie man kämpft. Gierig sog Jade Luft in ihre Lungen. Ihr Zustand verbesserte sich schlagartig. Es war ein herrliches Gefühl, wieder durchatmen zu können.
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Rick sein Messer zog. Dadurch war er Peter überlegen. Besorgt trat Jade einen Schritt auf sie zu. Um jeden Preis musste sie verhindern, dass Peter erstochen wurde. Kurz entschlossen griff sie nach ihrer Taschenlampe.
Jade holte aus und verpasste Rick einen wohl dosierten Hieb auf die Schläfe. Er riss den Mund auf und verdrehte die Augen so weit, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Dann kippte er bewusstlos zur Seite, das Messer glitt ihm aus der Hand.
Die Gefahr war vorbei. Jade und Peter fielen einander voller Erleichterung in die Arme. Dann kümmerten sie sich um Ann.