3. KAPITEL
Jade biss sich auf die Zunge, um nicht laut zu schreien.
Ob das derselbe Unheimliche war, der Ann Brockwell gedroht hatte?
Jade wusste es nicht. Instinktiv presste sie sich so eng wie möglich gegen die Metallwand. Auf keinen Fall wollte sie von dem seltsamen Typen gesehen werden.
Aber das war gar nicht so einfach, denn das Deck war hell erleuchtet. Es gab kaum Ecken, in denen man sich vor neugierigen Blicken verbergen konnte. Am einfachsten wäre es gewesen, schnell wieder unter Deck zu huschen … Dafür hätte Jade allerdings die Tür wieder öffnen müssen, und das würde der Schwarzgekleidete garantiert bemerken.
Er war nur einen Steinwurf weit von Jade entfernt. Er hatte sie nur noch nicht gesehen, weil er bisher nicht in ihre Richtung geblickt hatte. Nun schwang er sich über die Reling und landete auf dem Deck. Er war schlank und hochgewachsen. Und sportlich musste er sein, sonst hätte er die Seilkletterei wohl kaum erfolgreich hinkriegen können. Was hatte der Typ an Bord zu suchen?
Urplötzlich drehte er sich um. Ob er gespürt hatte, dass sie ihn anstarrte?
Sie hatte keine Ahnung. Aber Jade stellte fest, dass er nicht vermummt war. Sie schaute für Sekunden in sein überrascht wirkendes Gesicht. Bedrohlich wirkte er eigentlich nicht, eher genauso verblüfft wie sie. Außerdem sah er gar nicht schlecht aus …
Bevor sie ihn ansprechen konnte, rannte er davon. Jade konnte ihm nur verwirrt hinterhersehen. Auch er trug Sportschuhe, jedenfalls machten seine Schritte keine Geräusche auf dem stählernen Deck. Jade sah noch, dass er einen kleinen Rucksack bei sich trug. Was er damit wohl vorhatte?
Sie wollte ihm gerade nacheilen, als er eine Tür aufriss und im Inneren des Kreuzfahrtschiffs verschwand.
Jade fand erst jetzt ihre Sprache wieder. „Hey, was haben Sie hier zu suchen? Kommen Sie zurück!“
Natürlich tat er das nicht. Wahrscheinlich hatte er sie schon gar nicht mehr hören können und war unter Deck schnurstracks weitergerannt.
Ob sie ihm folgen sollte? Jade war kein Feigling, wollte aber auch nicht auf Biegen und Brechen die Heldin spielen. Immerhin konnte sie nicht ausschließen, dass der Kerl bewaffnet war. Es wäre auf jeden Fall besser, Hilfe zu holen.
Aber wo?
Die Gangway war nachts bestimmt bewacht. Sonst konnte ja jeder an Bord kommen. Und der Schwarzgekleidete hätte bequem über die Gangway spazieren können, statt sich an einem Tau auf die MS Kyrene zu hangeln.
Die Gangway befand sich mittschiffs. Jade rannte dorthin. Schon von weitem sah sie einen großen breitschultrigen Matrosen, der lässig an der Reling lehnte. Er hatte sie noch nicht bemerkt. Im Näherkommen sah Jade, dass er über einen MP3-Player Musik hörte. Erst als sie in seinem Gesichtsfeld war, zog er die Ohrstöpsel heraus und grinste sie an.
Es war nicht derselbe Matrose, der die Namensliste kontrolliert hatte. Dieser Typ hatte die Figur eines Bodybuilders und wollte offensichtlich genau eins auf diesem Schiff: Spaß. Seine Blicke ließen keinen Zweifel daran, dass er in Flirtlaune war. Vielleicht erhoffte er sich auch nur eine Abwechslung bei seiner langweiligen Nachtwache.
„Hallo“, sagte Jade außer Atem. „Du kennst mich noch nicht, aber ich bin die neue Animateurin.“
„Doch, ich weiß, wer du bist. Ich musste vorhin am Spotlight vorbei, da habe ich gesehen, wie du den Laden gerockt hast. Dein Tanzwettbewerb ist wohl super angekommen bei den Passagieren, gratuliere. Und du siehst in einem Minikleid verdammt sexy aus. Ich bin übrigens Bruce.“
„Danke, Bruce. Aber ich wollte eigentlich nicht über den Tanzwettbewerb reden. Ich habe gerade gesehen, wie ein schwarz gekleideter Typ an Bord geklettert ist.“
„Hey, das ist cool! Machst du jetzt auch ein Detektivspiel, so eine Art rätselhaften Mörderjagd? Auf diese Idee sind die anderen Animateurinnen noch nicht gekommen. Aber du solltest deinen Rätselkrimi lieber tagsüber ablaufen lassen. Der Kapitän sieht es nicht gern, wenn die Passagiere die ganze Nacht lang durch das Schiff geistern.“
Jade riss die Augen auf. Dieser Matrose mit der Figur eines Türstehers glaubte ernsthaft, sie würde mitten in der Nacht eine Bespaßung für die Urlauber planen? „Bruce, da ist wirklich jemand auf dem Schiff, der nicht hierher gehört. Er ist an einem Tau an Deck gekommen, ich habe ihn ganz deutlich gesehen. Das hat nichts mit meinem Job als Animateurin zu tun. Mit solchen Dingen mache ich keine Scherze.“
„Du meinst – ein blinder Passagier?“
„Ja, genau.“
„Und du bist sicher, dass du dich nicht getäuscht hast? An Bord eines Schiffes kann es für Mädchen schon manchmal unheimlich sein, vor allem nachts. Da hält man einen Bootskran für ein Monster und einen Lüfterkopf für einen lauernden Vampir.“
„Hallo? Geht’s noch? Ich bin keine hysterische Tussi, falls du das glaubst. Und ich habe keine Monster und keine Vampire gesehen, sondern einen blinden Passagier. Er hatte sogar einen Rucksack dabei, wenn du es genau wissen willst. Und jetzt suchst du gefälligst nach dem Kerl, wenn du nicht den Ärger des Jahrhunderts kriegen willst!“
Abwehrend hob Bruce beide Hände. Er lächelte und zeigte Jade damit, dass er ihr kein Wort glaubte. „Okay, okay. Immer mit der Ruhe. Du musst keine Angst haben, Süße. Du bleibst am besten hier, ich gehe nachschauen.“
Mit wiegendem Seemannsgang setzte er sich in Bewegung. Jade kochte inzwischen innerlich vor Wut. Was bildete sich dieser aufgepumpte Muskelmann eigentlich ein? Sie konnte es nicht ausstehen, wenn man sie nicht ernst nahm. – Ob es Ann Brockwell ähnlich ergangen war? Vielleicht hatte sie sich ja genauso jemand anders als dem Kapitän anvertraut und war nur auf großes Unverständnis gestoßen.
Um das zu erfahren, musste Jade unbedingt den Rest vom Videotagebuch ansehen. Jedenfalls bereute sie es, Bruce um Hilfe gebeten zu haben.
Jade behielt mit ihrer Annahme recht, als Bruce zu ihr zurückkehrte. Er zuckte seine imposanten Schultern. „Da ist niemand zu sehen. Ich glaube, deine Fantasie hat dir doch einen Streich gespielt.“
„Wahrscheinlich. Da kann man nichts machen. Ich danke dir trotzdem – und weiterhin viel Spaß beim Musikhören.“ Sie ließ den verdutzt dreinblickenden Bruce stehen.
Was ist ein Wachposten eigentlich wert, dem die Ohren von den Bässen seines MP3-Players dröhnen, fragte Jade sich im Gehen ärgerlich. Zwanzig Piraten hätten die MS Kyrene entern können, ohne dass Bruce auch nur etwas davon mitbekommen hätte. Und dann seine Herablassung gegenüber Jade – als ob alle jungen Frauen verängstigte Hühner wären!
Aber es hatte keinen Sinn, sich über den Kerl aufzuregen. Jade ging davon aus, dass Bruce nicht gerade intensiv gesucht hatte. Aber wo hätte Bruce den Schwarzgekleideten auch aufstöbern sollen? Unter Deck bot das Schiff unzählige Versteckmöglichkeiten.
In dem großen weißen Stahlrumpf der MS Kyrene war ein dunkles Geheimnis verborgen. Daran zweifelte Jade nicht. Ob Ann Brockwells Videotagebuch der Schlüssel zu dem Mysterium war?
Als Jade wieder in ihrer Kabine war, wurde sie endgültig von Müdigkeit und Erschöpfung überwältigt. Sie kam noch nicht einmal dazu, ihre Jogginganzug aus- und den Schlafanzug anzuziehen. Sobald sie sich auf ihre Koje fallen gelassen hatte, wurde sie sofort von einem tiefen Schlaf übermannt.
Und eins, zwei, drei, vier, fünf – Wechsel zum linken Bein. Wieder eins, zwei …“
Jade war selbst überrascht, dass sie nach der vergangenen Nacht ausgeruht und frisch geduscht auf dem Promenadendeck erstmals ihr Power Workout für Frauen abhielt. Sie hatte eigentlich erwartet, völlig übernächtigt und reizbar zu sein. Doch sie war tatsächlich fit. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie in der Regel sehr gesund lebte, sie trank gerne Gemüsesäfte und Eiweißdrinks. Zwar hatte sie auch eine Schwäche für Schokolade, aber ihre Figur hatte darunter bisher nicht gelitten. Dafür trieb sie auch zu viel Sport.
Das herrliche Wetter trug sicher auch dazu bei, dass es ihr so gut ging. Über den Dächern von Oslo schien die strahlende Frühlingssonne. Der Himmel war wolkenlos, und man konnte weiter entfernte Berggipfel entlang des Oslo-Fjords sehen. Vom Promenadendeck der MS Kyrene hatte man einen Panoramablick auf die Stadt. Jade bedauerte beinah, dass sie keine Zeit für einen Stadtbummel in Oslo gehabt hatte. Und das würde sie auch nicht mehr, denn das Kreuzfahrtschiff sollte am Vormittag ablegen.
Insgesamt acht Frauen hatten sich auf Jades frühmorgendliches Gymnastikprogramm eingelassen. Zu ihnen gehörte leider auch Roxanne. Das selbsternannte Topmodel trumpfte in einem Designer-Fitnessoutfit auf und gab sich alle Mühe, die anderen Frauen in den Schatten zu stellen. Allerdings war ihre Gelenkigkeit nicht halb so groß wie ihr Ego, wie Jade amüsiert feststellte. Roxanne war zwar groß und schlank, bewegte sich aber ungefähr so elegant wie eine Ente, die an Land watschelt.
Die anderen Frauen bedankten sich nach dem Ende der Trainingseinheit mit freundlichem Applaus. Nur Roxanne war nicht gerade begeistert.
„Jade, dein sogenanntes Power Workout war ja wohl nur Müll! Mein Personal Trainer würde sich schlapplachen, wenn er deine Übungen sieht.“
Der lacht sich garantiert auch schief, wenn du so entenartig vor ihm herumturnst, dachte Jade. Höflich erwiderte sie: „Es tut mir leid, wenn dir mein Programm nicht gefällt, Roxanne. Zum Glück gibt es ja genügend andere Fitnessangebote auf dem Schiff.“
„Ja, was für ein Segen! Ich renne lieber eine Stunde lang allein auf dem Laufband im Gym, als noch einmal deinen Blödsinn mitzumachen!“
Mit hocherhobener Nase rauschte Roxanne davon. Jade war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Aber dann sagte sie sich, dass man es einem Menschen wie Roxanne ohnehin niemals recht machen konnte. Es überhaupt zu versuchen war reinste Selbstquälerei. Sie konnte höchstens Roxannes aufbrausendem Temperament etwas entgegensetzen, damit die anderen Passagiere nicht unter ihren Starallüren zu leiden hatten.
Jade hatte ihr Power Workout für die Zeit vor dem Frühstück angeboten. Nun gönnte sie sich selbst erst einmal einen Obstsalat und Müsli in der Personalkantine, bevor sie ihre Arbeit fortsetzte. An diesem Tag wollte sie noch einen Mal-Workshop für die älteren Kinder anbieten, die nicht im schiffseigenen Kindergarten untergebracht waren.
Das Tuten der Schiffssirene ertönte, und ein leichtes Zittern ging durch den mächtigen Stahlkörper der MS Kyrene. Der Luxusliner legte ab.
Jade eilte aufs Deck, um sich diesen Anblick nicht entgehen zu lassen. Das Wasser hinter dem Heck sprudelte, die Leinen wurden losgemacht. Immer weiter entfernte sich das große Kreuzfahrtschiff vom Pier, auf dem winkende Schaulustige standen. Die MS Kyrene glitt in das Fahrwasser des Oslo-Fjords und drehte den Bug langsam Richtung offene See.
„Guten Morgen, Jade.“
Sie zuckte zusammen. Wieder einmal hatte sie nicht gemerkt, dass Henry sich neben sie gestellt hatte. Sobald Jade ihn erkannt hatte, lächelte sie ihm freundlich zu. „Guten Morgen! Für dich ist dieses Ablege-Manöver wahrscheinlich schon Gewohnheit. Aber ich bin von dem Anblick ganz hin und weg.“
„Echt? Ich finde eigentlich, dass du bedrückt wirkst. Oder zumindest nachdenklich.“
„Sieht man mir so genau an, was in mir vorgeht? Das ist aber gar nicht gut.“
Henry zwinkerte ihr zu. „Anderen Leuten fällt es wahrscheinlich gar nicht auf. Aber ich bin sicher, dass dich etwas beschäftigt.“
Jade beschloss, Henry zumindest in einen Teil der Geheimnisse einzuweihen. Von dem Videotagebuch erzählte sie ihm allerdings noch nichts. Stattdessen berichtete sie von ihren nächtlichen Beobachtungen und Bruces Reaktion.
Henry grinste, als er davon hörte. „Bruce ist ein Null-Checker. Viele Muskeln, wenig Hirn. Das musst du nicht persönlich nehmen. Allerdings ist es wirklich schwer, jemanden von deinem Erlebnis zu überzeugen. Ich würde mir an deiner Stelle dreimal überlegen, ob du damit zum Kapitän gehst.“
„Wieso?“, fragte sie aufmerksam nach.
„Angenommen, er glaubt dir. Dann wird er das Ablege-Manöver umgehend abbrechen, und wir legen wieder in Oslo an. Der Kapitän lässt das Schiff von der norwegischen Polizei durchsuchen. Das kann dauern, du weißt ja, wie groß die MS Kyrene ist. Und was passiert, wenn die Beamten den blinden Passagier nicht finden?“
„Was soll das denn heißen? Glaubst du mir etwa auch nicht?“
„Das hat nichts mit Glauben zu tun, Jade. Aber wenn die Polizisten erst an Bord sind, wird das dem Kerl nicht entgehen. Er wird Lunte riechen, weil er eben nicht geschnappt werden will. Vielleicht ist es ein Krimineller, der illegal das Land verlassen muss. Er schleicht wieder davon, um sein Glück auf einem anderen Schiff zu versuchen.“ Henry zuckte die Schultern. „Die Möglichkeit besteht zumindest. Und wenn die Polizei dann keinen blinden Passagier findet, möchte ich nicht in deiner Haut stecken. Kapitän Granger kann sehr unangenehm werden, glaube mir.“
Daran hatte Jade keinen Zweifel. Sie war Henry dankbar, weil er sie darin bestärkt hatte, nicht mit Granger zu reden. Weder über den Typen, der sich an Bord geschlichen hatte, noch über das Videotagebuch. Irgendwie war es auch verständlich, wenn sich der Kapitän über Zwischenfälle derart aufregte. Die MS Kyrene musste für die Kreuzfahrt einen strengen Zeitplan einhalten. Wenn es wegen einer erfolglosen Polizeiaktion zu Verzögerungen kam, war Ärger vorprogrammiert.
Und dann würde Jade ihren Job genauso schnell verlieren, wie sie ihn bekommen hatte.
Henry legte ihr beruhigend die Hand auf den Unterarm. „Es kann nichts schaden, die Augen offen zu halten, Jade. Ich werde auch darauf achten, ob ich irgendwo Spuren eines blinden Passagiers finde. Schließlich kenne ich das Schiff wie meine Westentasche. Und wenn wir handfeste Beweise haben, können wir immer noch zum Kapitän gehen.“
„Ja, das ist gut“, erwiderte sie zerstreut. „Ich würde gern weiter mit dir reden, aber ich muss jetzt erstmal meinen Malkursus auf den Weg bringen. Sonst denkt der Kapitän wirklich noch, ich wollte hier kostenlos Urlaub machen.“
„Alles klar, Jade. Wir sehen uns später.“
Um die Malutensilien zu bekommen, ging Jade zum Zahlmeister. Watson war nicht nur für das Geld, sondern auch für alle Materialien an Bord verantwortlich. Scheinbar gab es nichts, was den Passagieren an Bord der MS Kyrene fehlen konnte – aber alles lief durch die Hände des Zahlmeisters.
„Ja, natürlich haben wir Farben, Pinsel und Malpapier in unseren Vorräten“, sagte Watson, nachdem sie ihr Anliegen geschildert hatte. „Die früheren Animateurinnen haben auch gern Malstunden für die Kinder angeboten.“
Er klickte sich durch mehrere Dateien und fand schließlich eine Liste, der er entnahm, in welchem Lagerraum Jade finden würde, was sie brauchte. Dann erklärte er ihr den Weg und reichte ihr seinen riesigen Schlüsselbund.
Müde lehnte er sich wieder in seinem Bürostuhl zurück. „Die Schlüssel bringen Sie mir dann aber bitte wieder zurück, Miss Walker.“
Jade versprach es und eilte wenig später in die Tiefen des Schiffsrumpfes. Aber entweder war Watsons Wegbeschreibung falsch, oder ihr Orientierungsvermögen ließ zu wünschen übrig. Jedenfalls hatte sie sich nach kurzer Zeit verlaufen.
Ist ja kein Wunder, dachte sie missmutig. Die aus grauen Stahlplatten bestehenden Gänge sahen alle gleich aus. Zwar gab es hier und da Hinweispfeile mit Bezeichnungen wie „II ZD BB A“. Aber die verwirrten Jade nur noch mehr.
Einmal begegnete sie einem Matrosen, den sie sofort nach dem Weg fragte. Doch er schüttelte nur den Kopf. „Ich bin Maschinist. In den Vorratsbunkern bin ich noch nie gewesen.“
Bevor Jade eine weitere Frage stellen konnte, war der Mann schon zum nächsten Niedergang geeilt. Seufzend ging Jade weiter. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass sie jemanden traf, der sich auskannte. Falls nicht musste sie wahrscheinlich stundenlang hier herumlaufen. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass der Zahlmeister irgendwann sein Schlüsselbund vermissen würde. Spätestens dann würde wohl jemand nach ihr suchen.
Ob Ann vielleicht auch noch irgendwo durch die Gänge irrt, fragte sie sich plötzlich und schüttelte gleich darauf den Kopf. Seit sie auf diesem Schiff war, hatte sie nur noch merkwürdige Ideen und Fantasien.
Jade bog um eine Ecke und blieb abrupt stehen. Ein Schraubenschlüssel war haarscharf an ihrem Gesicht vorbeigeflogen! Krachend knallte er gegen die stählerne Wand und fiel zu Boden.
Jade erschrak, aber sie war eher wütend als ängstlich. „Spinnst du? Beinah hättest du mich getroffen!“, rief sie, ohne denjenigen zu sehen, der den Schraubschlüssel durch den Gang geschleudert hatte.
Im nächsten Moment sah sie ihn. Nach seiner Kleidung zu urteilen, war er auch Matrose. Da hatte sie sich jedoch schon mal geirrt. Eigentlich sieht er auch verflixt gut aus, schoss es Jade durch den Sinn. Normalerweise stand sie nicht besonders auf dunkelhaarige Männer. Aber dieser hatte eine Ausstrahlung, die sie faszinierte. Vielleicht lag es an seinen sehr ausdruckvollen dunkelbraunen Augen, in denen sie momentan nur Erschrecken und Bedauern las.
„Hey, das … das wollte ich nicht. Ist dir etwas passiert?“ Seine Stimme war tief und weich wie Samt.
Er kam auf Jade zu, bis er unmittelbar vor ihr stand. Sanft berührte er sie an den Oberarmen und sah ihr direkt in die Augen. Seine Pupillen hatten etwas Unergründliches. Jade spürte, dass sie weiche Knie bekam. Dieser Typ war wirklich ungewöhnlich. Trotzdem konnte sie ihn nicht einfach so anhimmeln! „Wirfst du einfach aus Spaß mit Werkzeug um dich?“, fragte sie provokant. „Oder ist das ein spezieller Sport von dir?“
Während sie redete, blickte sie neugierig an ihrem Gegenüber vorbei. Hinter dem Typen war eine offen stehende Luke. Es roch stark nach Maschinenöl. Im Halbdunkel sah sie Kolben, Rohre sowie Teile einer Schraubenwelle.
Der Matrose hatte ihren interessierten Blick offenbar bemerkt. „Das ist einer der Hilfsmaschinenräume. Ich bin mit der Wartung beauftragt. Die Hilfsmaschinen kommen nur zum Einsatz, wenn die Hauptmaschine ausfällt. Aber leider läuft die Arbeit nicht so, wie sie sollte. Und da bin ich mal kurz ausgerastet und habe den Schraubenschlüssel durch die Gegend gepfeffert.“ Bedauernd seufzte er. „Jedenfalls bin ich froh, dass du nicht verletzt wurdest. Ich bin übrigens Rick. Rick Andrews.“
„Und ich bin Jade Walker, die neue Animateurin.“ Sie reichte ihm die Hand. „Hilfsmaschinenraum, sagst du? Verflixt, da muss ich mich ja mächtig verlaufen haben. Ich wollte eigentlich zu den Vorratsbunkern.“
Sie zeigte Rick den Zettel, auf dem sie sich die genaue Bezeichnung des Raums notiert hatte. Und als sie Ricks Lächeln auffing, konnte sie ihm schon nicht mehr böse sein. Wie hätte er schließlich ahnen sollen, dass sie genau in dem Moment um die Ecke biegen würde? Er hatte sie ja gar nicht sehen können.
„Das ist wirklich ziemlich weit entfernt von hier.“ Er hob den Blick. „Weißt du was, Jade? Ich bringe dich dorthin. Sozusagen als kleine Entschädigung für den Schreck, den ich dir eingejagt habe.“
Dieses Angebot nahm Jade gern an. Nicht nur, weil Rick ihr gut gefiel. Sie war es einfach leid, ihre Zeit mit sinnlosem Suchen zu vergeuden.
Nachdem Rick seinen Werkzeuggürtel abgelegt hatte, gingen sie los.
„Wie gefällt es dir auf der MS Kyrene, Jade?“
„Das Schiff kommt mir vor wie eine schwimmende Stadt. Es gibt an Bord scheinbar alles, was man sich für einen angenehmen Urlaub wünschen kann.“
„Ja, das stimmt. Und die Arbeit ist auch okay, jedenfalls für mich. Von der Technik her macht es keinen Unterschied, ob man auf einem Containerschiff oder einem Luxusliner die Maschinen bedient. Aber die Bezahlung ist besser, und man hat auch öfter mal Landgang.“
„Kann man sich auf einem Containerschiff eigentlich auch so gut verstecken?“
Rick schien ihre Frage lustig zu finden, jedenfalls lachte er trocken auf. „Verstecken? Wieso, willst du dich vor der Arbeit drücken?“
„Unsinn.“ Jade winkte ab. „Das kann man als Animateurin sowieso nicht, denn ich muss ja den ganzen Tag lang Programm für die Passagiere machen. – Nein, ich dachte an blinde Passagiere. Hier auf der MS Kyrene gibt es für solche Leute doch unzählige Versteckmöglichkeiten. Ich habe mich gefragt, ob das auf Containerfrachtern genauso ist.“
„Nein, das sind Riesenkähne mit nur wenigen Männern Besatzung. Also gibt es auch nur wenige Kabinen und Vorratsbunker. Zwischen den Containern kannst du dich zwar verstecken, aber du würdest schnell verhungern und verdursten. Diese Schiffe sind wochenlang auf See, zum Beispiel auf der Route Shanghai – Rotterdam. Aber wie kommst du ausgerechnet auf blinde Passagiere?“
Jade zuckte die Schultern. „Ach, nur so. Ich habe ja keine Ahnung von der Seefahrt, sondern bin eine richtige Landratte. Da frage ich euch Matrosen natürlich ein Loch in den Bauch. Ach, immerhin: Vom Kielholen habe ich schon gehört.“
Sie lachten beide. Während sie weitergingen, musterte Jade ihn neugierig. Die Frage nach den blinden Passagieren schien Rick verblüfft zu haben. Oder kam ihr das nur so vor? Jedenfalls war er nett und charmant und versuchte offenbar, seine misslungene Aktion mit dem Schraubenschlüssel wieder wettzumachen.
„Du bist jedenfalls ganz anders als deine Vorgängerin“, meinte er. „Diese Ann Brockwell war eine richtig eingebildete Ziege. Uns Matrosen hat sie behandelt wie den letzten Dreck. Naja, sie kannte es wohl auch nicht anders. Sie war so ein typisches verwöhntes Millionärstöchterchen.“
Dieses harte Urteil erstaunte Jade. Sie hatte bisher einen ganz anderen Eindruck von Ann gewonnen. Aber sie wollte sich nicht in die Karten schauen lassen. Daher fragte sie nur: „Wie kommst du denn darauf?“
„Findest du es vielleicht normal, dass sie einfach ihren Job hinwirft, weil sie plötzlich keine Lust mehr auf Arbeit hat? So etwas kann sich unsereins doch gar nicht erlauben. Ich wette, Ann hat gleich Anschluss bei der Schickeria von Oslo gefunden und shoppt sich jetzt durch die teuersten Geschäfte der Stadt. Das kann ich mir jedenfalls gut vorstellen“, antwortete Rick.
„Hat sie dir gesagt, dass sie einfach verschwinden wollte?“
„Zu mir? Glaubst du im Ernst, Ann hätte je mit einem nach Maschinenöl riechenden Typen wie mir gesprochen?“
„Das weiß ich nicht“, murmelte Jade. „Ich habe sie ja gar nicht gekannt.“
Jade war durcheinander, obwohl sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Hatte Rick einen bestimmten Grund, so schlecht über Ann zu reden? War er vielleicht bei ihr abgeblitzt und machte nun seinem Frust auf diese Art Luft? Oder hatte Jade mit ihrer bisherigen Einschätzung von Ann völlig danebengelegen? Vielleicht war ihre Vorgängerin wirklich nur eine verwöhnte reiche Göre gewesen, die sich bei der ersten Gelegenheit aus dem Staub gemacht hatte …
Rick stand zumindest in voller Lebensgröße vor ihr. Ann Brockwell hingegen kannte sie nur als ein bewegtes Bild auf dem kleinen Display der Videokamera. Das war wenig, um sie beurteilen zu können. Ansonsten wusste Jade nur, wie die Crewmitglieder und der Kapitän über Ann dachten.
Jade musste mehr erfahren, um sich ein eigenes Urteil zu bilden. Und zwar später, im Augenblick war sie einfach froh, Rick kennengelernt zu haben. Er war ein ganz anderer Typ Mann als der nette fürsorgliche Henry. Rick strahlte etwas Abenteuerliches und Draufgängerisches aus, mit ihm wurde es garantiert nie langweilig. Das sagte ihr jedenfalls ihr Bauchgefühl. Doch bevor sie sich hier auf einen heißen Flirt einließ, musste sie sich auf ihren Job konzentrieren. Schließlich hatte ihr erster kompletter Arbeitstag auf der MS Kyrene gerade erst begonnen.
Ob Rick ahnte, was in ihr vorging? Auf jeden Fall grinste er sie frech an, als sie endlich den Vorratsbunker erreicht hatten.
„So, da wären wir, Jade. Wenn ich sonst noch etwas für dich tun kann …“
Beim Klang seiner Stimme liefen Jade warme Schauer den Rücken hinunter. Dieser Mann konnte ihr wirklich gefährlich werden. „Danke, das ist alles“, erwiderte sie so kühl wie möglich. „Ich muss mich jetzt wieder um meine Arbeit kümmern.“
„Natürlich, ich ja auch. Aber wenn du Hilfe brauchst, weißt du ja, wo du mich findest.“
Rick stand so dicht vor ihr, dass sie seine Körperwärme spürte. Das konnte sie jetzt gar nicht gebrauchen. Jade wollte gerade einen Schritt zurücktreten, als er es tat. Lässig tippte er sich an den Mützenrand, drehte sich um und ging davon. Seine Bewegungen waren so kraftvoll und geschmeidig wie die eines Raubtiers.
Die Begegnung hatte Jade verwirrt.
Einerseits gefiel Rick ihr. Andererseits gehörte er zu den Männern, die sich über ihre Wirkung auf Frauen vollkommen im Klaren waren. Wollte sie sich wirklich mit einem Typen einlassen, der vermutlich keine Gelegenheit ungenutzt ließ?
Was ist denn mit mir los, fragte Jade sich und schüttelte den Kopf. Muss an der neuen Situation liegen. Aber ich habe jetzt wirklich Wichtigeres zu tun.
Nach kurzer Suche hatte sie den passenden Schlüssel zum Vorratsraum gefunden. Sie schaltete das Licht ein und schaute sich um. In den Regalen herrschte vorbildliche Ordnung, und sie entdeckte sofort die passenden Pinsel, Farben und Malblöcke. Sogar Fingerfarben gab es.
Jade packte so viel wie möglich von dem Material zusammen. Dann schloss sie die Tür sorgfältig hinter sich ab. Glücklicherweise gelangte sie sogar zurück zum Büro des Zahlmeisters, ohne sich erneut zu verlaufen. Jade bemühte sich, sich den Weg einzuprägen. Sie wollte Rick nicht so schnell wieder begegnen. Zwar fühlte sie sich zu ihm hingezogen, aber sie fürchtete sich vor der Stärke ihrer Gefühle.
Ihr Exfreund Luke war auch so ein Womanizer wie Rick gewesen – alle Frauen an der Uni himmelten ihn an. Deshalb war Jade sehr stolz gewesen, dass sich ein so gut aussehender Typ für sie entschieden hatte. Leider hatte sie die Augen davor verschlossen, dass er es mit Treue nicht so genau nahm. Jade hatte sich die schmerzliche Wahrheit erst eingestanden, als sie Luke mit ihrer besten Freundin Tiffany im Bett erwischt hatte.
Jade schüttelte sich, als könnte sie dadurch die traurigen Erinnerungen loswerden. Zum Glück war sie kein Mensch, der in Selbstmitleid badete. Und eigentlich schmeichelte ihr auch, dass dieser Rick mit ihr geflirtet hatte. Sie musste ihm ja nicht gleich verfallen, wie es ihr bei Luke passiert war.
Ob Ann Brockwell an Bord eine heiße Affäre gehabt hatte, fragte sie sich unvermittelt. Vielleicht hatte der Kerl ihr das Herz gebrochen, und Ann war daraufhin fortgegangen.
Jade nahm sich vor, die übrigen Crewmitglieder unauffällig auszuhorchen. Garantiert wurde an Bord der MS Kyrene genauso gern geklatscht wie überall anders auf der Welt. Als Erstes könnte sie Henry fragen. Er hatte schließlich damit geprahlt, gut über alles Mögliche an Bord Bescheid zu wissen. Nun, das konnte er ja mal unter Beweis stellen.
Nachdem Jade den Schlüsselbund zurückgegeben hatte, bereitete sie ihren Malkursus in einer windstillen Ecke des Sonnendecks vor. Jetzt musste sie nur noch auf ihr Angebot aufmerksam machen. Sie fragte sich, ob man die Lautsprecheranlage des Schiffs dafür nutzen durfte.
Wenig später stieg Jade den Aufgang zur Kommandobrücke hoch. Sie war noch nie auf dem Brückendeck eines Schiffs gewesen. Obwohl sie sonst nicht schüchtern war, trat sie voller Ehrfurcht auf die eigentliche Kommandobrücke. Der Zutritt war dort für Passagiere verboten. Aber Jade trug während der Arbeit ein lindgrünes Polohemd, auf dem der weiße Schriftzug „MS Kyrene“ prangte. Dieses Uniformstück war für alle nicht seemännischen Besatzungsmitglieder Pflicht, von der Kosmetikerin übers Personal im Souvenir Shop bis zu den Animateuren. Jade gehörte nun auch äußerlich deutlich sichtbar zur Crew.
Ein Matrose stand am Steuerrad neben dem Kreiselkompass und blickte starr geradeaus. Neben ihm lehnte ein Offizier am Radargerät. Er drehte sich in Jades Richtung und nickte ihr zu.
„Guten Morgen. Ich bin Stanley Nelligan, der dritte Offizier an Bord. Ich habe zurzeit Brückenwache. Und Sie müssen die neue Animateurin sein.“
Jade nickte, stellte sich vor und gab ihm die Hand. „Tut mir leid, dass ich Ihren Namen noch nicht wusste, Sir.“
„Kein Problem, in den ersten Tagen kann man sich unmöglich alle Namen merken. Unser Rudergänger ist übrigens Vollmatrose Sean Bradley.“
Der Mann am Steuerrad warf Jade einen kurzen Seitenblick zu, konzentrierte sich dann aber sofort wieder auf seine Aufgabe. Das zu sehen beruhigte Jade. Sie hatte gehört, dass die Gewässer vor der norwegischen Küste es teilweise in sich hatten. Und sie wollte nicht mit der MS Kyrene auf einem Riff landen.
Nelligan schätzte sie auf Anfang dreißig. Er war schlank, blass und hatte einen schmalen Mund. Komisch, überlegte Jade, ich dachte immer, auf See werden alle braun. Vielleicht bekommt er immer einen Sonnenbrand und cremt sich intensiv ein …
Sie kam sofort auf ihr Anliegen zu sprechen. Nelligan sollte nicht glauben, dass sie aus purer Langeweile auf die Kommandobrücke gekommen war.
„Ja, natürlich können Sie die Bordlautsprecher für solche Durchsagen benutzen. Der Kapitän sieht es gern, wenn sich unsere Animateurinnen möglichst viel für die Passagiere einfallen lassen.“
Nelligan führte Jade zur Lautsprecheranlage und zeigte ihr, wie sie das Mikrofon benutzen musste. Wenig später sagte sie ihren Spruch auf. Jade erschrak zunächst, als sie hörte, wie laut ihre eigene Stimme bis in den letzten Winkel des Schiffs dröhnte. Aber nun konnte sie sicher sein, dass alle Eltern mit Kindern von ihrem Malkurs wussten. Alle übrigen Passagiere ebenfalls.
Jade schaltete das Mikrofon wieder aus. „Danke, Mr. Nelligan. Hat meine Vorgängerin die Bordlautsprecher auch oft benutzt?“
„Ann Brockwell? Ja, sie war sehr fleißig. Ich persönlich verstehe nicht, warum sie einfach spurlos verschwunden ist. – Nun aber viel Erfolg mit Ihrem Malkursus, Miss Walker.“
Er beugte sich wieder über seine Seekarten, und Jade begriff, dass das Gespräch damit beendet war. Sie wurde noch nicht schlau aus den unterschiedlichen Aussagen, die sie über ihre Vorgängerin gesammelt hatte. Gab es eigentlich überhaupt irgendeinen handfesten Beweis dafür, dass Ann von Bord gegangen war? Hatte jemand sie gesehen, womöglich mit Sack und Pack?
Jade eilte zurück zum Sonnendeck. Dort wollte sie mit ihrem Kurs anfangen, sobald die ersten Kinder sich blicken ließen.
Da ertönte plötzlich der laute Schrei einer Frau. „Hilfe! Ich will nicht sterben!“