7. KAPITEL
Der Sturm brauste. Und die aufgewühlte See passte perfekt zu Jades Stimmung. Sie war eigentlich keine Frau, die sich von Männern leicht aus der Bahn werfen ließ. Selbst die Hinterhältigkeiten ihres Exfreunds hatte sie verkraftet. Jedenfalls dachte sie nicht mehr Tag und Nacht an ihn.
Am liebsten hätte sie sich gar nicht mit Rick getroffen. Das wäre die sicherste Lösung gewesen. Denn Jade wusste nicht, ob sie ihren Gefühlen trauen konnte. Wenn sie Rick gegenüberstand, ließ sie sich vielleicht zu etwas hinreißen, das sie später bereute. Nein, nicht vielleicht – sondern bestimmt.
Gern hätte sie jetzt mit Peter gesprochen. Er tat ihr gut, in seiner Gegenwart fühlte sie sich einfach wohl. Aber wie sollte sie ihn finden? Er verbarg sich irgendwo auf der MS Kyrene. Und sie konnte den blinden Passagier ja schlecht über die Bordlautsprecher ausrufen lassen.
Das schlechte Wetter bescherte Jade eine unfreiwillige Auszeit. Denn den Passagieren stand der Sinn nicht nach Unterhaltung, Sport und Kreativität. Die Bistros und Restaurants an Bord wirkten verwaist, offenbar hatte die Seekrankheit vielen den Appetit genommen.
Henry hingegen hatte alle Hände voll zu tun. Er rannte hin und her, brachte den Passagieren Tabletten gegen Übelkeit oder frische Handtücher. Daher stimmte er begeistert zu, als Jade ihm spontan ihre Hilfe anbot. Sie wollte und konnte einfach nicht untätig herumsitzen, während sich andere abrackerten. Außerdem würde die Arbeit ihr gewiss helfen, sich von ihren Problemen abzulenken. Bisher hatte es immer funktioniert.
„Du könntest dort aus der Wäschekammer Handtücher holen, Jade, und sie in den Innenkabinen Nummer 300 bis 330 verteilen. Damit wäre mir schon sehr geholfen.“
„Klar, Henry. Kein Thema.“
Voller Tatendrang machte sie sich ans Werk. Auf dem Weg musste Jade über sich lächeln. In der kurzen Zeit an Bord hatte sie gelernt, breitbeinig wie ein Seemann zu gehen. Das sah zwar nicht sehr elegant aus, aber bei dem ständigen Schaukeln und Schlingern des Schiffs konnte sie sich so sicher bewegen.
Als sie die Wäschekammer gefunden hatte, öffnete sie die Tür. Jade zog einen Stapel Handtücher aus einem Schrank. Da fühlte sie plötzlich etwas Hartes.
Stirnrunzelnd legte sie die Handtücher in ein anderes Regal. Sofort musste sie an die verschwundenen Juwelen denken. Konnte es so einfach sein? Hatte der Dieb die Beute zwischen die Wäschestücke geschoben? Nein, das wäre ja zu dumm. Die Handtücher wurden regelmäßig gewaschen und nachgefüllt. An Bord der MS Kyrene herrschte peinliche Sauberkeit. Und da der Diebstahl schon einige Zeit zurücklag, wäre die Beute schon längst entdeckt worden.
Tatsächlich fand Jade zwischen den Handtüchern nicht den gesuchten Schmuck. Stattdessen entdeckte sie dort Anns Videokamera und ihr eigenes Notebook.
Jade war erstaunt. Unwillkürlich warf sie einen Blick über die Schulter und atmete erleichtert auf. Natürlich stand hinter ihr kein vermummter Mörder. Jade musste über sich selbst grinsen.
Jetzt konnte sie mit dem Beweisstück zum Kapitän gehen!
Aber war das wirklich klug? Sie konnte Roxanne immer noch nichts beweisen, denn Ann hatte den Namen des Täters ja nicht genannt. Außerdem mochte Roxanne eine hysterische Zicke sein, aber sie war immer noch eine Passagierin. Jade konnte sich die Reaktion des Kapitäns vorstellen, wenn sie Roxanne nicht nur des Einbruchs in ihre Kabine, sondern auch des Mordes bezichtigte.
Schweren Herzens schob Jade die Videokamera und das Notebook zwischen die Wäschestapel zurück, legte die Handtücher zurück und nahm welche aus einem anderen Fach. Sie musste Roxanne in Sicherheit wiegen, das war für sie selbst am sichersten.
Sie begann mit dem Verteilen der Tücher. Die meisten Passagiere sahen sterbenselend aus. Jade fühlte sich auch nicht besonders gut, aber aus anderen Gründen.
Wie gern sie jetzt mit Henry über alles gesprochen hätte! Seine Meinung war ihr wichtig. Aber sie konnte ihm doch nicht unter die Nase reiben, dass Roxanne und Nelligan ein Liebespaar waren. Henry betete Roxanne schließlich an. Es war schlimm genug für Henry, falls er es selbst herausfand. Jade brachte es nicht über das Herz. Sicher wäre es besser für ihn, die Wahrheit zu erfahren. Aber Jade wollte diese Botschaft nicht überbringen – von ihrem Mordverdacht gegen Roxanne ganz zu schweigen.
Ihre ganze Hoffnung ruhte auf Ann. Wenn sie erst gefunden war, würde sie erzählen, wer sie entführt hatte. Dann musste Henry die Augen vor der Wahrheit öffnen, Roxanne und Nelligan würden festgenommen werden, und alles wäre gut.
Jade spürte deutlich, dass Ann noch lebte und an Bord war. Es war verrückt, und sie hätte diese Empfindung auch nicht erklären können. Aber sie wusste es einfach.
Als sie Henry nicht weiter helfen konnte, begann sie damit, sich im Schiffsrumpf umzusehen. Sie klopfte gegen die Wände von Vorratsräumen und rief leise Anns Namen. Doch schon nach kurzer Zeit wurde Jade klar, wie stümperhaft sie vorging. Sie musste die Bereiche des Schiffs nacheinander absuchen. Sonst bestand die Gefahr, dass sie in einigen Räumen doppelt und dreifach, in anderen hingegen gar nicht nach Ann Ausschau hielt.
Im Laufe des Tages flaute der Sturm ab. Irgendwann ertönte eine Lautsprecherdurchsage des Kapitäns: „Die Schiffsleitung bedauert, dass es aufgrund einer Sturmwarnung zu einer Kursänderung gekommen ist. Wir werden nun den Hafen von Bergen verspätet anlaufen. An den vorgesehenen Landausflügen ändert sich dadurch selbstverständlich nichts.“
Jade erinnerte sich daran, dass sie eine Bergwanderung durch die Ausläufer des 1.660 m hohen Berges Fresvikbreen anbieten sollte. Sie kannte das Gebiet bisher noch nicht, obwohl sie in den schottischen Highlands und auch im Landesinneren von Teneriffa schon oft genug ähnliche Touren unternommen und auch geführt hatte. Jetzt bereitete sie sich gewissenhaft auf ihre Aufgabe vor.
Der Bustransfer war bereits organisiert worden. Sie würde mit ihrer Gruppe auf gut ausgeschilderten Wanderwegen bleiben. Es war keine Herausforderung, die Jade Furcht einflößte.
Am Morgen lief die MS Kyrene in den Hafen von Bergen ein. Die kleine norwegische Küstenstadt bestand hauptsächlich aus roten Häusern mit weißen Fensterläden. Jade stand an Deck und genoss kurz den Ausblick. Der Ort wirkte auf sie verträumt und nostalgisch. Über den Gipfeln der weiter entfernten Bergketten strahlte die Sonne an einem wolkenlosen Himmel. Es war ein herrlicher Frühlingstag. Die kühle Brise störte Jade nicht. Wenn man über schmale Bergpfade kletterte, wurde einem ganz von selbst warm.
Sie hatte sich mit festen Walking-Schuhen, Jeans und einem Anorak passend für den Ausflug gerüstet. In ihrem Rucksack führte sie neben Wasser und Verbandszeug auch Wanderkarten sowie ein GPS-Gerät für Fußgänger mit sich. Die Reederei hatte auch bei der Ausrüstung für Landausflüge an alles gedacht.
Während sie am Pier auf die Teilnehmer ihrer Ausflugsgruppe wartete, zuckte Jade unwillkürlich zusammen, als sie Roxanne auf sich zukommen sah. Ich muss mich wirklich zusammennehmen, herrschte Jade sich stumm an. Roxanne sollte auf gar keinen Fall ahnen, dass sie sie durchschaut hatte. Daher zwang Jade sich dazu, weiterhin freundlich zu lächeln.
Doch das selbsternannte Topmodel reagierte wie üblich mit Arroganz und Herablassung. „Du führst die Gruppe, Jade? Dann werden wir uns wohl hoffnungslos verlaufen.“
„Es wird niemand gezwungen, an dem Ausflug teilzunehmen“, entgegnete Jade, ohne dabei ihre professionelle Höflichkeit abzulegen. Sie war froh, dass Roxanne ausnahmsweise keine Lust auf Zickenkrieg hatte und sich einfach nur still und möglichst weit hinten in den Bus setzte.
Die meisten Teilnehmer waren ältere Passagiere, die sich auf den Ausflug freuten und Jade höflich anlächelten. Sie fragte sich, warum Roxanne überhaupt an der Bergwanderung teilnahm. Bisher hatte sie auf Jade nicht gerade den Eindruck einer begeisterten Naturliebhaberin gemacht. Und dass sie überhaupt Schuhe besaß, die keine hochhackigen Pumps waren! Fast anerkennend stellte Jade fest, dass Roxanne mit festem Schuhwerk, Trekkinghose und Anorak durchaus passend gekleidet war.
Zu Jades großer Freude kam Georgette Lane ebenfalls mit. Sie hatte die junge Frau, die beinah von Roxanne über Bord geworfen worden wäre, seit diesem Ereignis kaum noch gesehen.
„Hallo“, sagte Georgette und lächelte Jade schüchtern zu. „Ich wollte erst nicht mitkommen, weil Roxanne dabei ist. Aber dann dachte ich mir, dass du mich bestimmt wieder beschützen würdest.“
„Selbstverständlich würde ich das, Georgette. Aber ich denke nicht, dass es heute Ärger geben wird.“
Darauf erwiderte Georgette nichts. Sie setzte sich im Bus sofort neben Jade.
Nachdem der Fahrer Gas gegeben und Jade über Lautsprecher allen Teilnehmern einen schönen Tag gewünscht hatte, nahm Georgette das Gespräch wieder auf.
„Ich bin ehrlich gesagt froh, dass wir uns heute mal nicht an Bord aufhalten müssen.“
„Wieso, Georgette? Bist du auch seekrank gewesen?“
„Das auch, aber da ist noch etwas anderes. Du lachst mich bestimmt aus, wenn ich dir davon erzähle.“
„Nein, bestimmt nicht. Du kannst mir alles sagen – natürlich nur, wenn du magst.“
Georgette atmete tief durch. Sie senkte die Stimme, als sie fortfuhr: „Ich grusele mich auf der MS Kyrene. Eigentlich sollte es auf einem so neuen Schiff keine Gespenster geben, oder? Und was ist mit dem Klabautermann?“
Klabautermann? Für einen Moment dachte Jade, Georgette wollte sie auf den Arm nehmen. Doch ein Blick in das Gesicht der jungen Frau genügte. Georgette fürchtete sich wirklich und wollte sich jetzt zweifellos von der Seele reden, was sie derart verängstigte.
„Den Klabautermann haben wir mit Sicherheit nicht an Bord“, antwortete Jade in beruhigendem Ton. „Soweit ich weiß, ist ein Klabautermann die Seele eines Verstorbenen, der auf einem Schiff getötet wurde. Der Klabautermann wohnt angeblich im Mastkorb. Na, und einen Mastkorb hat unser Luxusliner gar nicht.“
Jades Wissen über Klabautermänner stammte aus einem Gruselfilm, das wollte sie Georgette jedoch nicht auf die Nase binden. Und noch während Jade gesprochen hatte, dachte sie über die eigenen Worte nach. Die Seele eines Toten? Und was war mit dem Komplizen, der auf der MS Kyrene ermordet worden war? Ging er nun vielleicht als Geist um, ob nun Klabautermann oder nicht?
Ach, so ein Quatsch, sagte sie sich im nächsten Moment. Es gab an Bord des Kreuzfahrtschiffs zwar ein dunkles Geheimnis, aber daran war bestimmt nichts Übersinnliches.
„Dann glaubst du also, dass ich mir alles nur einbilde, Jade?“
„Nein, ich nehme dich ernst, das musst du mir glauben. Am besten erzählst du mir einfach, was du beobachtet hast.“
Georgette faltete die Hände im Schoß. „Also, am Abend vor dem Sturm bin ich in der kleineren Disco, im Flashbulb, gewesen. Ich wollte einfach nur tanzen und meinen Spaß haben. Es ist ganz schön spät geworden. Schließlich bin ich zu meiner Kabine gegangen. Da tauchte plötzlich eine schwarze Gestalt vor mir auf.“
„Kannst du die Erscheinung etwas näher beschreiben?“, fragte Jade aufmerksam und fürchtete im Stillen, dass sie Peter gesehen hatte.
„Nicht wirklich. Ich habe eigentlich nur einen Schatten gesehen. Deshalb glaubte ich zunächst auch, dass ich mir alles nur eingebildet hätte. Er verschwand nämlich sofort wieder.“
Jade überlegte. Es konnte wirklich Peter gewesen sein. Doch es gab auch noch eine andere Möglichkeit: Wenn Georgette nun Roxanne gesehen hatte – oder einen Komplizen von ihr? Bisher war Jade davon ausgegangen, dass Roxanne jetzt allein arbeitete. Doch dafür gab es nicht den geringsten Beweis. Ja, dachte Jade, um das Schiff zu durchsuchen, ist es gut, wenn man Helfer hat …
Georgette redete weiter, nachdem sie einige Momente lang geschwiegen hatte. „Ach, natürlich. Das kann kein Geist oder Gespenst gewesen sein. Ich habe mich gerade noch einmal an die Situation erinnert. Wer weiß, warum der Typ solche schwarzen Klamotten anhatte und eine Maske trug. Aber er muss ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen sein, soviel steht fest.“
„Warum?“
„Weil er ein Päckchen mit Lebensmitteln dabeihatte! Es waren in Klarsichtfolie eingepackte Sandwiches und eine Orange – dass mir das nicht früher eingefallen ist! Ich meine, Geister essen schließlich nichts, oder?“
„Nein, bestimmt nicht.“
Lebensmittel also. Das sprach dafür, dass sie Peter gesehen hatte. Er musste schließlich auch essen. Vielleicht hatte er in der Küche ein paar Kleinigkeiten mitgehen lassen. In diesem Moment ärgerte Jade sich, weil sie nicht auf die Idee gekommen war, Peter etwas zu essen zu bringen. Andererseits hatte er auch nicht danach gefragt …
Wenn Georgette jedoch Roxanne oder einen Helfer von ihr gesehen hatte, dann war das Essen sicher für Ann bestimmt gewesen! Jade hoffte es jedenfalls sehr. Das wäre der Beweis dafür, dass Ann noch lebte!
Jade war ganz aufgeregt. Sie konnte es kaum erwarten, mit Peter darüber zu sprechen. Falls er es nicht gewesen war, der sich die Lebensmittel beschafft hatte, dann wäre das eine gute Nachricht.
Außerdem wusste Jade, wo Georgettes Kabine war. Dadurch ließ sich die Suche nach dem Gefängnis von Ann weiter eingrenzen. Doch vorerst musste Jade ihre Überlegungen und Mutmaßungen für sich behalten.
„Es kann einem schon mulmig zumute werden, wenn man nachts allein durch das Schiff streift, Georgette. Das kenne ich von mir selber. Ist dir denn sonst noch etwas Verdächtiges aufgefallen? Ich meine, außer dieser Begegnung mit dem Dunkelgekleideten?“
Georgette runzelte nachdenklich die Stirn. „Nein, nicht wirklich. Mir ist es jetzt schon sehr peinlich, dass ich diesen Typen für den Klabautermann gehalten habe.“
„Das muss dir nicht unangenehm sein. Ich finde es mutiger, wenn man zu seinen Ängsten steht und nicht so tut, als ob man durch nichts erschüttert werden könnte.“
„Danke, Jade. Es tut wirklich gut, mit dir zu reden.“
Jade lächelte und lenkte das Gespräch nun auf unverfänglichere Themen. Georgettes Beobachtungen hatten ihr einen ungeheuren Auftrieb gegeben. Leider wusste sie immer noch nicht, ob und wie viele weitere Komplizen Roxanne hatte. Das war ein großes Risiko, denn praktisch jeder kam infrage. Okay, Henry und Peter sicherlich nicht. Aber ansonsten war die Aussicht auf einen Anteil an einer halben Million Pfund Sterling sicher ein großer Anreiz, selbst für ehrliche Leute.
Der Reisebus fuhr durch eine dünn besiedelte Berglandschaft. Jade war zum ersten Mal in Norwegen und fasziniert von der Natur, die noch rauer und urwüchsiger zu sein schien als die schottischen Highlands.
Nach einer Stunde Fahrt hatten sie den Ausgangspunkt der Wanderung erreicht.
Der Busfahrer beugte sich zu Jade, zum Glück sprach er fließend Englisch. „Dort oben ist der Aussichtspunkt, Miss. Von dort aus haben Sie einen Panoramablick auf das Massiv des Fresvikbreen. Die Wanderwege sind gut ausgeschildert.“
„Wie lange wird die Tour dauern?“
„Wenn Sie in gemächlichem Tempo laufen, müssten Sie in zwei Stunden wieder hier sein. Der Weg verläuft schlaufenförmig. Ich werde hier auf Sie warten.“
Jade bedankte sich und forderte die Teilnehmer auf, sich vor dem Bus zu sammeln. Nachdem alle Passagiere aus dem Bus gestiegen waren, übernahm sie die Führung der Gruppe. Erfreut stellte Jade fest, dass der Wanderpfad tatsächlich sehr gut ausgeschildert war.
Dennoch verspürte sie eine unerklärliche Beklommenheit beim Betreten der norwegischen Bergwälder. Auf den ersten Blick wirkte hier nichts bedrohlich. Die Sonne schien immer noch vom wolkenlosen Himmel. Doch die Baumwipfel waren so hoch und standen teilweise so dicht, dass fast überall ein geheimnisvolles Dämmerlicht herrschte. Hier und dort gab es Lichtungen. Aber gerade durch diesen Kontrast erschien Jade die düstere Atmosphäre noch einengender und bedrohlicher. Sie sah sich nach den anderen um und bemerkte, dass sie nicht die Einzige war, die es in diesem Wald unheimlich fand.
„Brrr, hier möchte ich mich nicht allein verirren“, sagte Georgette, die hinter ihr auf dem schmalen Pfad ging. „Du musst mich für eine Gespenstertante halten, Jade. Aber hier kann man wirklich hinter jedem Baumstamm einen Waldgeist vermuten.“
„Ich bin sicher, dass es weiter oben heller wird“, erwiderte Jade. Sie konnte Georgette gut verstehen, aber sie wollte sich keine Blöße geben. Was sollten die ihr anvertrauten Passagiere denken, wenn sie zugab, wie schaurig sie den Wald fand?
Dabei fürchtete sie sich nicht etwa vor Kobolden, Geistern, Feen, Trollen oder ähnlichen Wesen. Sie wusste einfach nicht, wem unter den Passagieren sie vertrauen konnte. Bei Roxanne gab es keinen Zweifel daran, dass Jade sich vor ihr in Acht nehmen musste. Aber gab es noch weitere Personen, von denen sie lieber Abstand halten sollte?
Hinzu kam, dass Jade sich seit Stunden den Kopf zermarterte. Sie hatte das beunruhigende Gefühl, einen wichtigen Hinweis bekommen und sofort wieder verdrängt zu haben. Es war, als würde sie in ihrem Gehirn nach einem Wort suchen, das ihr sozusagen auf der Zunge lag. Doch es wollte und wollte ihr nicht einfallen. Die Lösung des Falls schien Jade zum Greifen nah zu sein. Aber sie hatte keinen blassen Schimmer, worin dieser Anhaltspunkt bestanden haben konnte. Es war zum Haareausraufen.
Immerhin behielt sie recht, was die landschaftlichen Veränderungen anging. Je weiter der Wanderweg anstieg, desto lichter standen die mächtigen Tannen und Fichten auf dem felsigen Untergrund. Obwohl es nur sanft bergauf ging, machte sich doch allmählich die Anstrengung bemerkbar – auch bei Jade. Sie hatte in den vergangenen Nächten nur wenig Schlaf bekommen, und das rächte sich jetzt allmählich.
„Können wir eine Rast einlegen?“, fragte einer der älteren Teilnehmer des Ausflugs.
Jade fand, dass das eine ausgezeichnete Idee war. Sie schaute auf die Uhr. Offenbar waren sie bisher schneller gewesen als geplant. Sie hatten schon fast den Aussichtspunkt erreicht. Also konnte eine Pause nichts schaden. „In einer halben Stunde marschieren wir von hier aus weiter“, verkündete Jade mit lauter Stimme.
Sie setzte sich unter eine Tanne und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm. Sofort spürte sie eine angenehme Müdigkeit, ihre Arme und Beine wurden schwer. Jade nahm sich vor, die Augen nur für einen Moment zu schließen.
Der Mörder hatte schon auf sie gewartet. Jade war auf einem Schiff. Aber es war nicht die MS Kyrene, sondern ein knarrendes und modrig riechendes Segelschiff aus vergangenen Jahrhunderten, ein richtiger Seelenverkäufer. In heller Panik kletterte Jade unter Deck über einige Geschütze, deren Kanonenrohre drohend aus den Stückpforten ragten. Sie trug nur ein löcheriges schmutziges Hemd, ihr Haar war verschwitzt und fiel ihr in langen verfilzten Strähnen ins Gesicht.
Das ist nur ein Traum! Wach auf, rief sie sich zu. Aber die Atmosphäre war so beängstigend, dass Jade das Herz bis zum Hals schlug und sie sich nicht von der Stelle rühren konnte. Sie war allein auf diesem unheimlichen Segelschiff. Außer ihr war nur die Gestalt an Bord, die ihren Tod wollte. Jade musste fliehen, aber wohin?
Sie hetzte einen hölzernen Aufgang entlang. Frische Seeluft schlug ihr ins Gesicht, als sie an die Reling stürzte. Das Schiff war unter voller Besegelung auf hoher See. Aber wo war die Mannschaft? Warum befanden sich keine Matrosen auf den Rahen, warum stand niemand am Doppelsteuerrad? Es war doch unmöglich, dass ein Schiff ohne Mannschaft segelte … Ihre Furcht stieg. Ein Blick auf die Meeresoberfläche bewies ihr, dass es dort keine Rettung gab. Überall stachen die schwarzen Rückenflossen von Haien zwischen den Wellenköpfen hindurch.
Jade hielt unwillkürlich den Atem an. Wo war ihr unheimlicher Verfolger? Spielte er mit ihr Katz und Maus? Warum hatte er sie nicht schon längst erledigt? Über ihr, am Fockmast, wehte die schwarze Piratenflagge mit dem Totenkopf und den zwei gekreuzten Knochen.
Plötzlich ertönte ein irres Lachen.
Jade schrak zusammen. Von wo war es gekommen?
Sie lief davon, obwohl ihr klar war, dass das an Bord eines so kleinen Segelschiffs völlig sinnlos war. Der ganze wurmstichige Holzkahn war nicht länger als das Vorderdeck der MS Kyrene. Und dennoch konnte Jade nicht einfach stehen bleiben und sich in ihr Schicksal ergeben.
Suchend sah sie sich nach einer Waffe um. Wie war es mit diesem Enterhaken, der dort auf dem Deck lag? Das Eisenstück lag schwer in ihrer Hand. Wenn sie damit wild um sich schlug, konnte sie sich einen Gegner gut vom Leib halten.
Und dann war er plötzlich da, ihr Feind. Jade hatte ihn nicht kommen hören. Aber das war auch kein Wunder, denn dieses Wesen war bestimmt kein Mensch aus Fleisch und Blut. Plötzlich stand er unmittelbar vor ihr. Und er hielt einen furchteinflößenden Entersäbel in der Faust!
Stammten die Flecken auf der Klinge von Rost oder von Blut? Jade schauderte. Sie wusste nur, dass sie jetzt kämpfen musste, wenn sie leben wollte. Um sich zu verteidigen, hob sie den Enterhaken. Doch es war sinnlos. Ein einziger Säbelhieb reichte. Metall klirrte auf Metall, und die Waffe wurde ihr aus der Hand geprellt. Jade biss sich auf die Unterlippe, dass es schmerzte. Der Enterhaken lag wieder auf dem Deck. Und ihr Feind würde ihr sicher keine Gelegenheit geben, ihn wieder aufzuheben.
Die Spitze des Entersäbels war nun genau auf Jades Kehlkopf gerichtet. Instinktiv trat sie einen Schritt zurück, dann noch einen. Gnadenlos trieb ihr Feind sie weiter rückwärts. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, denn er trug eine rostige Eisenmaske. Schon bald musste Jade auf die hölzerne Reling steigen, um seinem Säbel zu entkommen.
Und nun erkannte sie seine Absicht. Er hatte sie genau da, wo er sie haben wollte. Unmittelbar hinter Jade war eine lange Planke an der Reling befestigt. Das Ende des Holzbretts befand sich über der Wasseroberfläche. Jade hatte jetzt die Wahl – entweder ließ sie sich von der Säbelspitze durchbohren, oder sie schritt über die Planke, stürzte ins Wasser und fiel den Haien zum Fraß.
„Was soll das? Was habe ich dir getan? Warum tust du das?“, brachte sie keuchend hervor.
Er gab keine Antwort. Er folgte Jade, und sie wich ihm instinktiv aus. Immer weiter. Sie lief rückwärts, den Blick auf das dunkle Wesen gerichtet. Sie spürte das rissige Holz der Planke unter den nackten Füßen. Und dann war da plötzlich nichts mehr, sie trat ins Leere. Verzweifelt ruderte sie mit den Armen. Aber sie fiel und fiel, hatte nichts mehr zu erwarten als kaltes Wasser und die rasiermesserscharfen Zahnreihen von unzähligen hungrigen Haien.
Jade schlug die Augen auf und rang nach Atem. Sie befand sich mitten im Wald, kilometerweit von der Küste entfernt. Hier gab es keine Haie, und säbelschwingende Maskenträger erst recht nicht.
Was für ein widerlicher Albtraum, dachte sie und schaute auf ihre Armbanduhr. Länger als zehn Minuten konnte sie nicht geschlafen haben, aber ihr kam es vor, als wäre sie stundenlang vor diesem Horrortypen geflohen.
Stöhnend stand sie vom Boden auf und rieb sich die schmerzenden Kniegelenke. Dann sah sie sich um. Die Passagiere hatten es ihr größtenteils gleichgetan und sich irgendwo in der Nähe auf den Waldboden gesetzt. Einige sah sie weiter entfernt stehen und sich umsehen. Eine ältere Frau fotografierte ihren Mann vor dem Hintergrund eines Bergmassivs am Horizont.
Jade ging ein wenig auf und ab, um ihre Beine wieder ganz zu spüren. Sie machte ein paar Dehnungsübungen, blieb kurz auf einem Felsvorsprung stehen und bewegte abwechselnd die Füße.
Da trat ihr plötzlich jemand von hinten in die Kniekehlen!
Jade schrie auf. Der feige Angriff kam zu unerwartet, als dass sie sich hätte wehren können. Wieder stürzte sie, genau wie in ihrem Albtraum, den sie soeben durchlebt hatte.
Aber diesmal war alles real. Allerdings wartete unter ihr kein gieriger Hairachen, sondern ein Abgrund. Wenn sie dort unten aufschlug, konnte sie sich den Hals oder zumindest ein paar Knochen brechen. Sie fiel.
In letzter Sekunde krallte sie sich an einem vorstehenden Felsstück fest. Ein Ruck ging durch ihren Körper, und ein brennend-heller Schmerz zuckte durch ihren rechten Arm. Für einen Moment fürchtete sie, die Sehnen an ihrem Handgelenk wären gerissen. Aber ihre Finger hielten den scharfkantigen Stein nach wie vor fest.
„Hilfe! Helft mir doch!“
Jade fand selbst, dass ihre Stimme kläglich und viel zu leise klang. Trotzdem konnte sie sich in dem ansonsten stillen Bergwald bemerkbar machen. Sie hörte eilige Schritte, dann ertönten einige Entsetzensrufe. Jade lehnte den Kopf in den Nacken.
Die Kante, von der aus sie in die Tiefe gestürzt worden war, befand sich ungefähr eine Manneslänge über ihr. Dort erblickte sie jetzt die Gesichter einiger Passagiere, die besorgt und verängstigt zu ihr hinabschauten. Ein älterer Mann mit weißem Schnurrbart nickte grimmig. So als ob er von einer Bergwanderung nichts anderes erwartet hätte.
„Ich übernehme das Kommando!“, rief er. „Ich war früher bei der Army, kenne mich aus mit Rettungsaktionen. Wir nehmen meinen Anorak als Ersatz für ein Seil.“ Er sah nach rechts. „Sie dort, ja, und Sie und Sie! Sie helfen mir beim Ziehen, verstanden?“
Dann wandte er sich an Jade. „Bleiben Sie ruhig, Miss. Wir lassen einen Anorak zu Ihnen hinunter. Er ist aus besonders strapazierfähigem und unzerreißbarem Stoff, und außerdem sind Sie ja nicht so schwer. Wenn Sie sich gut festhalten, haben wir Sie im Handumdrehen wieder hier oben.“
Jade konnte nur nicken. Sie musste sich ganz darauf konzentrieren, nicht loszulassen. Gleichzeitig suchte sie verzweifelt mit der anderen Hand und den Beinen Halt.
Sie hörte, wie der alte Mann Befehle gab. Wenig später wurde der Anorak über die Felskante geschoben. Jade packte den Ärmel zuerst mit der freien Hand. Der Stoff spannte sich. Aber es sah wirklich nicht danach aus, als ob das Kleidungsstück zerreißen würde. Falls doch, wird eine Reklamation beim Hersteller nichts nützen, dachte sie zynisch. Jedenfalls mir nicht.
Sie hatte keine Wahl, sie musste es wagen. Schnell löste sie nun die andere Hand vom Felsen und umklammerte den Anorak. Sie sah, dass ihre Finger blutig waren, aber den Schmerz spürte sie nicht. „Ich bin so weit!“, rief sie.
„Sehr gut, Miss. – Auf mein Kommando! Eins, zwei. Eins, zwei.“
Jade pendelte in der Luft vor dem Felsen. Einen entsetzlichen Moment lang dachte sie, dass ihre Retter es nicht schaffen würden. Aber dann wurde sie hochgezogen. Zwar ging es entsetzlich langsam, aber das kam ihr vielleicht nur so vor. Sie konzentrierte sich nur darauf, den Anorak nicht loslassen.
Endlich erreichte sie die Kante. Kräftige Hände packten Jade und zogen sie auf sicheren Grund.
Erst jetzt spürte sie den Schock und begann am ganzen Körper zu zittern.
Georgette umarmte sie. In ihren Augen glitzerten Tränen. „Ich bin so froh, dass dir nichts geschehen ist, Jade!“
Nichts ist etwas untertrieben, dachte Jade bloß. Sie hatte sich an dem scharfkantigen Felsen geschnitten, jetzt pochte der Schmerz in ihrer rechten Hand. Während sie tief seufzte und darauf achtete, gleichmäßig ein- und auszuatmen, bewegte sie sich vorsichtig. Wahrscheinlich hatte sie sich beim Sturz ein paar Prellungen zugezogen. Aber sie lebte.
Jade bedankte sich zunächst bei ihren Rettern, besonders bei dem schnurrbärtigen Mann.
„Wie konnte das nur geschehen, Miss? Sind Sie ausgerutscht?“, wollte er wissen.
Sie wollte bereits antworten, dass sie gestoßen worden war. Doch stattdessen entgegnete sie: „Hat keiner von Ihnen etwas gesehen?“
Die Passagiere schüttelten den Kopf. Auch Roxanne machte eine verneinende Geste. Doch Jade meinte, ganz kurz ein gemeines Grinsen auf Roxannes Gesicht zu sehen. Da zweifelte sie nicht daran, wem sie den Sturz zu verdanken hatte. Hätte jemand den Angriff beobachtet, hätte Roxanne jetzt gewaltige Probleme. So aber kam sie wieder einmal davon.
Das frustrierte Jade dermaßen, dass ihr die Tränen kamen. Wenn sie jetzt Roxanne beschuldigte, würde ihr das nur als hysterische Reaktion ausgelegt werden.
„Wir sollten zum Bus zurückkehren“, schlug Georgette vor. „Was machen deine Beine, Jade? Du kannst dich auf mich stützen, wenn du willst.“
„Danke, es geht schon. Aber vielleicht komme ich darauf zurück.“
Jade fühlte ihre Knie kaum, weil sie so weich waren. Aber das lag natürlich am Schock, und nach einigen Schritten wurde es allmählich besser. Doch sie konnte immer noch nicht fassen, was Roxanne gerade eben getan hatte. Natürlich hatte Jade sie in Verdacht, einen Mord begangen zu haben. Aber das konnte Roxanne ja nicht wissen. Warum hatte sie nun auch sie töten wollen?
Nur, weil sie sie nicht ausstehen konnte? Oder hatte Roxanne sie gar nicht umbringen wollen, sondern nur impulsiv gehandelt? Das würde jedenfalls zu ihrem aufbrausenden Charakter passen. Aber einen Anlass hatte es wohl kaum gegeben.
Nachdenklich ging Jade weiter. Sie musste sich eingestehen, dass Roxanne eigentlich nicht dem Typ einer eiskalten planenden und kalkulierenden Killerin entsprach. Sie neigte zur Gewalt, ohne über die Folgen ihrer Taten nachzudenken. Vielleicht hatte sie ja auf diese Art auch ihren Komplizen getötet?
Jade wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie ab sofort noch vorsichtiger sein musste, wenn sie diese Reise mit heiler Haut überstehen wollte.
Die blutende Hand hatte sie mit einem Verband aus ihrem eigenen Notfallpaket verarzten können. Jade nahm sich vor, die Verletzung später dem Schiffsarzt zu zeigen. Jade freute sich, dass die anderen so besorgt um ihr Wohlergehen waren – abgesehen natürlich von Roxanne.
Wenig später saßen sie alle im Bus und fuhren zum Hafen von Bergen zurück. Doch als der Bus den Pier der MS Kyrene erreicht hatte, sah Jade dort einen Streifenwagen stehen. Ihr Puls stieg sofort. Sie hatte ein mieses Gefühl in der Magengegend.
Sobald sie sich von den Teilnehmern der Wanderung verabschiedet hatte und die Gangway hinaufgeeilt war, wandte sie sich an den dort Wache haltenden Matrosen. „Was ist denn geschehen? Haben wir die Polizei an Bord?“
„Yep. Jemand ist niedergeschlagen worden. Er ist ins Krankenhaus eingeliefert worden.“
„Wer ist es denn?“
„Henry Glover, der kleine Kabinensteward.“