9. KAPITEL

Rick wandte den Kopf zur Seite und kniff die Augen zusammen. Jade spürte, dass ihm die Unterbrechung des Gesprächs gar nicht recht war. Aber Roxanne war eine Passagierin, die zudem noch am Tisch des Kapitäns ihre Mahlzeiten einnahm. Er musste ihre Wünsche ernst nehmen, wenn er nicht in Teufels Küche kommen wollte.

Nach kurzem Zögern trat Rick einen Schritt rückwärts und vollführte eine ironische Verbeugung. „Wie Sie wünschen, Miss. – Wir sehen uns noch, Jade.“

Mit diesen Worten wandte er sich ab und verließ das Sonnendeck. Jade hätte nichts dagegen gehabt, ihn nie wiederzusehen. Aber ihre Situation hatte sich nicht besonders verbessert.

Jetzt war sie allein mit Roxanne. Und sie war bestimmt nicht gekommen, weil sie Jades beste Freundin werden wollte. Schließlich hatte sie sie erst vor ein paar Stunden vom Felsen gestoßen. Jade machte sich keine Illusionen und stellte sich innerlich schon auf einen knallharten Zweikampf ein.

Doch Roxanne machte nur eine knappe Bewegung mit dem Kinn und wies Richtung Unterdeck. „Lass uns in deine Kabine gehen, Jade. Ich habe mit dir zu reden. Oder hockt da dein Freund?“

Panik stieg in ihr auf. Wie viel wusste Roxanne bereits? „Was für ein Freund? Ich habe keine Ahnung, wovon du redest“, erwiderte Jade abweisend.

Roxanne stieß einen verächtlichen Laut aus. „Nein, natürlich nicht. – Los, gehen wir.“

Jade blieb nichts anderes übrig, als darauf einzugehen. Roxanne wusste jedenfalls, dass Peter ein blinder Passagier war. Und sie hatte auch begriffen, dass Jade ihn kannte. Um Peter zu schützen, musste Jade verhindern, dass Roxanne mit diesem Wissen zum Kapitän ging.

Wenig später standen sie sich in Jades Kabine gegenüber. Roxanne lächelte zuckersüß und schloss die Tür.

„Nun sag schon, was du von mir willst!“ Jade bemühte sich, selbstbewusst aufzutreten.

„Warum denn so kratzbürstig? Ich hoffe nur, dass du zu deinem Freund, dem blinden Passagier, netter bist.“

Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. „Woher weißt du das, Roxanne?“

„Oh, ich habe zwei und zwei zusammengezählt. Es heißt zwar immer, Blonde wären blöd. Aber ich bin da wohl eine Ausnahme. Ich habe gesehen, wie du diese selten hässlichen Männerklamotten gekauft hast. Als ich mir wenig später deine Kabine vorgenommen habe, konnte ich sie aber nirgendwo finden. Das hat mich schon etwas misstrauisch gemacht.“

Wütend fuhr Jade sie an: „Du warst es also! Du hast meine Sachen durchwühlt, die Videokamera und das Notebook geklaut!“

„Du merkst aber auch alles, Süße. Das war eine kleine Rache dafür, dass du mir so auf die Nerven gegangen bist.“

„Ach, wirklich?“, entgegnete Jade höhnisch. „Und warum hast du die Videokamera dann im Wäscheschrank versteckt, statt sie über Bord zu werfen? Oder hoffst du darauf, dass Ann dich nicht erkannt hat, als du den Kerl umgebracht hast?“

„Was für eine Ann? Und ich soll eine Mörderin sein? Bist du jetzt völlig ausgetickt?“ Roxanne schien nicht wütend, sondern nur grenzenlos überrascht zu sein.

Dadurch verwirrte sie Jade vollends. Sie verdrehte die Augen. „Ann Brockwell, meine Vorgängerin – ihr gehörte die Videokamera. Und sie berichtet in ihrem Videotagebuch von einem Mord, den sie auf der MS Kyrene beobachtet hat.“

Sichtlich genervt betrachtete Roxanne ihre Fingernägel. „Mag sein, aber ich habe niemanden umgelegt. Glaube es oder lasse es bleiben. Ich habe die Kamera und das Notebook im Schrank versteckt, weil ich vielleicht gar nicht so fies bin, wie du glaubst. Ich wollte dir nur eine Lektion erteilen.“

Sie zuckte die Schultern. „Ich weiß ja, dass du arm bist wie eine Kirchenmaus. Darum hätte ich dir die Sachen später zurückgegeben.“

Langsam ging sie in der Kabine auf und ab. „Aber zurück zu deinem Freund, dem blinden Passagier. Ich habe ihn ein wenig ausgehorcht und weiß jetzt, dass er kein Ticket hat. Was meinst du, Jade? Soll ich zum Kapitän gehen und ihm davon erzählen? Soll ich ihm auch noch sagen, wie tatkräftig du deinen Typen unterstützt hast?“

Jade verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Mach doch, was du willst. Dann bin ich eben meinen Job los. Und dann hast du deine Rache, du konntest mich doch von Anfang an nicht ausstehen.“

„Und das beruht ja auf Gegenseitigkeit, oder etwa nicht?“ Roxanne presste die Lippen aufeinander. „Aber ich bin bereit, mein Wissen für mich zu behalten. Vorausgesetzt, du erweist mir einen kleinen Gefallen.“

„So etwas nennt man Erpressung.“

„Wie auch immer. Ich bin etwas knapp bei Kasse.“

„Hast du die Juwelensuche schon aufgegeben?“

„Juwelensuche?“ Roxanne lachte. „Du hast wirklich eine blühende Fantasie! Glaubst du, ich greife den reichen alten Ladys in die Schmuckschatullen? Daran habe ich nun wirklich nicht gedacht.“

Jade wusste nicht mehr, was sie glauben sollte. Also war Roxanne gar nicht hinter den Juwelen her? Dann konnte sie auch keinen Komplizen ermordet haben, der an der Schmucksuche beteiligt gewesen war. Sicher, Roxanne konnte ihr natürlich auch Lügen auftischen – aber warum sollte sie das jetzt tun? Jade fiel kein Grund ein. Offenbar sagte Roxanne die Wahrheit. „Sprich weiter! Du warst an der Stelle, wo du mich erpressen wolltest.“

„Ja, richtig.“ Roxanne überging Jades ironischen Tonfall. „Wie gesagt, ich brauche Geld. Ich war auf der Suche nach ein paar reichen alten Passagieren, die ich um ihr Vermögen erleichtern könnte. Aber es ist natürlich viel einfacher, wenn ich mich an dich halte.“

Das war es also, was sie im Gespräch mit Nelligan gemeint hatte! Roxanne war gar nicht hinter den Juwelen her, sondern wollte wohlhabende Männer umgarnen – um sie anschließend auszunehmen. Trotzdem verstand Jade nicht, was sie von ihr wollte. „Okay, aber wie komme ich da ins Spiel? Ich bin arm wie eine Kirchenmaus, das hast du eben selbst gesagt.“

„Stimmt genau, Süße. Allerdings ist es für dich ein Leichtes, die Schlüssel des Zahlmeisters auszuleihen. Und der hat mindestens 50.000 Pfund in bar im Schiffstresor, das weiß ich zufällig. Ich erwarte also von dir, dass du dieses Geld beschaffst und deiner lieben Freundin Roxanne übergibst.“

Jade konnte nicht fassen, was sie da hörte. Fast hätte sie laut gelacht. „Nein – das mache ich auf keinen Fall!“

„Schade, Jade. Denn dann wird der Kapitän noch heute Nacht erfahren, dass ein blinder Passagier an Bord ist.“

Jade schüttelte den Kopf. „Eines kapiere ich nicht, Roxanne. Vorhin hast du mich noch in den Abgrund gestoßen – das warst du doch, oder nicht? Du wolltest mich tot sehen. Und jetzt willst du, dass ich dir helfe?“

„Tot?“ Roxanne lachte ihr ins Gesicht. „Man stirbt nicht, wenn man von einem etwas größeren Steinchen herunterpurzelt. Ich wollte dir nur eine Lektion erteilen, Jade. Aber lebendig bist du mir von viel größerem Nutzen. Du glaubst gar nicht, wie ich es genieße, dich in der Hand zu haben.“ Sie lächelte böse.

Fieberhaft dachte Jade nach. Sie war in einer ausweglosen Lage. Wenn sie sich weigerte, die Bordkasse zu plündern, würde Roxanne sie sofort an den Kapitän verraten. Wenn sie aber wirklich den Tresor ausräumte, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie entlarvt wurde. Und bis dahin würde Roxanne mit dem Geld längst über alle Berge sein. Momentan gab es nur eins, was Jade tun konnte: Sie musste zum Schein auf die Erpressung eingehen, um Zeit zu gewinnen.

„Also gut.“ Sie seufzte. „Ich werde es tun, und zwar noch heute Nacht. Aber ich will dabei allein sein. Es ist riskant genug, in das Büro des Zahlmeisters einzudringen.“

„Klar, ich komme nicht mit. Oder glaubst du, ich will mit dir zusammen auf frischer Tat ertappt werden? Aber man wird dich nicht erwischen, da bin ich mir sicher. Du wirst alles tun, damit die Sache glattgeht, nicht wahr?“ Drohend hob sie den Zeigefinder. „Ich komme morgen früh in deine Kabine, Jade. Dann gibst du mir das Geld – und du kannst mit deinem Freund, dem blinden Passagier, noch eine romantische Kreuzfahrt verbringen.“

Jade ließ Roxannes Hohn zähneknirschend über sich ergehen. Sie hatte nicht vor, straffällig zu werden. Nervös ging sie auf und ab, nachdem Roxanne die Kabine verlassen hatte.

Vielleicht würde Peter sich ja freiwillig stellen. Dann hätte Roxanne kein Druckmittel mehr in der Hand. Ja, das war ein guter Plan. Peter empfand etwas für Jade, das wusste sie genau. Er würde nicht zulassen, dass sie seinetwegen in ernsthafte Schwierigkeiten geriet.

Am besten sie redete sofort mit ihm. Sie musste ihn nur noch finden … Jade seufzte. Doch sie machte sich damit Mut, dass sie bei der Suche nach Peter in vielen Räumen des Schiffs nachsehen musste. Sie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, auch das Gefängnis von Ann Brockwell irgendwo in dem riesigen Schiffsrumpf zu entdecken. Sie hatte sich also für diese Nacht viel vorgenommen.

Doch das allein sorgte nicht dafür, dass Jade immer nervöser wurde.

Roxanne war nicht die Mörderin. Dann lief der wahre Täter immer noch frei auf der MS Kyrene herum. Und Jade hatte nicht die leiseste Ahnung, wer er sein könnte.