1. KAPITEL
Jade Walker stand vor der Gangway und blickte an der schneeweißen Bordwand der MS Kyrene hoch.
Es kam ihr immer noch seltsam unwirklich vor, dass sie jetzt im Hafen von Oslo war und gleich an Bord des Kreuzfahrtschiffes gehen würde. Noch am Morgen hatte sie in London vor ihrem Tee gegähnt und ernsthaft darüber nachgedacht, einen mies bezahlten Job als Kellnerin anzunehmen. Dann war der Anruf gekommen, sie hatte sofort die Reise nach Norwegen organisiert und war nun vor wenigen Augenblicken aus dem Taxi gestiegen.
Nervös blickte Jade auf die Uhr. Wenn sie nicht zu spät kommen wollte, musste sie jetzt an Bord gehen. Sie hatte schließlich einen Termin mit dem Kapitän.
Aber irgendwie scheute sie sich davor, dieses Schiff zu betreten. Dabei war Jade eigentlich nicht schüchtern. Sonst wäre Touristik auch nie das Richtige für sie gewesen – und in dem Job als Animateurin wäre sie eine totale Fehlbesetzung. Doch die MS Kyrene wirkte bedrohlich, auch wenn Jade nicht benennen konnte, woran es lag, der Anblick des Kreuzfahrtschiffs flößte ihr Angst ein. Oder lag es an den düsteren Wolken, die sich über den Bergen am Oslo-Fjord ballten?
Ärgerlich presste Jade die Lippen aufeinander. Anstatt sich über diese Riesenchance ein Loch in den Bauch zu freuen, zögerte und zauderte sie wie eine Nichtschwimmerin, die vom Zehn-Meter-Brett springen sollte. Kopfschüttelnd hob sie ihre Reisetasche hoch. Dann stapfte Jade entschlossen die Gangway hinauf.
Ein Matrose in blauer Uniform sowie ein Steward, der eine weiße gebügelte Jacke trug, begrüßten sie.
„Guten Tag, Miss.“ Der junge Steward hob den Kopf und lächelte sie freundlich an.
„Hallo! … Ich bin keine Passagierin“, sagte Jade, bevor sie nach einem Ticket oder einer Buchung gefragt werden konnte. „Ich bin Jade Walker und soll hier als Animateurin anheuern. Kapitän Granger erwartet mich.“
Der Matrose nickte nur und hakte auf einer Clipboard-Liste etwas ab. Doch der Steward starrte ihr ins Gesicht, als ob er einen Geist gesehen hätte. Unwillkürlich fragte Jade sich, ob ihre Wimpertusche verwischt war. Oder war der Typ von ihrer Schönheit geblendet? Wohl eher nicht. Jade fand sich zwar nicht gerade hässlich, aber sie gehörte zum sportlich-natürlichen Typ. Bisher hatte sie die Erfahrung gemacht, dass Männer meistens stark geschminkten Tussis hinterherglotzten. Aber vielleicht stand dieser Steward ja gerade auf Frauen, die sich dezenter in Szene setzen konnten? Andererseits – er schien nicht unbedingt fasziniert zu sein, vielmehr irritiert.
„Kennen wir uns?“, fragte Jade ihn direkt. Sie sah ihn an und entdeckte, dass er sofort rote Ohren bekam.
„Nein, äh, ich bin Henry. Henry Glover. Ich arbeite hier an Bord als Kabinensteward. Und ich bringe dich gern zum Kapitän.“
„Das ist wirklich besser“, kommentierte der Matrose. „Allein findet Miss Walker bestimmt nicht zum Captain’s Office.“
Jade runzelte die Stirn. Hielt dieser Matrose sie für blöd? Um keinen schlechten ersten Eindruck zu hinterlassen und um nicht zu spät zu kommen, ging sie nicht weiter auf seine Bemerkung ein, sondern folgte dem Steward. Im Stillen beglückwünschte sie sich dafür bereits wenige Augenblicke später. Denn nachdem sie durch einige Salons geeilt waren und etliche Gänge hinter sich gelassen hatten, musste Jade dem Matrosen recht geben. Die MS Kyrene glich wirklich einem luxuriösen Labyrinth. Auf diesem Dampfer konnte man sich hoffnungslos verlaufen.
Der Steward ging schweigend voraus. Er hatte die ganze Zeit kein einziges Wort mehr über die Lippen gebracht. Extrem verschlossener Typ, dachte Jade. Sie hatte viel mit Menschen zu tun und täuschte sich nur selten. Dieser Henry benahm sich jedenfalls seltsam. Seit er sie gesehen hatte, schien er durcheinander zu sein … Jade nahm sich vor, ihn später darauf anzusprechen. Erst einmal musste sie sich auf das bevorstehende Gespräch mit dem Kapitän konzentrieren. Er sollte sie für kompetent und belastbar halten – nicht dass er in ein paar Tagen auf die Idee kam, ihr zu kündigen und im nächsten Hafen jemand anders einzustellen.
Jade war auf das Geld dringend angewiesen. Sie musste ihr Touristik-Studium finanzieren, denn ihre Eltern weigerten sich, sie bei der Verwirklichung ihres Traums zu unterstützen. In ihren Augen war ein Job in der Tourismusbranche nichts, wofür man einen Beruf brauchte. Wäre es nach ihnen gegangen, hätte Jade Jura studieren müssen. Das hielt ihr Vater, der selbst ein kleiner Beamter bei der Justizbehörde war, für etwas „Solides“. Aber Tourismus – damit verbanden Jades Eltern nur Sonne, Strand und ewige Party.
Gedankenverloren war Jade hinter Henry hergegangen, als er plötzlich stehen blieb und an eine Tür klopfte.
„Herein!“, rief ein Mann von drinnen.
Henry öffnete und ließ Jade den Vortritt. Sie hatte plötzlich starkes Herzklopfen, als sie das Captain’s Office betrat. Auf den ersten Blick unterschied es sich nicht von einem modernen Büroraum, wie Jade ihn kannte. Nur die Bullaugen verrieten, dass sie sich auf einem Schiff befanden.
Der Kapitän trug eine dunkelblaue Uniform, in der er sehr elegant wirkte. Er war trotzdem etwas hager, hatte eine Adlernase und stahlblaue Augen. Sein Gesicht war tief gebräunt und wettergegerbt. Schwungvoll stand er auf und begrüßte Jade mit einem kräftigen Händedruck. „Sie müssen Miss Walker sein. Ich bin Kapitän Granger – und ich danke Ihnen im Namen der gesamten Besatzung der MS Kyrene dafür, dass Sie so schnell kommen konnten. Nehmen Sie doch bitte Platz!“
Er deutete auf einen Lehnstuhl, der vor seinem Schreibtisch stand. Dann bat er Henry, einstweilen vor der Tür zu warten.
Sobald die Tür wieder ins Schloss gefallen war, erwiderte Jade: „Ich freue mich darauf, hier tätig zu werden, Sir. Die Semesterferien haben gerade begonnen, und ich muss wieder einige Monate arbeiten, um mir das nächste Studienjahr leisten zu können. Da kam mir der Anruf von der Arbeitsvermittlung sehr gelegen.“ Granger sollte sie nicht für schüchtern halten.
Als hätte er alle Zeit der Welt, blätterte er in seinen Unterlagen. „Ich sehe, dass Sie viel Erfahrung als Animateurin haben, Miss Walker, obwohl Sie noch sehr jung sind.“
„Ja, ich beherrsche verschiedene Sportarten von Tennis bis Judo. Meine Spezialität ist das Organisieren von Wettkämpfen und das Veranstalten von Kostümpartys, sowohl für Erwachsene als auch für Kinder. Für Frauen biete ich Power Fitness an, ich kann aber auch Malkurse geben.“
Bevor Jade noch mehr erzählten konnte, hob Kapitän Granger lächelnd die Hand. „Das klingt alles sehr vielversprechend. Ich hoffe, Sie passen gut zu uns. Wir sind hier an Bord ein internationales Team, auch wenn die MS Kyrene unter britischer Flagge fährt. Jetzt führt uns unsere Fahrt hinauf zum Nordkap, wo die Walpurgisnacht am Polarkreis den Höhepunkt der Kreuzfahrt darstellen wird … Wie gesagt, Ihre Referenzen sind wirklich gut. Aber Sie haben noch nie an Bord eines Schiffes gearbeitet?“
„Nein, Sir. Bisher war ich nur in Ferienclubs in Cornwall und auf Teneriffa als Animateurin engagiert.“
„Ist das ein Problem?“, fügte sie hinzu, weil ihr nicht entgangen war, dass sich die Miene des Kapitäns verdüstert hatte.
„Eigentlich nicht, Miss Walker. Sie machen einen guten Eindruck auf mich. Aber ich habe schon schlechte Erfahrungen gemacht. Es ist nämlich so, dass die Unzuverlässigkeit Ihrer Vorgängerin uns in Schwierigkeiten gebracht hat.“
„Wieso, Sir?“
„Ann Brockwell hat es nicht für nötig befunden zu kündigen. Sie ist einfach an Land gegangen, ohne sich um ihre Aufgaben zu kümmern. Hier in Oslo. Zum Glück hat die Stadt genug Unterhaltung zu bieten, damit bei unseren Passagieren keine Langeweile aufkommt. Aber es wäre Miss Brockwells Aufgabe gewesen, einen geführten Landgang für unsere Reisenden zu organisieren.“
„Aber – kann ihr nicht auch etwas zugestoßen sein? Ich meine, Oslo hat keine besonders hohe Kriminalitätsquote, soweit ich weiß …“ Jade presste die Lippen aufeinander und hoffte, dass sie mit dieser Bemerkung nicht den Eindruck hinterließ, dass sie ängstlich wäre. Aber wenn jemand so einen tollen Job hatte, verschwand er doch nicht einfach so, oder?
„Sicher, daran haben wir auch gedacht, Miss Walker. Doch es deutet nichts auf ein Verbrechen hin. Ann Brockwell hat ihre Kabine ordentlich verlassen, ihre sämtlichen Kleider und sonstigen persönlichen Gegenstände mitgenommen. Trotzdem – wir haben sämtliche Krankenhäuser Oslos abtelefoniert. Doch dort wurde niemand eingeliefert, auf den Ann Brockwells Beschreibung passt. Für mich steht fest, dass diese junge Lady plötzlich die Lust an ihrem Job verloren hat. Sie werden ja wissen, dass manche Leute sonderbare Vorstellungen von dieser Arbeit haben. Ein Animateur ist in den Augen vieler jemand, der ständig Urlaub macht.“ Er stieß einen abfälligen Laut aus.
Jade zuckte die Schultern. Sie wusste, was er meinte. In Wirklichkeit war das, was sie und ihre Kollegen auf die Beine stellten, reinste Knochenarbeit. Man musste nicht nur ständig gut drauf sein und freundlich bleiben, sondern die Feriengäste mit Sport und Spiel fast rund um die Uhr unterhalten. Wer das mit Faulenzen am Pool verwechselte, hatte wirklich keine Ahnung, was Sache war.
Dennoch fand sie Kapitän Grangers Urteil über Ann Brockwell hart. Natürlich kannte Jade ihre Vorgängerin nicht. Aber würde es jemandem auffallen, wenn sie beispielsweise über Bord gefallen war? Obwohl – bei einem solchen Unfall hätte sie wohl nicht ihre gesamten Habseligkeiten bei sich gehabt. Jade hielt es für cleverer, ihre Vorgängerin nicht weiter zu verteidigen. Im Grunde konnte sie dieser Ann Brockwell nur dankbar sein. Wäre sie nicht kommentarlos abgetaucht, hätte Jade diesen gut bezahlten Job nicht ergattern können.
„Ich nehme jedenfalls meine Verpflichtungen ernst, Sir“, sagte sie schließlich mit fester Stimme. „Da können Sie fragen, wen Sie wollen.“
„Das ist gut, Miss Walker. Ich habe bei der Arbeitsvermittlung um eine besonders zuverlässige Animateurin gebeten. Daraufhin sind Sie mir empfohlen worden.“ Er wandte den Blick ab und sah aus dem Bullauge. „Ja, was soll ich noch sagen? Nochmals willkommen an Bord. Der Steward wird Sie gleich zu Ihrer Kabine führen. Es ist die Ihrer Vorgängerin, natürlich gereinigt. Bei der Gestaltung Ihres Unterhaltungsprogramms haben Sie freie Hand. Stimmen Sie sich einfach mit Ihren Kollegen ab. Und vergessen Sie bitte nicht, dass unsere Kreuzfahrtgäste auch bei den Landausflügen Betreuung und Unterhaltung erwarten.“
„Das ist mir bewusst, Sir. Ich werde mich gleich in die Arbeit stürzen, sobald ich ausgepackt habe.“
Nun lächelte der Kapitän wieder. „Das ist die richtige Einstellung, die ich mir bei jedem Crewmitglied wünsche. Wenn Sie Ihre Aufgaben so beherzt anpacken, wird diese Kreuzfahrt für Sie und uns ein großer Erfolg werden.“
Jade nickte. Sie hatte keinen Zweifel mehr daran, dass sie unter großem Druck stand. Granger war offenbar immer noch wütend auf ihre Vorgängerin. Und das bedeutete, dass Jade sich auch nicht den kleinsten Fehler erlauben durfte. Egal. Das wollte sie sowieso nicht. Denn wenn sie den Job auf der MS Kyrene gut erledigte, würde sie genug Geld für das nächste Semester verdienen. Jade wollte ihren Eltern unbedingt beweisen, dass sie auf eigenen Füßen stehen und ihre Pläne aus eigener Kraft umsetzen konnte.
Sie versuchte, trotz der Anspannung, die sie überkommen war, weiterhin gelassen zu wirken. Trotzdem war Jade froh, als er sie verabschiedet hatte und sie in Begleitung des Stewards das Captain’s Office verließ.
Offenbar hatte Henry inzwischen seine Sprache wiedergefunden. Er zwinkerte Jade vertraulich zu. „Na, wie war es bei unserem Eisenknochen? Der Alte ist eigentlich ganz umgänglich. Das Kielholen wird nur noch in Ausnahmefällen durchgeführt, wenn ihm nämlich jemand richtig auf die Nerven geht.“
Als er ihren verständnislosen Blick aufgefangen hatte, fügte Henry hinzu: „Das sollte ein Witz sein! Kielholen, damit haben in früheren Jahrhunderten grausame Schiffsführer aufrührerische Matrosen bestraft. Die armen Kerle wurden an Seilen festgebunden und unter dem Schiffsrumpf durch das Wasser gezogen. Meistens haben sie sich an herausstehenden Nägeln und Muschelbewuchs schlimm verletzt. Aber so arg ist Granger gar nicht. Du kennst ja das Sprichwort: Hunde, die bellen, beißen nicht.“
„Du hast ja schnell einen flotten Spruch auf Lager“, entgegnete Jade kühl. „Dabei hast du mich vorhin noch angeglotzt, als wäre ich ein Geist.“
Sekundenlang war sein Lächeln verschwunden.
Ich habe wohl einen wunden Punkt bei ihm getroffen, dachte Jade. Obwohl sie nicht wusste, was sie Falsches gesagt hatte, tat es ihr leid. Eigentlich war Henry ja auch ganz nett, auch wenn er nicht ihr Typ war. Sie mochte blonde Männer lieber. Henry hatte fast die gleiche Haarfarbe wie sie, war fast genauso groß wie sie, wirkte jedoch klein und schwächlich.
Henry hatte sich schnell wieder im Griff. „Geglotzt, ich? Dabei musst du dir nichts denken, beim Anblick schöner Frauen entgleisen mir manchmal die Gesichtszüge.“ Schnell ging er weiter. „So, hier über uns ist das Promenadendeck. Dort lassen sich die Passagiere in ihren Liegestühlen die Sonne auf den Bauch scheinen, wenn es nicht so kalt und bewölkt ist wie im Moment.“
Jade runzelte die Stirn. So galant, wie er es sich wahrscheinlich vorgestellt hatte, war er nicht über das Thema hinweggegangen. Bestimmt hatte er sie aus einem ganz anderen Grund angestarrt. Höflichkeitshalber fragte sie nicht weiter nach. „So, dann willst du mir jetzt also erst das Schiff zeigen, ja?“
„Das bietet sich an, wir müssen die MS Kyrene sowieso fast vom Bug bis zum Heck durchqueren, bevor wir bei deiner Kabine sind. Ach, was Bug und Heck bedeutet, weißt du aber, oder?“
„Bug ist vorne, Heck ist hinten.“
„Klingt nicht gerade seemännisch, ist aber richtig.“ Henry lachte. „Ansonsten sagen wir nicht links, sondern backbord. Und Steuerbord ist die rechte Seite. Und das da vor uns ist keine Treppe.“
„Sieht aber aus wie eine Treppe.“
„Okay, aber an Bord eines Schiffes nennt man eine Treppe Aufgang. Oder Niedergang, je nachdem, ob man nach oben oder unten will.“
„Die spinnen, die Seeleute“, murmelte Jade vor sich hin.
Während sie mit Henry ihr neues Umfeld erkundete, begrüßte er die Passagiere, die ihnen begegneten. Die meisten von ihnen schien er mit Namen zu kennen, was Jade verblüffte.
„Wie machst du das?“, raunte sie Henry zu. „Dieses Schiff hat doch 900 Kabinen, oder? Wie kannst du dir die ganzen Namen merken?“
„920 Kabinen, um genau zu sein. Ich habe ein gutes Gedächtnis. Darauf bilde ich mir nichts ein, das ist angeboren. Die Passagiere fahren darauf ab, wenn sie persönlich angesprochen werden. Je besser sie sich fühlen, desto höher ist das Trinkgeld.“
Jade nickte und ließ die Atmosphäre der MS Kyrene auf sich wirken. Henry hatte ihr erzählt, dass der Luxusliner erst im vorigen Jahr zum ersten Mal in die See gestochen war. Entsprechend hochmodern und mondän waren Ausstattung und Kabinen.
Da das Schiff momentan im Hafen von Oslo lag, befanden sich viele Passagiere an Land. Aber wenn sie alle wieder an Bord kamen, gliche das Kreuzfahrtschiff einer kleinen Stadt. Vom Frisör bis zum Wellness Spa gab es jegliche Annehmlichkeiten, um die zahlungskräftigen Reisenden zu verwöhnen. Ich muss hier ganz schön rotieren, wenn ich die alle unterhalten will, dachte Jade. Zum Glück gibt es auch genug Urlauber, die einfach nur feiern und chillen wollen.
„So, da sind wir.“ Henry blieb vor einer Kabinentür stehen, zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür. „Hier, den Schlüssel nimmst du am besten an dich. Unsere Kabinen sind nicht ganz so prachtvoll wie die der Passagiere, aber man kann es aushalten, finde ich.“
Das sah Jade genauso. Nachdem sie die fensterlose Innenkabine betreten hatte, war sie froh, weil es eine Klimaanlage gab. Die Einrichtung bestand hauptsächlich aus einer gemütlich aussehenden Koje, einem modernen Spind sowie Tisch und Stuhl, die fest am Boden verschraubt waren. So etwas hatte Jade noch nie gesehen, aber bei heftigem Seegang waren hin und her rutschende Möbel vermutlich das Letzte, was man gebrauchen konnte. Eine schmale Tür führte zu ihrer eigenen Dusche. Jade war begeistert. Von einem eigenen Bad hatte sie bei ihrem letzten Animateurjob im Ferienclub nur träumen können.
Lächelnd stellte sie ihre Reisetasche auf den Boden.
Henry wandte sich zum Gehen. „So, dann kannst du jetzt erst mal in Ruhe auspacken. Falls du eine Frage hast …“
Bevor er die Kabine verlassen konnte, hatte Jade ihm den Weg versperrt. „Du hast mich vorhin angelogen, das spüre ich. Das war nicht sehr nett von dir, Henry. Ich will jetzt die Wahrheit wissen. Und komm mir nicht wieder mit irgendwelchen Sprüchen, das zieht bei mir nicht. Warum hast du mich so fassungslos angestarrt?“
Henry wurde blass. Offenbar hatte er nicht erwartet, dass sie noch einmal darauf zurückkommen würde. Und an seiner Reaktion erkannte Jade, wie richtig sie lag. Henry öffnete den Mund und schloss ihn sofort wieder. Dann blinzelte er und wich ihrem Blick aus.
Jade hatte die Arme vor ihrer Brust verschränkt. Sie fragte sich, ob sie nicht zu hart war. Henry hatte ihr ja nichts getan. Aber sie hasste es, im Dunkeln zu tappen und sich ständig fragen zu müssen, was sich hinter ihrem Rücken abspielte.
Henry öffnete erneut den Mund. Diesmal würde er die Wahrheit sagen, daran zweifelte Jade nicht.
„Also gut, Jade … Du erinnerst mich an meine verstorbene Schwester, wenn du es unbedingt wissen musst!“, antwortete er wütend und sah ihr zornig in die Augen. Im nächsten Moment begann seine Unterlippe zu zittern.
Ehe sie etwas sagen konnte, taumelte er ein paar Schritte rückwärts und ließ sich auf das Bett sinken. Vornüber gebeugt saß er da, die Hände vors Gesicht geschlagen. Seine Schultern zuckten – er weinte!
Jade war geschockt. Damit hatte sie nicht gerechnet! Warum kann ich nicht einfach mal den Mund halten, fragte sie sich aufgebracht. Wieder einmal hatte sie gesagt, was sie dachte, und handelte sich damit Schwierigkeiten ein. Sie wusste doch, dass ihre direkte und offene Art bei den Menschen nicht gut ankam. Und Henry hatte sie damit gerade sehr wehgetan.
Sie setzte sich neben ihn und umarmte ihn spontan. „Hey, nun beruhige dich doch. Das habe ich nicht gewusst. Bitte entschuldige, Henry. Ich wusste ja nicht … Es tut mir leid.“
Es dauerte, bis er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Doch als er aufblickte und Jade aus rotgeweinten Augen anschaute, brachte er sogar ein schiefes Grinsen zustande. Seine Stimme klang trotzdem brüchig, als er sagte: „Ich kann dir nicht böse sein, Jade. Du musstest ja wer weiß was von mir denken, nachdem ich dich so angestarrt habe. Aber im ersten Moment habe ich wirklich gedacht, Alice wäre wieder da.“
Jade fürchtete, er würde erneut in Tränen ausbrechen. Aber diesmal riss er sich zusammen. Sie hielt ihn immer noch fest und war froh, als er wieder ruhiger atmete. „Das war also ihr Name – Alice?“
„Ja, genau. Meine Schwester ist zwanzig Jahre alt geworden. Sie ist vor fünf Monaten bei einem bescheuerten Verkehrsunfall gestorben. Ein besoffener Raser hat ihr die Vorfahrt genommen.“ Er schluckte. „Du siehst ihr verblüffend ähnlich, Jade. Okay, sie hatte eine andere Frisur, aber vom Gesicht her könntest du beinah Alices Zwilling sein. Und von deiner Art her könntest du es allemal mit ihr aufnehmen. Meine Schwester war nämlich auch sehr direkt und unverblümt, genau wie du.“
Betroffen senkte sie den Blick. „Ich habe mich echt blöd benommen. Trotzdem bin ich froh, dass wir jetzt Klarheit geschaffen haben. Ich finde dich nett, Henry. Jetzt weiß ich wenigstens, warum du so seltsam gewesen bist.“
Lächelnd sah sie ihn wieder an. „Wollen wir noch mal neu anfangen?“
Er putzte sich geräuschvoll die Nase und konnte nun wieder lächeln. „Nichts, was mir lieber wäre. Weißt du, ich dachte, ich wäre über Alices Tod einigermaßen hinweggekommen. Aber so schnell geht das wohl doch nicht. Zum Glück gibt es hier an Bord genug zu tun, dass man kaum Zeit für trübe Gedanken hat.“
Gut, dachte Jade. Wenn ich ihn jetzt noch auf andere Gedanken bringe, ist alles gut. „Wie ist eigentlich deine Meinung über meine Vorgängerin?“, fragte sie. „Der Kapitän glaubt, sie hätte sich hier in Oslo aus dem Staub gemacht. Glaubst du das auch?“
Er zuckte die Schultern. „Schwer zu sagen. Ich hatte nicht viel mit Ann zu tun. Sie hat nie wirklich zur Besatzung gehört, sondern ist eine Außenseiterin geblieben.“
„Wieso das?“
„Ann hat wohl sehr reiche Eltern. Sie hat versucht, das vor uns zu geheim zu halten. Ich vermute, sie wollte wie jedes andere Crewmitglied behandelt werden. Für sie sollte keine Extrawurst gebraten werden.“
„Das klingt doch aber eher sympathisch, oder? Ich mag keine Leute, die sich für etwas Besseres halten.“
„Ich auch nicht. Aber irgendwie hat Ann es trotzdem nicht geschafft, Mitglied der Bordgemeinschaft zu werden. Als raus war, dass sie den Job gar nicht brauchte, gab es natürlich Neider. Und hinter ihrem Rücken ist wohl über sie gelästert worden. Keine Ahnung … Ich habe davon nicht viel mitbekommen.“
„Ann könnte also unglücklich gewesen sein und deshalb in Oslo das Schiff verlassen haben.“
„Ja, das wäre eine Möglichkeit.“ Plötzlich sah er auf die Uhr. „Verflixt, schon so spät? Die Pflicht ruft. Wir sehen uns später, okay?“
Bevor er ging, gab Henry ihr noch seine Handynummer und bekam im Austausch ihre. Jade war froh, dass es zwischen ihnen keine Unklarheiten mehr gab. Und irgendwie mochte sie ihn auch. In jedem Fall konnte sie gut mit ihm zusammenarbeiten, da war sie sicher. Wie die anderen Besatzungsmitglieder waren, wusste sie ja noch nicht. Aber mit Henry konnte sie bestimmt einmal etwas unternehmen. Als Animateurin kam sie eigentlich mit allen Menschen mehr oder weniger gut zurecht. Selbst bei Außenseitern fand sie immer einen Weg, sie einzubeziehen. Aber privat brauchte sie auch Leute, mit denen sie sich so gut verstand.
Seufzend räumte Jade ihre Kleidung in den schmalen Schrank. Ihr Notebook und den Minidrucker stellte sie auf den kleinen Tisch. Wie Henry ihr verraten hatte, konnte sie in ihrer Kabine über W-LAN ins Internet. Jade wollte so schnell wie möglich einen Flyer entwerfen, um ab dem nächsten Morgen ihr Fitness-Programm anbieten zu können.
Sobald sie sich eingerichtet hatte, stemmte sie die Fäuste in die Hüften und sah sich zufrieden um. Die Kabine würde für die nächsten Monate ihr Zuhause sein. Schon jetzt fühlte sie sich hier wohl. Nur die Matratze hatte sie noch nicht ausprobiert.
Kurz streckte Jade sich auf ihrer Koje aus. Der Schaumstoff war nicht zu fest und nicht zu weich, genau richtig. Dann werde ich bestimmt gut schlafen, dachte sie und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Da stieß sie mit dem Ellenbogen gegen etwas Hartes.
Als sie sich auf die Seite gedreht hatte, um nachzusehen, tastete sie in den Spalt zwischen der Matratze und der hölzernen Kojenfassung – und entdeckte eine kompakte Videokamera. Verblüfft zog Jade das Minigerät hervor und betrachtete es. Sie war keine Technikexpertin, aber offenbar war die Kamera neu und alles andere als billig gewesen.
Jade brauchte ein paar Minuten, um sich mit den Funktionen vertraut zu machen. Vor allem wollte sie wissen, ob die Kamera schon benutzt worden war. Endlich gelang es ihr, auf den Speicher zuzugreifen. Ohne zu zögern, drückte sie auf Wiedergabe und sah gespannt auf das Display.
Dort erschien das Gesicht einer ihr völlig unbekannten jungen Frau. Gleich darauf ertönte auch die Stimme.
„Hallo. Ich bin Ann Brockwell. Und das hier ist mein Videotagebuch.“