2. KAPITEL

Jade fühlte sich mies. Sie hatte das Videotagebuch ihrer Vorgängerin wieder versteckt. Und jetzt kam es ihr so vor, als würden alle Menschen sie anstarren.

Eigentlich wäre es ihre Pflicht gewesen, die Kamera sofort beim Kapitän abzugeben. Und genau das hatte Jade nicht getan. Um sich von dem schlechten Gewissen abzulenken, hatte sie sich fieberhaft auf ihre Arbeit gestürzt. Sie hatte schnell einen Flyer entworfen, auf dem sie ihr Power-Workout für Frauen anpries. Damit sich möglichst viele Passagierinnen dafür begeisterten, hängte sie Kopien des Flyers an alle schwarzen Bretter der MS Kyrene.

Währenddessen grübelte sie weiter über sich selbst nach.

Es gab einen Grund, aus dem sie das Videotagebuch vor den Augen der Welt verbarg. Jade wollte ihren tollen Job nicht sofort wieder verlieren. Sie hatte Angst davor, dass Ann Brockwell plötzlich wieder an Bord kam, als ob nichts gewesen wäre. Sicher, Granger war sauer auf Ann. Aber würde er sie deshalb wirklich nicht zurücknehmen? Henry hatte erzählt, dass Anns Eltern reich waren. Mit solchen Leuten legte sich niemand gern an, auch kein Kapitän eines Kreuzfahrtschiffs. Wenn es hart auf hart kam, würde er Mittel und Wege finden, um Jade wieder nach London zurückzuschicken.

Andererseits … Wenn aus dem Tagebuch hervorging, dass Ann sich nur ein paar schöne und stressfreie Tage in Oslo machen wollte? Jade hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich das Videotagebuch anzuschauen. Schließlich sollte sie ab dem nächsten Morgen Kurse geben. Und sie konnte sich kein Versagen leisten, sondern musste ab dem ersten Tag volle Leistung bringen.

Am Abend sollte die MS Kyrene wieder in See stechen, wie Jade inzwischen mitbekommen hatte. Sobald der Luxusliner abgelegt hatte, wollte Jade sich genauer mit der Sache beschäftigen. Dann hatte sie immer noch die Gelegenheit, mit der Kamera zum Kapitän zu gehen. Letztendlich konnte es ja sein, dass sie das Gerät erst viel später gefunden hatte. Die Wahrheit kannte nur sie allein.

Aber – wenn nun Anns Leben in Gefahr war? Vielleicht zählte jede Minute. Möglicherweise bekam Ann keine Hilfe, nur weil Jade ihren Job behalten wollte. Allein die Vorstellung machte Jade völlig fertig. Und dennoch konnte sie nicht aus ihrer Haut.

„Hey, träumst du?!“

Jade zuckte zusammen. Sie war durch das Pacific Bistro auf der Backbordseite geeilt und hatte gar nicht bemerkt, dass Henry ihr entgegengekommen war. Für einen Moment dachte sie darüber nach, sich ihm anzuvertrauen. Aber dann entschied sie sich dagegen. Sie kannte Henry einfach noch nicht gut genug.

„Nein, alles gut“, murmelte sie. „Ich finde mich wirklich noch nicht auf diesem Schiff zurecht. Ich habe so die vage Idee im Hinterkopf, mich heute Abend mit einem Tanzwettbewerb als Animateurin einzuführen. Aber dafür brauche ich Hilfe, schätze ich.“

Henry lächelte gewinnend. „Die sollst du bekommen. Wie es der Zufall will, hätte ich Zeit, um dich zu unterstützen. Ich schlage vor, deinen Contest im Spotlight zu starten. Das ist die größere von unseren beiden Bord-Discos.“

„Ja, tolle Idee. Eine Jury brauchen wir natürlich auch. Die werden wir aus Passagieren zusammenstellen, das ist dann noch ein zusätzlicher Anreiz zum Mitmachen.“

„Natürlich sollten auch ein paar Preise zu gewinnen sein“, erwiderte Henry. „Komm, wir gehen gleich zum Zahlmeister. Mal sehen, was er herausrückt.“

Jade war erleichtert darüber, dass Herny sie sofort unterstützte – und von dem Videotagebuch ablenkte. „Was ist denn ein Zahlmeister?“

„Das ist der Offizier, der an Bord den Job des obersten Buchhalters oder Finanzministers hat. Zum Glück ist Zahlmeister Watson nicht besonders geizig. Er weiß, dass es unseren Passagieren an nichts fehlen darf.“

Henry lotste Jade durch verschiedene Gänge. Sie fragte sich, wann sie sich hier genauso gut auskennen würde. Jetzt hatte sie bereits nach wenigen Minuten die Orientierung in diesem Labyrinth verloren. Ohne Henry an ihrer Seite hätte sie sich hoffnungslos verlaufen.

Der Zahlmeister war ein älterer Mann mit Kugelbauch vom Typ „freundlicher Onkel“.

Nachdem ihm Jade vorgestellt worden war, konnte auch er sich sofort für ihren Einfall erwärmen. Watson stiftete einen wertvollen Kompass als ersten Preis, für den zweiten und dritten Platz gab es ein edles Schreibset und ein Saunatuch mit dem eingestickten Schriftzug „MS Kyrene“.

„Viel Erfolg bei eurem Contest!“, rief Watson, als sie sein Büro wieder verließen.

Henry brachte Jade zum Spotlight, wo der DJ sich bereits auf den Abend vorbereitete. Zum Glück stand er Jades Idee positiv gegenüber.

„Dann muss ich das Publikum wenigstens mal nicht den ganzen Abend allein bespaßen“, meinte Mark grinsend. „Ich gebe dir ein Mikro für deine Moderationen, und deine Jury kann dort drüben sitzen.“

Mark deutete auf einen langen Tisch.

Vor Vorfreude war Jade ganz kribbelig. Alles lief so gut an. Sobald sie in Aktion war, konnte sie so leicht nichts mehr stoppen. Jetzt schaffte sie es überraschenderweise sogar, allein vom Spotlight zurück zu ihrer Kabine zu finden. Dort stylte sie sich und zog ein Minikleid an, das ihr für einen Discoabend passend erschien. Vor lauter Aufregung vergaß sie sogar, noch schnell in die Personalkantine zu gehen und etwas zu essen. Als es ihr einfiel, war es zu spät.

Das Abendessen für die zahlenden Gäste war bereits beendet, über dem Hafen von Oslo brach die Dämmerung an. Sobald Jade das Spotlight betrat, fiel die Nervosität von ihr ab.

Mark nickte ihr zu und gab ihr ein Mikrophon. Auf Jades Handzeichen wurde die Musik leiser gedreht. Jade trat mitten auf die Tanzfläche. Die Blicke aller Anwesenden ruhten auf ihr.

„Hallo und einen wunderschönen guten Abend! Ich bin Jade Walker, eure neue Animateurin. Ihr werdet euch fragen, warum ihr plötzlich auf Musik verzichten sollt. Schließlich seid ihr zum Tanzen hergekommen, oder?“

„Richtig!“, rief jemand gut gelaunt.

Jade lachte und ging auf den Mann zu. Dabei hörte sie nicht auf zu sprechen. „Okay, und was haltet ihr von einem Tanz-Wettbewerb? Ich brauche eine Jury, bestehend aus drei Leuten. Und natürlich so viele Paare wie möglich, denn es gibt immerhin tolle Preise zu gewinnen.“

Jade schnappte sich den Mann und machte mit ihm gemeinsam ein paar Tanzschritte. Das Eis zwischen ihr und den Leuten war gebrochen, sie klatschten, lachten und pfiffen. Jade freute sich. Sie war jetzt in ihrem Element. Problemlos gelang es ihr, Leute für die Jury zu finden.

Eine sehr gut aussehende Blondine drängte sich gleich nach vorn. Sie trug ein enges schwarzes Lederkleid. „Heute ist dein Glückstag“, sagte sie in arrogantem Ton. „Du wirst keine Geringere als Roxanne White in deiner Jury haben, Süße.“

„Roxanne White – bist du das?“

Kaum hatte sie diese Frage gestellt, riss die Blondine auch schon ihre grünen Augen weit auf und funkelte Jade aggressiv an. „Selbstverständlich bin ich das. Willst du behaupten, du hättest noch nie etwas von Roxanne White gehört?“

Jade begriff, dass sie eine sehr anstrengende Selbstdarstellerin vor sich hatte. Diese Frau hielt sich offenbar für prominent. Daher war es für Roxanne eine furchtbare Beleidigung, dass Jade sie nicht kannte. „Ach, jetzt fällt bei mir der Groschen – die Roxanne White! Entschuldige, aber das muss am Licht liegen, ich habe nicht gleich geschaltet. Und außerdem hat mir niemand gesagt, dass die berühmte Roxanne White an Bord ist.“

Jade hatte ihre Worte sorgsam gewählt. Sie mochte normalerweise keine platten Schmeicheleien, aber bei selbstverliebten Menschen wie dieser Blondine half kein anderes Mittel.

Die Wirkung war verblüffend. Auf Roxannes Gesicht erschien ein eingebildetes Lächeln. Sie tätschelte herablassend Jades Wange. „Schon gut, Kleine. Man würde mich normalerweise ja auch eher in Paris oder Mailand oder L.A. vermuten als auf einem Kreuzfahrtschiff an der norwegischen Küste. Es war pures Glück, dass ich zwischen zwei Foto-Shootings für internationale Modedesigner ein paar Tage Zeit für Urlaub freischaufeln konnte.“

Jade konnte sich gerade noch davon abhalten, breit zu grinsen. Diese anstrengende Frau hielt sich also für die neue Naomi Campbell oder Claudia Schiffer. Okay, es gab in jeder Schulklasse mindestens ein oder zwei Mädchen, die von einer Modelkarriere träumten – und zwar nicht nur in Großbritannien, sondern überall auf der Welt. Möglicherweise war Roxanne wirklich schon einmal fotografiert worden. Aber wahrscheinlich nicht für die Titelseite der Vogue, sondern für eine Gratis-Reklamezeitung in Sheffield oder Birmingham, dachte Jade. Immerhin hatte sie nun schon ein Mitglied für die Jury.

Wenig später nahmen ein unscheinbarer semmelblonder Typ und eine dralle kaugummikauende Brillenträgerin zusammen mit Roxanne am Jurytisch Platz.

Der Wettbewerb wurde ein voller Erfolg. Jade ging es nicht darum, wer nun gewann. Ihr Job bestand darin, in der Disco Spannung aufzubauen und Begeisterung zu verbreiten. Und das gelang ihr. In der Jury machte sich Roxanne schnell zur Wortführerin, aber das überraschte Jade nicht.

Die Stunden vergingen wie im Flug. Weit nach Mitternacht leerte sich die Disco allmählich. Jade merkte erst jetzt, wie erschöpft sie war. Trotzdem würde sie am nächsten Morgen ihren Power-Workout-Kursus abhalten. Als Animateurin hatte sie gelernt, zeitweise mit wenig Schlaf auszukommen.

„Ist sie nicht spitzenmäßig?“

Jade hatte gar nicht gemerkt, dass Henry neben ihr an die Theke getreten war. Jetzt hob sie den Blick und sah aus dem Augenwinkel, wie das selbsternannte blonde Topmodel an ihnen vorbeistolzierte und ihnen zum Abschied zuwinkte. „Meinst du Roxanne?“

„Wen sonst? Ist sie nicht super? Das ist eine Frau ganz nach meinem Geschmack.“

Jade blinzelte. Im ersten Moment glaubte sie, Henry wolle sie auf den Arm nehmen. Aber dann wurde ihr klar, dass es ihm bitterernst war. Sie kannte diese sehnsuchtsvollen Schmachtblicke, die Henry der großen Blonden hinterherwarf. Jade lag eine bissige Bemerkung auf der Zunge. Doch sie konnte sich gerade noch davon zurückhalten, Roxanne eine selbstverliebte Schreckschraube zu nennen.

Henry war offenbar bis über beide Ohren in diese eitle Gewitterziege verknallt. Jade wollte ihn nicht schon wieder kränken. Bisher war er derjenige, mit dem sie sich an Bord der MS Kyrene am besten verstand. Und deshalb lächelte Jade, klimperte gespielt mit den Wimpern und wandte sich scheinbar entrüstet an Henry. „Ach, so ist das also? Und was ist mit mir? Willst du mir vielleicht untreu werden, Mister Henry Glover?“

Er lächelte reumütig. „Ach, mit dir ist es ganz anders, Jade. Es ist, als würden wir uns schon ewig kennen. Ich kann gar nicht glauben, dass du erst heute auf das Schiff gekommen bist.“

Jade lachte und kniff ihm in die Wange. „Das weiß ich doch, Süßer! Ich mag dich, aber wegen dir werde ich keine schlaflosen Nächte bekommen. Und dir geht es umgekehrt genauso, wette ich.“

Henry nickte und lachte befreit auf. Für Jade war klar, dass er nie mehr als ein guter Freund für sie würde sein können. Aber sie schätzte es sehr, in dieser fremden Umgebung so schnell einen Vertrauten gefunden zu haben. Vielleicht würde sie Henry sogar von dem Videotagebuch erzählen, sobald sie selbst einen besseren Durchblick hatte. Jetzt musste sie erst einmal schlafen.

Zum Abschied gab sie Henry einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange und wünschte ihm eine gute Nacht.

Auf dem Weg durch die zahlreichen Gänge freute sie sich, weil sie sich wieder nicht verlief. Doch als sie die Tür hinter sich schloss, wurde sie plötzlich von einem seltsamen Gefühl der Fremdheit und des Verlorenseins überwältigt.

Das hier war eigentlich Ann Brockwells Kabine.

Was war nur mit ihrer Vorgängerin geschehen?

Jade setzte sich auf ihre Koje und zog die Reisetasche darunter hervor, in der sie die Videokamera versteckt hatte. Erleichtert stellte sie fest, dass das Gerät noch vorhanden war. Aber wieso auch nicht? Warum befürchtete sie mit einem Mal, dass jemand in ihrer Kabine gewesen war? Jade hätte diese Fragen selbst nicht beantworten können. Kopfschüttelnd schob sie die Reisetasche wieder unter die Koje und lehnte sich zurück.

Sie hatte noch nie auf einem Schiff übernachtet. Obwohl die MS Kyrene momentan noch sicher im Hafen lag, fragte Jade sich, ob sie überhaupt ein Auge zubekommen würde, wenn der Luxusliner erst draußen auf hoher See war.

Ein Geräusch ließ Jade aufschrecken. Vor ihrer Tür tat sich etwas.

Jade presste die Lippen aufeinander und lauschte angestrengt. Jemand war auf dem Gang vor ihrer Kabine, daran gab es keinen Zweifel. Drückten sich dort eine oder mehrere Personen herum? Und weshalb gaben sie sich so viel Mühe, leise zu sein?

Jade fühlte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken rann.

Plötzlich ertönte ein lautes Kichern, und die Tür der Nachbarkabine wurde zugeschlagen. Ganz kurz hörte Jade eine weibliche und eine männliche Stimme, dann war es wieder still.

Offenbar hatte ein Liebespaar auf dem Gang geknutscht und war nun zum gemütlichen Teil übergegangen. Jade stieß einen ärgerlichen Laut aus. Deshalb hatte sie sich erschrocken? Das war ja lächerlich. Normalerweise war sie auch kein Angsthase. Als Animateurin musste sie sich ständig neuen und ungewohnten Situationen stellen, und das war das beste Training gegen Verzagtheit, das man sich vorstellen konnte.

Am besten man packt die Dinge einfach an, dachte Jade und holte entschlossen die Videokamera aus der Tasche. Sie wollte sich jetzt endlich den Film ansehen. Dann wusste sie, was los war, und würde entscheiden, was sie mit der Kamera machte.

Sie drückte auf die Playtaste und sah gespannt auf das Display.

Im nächsten Moment sah sie wieder Anns Gesicht. Jade schätzte sie auf etwa zwanzig. Ann sah hübsch aus, war aber keine klassische Schönheit. Ihre Stupsnase ragte frech nach oben, und auf den Wangen hatte sie zahlreiche Sommersprossen. Sie hatte beim Tagebuchführen offenbar auf der Koje gesessen, so wie Jade jetzt. Im Hintergrund war die Kabinenecke mit dem kleinen Buchregal über dem Kopfteil und der Leselampe zu erkennen.

„Hi. Ich bin Ann Brockwell. Und das hier ist mein Videotagebuch. Ich will hier erzählen, was ich auf meiner ersten Reise als Animateurin auf dem Kreuzfahrtschiff MS Kyrene so alles erlebe. Also, wir liegen momentan auslaufbereit im Hafen von Plymouth. Gleich werden die Leinen losgemacht, und wir nehmen Kurs auf die norwegische Küste. Ich bin mächtig aufgeregt. Okay, meine lieben Eltern haben mich ja oft genug auf ihrer Privatyacht quer durch die Karibik mitgenommen. Aber das hier ist etwas ganz anderes. Zum ersten Mal in meinem Leben arbeite ich für mein Geld. Aber darüber will ich nicht meckern, denn das war ja mein eigener Wunsch.“

Es stimmte also – Ann Brockwell war das Kind reicher Eltern. Aber dafür konnte sie ja nichts. Im Gegensatz zu anderen Jet-Set-Sprösslingen, die Jade kennengelernt hatte, wirkte Ann überhaupt nicht eingebildet. Außerdem sprach es in Jades Augen für sie, dass sie sich einen Job gesucht hatte. Es wäre sicher bequemer gewesen, vom Geld der Eltern zu leben. Das Brot einer Animateurin war jedenfalls hart verdient, das wusste Jade selbst am besten.

Sie lehnte sich zurück. Die ersten Minuten des Videotagebuchs waren nicht gerade spannend. Ann berichtete von kleinen Ereignissen an Bord, von einem Maskenball und einem Karaoke-Wettbewerb, die sie organisiert hatte. Jade war schon leicht enttäuscht von Anns Geplapper. Etwas wirklich Dramatisches schien ihre Vorgängerin nicht erlebt zu haben. War sie wirklich nur im Osloer Nachtleben abgetaucht und hatte dort den Mann ihres Lebens getroffen?

Jade glaubte bereits fast daran, als sie auf eine Aufnahme stieß, die sich deutlich von den vorherigen unterschied.

„Ich glaube, irgendetwas stimmt hier an Bord nicht. Heute war ich auf dem Achterdeck, um die Bademodenschau für morgen vorzubereiten. Plötzlich habe ich eine vermummte Gestalt gesehen. Dieser Kerl fummelte an einem Lüfterkopf herum, stocherte mit einem Draht ins Innere. Ich meine, was soll das denn? Diese Metallröhren gehören zum Ventilationssystem des Schiffs. Was hat er daran herumzupfuschen? Ich habe ihn angesprochen, da drehte er sich zu mir um. Er sagte keinen Ton. Aber dafür zog er den Zeigefinger seiner behandschuhten Rechten vor seiner Kehle von links nach rechts. Eine Geste, die man nicht missverstehen kann, oder? Mir war jedenfalls sofort ganz anders. Ich hätte schreien sollen, aber ich war ganz allein mit dem Unheimlichen auf dem Achterdeck. Es war gerade Dinner-Zeit, außerdem herrschte leichter Nieselregen. Kein anderer Mensch war in der Nähe. Ich wusste nicht, wer mir hätte helfen sollen – im Fall des Falls … Dann war der Typ plötzlich verschwunden. Als wäre er über Bord gesprungen! Okay, ich habe für einen Moment die Augen zugemacht. Ich hatte mehr Glück als Verstand, schätze ich.“

Ann seufzte. „Und jetzt habe ich keinen Plan, was ich tun soll. Am liebsten würde ich dem Kapitän melden, was passiert ist. Aber andererseits – was ist denn schon großartig geschehen? Der Vermummte hat mir nur gedroht, mir aber kein Haar gekrümmt. Ich meine, ich will hier nicht als hysterisch abgestempelt werden. Sonst heißt es nachher noch, dieses Millionärstöchterchen sieht schon Gespenster, um sich aufzuspielen. Nein, ich werde jetzt erst einmal die Füße stillhalten. Vielleicht gibt es ja auch eine ganz harmlose Erklärung.“

Anns Gesicht hatte ängstlich ausgesehen, während sie diesen Tagebucheintrag gesprochen hatte. Die Stimme war sehr leise. So, als hätte Ann befürchtet, belauscht zu werden. Ihr Blick war unstet gewesen, außerdem wackelte die Kamera. Dafür gab es eine ganz einfache Erklärung: Anns Hände hatten während der Aufzeichnung gezittert.

Oder interpretierte Jade zu viel hinein? Sie war müde und abgespannt. Ihr erster Tag auf der MS Kyrene war anstrengend gewesen. Erst das Zusammentreffen mit Henry, die Geschichte über seine verstorbene Schwester, dann diese Roxanne – und morgen lag ein längerer Tag vor ihr. Kurz entschlossen schaltete Jade die Kamera aus. Sie hatte noch nicht alles gesehen, aber Stoff zum Nachdenken hatte sie fürs Erste genug.

Ob Ann diese dunkle Gestalt wirklich gesehen hatte?

Ja. Die Beklemmung hatte Ann ins Gesicht geschrieben gestanden. Ann war wirklich beunruhigt gewesen.

Plötzlich fühlte Jade sich ihr auf merkwürdige Art verbunden. Sie selbst wäre wahrscheinlich auch nicht zum Kapitän gegangen, um den Vorfall zu melden. Animateurin sein, das war nun einmal ein stressiger Job – man durfte auf keinen Fall in Verdacht geraten, nicht belastbar zu sein oder herumzuzicken. Genau diesen Eindruck hatte Ann vermeiden wollen. Und deshalb war sie mit einer scheinbaren Kleinigkeit nicht zum Kapitän gerannt.

Unwillkürlich begann Jade damit, sich mit Ann zu vergleichen. Sie waren ungefähr gleich alt und arbeiteten als Animateurinnen. Doch damit hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf – oder?

Während Ann aus sehr wohlhabenden Kreisen stammte, kannte Jade nur die strenge Welt ihres Elternhauses in den Midlands. Okay, sie hatte nie am Hungertuch genagt. Das Beamtengehalt ihres Vaters reichte für die fünfköpfige Familie, die aus Mom und Dad sowie Jade und ihren beiden jüngeren Brüdern bestand. Doch das Geld war knapp gewesen, seit Jade denken konnte. Urlaub hatten sie nicht oft gemacht, und wenn, waren es Badeferien in Blackpool oder Brighton gewesen.

Über die genaueren Lebensumstände von Ann Brockwell wusste Jade bisher nichts. Aber nun war sie neugierig geworden und nahm sich vor, im Internet zu recherchieren. Wenn Anns Familie auch nur einigermaßen reich und prominent war, würde sich dort genügend Hintergrundmaterial finden – am nächsten Tag, wenn sie wieder konzentrierter sein würde.

Jade stand auf. Sie war einerseits todmüde, andererseits völlig überdreht. Eigentlich hätte sie sich jetzt dringend hinlegen müssen, um noch ein paar Stunden Schlaf zu finden. Dennoch – an Ruhe war nicht zu denken. Dafür schwirrten ihr viel zu viele Gedanken durch den Kopf.

Sie schob die Videokamera wieder in ihre Reisetasche und zog sich einen Jogginganzug an. Ihr war in dem Minikleid inzwischen kalt geworden. Naja, immerhin bin ich in Norwegen, und es ist noch lange kein Sommer, dachte sie.

Nachdem sie ruhelos in ihrer Kabine auf und ab gegangen war, beschloss sie, einen Spaziergang auf dem Promenadendeck zu machen. Bewegung tat ihr immer gut, und vielleicht wurde sie dadurch ruhiger.

Jade öffnete ihre Kabinentür und hielt unwillkürlich den Atem an. Gleich darauf lächelte sie. Als müsste sie sich vor einem knutschenden Paar fürchten! Es waren mehrere hundert Passagiere an Bord, dazu die Besatzung. Wenn sie wirklich in eine bedrohliche Lage geriet, konnte sie jederzeit um Hilfe rufen. Aber momentan deutete nichts auf eine Gefahr hin.

Nur diese Stille war schwer zu ertragen.

Es war eine völlige Geräuschlosigkeit. Jade hatte als Animateurin in Ferienclubs gearbeitet, wo die Wände dünn wie Papier gewesen waren. Wer dort seine Ruhe haben wollte, war schlicht und einfach fehl am Platz. Auf der MS Kyrene war es hingegen so leise wie in einem schwimmenden Sarg.

Bei dem Gedanken fragte Jade sich erneut, was wohl mit Ann geschehen sein mochte. Ob sie tot war?

Jade schüttelte den Kopf. Das ergab keinen Sinn. Wieso hätten ihre sämtlichen Sachen außer der Videokamera dann verschwunden sein sollen? Andererseits … Wenn ein Mörder sämtliche Spuren hatte verwischen wollen … Nein, das kann nicht sein. Jetzt geht wirklich die Fantasie mit mir durch, sagte Jade sich.

Ob Anns Verschwinden mit dem Auftauchen dieses Vermummten zusammenhing?

Während Jade darüber nachdachte, stapfte sie eine Treppe hoch, öffnete eine Tür und befand sich nun auf dem Deck. Eine kühle Brise wehte ihr ins Gesicht. Sie fröstelte ein wenig in ihrem Jogginganzug. Die Sportschuhe an ihren Füßen schluckten jedes Geräusch. Ihre Schritte waren nicht zu hören, als sie an der Reling entlangschlenderte.

Niemand hörte sie. Auch nicht die schwarz gekleidete Gestalt, die sich soeben an einem Tau entlang an Bord hangelte.