6. KAPITEL

Jade musste sich zusammenreißen, um nicht hysterisch zu werden. Sie kniete auf dem stählernen Boden ihrer Kabine und versuchte schluchzend, wieder Ordnung in ihre Habseligkeiten zu bringen. Normalerweise hatte Jade nicht so nahe am Wasser gebaut. Jetzt konnte sie nicht verhindern, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen.

Die zunehmenden Schiffsbewegungen trugen nicht gerade dazu bei, dass sie sich beruhigen konnte. Ach ja, dachte Jade, wir müssen einer Schlechtwetterfront ausweichen. Offenbar gelang es nicht vollständig.

Wenigstens konnte Peter nicht der Täter sein. Der Einbruch musste stattgefunden haben, während sie sich mit ihm auf dem Achterdeck getroffen hatte. Als sie die Plastiktüte mit den Kleidungsstücken geholt hatte, war in ihrer Kabine noch alles in Ordnung gewesen.

Jade stand auf und sah sich die Tür stirnrunzelnd näher an. Das Schloss war nicht beschädigt. Hatte sie die Tür nicht richtig hinter sich geschlossen? Das wäre immerhin möglich gewesen, denn sie hatte es eilig gehabt.

Seufzend wischte Jade sich die Tränen vom Gesicht und zwang sich, noch mal in Ruhe nachzudenken. Fehlte außer der Videokamera etwas? Ja, ihr Notebook. Das Handy hatte sie in ihrer Tasche, ihre Kreditkarte sowie ihren Ausweis trug sie gewohnheitsmäßig in einem Brustbeutel unter dem T-Shirt bei sich. Den Verlust des Notebooks konnte sie verschmerzen, sie hatte ihn für ein paar Pfund gebraucht gekauft.

Jade glaubte nicht an einen normalen Einbruch. Wahrscheinlich hatte der Täter das Notebook nur mitgehen lassen, um sein alleiniges Interesse an der Video-Kamera zu vertuschen.

Bin ich jetzt überhaupt noch sicher auf der MS Kyrene, fragte Jade sich und rieb sich die kalten Arme.

Der Mörder sah in ihr sicher nur eine lästige Mitwisserin. Würde er sie nicht als Nächste aus dem Weg räumen?

Jade merkte, dass sie wieder panisch wurde. Und das war gar nicht gut. Wenn sie jetzt die Nerven verlor, würde das nur dem Täter nützen, und sonst niemandem. Sie musste jetzt kühl nachdenken, wenn es auch schwerfiel.

Wieder atmete sie tief durch. Die MS Kyrene war auf hoher See. Wenn Jade jetzt plötzlich verschwand, gäbe es nur zwei Erklärungen: ein Unfall oder ein Verbrechen. Niemand würde behaupten können, sie hätte plötzlich die Lust an ihrem Job verloren und wäre an Land gegangen. Also würde eine polizeiliche Untersuchung erfolgen. Und das konnte der Mörder absolut nicht wollen. Jedenfalls hoffte sie das.

Solange das Kreuzfahrtschiff keinen Hafen anlief, konnte Jade sich also relativ sicher fühlen.

Trotzdem brauchte sie Hilfe. Sollte sie mit Peter sprechen? Das hätte sie am liebsten auf der Stelle getan. Er würde sie garantiert unterstützen. Aber er musste sich ja versteckt halten, um nicht aufzufliegen. Außerdem kannte er sich an Bord noch weniger aus als sie.

Es gab also nur noch einen Menschen, auf den sie hoffen konnte: Henry.

Ihr platonischer Freund war zwar in diese Gewitterziege Roxanne White verknallt, aber das war auch das Einzige, was es an ihm auszusetzen gab. Jade beschloss, ihn in die Geschichte mit dem Videotagebuch einzuweihen. Nur Peter durfte sie nicht erwähnen.

Vielleicht bekam sie durch Henry auch noch mehr über Nelligan heraus, was für Peter von Nutzen sein konnte.

Damit konnte sie nicht bis zum nächsten Morgen warten.

Henrys Kabine befand sich ein Deck tiefer. Während Jade an seine Tür pochte, ertappte sie sich dabei, dass sie immer wieder über die Schulter blickte. Dabei war ihr vollkommen klar, dass der Mörder bisher mehr als eine Gelegenheit gehabt hatte, um sie zu überwältigen. Sie war oft genug allein in den labyrinthischen Gängen des Schiffs unterwegs gewesen.

Nach einer Weile öffnete Henry und blinzelte verschlafen. Nachdem er Jade ins Gesicht gesehen hatte, bat er sie sofort herein.

„Du musst mir versprechen, dass du alles für dich behältst, was ich dir jetzt erzählen werde“, sagte sie ohne Einleitung und schloss die Tür hinter sich.

Henry nickte und hob gähnend die Finger wie zu einem Schwur.

Jade setzte sich auf seine Koje, während er auf einem Hocker Platz nahm. Dann fing sie an zu erzählen. Und je mehr sie berichtete, desto wacher wurde Henry.

Zum Schluss kam er aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. „Das ist ja eine irrsinnige Geschichte, Jade. Aber es ist gut, dass du damit bisher nicht zum Kapitän gegangen bist. Granger ist eigentlich ganz okay, aber Fantasie gehört nicht gerade zu seinen Stärken. Er würde handfeste Beweise fordern. Aber ein Mord, bei dem es noch nicht einmal eine Leiche gibt – das wird ihn nicht überzeugen.“

„Das heißt, wir müssen ihm den Killer auf einem Silbertablett servieren?“, fragte Jade zweifelnd.

„So würde ich es nicht ausdrücken, aber im Grunde hast du recht.“ Er sah sie ernst an. „Glaubst du eigentlich, dass Ann noch lebt?“

„Ich will es glauben, bis ich vom Gegenteil überzeugt werde“, erwiderte Jade heftig. „Und ich denke, dass sie sich noch an Bord befindet und irgendwo gefangen gehalten wird.“

Henry rieb sich das Kinn. „Es gibt an Bord hunderte von Vorratsbunkern, Tanks und kleineren Laderäumen, die nicht ständig überwacht werden. Die MS Kyrene ist ein ziemlich guter Platz, um einen Menschen zu verstecken.“

Jade nickte. Henry hatte nur noch einmal bestätigt, was sie schon geahnt hatte. „Ich habe dir erzählt, was aus dem Videotagebuch zu erfahren war. Könntest du dir vorstellen, wer der Mörder ist? Ich meine, als Kabinensteward kennst du doch die Passagiere besser als ich. Und die Crew genauso.“

„Damit hast du wahrscheinlich recht. Ich zermartere mir auch schon das Gehirn, seit du mir von dem Mord erzählt hast. Aber wir kennen das Opfer nicht, und ein Motiv sehe ich auch nicht. Allerdings bin ich weder Detektiv noch Polizist, sondern eben Kabinensteward. Trotzdem, es muss einen Grund geben, warum der Killer seinen Komplizen umgebracht hat. Hieß es nicht auf dem Tape, der Verbrecher würde nachts durch das Schiff schleichen und etwas suchen?“

„Ja, genau. Das hat Ann gesagt.“

Nachdenklich runzelte er die Stirn. „Es gab vor zwei Jahren einen Juwelendieb, der sich mit seiner Beute auf die MS Kyrene abgesetzt hat. Damals war ich allerdings noch nicht an Bord. Ich weiß noch nicht einmal, wie der Typ hieß, aber das kann man ja übers Internet rauskriegen. Jedenfalls hat er die Klunker angeblich ins Meer geworfen, um Beweismittel zu vernichten. Die Beute hatte immerhin den Wert von einer halben Million Pfund Sterling. Das hat ihm allerdings nichts genützt, er ist trotzdem hinter Gittern gelandet. Mal angenommen, die Juwelen liegen gar nicht auf dem Grund der Nordsee, sondern sind noch irgendwo an Bord versteckt …“

Jade atmete langsam aus. „Eine halbe Million in Form von Schmuck? Dafür würde so mancher Verbrecher auch morden, schätze ich. Das wäre jedenfalls ein Motiv. Und es würde auch erklären, warum dieser Täter nachts durch die Gänge schleicht. Er sucht nach den versteckten Juwelen – wie nach einer Stecknadel im Heuhaufen. Es ist wirklich zu ärgerlich, dass Ann den Namen ihres Verdächtigen nicht genannt hat. – Was hältst du eigentlich von Stan Nelligan, Henry?“

„Vom dritten Offizier? Wieso, wie kommst du denn auf den?“

„Nur so“, erwiderte Jade schulterzuckend. Sie hatte Henry noch nichts von Peter erzählt, der ja Beweise gegen Nelligan sammeln wollte. Es wäre ihr wie Verrat vorgekommen, Henry in diese Hintergründe einzuweihen. Und sie konnte das Risiko, dass Henry ihn verriet, nicht eingehen. Jedes Mal, wenn sie an den großen blonden Norweger dachte, schlug ihr Herz schneller.

„Du glaubst, Nelligan könnte etwas mit dem Mord zu tun haben?“, fragte Henry. „Hm, eigentlich ist das gar nicht so abwegig. Ich traue ihm zwar nicht unbedingt eine Gewalttat zu. Aber wenn er nur halb so verschuldet ist, wie die Gerüchte besagen, dann könnte er dringend einen warmen Regen in Form von einer halben Million gebrauchen.“

„Was für Schulden? Was für Gerüchte? Jetzt hast du mich richtig neugierig gemacht, Henry.“

„In der Crew wird gemunkelt, Nelligan wäre ein Spieler. Poker, Black Jack, Roulette – es gibt kein Glücksspiel, von dem er die Finger lassen kann. Er setzt hohe Summen, und gelegentlich gewinnt er auch mal etwas. Aber auf lange Sicht machen eben nur die Casinos und Spielclubs den Reibach, und das können und wollen diese Spielernaturen nicht begreifen. Jedenfalls scheint er öfter zu verlieren, als zu gewinnen. Ein Schiffsoffizier auf der MS Kyrene verdient nicht schlecht, jedenfalls besser als ein Kabinensteward. Aber bei den Summen, um die es beim Glücksspiel geht, ist Nelligans Gehalt jeden Monat innerhalb weniger Tage futsch.“

Henry zuckte die Schultern. „Also muss er sich Geld leihen, um weiterzocken zu können. Das bekommt er natürlich nur von Kredithaien, weil er eben schon so hoch verschuldet ist. Keine Bank würde ihm auch nur einen müden Penny geben. Und Kredithaie verstehen keinen Spaß, das hast du wahrscheinlich auch schon gehört. Wenn du bei denen deine Schulden nicht pünktlich zahlst, kannst du deine Knochen nummerieren.“

„Du weißt ja ziemlich viel über Nelligan.“

„Wissen ist zu viel gesagt.“ Er grinste. „Das sind alles nur Gerüchte. Und an Bord hat Nelligan wohl kaum Gelegenheit zum Spielen, falls es nicht irgendwo in einer Kabine eine heimliche Pokerrunde gibt.“

Aufmerksam sah er sie an. „Aber mir ist immer noch nicht klar, warum du ihn in Verdacht hast.“

„Das kann ich dir jetzt noch nicht sagen, Henry. Bitte habe Vertrauen zu mir.“

Er nickte und gähnte verhalten. Erst jetzt wurde Jade bewusst, wie spät es bereits war. Sie musste versuchen, wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Sonst würde sie am nächsten Tag völlig erschöpft sein.

Sie stand auf, bedankte sich bei Henry und hauchte ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange.

Als sie wenig später allein in ihrer Kabine war, fühlte Jade sich nicht gerade wohl in ihrer Haut. Es war noch nicht lange her, dass ein Einbrecher ihre sämtlichen Sachen durchwühlt hatte. Was sollte sie tun, wenn er zurückkam? Wenn er sie im Schlaf überraschte? Hatte er es vielleicht sowieso auf sie abgesehen? War sie ihm nur entkommen, weil sie zu dem Date mit Peter gegangen war?

Seufzend drehte Jade sich von einer Seite auf die andere. Sie durfte sich nicht selbst verrückt machen.

Schließlich stand sie auf und schloss die Kabinentür von innen sorgfältig ab. Außerdem hatte sie noch einen kleinen Eisenkeil, den sie bei ihrem letzten Job im Ferienclub gebraucht hatte. Dort war ihre Unterkunft überhaupt nicht abschließbar gewesen. Jade drückte den Keil in den schmalen Spalt zwischen Tür und Türstock. Sie rüttelte an der Klinke. Nun war es fast unmöglich, die Tür zu öffnen. Der Keil war sogar noch wirkungsvoller als ein Schloss, das man knacken konnte.

Sobald sich Jade auf ihre Kojenkante gesetzt hatte, wurde sie von einer bleiernen Müdigkeit überwältigt. Sie schaffte es kaum noch, unter die Bettdecke zu kriechen.

Sie fiel in einen tiefen Schlaf. In ihren Albträumen wurde sie von einem Vermummten ohne Gesicht durch die langen Gänge des Schiffs gehetzt.

Am nächsten Morgen war Jade nicht gerade ausgeruht. Sie quälte sich aus dem Bett. Das Heiß-Duschen weckte ihre Lebensgeister.

Als Erstes stand wieder ihr Power Workout auf dem Programm. Jade hatte am Vortag im Fitnessraum Springseile gesehen. Davon wollte sie sich einige holen, um eine Seilspring-Einheit in das Training einzubauen. In ihrem Sport-Outfit eilte sie hinunter zum Gym. Jade ging in den Geräteraum. Sie hatte sich einige Seile über den Arm gelegt, als sie plötzlich Stimmen auf dem Gang hörte.

Sie sah Roxanne. Seufzend trat Jade einen Schritt zurück. Sie war alles andere als wild darauf, dieser Frau zu begegnen. Schließlich duckte sie sich sogar hinter einen Metallschrank, in dem Boxhandschuhe aufbewahrt wurden. Vielleicht hatte sie ja Glück, und Roxanne würde gleich wieder verschwinden. Jedenfalls war das Model nicht allein. Jade hörte eine Männerstimme, sie konnte jetzt jedoch weder Roxanne noch ihren Begleiter sehen.

„Letzte Nacht war toll“, sagte Roxanne.

Jade runzelte die Stirn. Roxannes Stimme klang, wie Jade sie bisher nie gehört hatte. Offenbar unterhielt sie sich mit einem Mann, der ihr sehr viel bedeutete. Sie redete in einem verführerischen Tonfall, rau und sanft zugleich, ein Streicheln in Form von Tönen. Jade war es peinlich, dass sie ungewollt zur Lauscherin geworden war. Aber wenn sie jetzt aus ihrem Versteck kam, würde Roxanne garantiert ausrasten. Das wollte Jade kein zweites Mal erleben.

„Du kannst wohl nie genug bekommen, hm?“

Die Stimme des Manns kam Jade ebenfalls bekannt vor. Aber sie hätte nicht auf Anhieb sagen können, wer es war.

Die nächsten Geräusche waren jedoch nicht misszuverstehen. Roxanne und ihr Liebhaber küssten einander und flüsterten sich gegenseitig süße Worte ins Ohr. Ungewollt lernte Jade nun eine ganz andere Seite von Roxanne kennen. Und beinah tat es ihr leid, dass sie so ein schlechtes Urteil über das Model gefällt hatte. Roxanne mochte zickig sein, aber sie konnte offenbar auch sehr liebevoll sein, wenn sie wollte. Jade nahm sich vor, in Zukunft toleranter zu sein.

Dann ergriff Roxanne wieder das Wort. „Es ist noch so früh, gleich fängt der Gymnastikkurs von dieser Gewitterziege Jade Walker an.“

Gewitterziege, ich? Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen, dachte Jade wütend. Andererseits wunderte sie nicht, dass Roxanne nichts von ihr hielt. Das beruhte ja auf Gegenseitigkeit. Freundinnen würden sie wohl nie werden.

Der Mann lachte leise. „Du magst die Kleine wohl überhaupt nicht, oder?“

„Jade ist mir in die Quere gekommen, und das wird ihr noch leidtun, Stan.“

Die Drohung schockierte Jade weniger als der Name des Mannes. Stan Nelligan – daher kam ihr die Stimme also bekannt vor. Jade hatte erst einmal mit ihm gesprochen, aber sie wusste schon eine ganze Menge über ihn. Auf jeden Fall gehörte er zu den Verbrechern, die Peters Vater ruiniert hatten. Ein hoch verschuldeter Spieler war er höchstwahrscheinlich ebenfalls – aber war er auch ein Mörder?

Jade wagte es kaum weiterzuatmen. Abgesehen von den kriminellen Machenschaften – sie hätte sich nie träumen lassen, dass Roxanne und dieser unscheinbare und langweilig wirkende Nelligan ein Liebespaar sein könnten. Vielleicht hatten sie ja noch mehr Gemeinsamkeiten? Steckten sie vielleicht auch als Verbrecher unter einer Decke?

Roxanne hatte bereits bewiesen, dass ihr überschäumendes Temperament sie auch zu einer Gewalttat fähig machte. Wäre Jade nicht gewesen, hätte Roxanne die andere Passagierin glatt über Bord geworfen. Ob das Duo Nelligan und Roxanne hinter Anns Verschwinden steckte? Suchten sie gemeinsam nach den Juwelen?

„Diese Jade ist überhaupt nicht wichtig“, antwortete Nelligan. „Mir geht nicht aus dem Kopf, dass ich bei Morris mit 10.000 Pfund in der Kreide stehe. Sobald das Schiff wieder nach England zurückkehrt, bin ich erledigt. Seine Schläger warten bestimmt schon auf mich.“

„Dazu wird es nicht kommen, Liebster! Ich würde dir ja gern aushelfen, als internationales Topmodel verdiene ich schließlich genug. Aber leider werden mir meine Honorare erst später ausgezahlt. Ich kann nur versuchen, einen Vorschuss zu bekommen.“

„Ich habe mich zu sehr auf meine Leute in Nigeria verlassen, Roxanne. Das war mein Fehler. Es ist jetzt schon Monate her, seit Geld aus Abuja in meine Taschen geflossen ist. Dabei stehe ich direkt am Beginn einer Glückssträhne. Das spüre ich einfach. Ich muss jetzt nur Kapital nachschießen, dann kann ich beim Black Jack richtig abräumen.“

Jade achtete darauf, kein Geräusch zu verursachen. Nelligan hatte bereits zugegeben, mit der Nigeria-Connection zu tun und Spielschulden zu haben. Dieser Morris war vermutlich ein Kredithai. Das entsprach wahrscheinlich alles der Wahrheit. Für frei erfunden hielt Jade hingegen Roxannes internationale Modelkarriere.

Den Lauten nach zu urteilen küssten sich Roxanne und Nelligan erneut.

„Diese Heimlichtuerei nervt mich gewaltig, Stan. Ich weiß ja, dass du als Offizier keinen Privatkontakt zu weiblichen Passagieren haben darfst. Trotzdem …“

„Wenn die Kreuzfahrt vorbei ist, wird alles anders. Ich mustere ab und werde mich ganz aufs Spielen konzentrieren. Dann könnten wir immer zusammen sein, Liebling. Das funktioniert allerdings nur, wenn Morris und seine Leute mich nicht finden.“

„Du musst keine Angst haben, Süßer. Deine Roxanne hat einen Plan. Vertraue mir und lass dich überraschen! Ich bin auf der Suche, verstehst du? Und wenn ich gefunden habe, wonach ich Ausschau halte, bist du alle Geldsorgen los.“

Nelligan seufzte. „Das ist zu schön, um wahr zu sein. Aber ich baue auf dich, Roxanne. Etwas anderes bleibt mir ja auch gar nicht übrig. Meine Trickkiste ist leer, ich bin mit meinem Latein wirklich am Ende.“

Jade war wie elektrisiert. Roxanne suchte also nach etwas – nach den Juwelen natürlich, wonach sonst? Das war die einzige Erklärung, die für Jade einen Sinn ergab. Natürlich konnte sie den Kredithai locker bezahlen, wenn sie erst einmal den wertvollen Schmuck in ihren Besitz gebracht hatte.

War dann Roxanne die Mörderin des unbekannten Komplizen?

Momentan sprach alles dafür. Roxanne war groß und schlank. Wenn sie vermummt gewesen war, konnte Ann sie auf größere Entfernung für einen Mann gehalten haben. Außerdem hatte Roxanne genug Wut im Bauch, um eine solche Tat verüben zu können. Nelligan wusste offenbar nicht, dass Roxanne nach den Juwelen suchte. Sie hatte ihn nicht eingeweiht. Aber warum hätte sie das auch tun sollen? Sie war ja in ihn verschossen und wollte ihn nicht auch noch als einen weiteren lästigen Mitwisser beseitigen müssen.

Nun ergriff wieder Roxanne das Wort. „Stan, lass uns von hier verschwinden. Ich habe mir für heute noch einiges vorgenommen.“

„Ja, sonst werden wir noch von ein paar Frühaufstehern überrascht. Ich habe gleich Brückenwache.“

Die Tür zum Gym wurde von außen geschlossen. Jade atmete tief durch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Erst jetzt wurde ihr richtig bewusst, wie riskant eine Entdeckung für sie gewesen wäre. Jade hatte vieles mitgehört, das nicht für ihre Ohren bestimmt war. Und zumindest Roxanne traute sie inzwischen einen Mord ohne weiteres zu. Bei Nelligan war sie sich unschlüssig. Nachdem sie das Gespräch zwischen ihnen verfolgt hatte, hielt sie ihn für zu schwach, sich gegen Roxanne durchzusetzen. Wenn Roxanne Jades Tod wollte, würde er sich nicht dagegen auflehnen.

Wieder verspürte Jade den Impuls, zum Kapitän zu gehen. Aber sie hatte nach wie vor keinen Beweis in Händen. Am besten wäre es, die Juwelen in Roxannes Besitz sicherzustellen. Dafür musste diese den Schmuck jedoch erst einmal gefunden haben …

Und was ist mit Ann, rätselte Jade. Lebte sie noch – und falls ja, wo wurde sie versteckt? Wenn Ann von Roxanne gekidnappt worden war – Ann war eine erstklassige Belastungszeugin.

Obwohl Jade sie nicht persönlich kannte, war sie ihr durch das Videotagebuch seltsam vertraut geworden. Es kam Jade fast vor, als wäre eine Freundin entführt worden. Vielleicht konnten sie und Ann ja wirklich eines Tages Freundinnen werden. Jade zweifelte nicht daran, dass sie sich mit Ann gut verstehen würde – auch wenn die eine Millionärstochter war.

Jade blickte auf ihre Armbanduhr und stand langsam auf. Es war bald Zeit für ihr morgendliches Power-Workout. Trotzdem wartete sie noch ein paar Minuten, bevor sie das Gym verließ. Vorsichtig sah sie sich um. Die Luft schien rein zu sein, jedenfalls konnte Jade weder Roxanne noch Nelligan erblicken.

Ein halbes Dutzend Springseile über dem Arm, eilte sie zum Sonnendeck.

Am Himmel ballten sich düstere Wolken, Sprühregen ging auf das Schiff nieder. Es war kein ideales Wetter, um draußen Sport zu treiben. Dennoch wartete Jade. Als nach einer Viertelstunde kein Passagier erschienen war, ging sie ins Sunlight Bistro, das direkt neben dem Sonnendeck lag. Vielleicht konnte sie ihren Kurs hier abhalten.

„Wahrscheinlich sind die Ladies alle seekrank“, meinte Henry, nachdem er sich zu Jade gesetzt und sie ihm erzählt hatte, dass ihre Kursteilnehmerinnen fortgeblieben waren. „Du glaubst nicht, wie viele Kreuzfahrtpassagiere einen schwachen Magen haben.“

Das konnte Jade von sich zum Glück nicht behaupten. Sie spürte natürlich auch die Schiffsbewegungen, aber ihr wurde davon nicht übel. Aber Henry hatte recht. Im Moment hielten sich nur wenige Passagiere im Bistro auf.

Die perfekte Gelegenheit, um zu recherchieren, dachte sie.

In diesem Moment verabschiedete Henry sich, weil er zurück an die Arbeit musste.

Da ihr Notebook gestohlen worden war, ging Jade in die Schiffsbibliothek. Dort standen zwei PCs zur kostenlosen Nutzung bereit. Offenbar hatte an diesem stürmischen Morgen niemand Lust, die Nase in ein Buch zu stecken. Jedenfalls war Jade allein der Schiffsbücherei. Gespannt fuhr sie einen der Computer hoch.

Zunächst versuchte sie, etwas über den Juwelenraub herauszufinden. Mit den Suchbegriffen „Schmuck“ und „MS Kyrene“ landete sie mehr als genug Treffer. Jade las als Erstes den Artikel einer Tageszeitung:

FLUCHT AUF LUXUSLINER VEREITELT

Ganz standesgemäß wollte sich der mehrfach vorbestrafte George M. (52) ins Ausland absetzen. Er beschaffte sich unter falschem Namen ein Ticket für die MS Kyrene, um eine Kreuzfahrt zum norwegischen Nordkap anzutreten. Im Gepäck: Die Beute aus dem Juwelenraub im Auktionshaus Morningdale (wir berichteten), deren Gesamtwert auf mehr als eine halbe Million Pfund Sterling geschätzt wird. Doch die Flucht fand ein schnelles Ende. George M. wurde von einem aufmerksamen Passagier erkannt. Der Kapitän alarmierte daraufhin die norwegischen Behörden. Eine Spezialeinheit der Polizei kam an Bord. George M. konnte fliehen, wurde jedoch wenig später von den Beamten verhaftet. Er leistete keinen Widerstand. Bei Befragungen gab er an, die Beute über Bord geworfen zu haben. Eine sofortige Durchsuchung des Schiffs ergab keinen Hinweis auf den Verbleib der Juwelen. Der Verbrecher wurde nach Großbritannien ausgeliefert, wo ihm wegen Raub und schwerem Diebstahl der Prozess gemacht wurde. Da George M. mehrfach vorbestraft ist und eigentlich auf Bewährung auf freiem Fuß war, verurteilte ihn das Königliche Gericht zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren ohne Bewährung.

Jade dachte über den Artikel nach. Sie musste schmunzeln, als sie sich die Durchsuchung der MS Kyrene vorstellte. Wenn die Polizisten wirklich in jedem Winkel nachgeschaut hätten, wären sie wahrscheinlich immer noch damit beschäftigt. Ob man bei der Suche nach Schmuck Spürhunde einsetzen konnte? Daran hatte Jade so ihre Zweifel.

Auf jeden Fall war es möglich, dass sich die Juwelen immer noch an Bord befanden. Deshalb suchte Roxanne offenbar so fieberhaft danach. Ob sie auch etwas mit dem Juwelendieb zu tun hatte? Sein Name, den die Zeitung auf George M. verkürzt hatte, lautete George Milner. Das las Jade in anderen Beiträgen im Internet.

Eine Verbindung zwischen Roxanne White und George Milner konnte Jade jedoch nicht finden. Allerdings bestätigte sich ihr Verdacht, dass Roxanne alles andere als ein internationales Topmodel war. Im Netz gab es lediglich ein Foto von Roxanne im Bikini, das für den Reklamekalender einer Spedition in Birmingham aufgenommen worden war. Doch das war Jade herzlich egal. Für sie zählte nicht Roxannes fragwürdige Modelkarriere, sondern der Mord.

Wer war das Opfer gewesen?

Auf diese Frage fand Jade einfach keine Antwort. Ann hatte in ihrem Videotagebuch keine genauen Angaben über den Mann hinterlassen, der niedergeschlagen und über Bord geworfen worden war.

Den Mann? Jade wurde stutzig, als sie über diesen Punkt nachdachte.

Ann hatte Roxanne ja anscheinend für einen Mann gehalten. Konnte dann nicht auch das Mordopfer eine Frau gewesen sein?

Jade schüttelte den Kopf. Sie kam so nicht weiter. Dafür fehlten ihr entscheidende Informationen.

Als Nächstes gab sie als Suchbegriff „Ann Brockwell“ ein.

Wie sich schnell herausstellte, stammte Ann wirklich aus einer sehr reichen Familie. Ihr Urgroßvater hatte die Privatbank Brockwell & Sons gegründet. Jade verstand wenig bis nichts vom Finanzmarkt, aber anscheinend war die Bank dank cleverer Investitionen halbwegs unbeschadet durch die Wirtschaftskrise gekommen.

Ann war auf einer sehr exklusiven Privatschule gewesen. Ein Klassenfoto auf der Homepage dieses Internats zeigte Ann gemeinsam mit ihren Mitschülerinnen. Auf diesem Foto lächelte Ann glücklich und schaute strahlend in die Kamera.

Bei dem Anblick verspürte Jade einen Stich. Ann tat ihr plötzlich sehr leid. Momentan lachte sie mit Sicherheit nicht – falls sie überhaupt noch lebte. Jade wollte diesen Gedanken nicht zulassen, aber er drängte sich ihr immer wieder auf. Doch solange es keinen handfesten Beweis für Anns Tod gab, weigerte Jade sich, daran zu glauben.

Sie musste sie finden. Denn Ann war der Schlüssel zu diesem Fall, das spürte Jade ganz deutlich. Wenn ihre Vorgängerin wieder auftauchte, dann konnten sowohl der Mord als auch der Juwelendiebstahl aufgeklärt werden.

„Hey, Jade.“

Jade zuckte zusammen und drehte sich überrascht um. Sie war so in ihre Recherche vertieft gewesen, dass sie Rick gar nicht bemerkt hatte. Er stand an der offenen Tür der Schiffsbücherei und kam nun auf sie zu.

Schnell, fast schon panisch, klickte Jade die Seite mit ihrer Suchmaschinen-Abfrage weg. Sie hatte nichts gegen Rick, eigentlich fand sie ihn sogar ziemlich aufregend. Aber sie wollte ihn nicht in ihre Nachforschungen einbeziehen. Es reichte, dass sie Henry eingeweiht hatte – der bisher noch nichts über Peter herausgefunden hatte.

„Hallo, Rick“, erwiderte sie und klickte auf eine Homepage, die detaillierte Wetterberichte für die britischen Inseln anzeigte. „Ich habe mir gerade angeschaut, wie das Wetter werden soll. Ich meine, es ist ja ganz schön stürmisch geworden.“

„Ja, aber diese Seite wird dir nichts bringen. Dort wird nur das Wetter im guten alten England gezeigt. Wir sind hier aber vor der norwegischen Küste.“

„Oh, natürlich. Wie dumm von mir.“

Jade fühlte sich unwohl und wurde nervös. Lag es daran, dass Rick sie die ganze Zeit anschaute? Es war fast, als hätte er sie bei etwas Verbotenem ertappt. Dabei lächelte er sie so vertrauenswürdig an, dass … Jade wusste es nicht. Sie fühlte sich zu Rick hingezogen, aber da war auch noch Peter. Die beiden hätten nicht unterschiedlicher sein können. Für Jade war es sehr schmeichelhaft, dass beide Interesse an ihr zeigten. Gleichzeitig fühlte sie sich davon auch überfordert. Erst hatte es monatelang überhaupt keinen Typen in ihrem Leben gegeben, und nun wollten gleich zwei etwas von ihr.

„Ist alles okay mit dir, Jade? Du wirkst so … unruhig.“

Sie sprang von ihrem Bürostuhl auf, wobei sie diesen beinah umstieß. In diesem Augenblick wurde Jade bewusst, dass sie immer noch ihren Sportdress trug. Es bestand aus einem ärmellosen Top aus atmungsaktivem Stoff sowie einer knielangen engen schwarzen Hose aus einem ähnlichen Material, dazu Sportschuhe. Obwohl ihr Outfit nicht gerade provokativ war, betonte es doch ihre gute Figur.

Jade hatte jedenfalls das Gefühl, Rick würde sie mit seinen Blicken ausziehen. Ihr kam es fast vor, als stünde sie nackt vor ihm. Oder bildete sie sich das nur ein, und sie benahm sich völlig hysterisch?

Rick näherte sich ihr jedenfalls nicht, das konnte sie ihm nicht unterstellen. Er hielt Distanz und hielt die Hände hinter dem Rücken, wodurch seine breiten Schultern und kräftigen Armmuskeln besser zur Geltung kamen. Aber sein Gesichtsausdruck – halb wissend, halb neugierig. Jade fühlte sich, als könnte er direkt in ihre Seele blicken. Was natürlich völliger Unsinn war.

Aber es knisterte gewaltig zwischen ihnen.

Dafür war es gar nicht notwendig, dass auch nur ein einziges Wort fiel. Jade suchte verzweifelt nach einem unverfänglichen Thema. Einerseits wäre sie am liebsten geflohen. Andererseits wollte sie sich nicht wie eine unerfahrene Jungfrau vor dem ersten Kuss benehmen. Immerhin war sie bald einundzwanzig Jahre alt und hatte schon ein paar Dinge erlebt.

„Du hast ja ein cooles Tattoo“, platzte sie schließlich heraus. Dabei kam sie sich dämlich vor, aber etwas Besseres war ihr einfach nicht eingefallen. Sie deutete auf Ricks rechten Oberarm. Dort waren die gotisch aussehenden Buchstaben R und M miteinander verschlungen. Um sie herum hatte der Tätowierer eine Art Dornengirlande in raffinierten Violett-Tönen gestochen. Das sah einerseits gefährlich, aber andererseits auch sehr anziehend aus. Genau wie Rick selbst.

„Gefällt es dir, Jade? Die Buchstaben stellen meine Initialen dar. Ein genialer Tattoo-Künstler aus dem Londoner East End ist dafür verantwortlich. Der Mann ist wirklich begnadet.“

„Ja, aä … Ich muss jetzt wirklich los, mein Malkursus fängt sonst ohne mich an.“

Um zum Ausgang zu gelangen, musste sie an Rick vorbeigehen. Er versperrte ihr nicht den Weg, doch er berührte ganz kurz und sanft mit dem Zeigefinger ihre linke Wange.

„Ich kann es kaum erwarten, mich mit dir in der Schiffskantine zu treffen“, sagte er leise. Seine Stimme war wie ein sanftes Streicheln.

Jade konnte nur stumm nicken. Seine Berührung war ihr durch und durch gegangen. Nun erkannte sie, dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen Rick und Peter gab.

Vor Peter fürchtete sie sich nicht.

Zu Rick hingegen fühlte Jade sich sehr hingezogen – zu sehr. Bei ihm musste sie verflixt aufpassen. Wenn sie sich zu sehr auf ihn einließ, konnte sie sich selbst verlieren.