5. KAPITEL

Cherry war geschockt. Es tat ihr schrecklich leid, dass der freundliche Father Nolan Opfer eines brutalen Verbrechers geworden war. Gleichzeitig war sie aber auch erleichtert darüber, dass Mark nichts abbekommen hatte. Er traf wenige Minuten nach ihr in St. Andrews ein und war genauso erschrocken über die feige Tat wie sie.

„Aber wer macht denn so etwas?“, fragte Mark, nachdem er von den Ereignissen erfahren hatte. Cherry, Mark, Blackburn und Sam Lonnegan standen gemeinsam mit den Polizisten zwischen der Kirche und dem Pfarrhaus. Sie durften beide Gebäude noch nicht betreten, weil die Spezialisten von der Spurensicherung soeben ihre Arbeit aufgenommen hatten.

„Nach ersten Erkenntnissen ist eine Fensterscheibe in der Pfarrhausküche eingeschlagen worden“, erklärte Sergeant Murdoch. „Father Nolan hat eine Aufwartefrau, die sich stundenweise um seinen Haushalt kümmert. Mrs Tonsley kam heute Morgen zum Putzen und fand den ohnmächtigen Pfarrer in seinem Arbeitszimmer auf dem Boden mit einer blutenden Wunde am Hinterkopf. Die Türen zu einem Schrank standen weit offen. Aber darin befanden sich nur alte Kirchenbücher aus früheren Jahrhunderten.“

Alte Kirchenbücher? Cherrys Magen krampfte sich zusammen. Plötzlich musste sie daran denken, dass der Geistliche ihr die rätselhaften Aufzeichnungen seines ermordeten Amtsvorgängers gezeigt hatte. Ob dieses Buch gestohlen worden war? Cherry erzählte den Polizisten sofort von ihrem Verdacht. Während Sergeant Murdoch ihre Aussage zu Protokoll nahm, zog Blackburn unwillig die Augenbrauen zusammen.

„Das ist ja zweifellos sehr interessant, Miss Wynn. Aber es gehört nicht zu Ihren Praktikumsaufgaben, sich mit uralten Legenden zu beschäftigen. Wir arbeiten hier mit konkreten Dingen, mit hölzernen Beichtstühlen und mit porösen Steinen in Kreuzrippengewölben – aber wir befassen uns nicht mit Altweibergeschichten aus längst vergangener Zeit. Wenn Ihnen so etwas gefällt, dann sind Sie bei uns wirklich fehl am Platz. Diesen Eindruck von Ihnen habe ich allerdings, seit Sie zum ersten Mal St. Andrews betreten haben“, wies Blackburn sie zurecht.

Doch Sergeant Murdoch nahm Cherry in Schutz. „Jeder Hinweis ist für unsere Ermittlungsarbeit wichtig, Mr Blackburn. Können Sie auch etwas dazu beitragen?“

„Allerdings, Sergeant. Ich bin mir nämlich sicher, den Täter gesehen zu haben.“

Nachdem der Restaurator diese Aussage gemacht hatte, richteten sich alle Blicke erwartungsvoll auf ihn. Er fuhr fort: „Ich habe gestern Abend noch lange gearbeitet. In der Krypta bin ich ohnehin auf Kunstlicht angewiesen, weil dorthin kein einziger Sonnenstrahl vordringt. Jedenfalls war es weit nach Mitternacht, als ich St. Andrews verließ. Draußen brannten nur die beiden Nachtleuchten, die sich vor dem Kirchenportal und vor dem Pfarrhaus befinden. Plötzlich sah ich eine Gestalt.“

„Was für eine Gestalt?“, warf Sergeant Murdoch ein. „Können Sie die Person näher beschreiben? War sie Ihnen vielleicht sogar bekannt?“

Nachdenklich schüttelte Blackburn den Kopf. „Leider trat der Mann nur kurz in den Lichtkegel vor der Pfarrhaustür. Er trug einen ungepflegten grauen Bart und hatte eine schmutzige Baseballkappe auf dem Kopf. Seine Kleidung war verwahrlost, außerdem hatte er einige Plastiktüten bei sich. Er wirkte auf mich wie ein typischer Obdachloser.“

„Warum haben Sie ihn nicht angesprochen? Oder fanden Sie es normal, dass er in der Dunkelheit um das Pfarrhaus schlich?“

„Nein, das nicht. Ehrlich gesagt wusste ich nicht, was ich tun sollte. Father Nolan ist für seine Mildtätigkeit bekannt. Vielleicht erhoffte sich der arme Teufel ja ein Stück Brot und traute sich nur nicht zu klingeln? Ich war unschlüssig und zögerte. Und einen Moment später war der Kerl auch schon verschwunden, als ob er nie dort gewesen wäre. Außerdem brannte im Inneren des Pfarrhauses nirgendwo Licht. Ich glaubte also, Father Nolan hätte sich schon hingelegt. Wenn ich geahnt hätte, was dieser Übeltäter vorhatte, dann wäre ich natürlich eingeschritten. Das müssen Sie mir glauben, Sergeant.“

Murdoch nickte nur und machte sich Notizen. „Können Sie das Alter des Mannes beschreiben? Was hatte er für eine Figur? Wie groß war er?“, hakte er nach.

„Ich würde ihn als mittelgroß und hager bezeichnen. Das Alter ist schwer zu schätzen, ich habe ihn ja auch nur kurz gesehen. Aber zwischen vierzig und sechzig Jahren, das müsste in etwa hinkommen.“

Je mehr Blackburn erzählte, desto größer wurden Cherrys Zweifel. Zwar konnte sie sich nicht vorstellen, dass ihr Boss die Polizei bewusst anlog. Aber ein unbekannter Obdachloser als brutaler Räuber eines uralten Kirchenbuchs? Das erschien ihr noch unwahrscheinlicher. Allerdings wusste sie noch gar nicht, ob dieses spezielle Buch überhaupt fehlte. Sie nahm es einfach nur an.

„Wurde eigentlich etwas gestohlen?“, fragte Cherry so beiläufig wie möglich.

Der Sergeant nickte. „Ein Kirchenbuch mit Eintragungen aus den Jahren 1464 bis 1466. Das ist uns auch nur aufgefallen, weil an der Stelle im Bücherschrank eine Lücke klafft.“

Cherry versuchte sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen. Genau dieses Buch hatte der Geistliche ihr gezeigt! Für sie gab es keinen Zweifel, dass der Einbrecher genau nach diesem Einzelstück gesucht hatte. Aber noch hatte sie keinen Beweis für ihre Annahme. Und sie wollte in Gegenwart von Blackburn ihre Karten nicht auf den Tisch legen. Cherrys Misstrauen gegen den stets schlecht gelaunten Restaurator wuchs von Minute zu Minute. Mit wem telefonierte er heimlich, und an wen schickte er SMS, obwohl er angeblich kein Handy besaß? Was hatte er dort unten in der Krypta zu schaffen? Waren es wirklich nur Restaurierungsarbeiten? War er am Ende vielleicht sogar in den Mord an der Unbekannten verwickelt?

Mark hatte scheinbar in die gleiche Richtung gedacht. Er fragte: „Gibt es eigentlich schon Neuigkeiten über die Ermordete, Sergeant?“

Der Polizist nickte und blätterte in seinem Notizbuch. „Richtig, das hatte ich noch gar nicht erwähnt. Die Tote hieß Amber Page und stammte aus Gates, einem Dorf in der Nähe von Ipswich. Sie wollte zu einem Konzert nach London, wo sie nie angekommen ist. Nachdem ihre Freunde sie vermisst hatten und mit ihren Eltern telefonierten, wurde eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Unsere Kollegen haben den Eltern ein Foto der Toten vorgelegt, und sie wurde eindeutig als Amber Page identifiziert.“

Amber Page? Cherry konnte sich nicht erinnern, den Namen jemals gehört zu haben. Ob Amber ihren Mörder gekannt hatte? War sie vielleicht doch nur ein zufälliges Opfer des Suffolk-Killers geworden? Oder hatte ihr Tod etwas mit den Geheimnissen von St. Andrews zu tun? Wo war Amber überhaupt erwürgt worden?

Die Stimme von Sergeant Murdoch riss sie aus ihren Überlegungen.

„Mr Blackburn, könnten Sie uns zur Polizeistation begleiten? Ich möchte Ihnen einige Fotos von Obdachlosen vorlegen, die bereits öfter mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Möglicherweise erkennen Sie den Mann, den Sie in der vergangenen Nacht gesehen haben. Ansonsten hoffen wir natürlich, dass Father Nolan bald aus der Bewusstlosigkeit aufwacht und uns eine Täterbeschreibung liefern kann.“

Der Restaurator schien nicht gerade begeistert zu sein, aber er konnte sich ja schlecht weigern. Er beteuerte, dass seine Tätigkeit äußerst wichtig wäre und jede Zeitverzögerung die Gemeinde teuer zu stehen käme. Cherry wusste inzwischen, dass die Restaurierung von St. Andrews bis zum Ende des kommenden Monats abgeschlossen sein musste.

„Sie arbeiten inzwischen an dem Beichtstuhl weiter, Miss Wynn“, sagte er, bevor er zu Sergeant Murdoch und Officer Hickey in den Streifenwagen stieg. Inzwischen hatten auch die Männer von der Spurensicherung die Kirche und das Pfarrhaus wieder freigegeben. Sie hatten nichts entdecken können, wenn Cherry ihren kurzen Wortwechsel richtig verstanden hatte. Offensichtlich war der Täter sehr behutsam vorgegangen und hatte keine Hinweise auf seine Person hinterlassen. Konnte man ein derartig professionelles Vorgehen von einem Obdachlosen erwarten, der einen zufälligen Raub beging?

Cherry war aufgeregt. Sie dachte gar nicht daran, mit dem Schmirgeln weiterzumachen, jedenfalls nicht sofort. Jetzt bestand die einmalige Gelegenheit, sich ungestört in der Krypta umzuschauen. Allerdings konnte sie nicht einschätzen, wie lange Blackburn auf dem Polizeirevier bleiben würde. Sie musste sich also beeilen.

Während Sam Lonnegan wieder auf das Außengerüst kletterte, betrat sie mit Mark zusammen das Kircheninnere. Bevor sie ihn ansprechen konnte, kam er ihr zuvor.

„Wollen wir einen Blick in die Krypta riskieren, Cherry?“

Sie nickte und musste sich eingestehen, dass sie erleichtert war. Obwohl sie sich nicht für feige hielt, fühlte sie sich mit Mark an ihrer Seite sofort besser. Er nahm eine Taschenlampe in die Hand.

„Gibt es da unten keine großen Stehleuchten?“, fragte sie.

„Doch, aber die werden verflixt schnell heiß. Und wenn Blackburn zurückkehrt und wir schnell verschwinden müssen, dann merkt er an den Lampen, dass jemand in der Krypta war.“

So vorausschauend hatte Cherry nicht gedacht. Sie war beeindruckt. Ob Mark schon öfter allein in der Krypta gewesen war? Gemeinsam stiegen sie die steilen Granitstufen hinab. Die Luft roch modrig. Obwohl draußen schönes warmes Sommerwetter herrschte, war es in der Krypta kalt, klamm und unangenehm. Cherry musste daran denken, dass die Reichen in England vor Erfindung des Kühlschranks oft einen Eiskeller besessen hatten. Das war ein unterirdischer Kühlraum, der im Winter mit dicken Eisblöcken gefüllt wurde und der Vorratshaltung diente. Dort blieb es auch während der warmen Jahreszeit unerbittlich kalt.

Oder war es Cherrys eigene Aufregung, die sie beim Abstieg in die Krypta so stark frieren ließ? Allmählich konnte sie verstehen, weshalb Blackburn stets miese Laune hatte. Gewiss war es kein Vergnügen, hier unten arbeiten zu müssen. Marks Taschenlampenstrahl warf einen Lichtschein in die schwarze Finsternis. Es waren nur wenige Stufen, die den Altarraum von der Krypta trennten. Und doch kam es Cherry so vor, als wären sie in eine andere Welt eingedrungen.

Es war unheimlich, aber gleichzeitig auch sehr anziehend. Es herrschte eine andere Atmosphäre als auf dem Friedhof, obwohl in der Krypta ebenfalls Tote beerdigt waren. Aber es handelte sich um Angehörige einer prominenten Adelsfamilie, und die Grabmäler wirkten geheimnisvoll und Furcht einflößend.

Ihre Schritte hallten und wurden als Echo von den Wänden zurückgeworfen. Die Krypta war offenbar viel größer, als Cherry gedacht hatte. Sie hatte sich eine Art Grabkammer unter dem Kirchenboden vorgestellt, eng und mit einer niedrigen Steindecke. Doch die Krypta war riesig, soweit Cherry das in der Dunkelheit beurteilen konnte. Im spärlichen Licht der Taschenlampe erblickte sie mehrere Nebenkammern des eigentlichen Andachtsortes, wo sich die Steinsärge befanden.

„Wer liegt hier eigentlich begraben?“, flüsterte sie. Cherry wusste selbst nicht, weshalb sie die Stimme senkte. Die Toten konnten sie ganz gewiss nicht hören. Aber es wäre ihr nicht eingefallen, in der Krypta mit normaler Lautstärke zu sprechen. Die Atmosphäre dieses jahrhundertealten Begräbnisraums zog sie in ihren Bann.

„Lord Dunnington und seine Familie. Er herrschte im 15. Jahrhundert über diese Gegend, bevor die ganze Sippe der Pest zum Opfer fiel. Das Geschlecht der Dunningtons ist ausgestorben, Dunnington Castle gehört inzwischen dem Staat.“

Cherry nickte, während sie die mächtigen Grabmäler betrachtete. Wieder einmal wunderte sie sich, wie es Menschen vergangener Jahrhunderte ohne moderne Maschinen geschafft hatten, derartig große Steinplatten zu bewegen. Als sie ehrfürchtig die Steinsärge betrachtete, fiel ihr auf, in welchem guten Zustand sie waren.

„Was hat ein Restaurator hier verloren?“

„Wie bitte?“, fragte Mark verständnislos.

„Ich hatte gerade nur laut nachgedacht. Ich frage mich, ob Blackburn überhaupt an diesen Sarkophagen gearbeitet hatte. Ich stehe zwar erst am Anfang meines Studiums. Aber für mich sehen diese Steinsärge nicht frisch restauriert aus. Wie viele stehen überhaupt hier unten?“

„Vier. Blackburn muss aber nicht unbedingt an den Särgen gearbeitet haben. Es gibt ja auch noch die Wände, die mit zahlreichen Fresken bemalt sind. Da ist schon eher etwas zu tun, schätze ich.“

Mark leuchtete an den Sarkophagen vorbei. Und wirklich entdeckten sie einige Meter weiter Blackburns Werkzeug, außerdem einige steinerne Ornamente, die er offenbar aus der Wand gelöst hatte.

„Und was ist unter der Plastikplane dort?“, wollte Cherry wissen.

Mark zuckte mit den Schultern. „Vielleicht noch weitere Verzierungen? Mal sehen.“

Er zog die Abdeckung zur Seite. Cherry biss sich auf die Lippe, um nicht laut aufzuschreien.

Unter der Plane waren Knochen und ein Totenschädel versteckt!

Mark richtete weiterhin den Lichtstrahl auf die menschlichen Überreste. Cherry zweifelte nicht daran, dass die Skelettteile von einem Mann oder einer Frau stammten und nicht von einem Tier. Sie war zwar keine Anatomieexpertin, aber sie war sich trotzdem ziemlich sicher. Beide schwiegen betreten. Mark fand als Erster die Sprache wieder.

„Was soll das, Cherry? Warum öffnet Blackburn die Sarkophage und nimmt die Knochen heraus?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das kann er nicht getan haben. Glaubst du wirklich, er hätte die steinernen Sargdeckel bewegen können? Selbst mit Sam Lonnegans Hilfe wäre das nicht zu schaffen. Oder hat er irgendeine hydraulische Maschine hier unten?“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Er könnte so ein Gerät wohl kaum in die Krypta schaffen, ohne dass ich es bemerke.“

„Eben. Also müssen diese Skelettteile woanders herstammen. Du hast mir doch von diesen mysteriösen Gemächern und dem Geheimgang erzählt, Mark. Wenn es diese Räume wirklich gibt, dann sind das vielleicht die sterblichen Überreste von Sir Geoffrey Stowe!“

„Du meinst, Blackburn hat den Schatz gefunden?“

„Falls es dieses sogenannte Gruftgold überhaupt gibt“, schränkte Cherry ein. „Außerdem ist Blackburn Restaurator und kein Schatzgräber. Es sei denn …“

Sie verstummte, bevor sie den Satz beenden konnte. Es war schon ziemlich heftig, was ihr gerade durch den Kopf gegangen war.

„Was wolltest du sagen?“, fragte Mark.

„Ich dachte mir, dass Blackburn das Gold vielleicht heimlich beiseiteschaffen will. Aber jetzt komme ich mir schon blöd vor, weil ich diesen Verdacht überhaupt habe. Ich meine, Blackburn ist mir nicht besonders sympathisch. Aber das macht ihn noch lange nicht zu einem Verbrecher. Weißt du eigentlich von der Geheimschrift in dem verschwundenen Kirchenbuch?“

Cherry beschloss spontan, Mark noch mehr Vertrauen zu schenken. Darum berichtete sie ihm von dem Kirchenbuch mit der Geheimschrift, das Father Nolan ihr gezeigt hatte. Bei der schlechten Beleuchtung konnte sie Marks Gesicht nicht sehen, aber seine Stimme klang beeindruckt.

„Davon höre ich heute zum ersten Mal. Und du glaubst, ohne diese Schrift könnte man die verborgenen Nebengemächer nicht finden?“, fragte er.

„Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll. Aber ich überlege schon, woher der Schädel und die Knochen stammen.“

„Ja, wir sollten …“

Mark unterbrach sich, denn plötzlich war Blackburns Stimme zu hören. Sie klang noch weit entfernt, obwohl es in der Krypta schwierig war, Entfernungen abzuschätzen. Cherry vermutete, dass er sich am Kirchenportal mit Sam Lonnegan unterhielt.

„Raus!“, zischte sie und begann im selben Moment zu laufen. Auch Mark rannte los, was in der Finsternis gar nicht so einfach war. Nur der schmale Lichtstrahl der Taschenlampe wies ihnen den Weg. Cherry stolperte, als sie die steilen Treppenstufen erreichten. Aber zum Glück konnte sie sich noch fangen. Sie und Mark rasten die Stiege hoch, wobei sie immer zwei Stufen auf einmal nahmen.

Völlig außer Atem rannte Cherry zu ihrem Beichtstuhl, kniete sich hin und begann mit dem Schmirgeln. Mark verschwand bei seinen Holzarbeiten. Sie hörte, wie er zu hämmern begann. Im nächsten Moment betrat Blackburn die Kirche.

Cherry rang immer noch nach Luft. Sie befürchtete schon, der Restaurator würde sie in ein Gespräch verwickeln. Aber ihr Boss warf ihr nur einen prüfenden Blick zu. Dann murmelte er etwas Unverständliches und verschwand grußlos in der Krypta.

Während Cherry sich nun konzentriert dem Schmirgeln widmete, ordnete sie ihre Gedanken. Sie konnte lange mutmaßen, woher die menschlichen Überreste in der Krypta stammten. Wenn sie sich Gewissheit verschaffen wollte, musste sie die unterirdische Begräbnisstätte genau untersuchen. Bevor sie keine Beweise hatte, konnte sie auch nicht zur Polizei gehen. Womöglich gab es eine ganz harmlose Erklärung für die Skelettteile. Aber wenn sie Blackburn grundlos bei Sergeant Murdoch anschwärzte, dann konnte sie ihr Praktikum endgültig vergessen.

Ob der Restaurator Amber Page getötet hatte?

Cherry konnte nicht verhindern, dass ihr dieser Gedanke immer wieder kam. Allerdings fehlte ihr bislang ein überzeugendes Motiv für die Bluttat. Es war allerdings vorstellbar, dass Amber und Blackburn sich gekannt hatten. Cherry beschloss, nach Feierabend sofort online zu gehen. Gewiss fand sie im Internet mehr Informationen über die ermordete junge Frau. Sergeant Murdoch hatte ja bisher nicht mehr genannt als den Namen und ihren Herkunftsort, nämlich das Dörfchen Gates.

Während der nächsten Stunden passierte nichts Aufregendes. Am Abend kehrte Blackburn aus der Krypta zurück.

„Sie können jetzt Feierabend machen, Miss Wynn. Sagen Sie bitte auch Mark Gilmore Bescheid.“

„In Ordnung, Sir. Auf Wiedersehen. Bis morgen.“

Der Restaurator erwiderte den Gruß und verschwand erneut, diesmal allerdings in der Sakristei. Am liebsten wäre Cherry sofort in die Krypta geschlichen, aber das wollte sie jetzt nicht riskieren. Stattdessen ging sie zu Mark hinüber, der sie anlächelte, als er sie erblickte.

„Unser Feierabend wurde soeben eingeläutet. Hast du schon was vor, Mark?“, fragte sie ihn.

„Ja, habe ich. Normalerweise würde ich mich lieber mit dir treffen, aber heute ist der Übungstag der freiwilligen Feuerwehr. Da bin ich schon seit ewigen Zeiten dabei, das hat in meiner Familie Tradition. Mein Dad und mein Grandpa waren auch schon ehrenamtliche Brandbekämpfer.“

„Alles klar, dann sehen wir uns morgen hier in St. Andrews.“

Cherry war einerseits etwas enttäuscht, weil sie gerne mehr Zeit mit Mark verbracht hätte. Er tat ihr einfach gut. An seiner Seite war alles locker und unkompliziert. Aber andererseits wollte sie es ja langsam angehen lassen. Deshalb war es vielleicht gar nicht so schlecht, dass sie den Abend für sich allein hatte.

Schließlich wollte sie sich längst schon wieder telefonisch bei ihrer besten Freundin Rhonda gemeldet haben. Die täglichen Gespräche mit ihr fehlten Cherry sehr. Aber in letzter Zeit war einfach zu viel passiert. Außerdem wollte sie sich auch noch informieren, ob es in Pittstown einen Karateklub gab, in dem sie Mitglied werden konnte.

Auf dem Heimweg fiel Cherry ihre Widersacherin Jenny ein. Während des ganzen Tages war sie nicht in Erscheinung getreten, jedenfalls hatte Cherry nichts davon bemerkt. Jetzt achtete sie sorgfältig darauf, ob sie verfolgt wurde oder ob ihr irgendwo jemand auflauerte. Aber alles schien ruhig zu sein. Vielleicht hatte Jenny ja die Lust am Stalken verloren. Cherry hätte jedenfalls nichts dagegen gehabt.

Als Cherry die Pension erreichte, wurde sie bereits von Thelma Miller erwartet. Die alte Dame saß in der Küche und hörte Radio. Cherry wollte etwas sagen, aber stattdessen lauschte sie lieber auf die Nachrichten, die soeben verlesen wurden.

„Auf der Landstraße zwischen Norwich und Great Yarmouth wurde in den frühen Morgenstunden die Leiche einer jungen Frau gefunden. Die Kriminalpolizei hat die Ermittlungen aufgenommen. Wie soeben bekannt wurde, ist das Opfer erwürgt worden. Die Polizei verfolgt alle denkbaren Spuren. Es wird auch geprüft, ob die zwanzigjährige Elizabeth K. von dem sogenannten Suffolk-Killer getötet wurde. Ihr Alter und die Vorgehensweise des Mörders lassen diese Möglichkeit als denkbar erscheinen. Nun zum Wetter …“

Die Pensionswirtin schaltete das Radio aus. Sie hatte bemerkt, dass Cherry hereingekommen war. Die beiden Frauen schauten sich an.

„Ist das nicht furchtbar, Cherry? Ich frage mich wirklich, was in solch einem Menschen vorgeht.“

„Wir wissen es nicht, und vielleicht werden wir es nie erfahren.“

Thelma Miller nickte. „Und im Pfarrhaus ist auch etwas passiert, nicht wahr?“

„Woher wissen Sie das denn schon?“

„Pittstown ist nun mal eine kleine Stadt. Hier verbreiten sich Nachrichten fast noch schneller als in den sozialen Netzwerken im Internet.“

Die Pensionswirtin hatte also bereits gehört, was mit Father Nolan geschehen war. Dennoch musste Cherry ihr haarklein davon berichten, während Thelma Miller das Abendessen zubereitete.

„Ich hoffe nur, dass Father Nolan bald aus der Bewusstlosigkeit aufwacht. Und die Polizei hat wirklich noch keinen Hinweis auf den Täter?“, wollte die Pensionswirtin wissen.

„Soweit ich weiß, wird ein Landstreicher verdächtigt. Aber ob er es war, ist zweifelhaft.“

„Ich wette, du hast auch eine Meinung dazu“, erwiderte Thelma Miller, wobei sie Cherry verschwörerisch zublinzelte.

„Ja, die habe ich. Aber ohne Beweise will ich niemanden beschuldigen.“

Cherry glaubte nämlich, dass Blackburn den Pfarrer niedergeschlagen und das Kirchenbuch gestohlen hatte. Vielleicht war er sogar für den Tod von Amber Page verantwortlich. Das war jedenfalls ihr Verdacht.

Oder ob Jenny etwas damit zu tun hatte? Zwar fiel das Motiv Eifersucht bei dem Pfarrer weg, aber Marks Ex handelte unberechenbar. Bei ihr musste man auf alles gefasst sein.

„Ich hoffe nur, dass dieser Fall bald aufgeklärt wird. Bisher fand ich das Leben in Pittstown oftmals öde und langweilig. Doch allmählich fehlt mir die Ruhe“, meinte Thelma Miller.

Cherry nickte, obwohl sie mit ihren Gedanken schon ganz woanders war. Nach dem Essen ging sie schnell auf ihr Zimmer und schaltete ihr Notebook ein. Dann durchstöberte sie das Internet mit dem Suchbegriff Amber Page. Es gab mehrere Frauen, die so hießen. Doch gleich der erste Suchmaschinenlisteneintrag war ein Volltreffer.

Cherry klickte auf Ambers Homepage bei dem sozialen Netzwerk „Albiona“.

Sie war dort ebenfalls registriert. Cherry fühlte sich schlecht, als sie das Porträtfoto der Toten ganz oben links auf der Homepage erblickte. Amber Page hatte eine ellenlange Freundesliste gehabt, aber sie – Cherry – würde niemals Ambers Freundin werden können, nicht in diesem Leben. Offenbar war Amber ein großer Fan der „Wild Beasts“, gewesen, jedenfalls handelten viele Blog-Einträge von dieser Band, und es gab auch einen Link auf die Homepage der „Wild Beasts“.

Doch das interessierte Cherry jetzt überhaupt nicht. Sie scrollte bis zum Ende von Ambers „Albiona“-Auftritt. Dort befand sich ein Foto, von dem Cherry ihren Blick nicht abwenden konnte. Amber musste es kurz vor ihrem Tod selbst gemacht und dann an ihre Homepage gepostet haben.

Die Aufnahme zeigte die verkniffen lächelnde Amber. Doch wichtiger als die Ermordete war für Cherry der Bildhintergrund. Amber hatte sich nämlich vor dem Altar von St. Andrews abgelichtet. Das war eindeutig zu erkennen. Und außerdem – ein Stück weit hinter Amber konnte man halb im Schatten eine bedrohliche Gestalt sehen. Offenbar hatte Amber nicht gewusst, dass der Unheimliche hinter ihr stand. Cherry kniff die Augen zusammen. Leider war es nicht möglich, die Gesichtszüge der zweiten Person zu erkennen. Aber vielleicht konnte die Polizei mit spezieller Fotobearbeitung mehr aus dem Schnappschuss herausholen. Ob Inspektor Abercrombie überhaupt schon etwas von diesem Bild wusste?

Cherry bezweifelte es. Sie fischte die Visitenkarte des Kriminalbeamten aus ihrer Tasche und rief ihn sofort an. Doch bei Inspektor Abercrombies Festnetzanschluss lief nur die Mailbox, und sein Mobiltelefon war abgeschaltet. Vielleicht hatte er ja gerade einen Einsatz. Jedenfalls sprach Cherry ihm die wichtigsten Infos auf das Band und bat um Rückruf.

Danach lief sie ruhelos in ihrem Zimmer umher. Das Gefühl, etwas Wichtiges herausgefunden zu haben, ließ sie nicht los. Cherry war viel zu aufgeregt, um jetzt Schlaf finden zu können. Sie wollte Mark anrufen, bis ihr einfiel, dass er bei der Feuerwehrübung war. Sie zog ihre Jacke über und eilte die Treppe hinunter.

„Ich gehe noch mal an die frische Luft. Bis später!“, rief Cherry ihrer Wirtin zu, die in der Küche aufräumte. Sie wartete keine Antwort ab, sondern verließ das Haus. Die Sommernacht war schön, aber nicht so warm, dass man sich im T-Shirt draußen hätte aufhalten können. Von der Küste, in deren Nähe Pittstown lag, wehte ein frischer Wind. Ziellos streifte Cherry durch die Straßen. Es wunderte sie nicht, dass sie wenig später vor der Friedhofsmauer stand. Unbewusst hatte sie den Weg nach St. Andrews eingeschlagen. Nach ihrer Entdeckung des Bildes auf Ambers Homepage konnte Cherry das Rätsel nicht einfach beiseiteschieben. Natürlich wäre es vernünftiger gewesen, die Ermittlungen der Polizei zu überlassen.

Aber Cherry wurde von ihrer unstillbaren Neugier getrieben. Es war ja auch immer noch nicht geklärt, wer den Balken von der Chorempore auf sie hinabgeworfen hatte. Sie glaubte nicht daran, dass es irgendwelche verantwortungslosen und gelangweilten Jugendlichen gewesen waren. Seit sie in Pittstown angekommen war, hatte sie niemals irgendwelche Kids in der Nähe der Kirche herumlungern sehen.

Blackburn schied zumindest für den Anschlag auf sie als Täter aus. Aber wer war es dann gewesen? Cherry hatte das Gefühl, einer ganz großen Sache auf der Spur zu sein.

Und dann bemerkte sie plötzlich die Gestalt.

Ihr Adrenalinspiegel schoss in die Höhe. Sie konnte sich gerade noch hinter der niedrigen Friedhofsmauer verstecken, um nicht gesehen zu werden. Doch der Unbekannte nahm von Cherry keine Notiz. Soweit sie es bei den schlechten Lichtverhältnissen erkennen konnte, wandte er ihr nämlich den Rücken zu und schlich über den Gottesacker auf das Pfarrhaus zu.

Cherry griff sofort nach ihrem Handy, das sie in die Jackentasche gesteckt hatte. Inspektor Abercrombie hatte sie nicht erreicht, aber die Polizeiwache war gewiss rund um die Uhr besetzt. Wenn Sergeant Murdoch und seine Kollegen anrückten, dann würden sie dem nächtlichen Besucher gewiss ein paar unangenehme Fragen stellen. Vielleicht war ja der Räuber an den Tatort zurückgekehrt, weil er noch etwas vergessen hatte?

Doch Cherry konnte nicht telefonieren, denn ihr Gesprächsguthaben war aufgebraucht. Sie besaß nämlich nur noch ein Prepaid-Handy, nachdem sie früher wegen viel zu hoher Mobilfunkrechnungen so manche schlaflose Nacht verbracht hatte. Aber momentan hätte sie viel dafür gegeben, ein funktionsfähiges Handy zu haben. Cherry biss sich auf die Unterlippe. Sie konnte natürlich zu einer Tankstelle gehen und dort ein Prepaid-Guthaben kaufen. Aber bis sie zurück war, würde der Unbekannte wahrscheinlich über alle Berge sein.

Cherry war weder feige noch draufgängerisch, sondern sie versuchte in riskanten Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Dadurch hatte sie sich manchmal schon aus der Affäre ziehen können, wenn sie auf dem nächtlichen Heimweg in London bedroht worden war. Allerdings wusste Cherry, dass sie dank ihres Karatetrainings Selbstbewusstsein ausstrahlte. Allein das war schon ein Grund, dass sie oft in Ruhe gelassen wurde. Ihr Trainer hatte ihr beigebracht, sich nicht in die Opferrolle drängen zu lassen.

Und genau aus diesem Grund wollte Cherry jetzt an der unbekannten Person dranbleiben. Natürlich hätte sie zur Wache laufen können, um die Polizei zu informieren. Aber sie beschloss spontan, den Verdächtigen lieber selbst im Auge zu behalten. Sie schwang sich über die Friedhofsmauer und blieb einen Moment lang in Lauerstellung, die Muskeln angespannt und bereit zur Flucht. Doch es sah nicht so aus, als ob die Gestalt Cherry bemerkt hätte. Der dunkle Körper bewegte sich immer noch auf das Pfarrhaus zu. Cherry fragte sich, ob sie es mit einer Frau oder einem Mann zu tun hatte. Das konnte sie unmöglich einschätzen. Es war schwierig genug, die Gestalt in der Finsternis im Auge zu behalten. Wenn sie nun den Suffolk-Killer vor sich hatte? Dieser Gedanke verursachte ihr eine Gänsehaut. Aber dann erinnerte sie sich an die Radiomeldung, die sie vorhin gehört hatte. Wenn der Kerl wirklich zwischen Norwich und Great Yarmouth zugeschlagen hatte, war es sehr unwahrscheinlich, dass er wieder in die Gegend von Pittstown zurückkehrte.

Oder vielleicht doch?

Konnte man die Denkweise eines Serienmörders überhaupt mit normalen Maßstäben messen? Wahrscheinlich nicht. Außerdem gab es keinen Beweis dafür, dass der Mord an dieser Elizabeth K. wirklich auf das Konto des Suffolk-Killers ging. Wie auch immer, momentan war Cherrys Neugier größer als ihre Furcht. Trotzdem lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, als sie sich an das Phantombild des Täters erinnerte. Aber wer immer sich dort vor ihr befand – er ahnte nicht, dass sie ihn beobachtete. Das war ihr entscheidender Vorteil.

Cherry huschte über den Friedhof, wobei sie sich hinter den Grabsteinen duckte, um von dem Unbekannten nicht gesehen zu werden. Plötzlich war er hinter der Ecke des Pfarrhauses verschwunden. Was nun? Cherry atmete tief durch. Die eingeschlagene Fensterscheibe war provisorisch durch eine Holzplatte ersetzt worden. Außerdem hatte die Polizei das Haus nach der kriminaltechnischen Untersuchung wieder verschlossen. Aber vielleicht gab es an der Hinterfront einen weiteren Eingang, von dem Cherry nichts wusste?

Sie wartete noch eine Minute, bevor sie ihren ganzen Mut zusammennahm und sich ebenfalls hinter das Haus schlich. Bingo! dachte Cherry. Im fahlen Mondlicht sah sie eine schmale Tür, die angelehnt war. Dort musste der Unbekannte in das Pfarrhaus eingedrungen sein. Obwohl ihr Herz vor Aufregung raste, schlich Cherry sich näher heran. Die Tür stand nur eine Handbreit weit auf, im Inneren herrschte schwärzeste Finsternis. Offenbar benutzte der Eindringling keine Taschenlampe, aber er schaltete auch keine der Lampen ein. Cherry lauschte. Dann riskierte sie es, die Tür ein wenig weiter zu öffnen.

Im nächsten Moment bekam sie einen kräftigen Stoß in den Rücken. Cherry taumelte vorwärts in das Gebäude hinein. Die Tür wurde hinter ihr zugerammt. Es ertönte ein metallisches Klicken, als ein Riegel vorgelegt wurde.

Cherry war gefangen.