6. KAPITEL

„Hey, was soll das?! Das ist nicht witzig. Sofort aufmachen!“

Mit beiden Fäusten hämmerte Cherry gegen die Tür aus massivem Eisen. Doch tief in ihrem Inneren glaubte sie nicht, dass dies ein dummer Scherz war. Jemand hatte ihr eiskalt eine Falle gestellt, und sie war darauf hereingefallen. Aber wer lauerte jetzt dort draußen? Der Mörder von Amber Page? Oder der Typ, der beinahe den Pfarrer erschlagen hätte? Handelte es sich vielleicht um ein und dieselbe Person?

Cherry konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, denn sie fühlte sich völlig wehrlos.

Von draußen war kein Laut zu hören. Deshalb wusste sie nicht, ob ihr Gegner noch dort stand oder bereits weggegangen war. Was führte er im Schilde? Cherry atmete tief durch, um ihre Panik in den Griff zu bekommen und ruhiger zu werden. Sie hatte beim Kampfsport gelernt, dass Kopflosigkeit stets zur Niederlage führt. Solange der Unbekannte nicht zu ihr hereinkam, ging keine Bedrohung von ihm aus. Sie musste versuchen, ihre Umgebung genauer zu erkunden.

Doch das war nicht einfach, denn es gab kein Fenster. Zwischen Tür und Rahmen drang ebenfalls kein Licht hinein, außerdem war draußen ja immer noch tiefe Nacht. Aber vielleicht gab es eine Lampe in dem Raum?

Cherry tastete sich an den Wänden entlang. Sie befand sich in einem Lagerraum, in dem offenbar nur Holzscheite aufbewahrt wurden. Etwas anderes konnte sie jedenfalls nicht unter ihren Fingern spüren. Eine zweite Tür, die ins Innere des Pfarrhauses führte, schien es nicht zu geben. Doch dann berührte ihre Hand plötzlich einen Lichtschalter.

Cherry knipste ihn an – und es geschah nichts!

Sie unterdrückte einen Fluch und versuchte es noch mehrere Male. Entweder war das Kabel nicht ans Stromnetz angeschlossen, oder es war keine Glühbirne in die Fassung geschraubt. Woran es lag, war letztlich egal. Auf jeden Fall befand sie sich weiterhin im Dunkeln.

„Ich will hier raus, verflixt noch mal!“

Cherry stieß diesen Schrei aus und schlug so kräftig gegen die metallene Tür, dass ein fürchterlicher Schmerz ihre Hand durchfuhr. Die unerwartet heftige Qual trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie glitt an der Wand hinab, kauerte sich auf den Boden und wartete schluchzend darauf, dass die pochende Pein in ihren Fingern nachließ. Ob einer ihrer Finger gebrochen war? Es fühlte sich nicht so an, obwohl es elend wehtat.

Allmählich konnte Cherry wieder klarer denken.

Sie befand sich in einer üblen Lage. Niemand wusste, dass sie hier war. Als sie in der Pension losgegangen war, hatte sie ja selbst noch nicht gewusst, dass sie zum Pfarrhaus wollte. Unterwegs war ihr niemand begegnet, von dem Unbekannten einmal abgesehen. Und telefonieren konnte sie nach wie vor nicht. Doch selbstverständlich konnte sie immer noch angerufen werden. Daher ließ sie ihr Mobiltelefon eingeschaltet. Wenigstens war der Akku aufgeladen. Ihr Handy würde mindestens zehn Stunden lang einsatzbereit bleiben. Aber so lange würde sie hoffentlich nicht hier ausharren müssen.

Ob man ihre Schreie hören konnte? Im Pfarrhaus hielt sich niemand auf, denn Father Nolan war im Hospital. In der Nähe des Friedhofs gab es keine Wohnhäuser. Also blieb die Kirche. Wenn sie Glück hatte, arbeiteten Blackburn und Sam Lonnegan dort noch.

Glück? Cherry führte sich vor Augen, dass Blackburn ihr persönlicher Hauptverdächtiger war. Ob er es war, der sie eingesperrt hatte? Falls ja, dann würde er sie sowieso nicht befreien. Sie hatte buchstäblich nichts zu verlieren. Deshalb rief sie so laut um Hilfe, dass ihre eigenen Trommelfelle schmerzten. Natürlich konnte sie nicht einschätzen, wie gut ihre Stimme draußen zu hören war. Die Mauern des Pfarrhauses waren beinahe ebenso dick wie die der Kirche. Cherry holte tief Luft und presste ihr linkes Ohr gegen die kalte Eisentür. Es drang kaum ein Geräusch in ihr Gefängnis. Sie musste sich sehr stark konzentrieren, um den Autoverkehr von der weiter entfernten Durchgangsstraße hören zu können.

Nachdem der Schmerz in ihrer Hand beinahe vollständig abgeklungen war, erwachte Cherrys Tatendrang erneut. Es kam ihr jetzt sinnlos vor, sich die Seele aus dem Leib zu schreien. Das Pfarrhaus war verlassen. Logisch, dass niemand sie dort hören konnte. Cherry zweifelte nun nicht mehr daran, dass Blackburn der Täter war. Vermutlich hatte er Sam Lonnegan nach Hause geschickt und dann Cherry aufgelauert. Zunächst hatte er so getan, als ob er seine Verfolgerin nicht bemerken würde. Er wollte sie in Sicherheit wiegen. Und dann schlug er aus dem Hinterhalt zu.

Aber weshalb hatte er sie noch nicht getötet, sondern hielt sie stattdessen in diesem Kabuff gefangen?

Darüber konnte Cherry nur vage spekulieren. Sie wollte sich lieber selbst befreien. Ihr war eine neue Idee gekommen. Sie nahm einen der Holzscheite zur Hand, die an den Wänden aufgestapelt lagen. Cherry wollte versuchen, ihn als Hebel zu benutzen, um die verriegelte Tür aufzubrechen. Doch das war nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatte. Das erste Stück Brennholz war viel zu breit, um in den Spalt zwischen Tür und Rahmen zu passen. Da es stockfinster war, konnte Cherry ein geeignetes Stück Holz nur mithilfe ihres Tastsinns auswählen. Das zweite Stück Holz passte besser. Doch als sie es eingepasst hatte und dagegendrückte, brach es sofort ab. Cherry war so verzweifelt, dass ihr ein paar Tränen über die Wangen liefen, bevor sie weitermachte. Vermutlich war es sinnlos, denn Tür und Rahmen waren aus massivem Metall. Aber Cherry konnte nicht einfach dasitzen und darauf warten, dass das Schicksal ein Einsehen mit ihr hatte. Sie musste handeln.

Plötzlich klingelte ihr Handy.

Cherry stieß einen Jubelschrei aus. Jetzt hatte sie die Chance, um Hilfe zu bitten. Doch leider lag ihr Handy irgendwo auf dem Boden neben ihr. Das Display leuchtete auf. Hastig griff sie nach dem Gerät, doch in der Aufregung rutschte es ihr wieder aus der Hand. Inzwischen hatte das Mobiltelefon schon mehrere Male geklingelt. Als Cherry das Gespräch endlich annehmen konnte, hatte der Anrufer soeben aufgegeben. Auf dem Display erschien die Nachricht: 1 Anruf in Abwesenheit: Mark.

Am liebsten hätte Cherry das Handy auf den Boden geworfen und zertrampelt. Doch sie beherrschte sich, obwohl ihre Enttäuschung grenzenlos war. War sie denn nur vom Pech verfolgt? Aber dann meldete sich ihr Telefon zum Glück erneut. Diesmal konnte sie es sofort aktivieren, obwohl ihre Hände heftig zitterten.

„Hallo?“

„Hier ist Mark. Ich habe gerade eben schon versucht, dich zu erreichen. Bist du okay, Cherry? Deine Stimme klingt so seltsam. Soll ich lieber wieder auflegen?“

„Ja! Ich meine, nein! Bitte lege nicht auf, keinesfalls. Ich bin so froh, dass du anrufst. Du wirst nicht glauben, was mir passiert ist.“

Cherry erzählte, wo sie sich befand und wie sie dorthin gekommen war. Als Mark antwortete, klang seine Stimme sehr aufgeregt. Es schien ihm viel an ihr zu liegen, dessen war sie sich sicher.

„Ich hole dich da sofort raus. Und ich werde auch die Polizei anrufen. Wir müssen damit rechnen, dass der Täter sich noch irgendwo in der Nähe herumtreibt.“

„Ja, das fürchte ich auch. Sei vorsichtig, Mark. Bis gleich.“

Als Cherry das Gespräch beendet hatte, klopfte ihr Herz heftig. Sie konnte ihre Ungeduld kaum bezwingen, während sie zugleich eine ungeheure Erleichterung empfand. Sie spürte, dass sie sich auf Mark hundertprozentig verlassen konnte. In diesem Moment hatte sie daran keinen Zweifel mehr. Jetzt konnte ihr nur noch Blackburn einen Strich durch die Rechnung machen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, die Polizei zu verständigen. Wenn er nun eine Verzweiflungstat beging, weil er von den Beamten in die Enge getrieben wurde, und Cherry als Geisel nahm?

Kaum war ihr dieser beängstigende Gedanke gekommen, hörte sie das Geräusch von Polizeisirenen, die sich näherten. Cherry hatte jedes Zeitgefühl verloren. Sie wusste nicht, wie viele Minuten seit ihrem Telefonat mit Mark verstrichen waren. Aber es konnte noch nicht lange her sein.

Sie stellte sich in Kampfstellung vor die Tür. Falls Blackburn sie jetzt überwältigen wollte, würde sie ihn mit einem Karatetritt empfangen. Er konnte nicht wissen, dass sie eine Kampfsportart beherrschte. Diesen Überraschungseffekt würde sie für sich nutzen. Von draußen drang das Geräusch quietschender Reifen an ihr Ohr. Autotüren wurden zugeschlagen, es folgte der Klang von schnellen Schritten auf den Kieswegen des Friedhofs. Dann schob endlich jemand den Riegel zurück und öffnete die Tür.

Cherry blickte in die Gesichter von Sergeant Murdoch – und von Mark. Im Hintergrund war auch Officer Hickey zu sehen.

Ohne ein Wort zu sagen, umarmte Cherry Mark. Sofort fiel die nervliche Anspannung von ihr ab, als er sie an sich zog und ihr beruhigend über das Haar strich.

Einen Moment lang blieben sie und Mark eng umschlungen stehen, bis sich Sergeant Murdoch räusperte.

„Sind Sie verletzt, Miss Wynn? Haben Sie eine Ahnung, wer Sie dort eingesperrt haben könnte?“

„Es war Blackburn!“, rief Cherry spontan. „Ihn müssen Sie verhaften. Bestimmt treibt er sich noch irgendwo in der Nähe herum!“

Aber bevor der Polizist fragen konnte, wie sie zu ihrem Verdacht kam, schüttelte Mark betrübt den Kopf. „Ich glaube nicht, dass es der Restaurator war, Cherry. Sieh nur.“ Er deutete auf den Boden.

Im Lichtkegel von Sergeant Murdochs Taschenlampe war eine Haarspange zu sehen. Cherry blinzelte. Sie trug keine Haarspangen. Und Blackburn ganz sicher auch nicht.

„Diese Spange stammt von Jenny Read“, fuhr Mark fort, wobei er sich an den Sergeant wandte. „Sie trägt ständig solchen Haarschmuck. Sergeant Murdoch, Jenny ist meine Ex, die auf Cherry Wynn eifersüchtig ist und ihr das Leben schwer macht.“

Der Polizeibeamte runzelte die Stirn. „Wenn das so ist, dann wird uns Jenny Read Rede und Antwort stehen müssen. Und was Mr Blackburn angeht, so glaube ich zu wissen, wo er sich aufhält. Wollen Sie mitkommen, Miss Wynn? Oder sollen wir Sie besser zu einem Arzt bringen?“

„Mir fehlt nichts“, antwortete Cherry aufgeregt. „Seit ich wieder frische Luft atme, fühle ich mich erstklassig.“

Und das stimmte wirklich. Es war schrecklich gewesen, eingesperrt zu sein. Obwohl es nur kurze Zeit gedauert hatte, wollte Cherry den Täter unbedingt erwischen. Wer immer das getan hatte, sollte sich dafür verantworten müssen. Sie hätte schwören können, dass Blackburn hinter dieser Geschichte steckte. Aber da war andererseits die Haarspange, die auf Jenny deutete.

Cherry war sehr nervös. „Ich habe mich einfach austricksen lassen. Ich wollte diese unbekannte Gestalt im Auge behalten, aber sie muss es irgendwie geschafft haben, hinter mich zu kommen. Ich wurde in die Falle gelockt. Aber ich habe keinen blassen Schimmer, was das alles bedeuten soll.“

Beruhigend legte Mark seinen Arm um ihre Schultern. „Hey, nun komm mal wieder runter. Das Wichtigste ist doch, dass dir nichts geschehen ist. Es war gewiss übel, hier eingesperrt gewesen zu sein. Aber es ist doch noch einmal gut gegangen.“

Sie nickte und genoss es einfach nur, so nahe bei ihm zu sein. Dadurch ging es ihr sofort besser. Cherry und Mark durften hinten im Streifenwagen Platz nehmen. Die Polizisten fuhren mit ihnen zum Cromwell Arms, einem der wenigen Pubs von Pittstown. Alle Gäste blickten auf, als plötzlich zwei uniformierte Polizisten sowie Cherry und Mark die nostalgisch eingerichtete Gaststube betraten.

Cherry machte sich nicht viel aus Alkohol. Die Cocktails, die sie mit ihren Freundinnen zum Abschied getrunken hatte, waren eine absolute Ausnahme gewesen. Vor allem mochte Cherry kein Bier, deshalb machte sie auch einen weiten Bogen um normale Pubs. Ohnehin zog es sie eher in coole Bars, aber so etwas suchte man hier in der Provinz natürlich vergeblich.

Blackburn und Sam Lonnegan saßen mit einigen älteren Einheimischen zusammen beim Bier. Sergeant Murdoch legte grüßend die Hand an seinen Mützenschirm und trat an ihren Tisch.

„Was ist denn los? Haben Sie Miss Wynn verhaftet?“, fragte Blackburn ironisch. Der Sergeant schüttelte den Kopf und erklärte, was geschehen war. Dann fügte er hinzu: „Wir suchen noch Zeugen. Haben Sie, Mr Blackburn, oder Sie, Mr Lonnegan, in der Kirche oder der näheren Umgebung fremde Personen bemerkt? Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“

„Mr Lonnegan und ich sind einer Einladung des Herrn Bürgermeisters gefolgt“, sagte Blackburn und deutete auf einen älteren Mann mit einem riesigen weißen Schnurrbart. „Der Bürgermeister und die Herren vom Stadtrat interessieren sich sehr für die Fortschritte der Restaurierungsarbeiten von St. Andrews. Unsere Bierrunde hat vor ungefähr einer Stunde begonnen. Als ich zusammen mit Mr Lonnegan die Kirche verließ, habe ich nichts Verdächtiges bemerkt.“

Lonnegan nickte, um die Aussage seines Chefs zu bestätigen. Widerwillig musste sich Cherry eingestehen, dass sie mit ihrem Verdacht falsch gelegen hatte. Sie fand Blackburn immer noch verdächtig, aber zumindest hatten weder er noch Lonnegan sie eingesperrt. Cherry schaute auf die Uhr. Vor einer Stunde war sie gerade erst in ihrer Pension zu ihrem Abendspaziergang aufgebrochen. Hatte sie wirklich nur so kurz in dem Kabuff gesessen? Es war ihr vorgekommen wie eine halbe Ewigkeit.

Vielleicht hatte sie ja gekidnappt werden sollen. Aber dafür brauchte der Täter ein Auto, um sie fortzuschaffen. Besaß Jenny überhaupt einen Führerschein? Irgendwie konnte Cherry noch immer nicht glauben, dass Jenny die Täterin sein sollte, obwohl sie ihr völlig unsympathisch war. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass jemand aus purer Eifersucht so ausrasten konnte.

Auf jeden Fall hatten Blackburn und Lonnegan bombensichere Alibis. Ein Bierabend mit dem Bürgermeister und den Stadträten – eine bessere Entlastung gab es für die beiden sicher nicht.

Sergeant Murdoch entschuldigte sich für die Störung. Wenig später saßen alle wieder im Streifenwagen.

„Jenny Read wohnt doch noch bei ihrer Mutter, nicht wahr?“, fragte der Sergeant Mark.

„Ja, soweit ich weiß. Ich bin schon seit längerer Zeit nicht mehr mit ihr zusammen. Aber das will sie einfach nicht begreifen.“

„Dann sollten wir doch mal schauen, ob sie daheim ist.“

Die Polizisten fuhren zu einem schmalen Reihenhaus am Rand von Pittstown. Dort brannte noch Licht. Sergeant Murdoch klopfte mit der Faust an die Tür. Wenig später wurde von einer Frau geöffnet, die ungefähr so alt war wie Cherrys Mom. Es musste Jennys Mutter sein. Jedenfalls glaubte Cherry, eine Familienähnlichkeit zwischen der Frau und Marks Ex zu sehen.

„Polizei? Ist etwas mit Jenny passiert? Hallo, Mark. Schön, dich zu sehen.“

Mark murmelte ein paar Worte und blickte zur Seite. War es ihm unangenehm, Jennys Mutter gegenüberzutreten? Bevor Cherry darüber nachdenken konnte, ergriff der Sergeant das Wort.

„Wir wollen nur mit Jenny reden, Mrs Read. Ist sie zu Hause?“

„Nein, und ich weiß auch nicht, wo sie sich herumtreibt. Jenny kommt und geht, wie sie will. Leider hat sie ihren Job im Supermarkt verloren, weil sie so oft unentschuldigt gefehlt hat. Ich weiß wirklich nicht, was mit meiner Tochter los ist. Sie ist so launisch und unausgeglichen, das geht nun schon seit Wochen so. Mark, ich verstehe das überhaupt nicht. Du hattest doch früher immer so einen guten Einfluss auf Jenny.“

„Wir haben uns getrennt, Mrs Read. Aber Jenny will das nicht einsehen.“

„Getrennt?“ Mrs Read schüttelte den Kopf. „Das schaffst du doch gar nicht, Mark. Ich weiß, dass du Jenny liebst. Du hast doch schon einmal versucht, von ihr loszukommen.“

Jennys Mutter redete auf Mark ein, der einfach nur schwieg. Cherry spürte, wie ihre Laune auf den Nullpunkt sank. War doch noch mehr zwischen Mark und seiner Ex, als er ihr gestanden hatte? Mark wäre schließlich nicht der erste Typ, auf dessen glatte Fassade sie hereinfiel. Doch dann führte sie sich vor Augen, dass der Tipp mit der Haarspange schließlich von Mark stammte. Wenn er das Beweisstück nicht entdeckt hätte, wäre Cherrys Verdacht nie auf Jenny gefallen. Allerdings war es ihr immer noch schleierhaft, warum Marks Ex sie in das Holzlager eingesperrt hatte.

Zum Glück ließ sich Sergeant Murdoch nicht beirren. „Sprechen Sie jetzt bitte nicht mit Mark, sondern mit mir, Mrs Read. Ich muss Sie noch einmal fragen, ob Sie wissen, wo sich Ihre Tochter aufhält.“

„Nein, das weiß ich nicht. Was ist denn überhaupt los? Steckt Jenny in Schwierigkeiten?“ Mrs Read wirkte besorgt.

„Dürfen wir einen Blick in Jennys Zimmer werfen?“, fragte der Sergeant zurück.

„Also gut, meinetwegen. Wir haben nichts zu verbergen!“

Cherry lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als sie hinter den breiten Uniformrücken der Polizisten die steile Treppe ins erste Stockwerk hinaufstieg. Gleich würde sie das Zimmer ihrer Widersacherin zu sehen bekommen.

Es übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. Die Wände des schmalen Raums waren über und über mit düsteren Zeichnungen und Fotocollagen bedeckt. Wenn das Zimmer Jennys Seele widerspiegelte, dann sah es darin wirklich finster aus. Der Raum flößte Cherry Angst ein, obwohl sie sich nicht für einen Feigling hielt.

Sergeant Murdoch atmete tief durch. „Ihre Tochter soll sich umgehend bei der Polizei melden, Mrs Read. Wir benötigen ihre Aussage und wollen sie befragen. Wenn Jenny sich bis morgen Vormittag nicht gemeldet hat, lasse ich sie vorladen. Guten Abend.“

„Ich wette, dass Jennys Mutter sie irgendwo versteckt hält“, meinte Cherry, nachdem sie wieder in den Streifenwagen gestiegen waren.

„Das glaube ich nicht“, widersprach Mark. „Mrs Read schien wirklich keine Ahnung zu haben, was ihre Tochter momentan treibt.“

„Du musst es ja wissen, schließlich war Mrs Read eine Art Schwiegermutter für dich – oder ist sie das immer noch?“, fragte Cherry spitz, doch im nächsten Moment hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Sie hörte sich völlig eifersüchtig an, was sie auch tatsächlich war, wie sie sich eingestehen musste. Doch bevor sie sich so richtig mit Mark streiten konnte, glättete der Sergeant die Wogen. Offensichtlich hatte er nicht zum ersten Mal ein streitendes Pärchen in seinem Einsatzfahrzeug.

„Ich schlage vor, dass wir noch ein wenig durch die Stadt fahren. Es gibt in Pittstown nicht allzu viele Plätze, wo man sich verstecken kann. Vielleicht treffen wir ja jemanden, der Jenny gesehen hat.“

Langsam glitt der Streifenwagen durch die mittelalterlichen Gassen. Officer Hickey auf dem Beifahrersitz betätigte den Suchscheinwerfer, dessen starker Lichtstrahl in die düstersten Ecken vordrang. Sie fuhren auch durch die Kastanienallee, in der Cherry gemeinsam mit Mark an ihrem ersten Abend spazieren gegangen war. Wehmütig dachte sie an die romantische Stimmung zurück, in der sie sich befunden hatte. Diese Atmosphäre war jetzt komplett zerstört.

An der Bushaltestelle warteten einige Kids auf den letzten Bus Richtung London. Sie alberten herum, einige übten Tanzschritte. Der Sergeant kurbelte die Fensterscheibe herunter und fragte nach Marks Ex.

„Jenny? Die habe ich vorhin Richtung Friedhof laufen sehen“, sagte ein Rothaariger mit Justin-Timberlake-Frisur. „Sie hatte schwarze Klamotten an, was sonst überhaupt nicht ihr Stil ist. Sah wie ein Gruftie aus.“

„Wann war das?“

„Muss schon länger her sein, Sergeant. Vielleicht zwei Stunden.“

Das war die einzige Information, die sie bekommen konnten. Die Fahrt ging weiter.

„Und wenn Jenny sich nun in der Kirche verkrochen hat?“, fragte Cherry. „Dort gibt es mehr als genug Versteckmöglichkeiten.“

„Ja, das könnte eine Spur sein“, stimmte Mark ihr zu. Obwohl er auf ihren Vorschlag eingegangen war, konnte Cherry ihr aufkeimendes Misstrauen gegen Mark nicht unterdrücken. Wenn er nun wusste, wo sich Jenny verborgen hielt? Vielleicht befand sie sich ja ganz woanders? Dann konnte die Polizei vergeblich in der Kirche nach ihr suchen. Jenny würde verschwunden bleiben.

Cherry verachtete sich dafür, aber sie konnte nun einmal nicht aus ihrer Haut. Sie fürchtete sich davor, dass Mark immer noch etwas für Jenny empfand. Cherrys Gefühle für ihn waren stärker, als sie sich eingestehen wollte.

„Einen Versuch ist es wert“, entschied Sergeant Murdoch und lenkte den Streifenwagen Richtung St. Andrews. Er und sein Kollege waren mit starken Stablampen ausgerüstet. Sie stiegen aus und gingen Richtung Kirche. Cherry und Mark wollten ihnen folgen, aber der Sergeant schüttelte den Kopf.

„Ihr bleibt besser im Auto. Bei einer polizeilichen Durchsuchung können wir keine Zivilisten gebrauchen. Außerdem leistet die Verdächtige womöglich Widerstand.“

Cherry hätte gerne selbst nach Jenny Ausschau gehalten. Andererseits hatte sie nun die Chance, mit Mark unter vier Augen zu reden. Als die Beamten im Kirchenportal verschwunden waren, öffnete Mark den Mund. Er saß dicht neben Cherry auf der Rückbank des Streifenwagens. Sie konnte die Wärme seines Körpers spüren.

„Bist du irgendwie sauer auf mich? Habe ich etwas gesagt, das dir gegen den Strich geht? Oder kommt mir das nur so vor?“, fragte er.

„Ich will einfach wissen, woran ich bei dir bin“, platzte sie heraus.

Cherry wusste selbst nicht, wie sie ihre Empfindungen in Worte fassen sollte. Sie fühlte sich ungeheuer zu Mark hingezogen. Aber dennoch hatte sie Angst, wieder enttäuscht zu werden. Sie wollte nicht mehr an die unglückselige Geschichte mit Tony Sanders denken. Aber irgendwie ließ sie dieser Schatten der Vergangenheit nicht los.

„Du weichst mir aus. Was soll das bedeuten? Mit so einem Spruch kann ich nichts anfangen“, erwiderte Mark gereizt.

„Okay, wie du willst. Was meinte Jennys Mutter, als sie sagte, du hättest schon einmal versucht, von Jenny loszukommen?“

Cherry konnte fühlen, wie unangenehm Mark ihre Frage war. Aber sie wollte nun einmal klare Verhältnisse.

„Ja, das stimmt. Jenny und ich waren schon länger zusammen. Aber ihre besitzergreifende Art fand ich immer schon anstrengend. Ich habe bereits einmal mit ihr Schluss gemacht. Aber sie hat mich bekniet, ihr eine zweite Chance zu geben. Na ja, und da habe ich mich eben erweichen lassen. Sie ist ja eigentlich okay, aber ihre Eifersucht macht sie zur rasenden Furie.“

Cherry atmete tief durch. Diese Aussage musste sie erst einmal verdauen. War Mark jemand, der ihr die Wahrheit nur scheibchenweise auftischte? Das hoffte sie nicht, aber momentan sah es ganz danach aus.

„Und warum hast du mir das nicht erzählt?“, fragte sie vorwurfsvoll.

„Was hätte das denn gebracht? Das alles ist lange her. Es ist geschehen, bevor du nach Pittstown gekommen bist. Aktuell bin ich nicht mehr mit Jenny zusammen, und das ist die Wahrheit.“

Das wollte Cherry gerne glauben. Aber als sie das letzte Mal spontan auf ihr Herz gehört hatte, war sie fürchterlich auf die Nase gefallen. Wie gerne hätte sie sich jetzt mit ihrer besten Freundin beraten. Aber Rhonda war nicht da, und sie musste die Situation ganz allein in den Griff kriegen. Deshalb sprach Cherry nun das aus, was sie dachte.

„Wirklich, Mark? Und was für eine Garantie gibt es, dass du nicht noch einmal einen Rückzieher machst und wieder in Jennys Armen landest?“

„Die Garantie bist du selbst, Cherry. Seit ich dich kennengelernt habe, ist alles anders.“

Cherry hielt die Luft an, denn während Mark diese Sätze aussprach, nahm er ihre Hand und streichelte sie sanft. Wohlige Schauer rannen über ihren Rücken. Ihr Herz hatte sich für Mark entschieden, doch ihr Verstand riet ihr zur Vorsicht.

Doch gab es wirklich einen durchschlagenden Beweis, der gegen Mark sprach? Er hätte das Beweisstück – die Haarspange – leicht verschwinden lassen können. Nur ihm war es zu verdanken, dass die Polizei momentan überhaupt nach Jenny suchte. Cherry hatte einfach Angst davor, sich wieder Hals über Kopf zu verlieben. Und sie war in diesem Moment dabei, genau das zu tun.

„Warum ist alles anders, seit wir uns getroffen haben?“, fragte sie mit belegter Stimme, wobei sie Mark nicht in die Augen sehen konnte.

„Du weißt, warum, Cherry.“ Mark flüsterte diese Worte, während er sie sanft an sich zog. Cherry wollte sich nicht von ihren eigenen Ängsten diesen magischen Moment verderben lassen. Und das nicht nur, weil sie noch niemals zuvor auf dem Rücksitz eines Polizeiautos geküsst worden war. Ihre Lippen berührten sich, aber es war nicht so, wie Cherry es sich vorgestellt hatte.

Sondern noch viel besser.

Cherry verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum. Vielleicht hing das auch mit diesem Ort zusammen, denn der Streifenwagen parkte unmittelbar hinter der Friedhofsmauer. Hier lag eine Atmosphäre von Ewigkeit in der Luft. Sie lösten sich erst wieder voneinander, als die beiden Polizisten aus der Kirche kamen. Den Gesichtern von Sergeant Murdoch und Officer Hickey war anzusehen, dass die Suche erfolglos gewesen war.

„Ich schreibe Jenny Read zur Fahndung aus“, erklärte der Sergeant. „Freiheitsberaubung ist schließlich kein Kavaliersdelikt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir die junge Frau finden.“

„Wir geben ihre Beschreibung auch an die Kollegen aus den Nachbardistrikten durch“, ergänzte Officer Hickey. „Dann wird jede Streifenwagenbesatzung im Umkreis von achtzig Meilen nach der Verdächtigen Ausschau halten. Wenn sie kein Geld bei sich hat, wird sie nicht weit kommen.“

Cherry wurde von den Beamten zu Thelma Millers Pension gefahren, danach wollten sie Mark bei seinem Elternhaus absetzen. In Gegenwart der Polizisten hielt sich Cherry mit Berührungen zurück. Als sie aber ausstieg, strich sie Mark kurz und zärtlich über die Wange.

„Wir sehen uns dann morgen auf der Baustelle. Gute Nacht allerseits!“, verabschiedete sie sich.

Cherry befand sich in einer absoluten Hochstimmung. Gewiss, der Suffolk-Killer war noch nicht hinter Schloss und Riegel, und auch Jenny lief weiterhin frei herum. Der Angriff auf Father Nolan war nach wie vor ungeklärt, und Blackburns undurchschaubare Aktivitäten in der Krypta gaben weiterhin Rätsel auf.

Aber all das verblasste angesichts des Glücks, das Cherry soeben gemeinsam mit Mark empfunden hatte. Sie war unglaublich erleichtert darüber, dass er ihre Gefühle offenbar erwiderte. Warum sollte sie immer nur Pech mit Typen haben?

Nachdem Cherry sich geduscht und nachtfertig gemacht hatte, konnte sie zunächst nicht einschlafen. Sobald sie die Augen schloss, glaubte sie, Marks Nähe zu fühlen und seine Berührungen auf ihrer Haut zu spüren. Sie seufzte wohlig und drehte sich hin und her. Irgendwann siegte dann doch die Erschöpfung, und sie schlummerte ein.

Ihr Traum war etwas diffus, aber nicht beängstigend. Cherry irrte durch eine Krypta, wo sie ständig hinter einem hellen Licht herjagte. Doch es war, als ob sie sich in einem Spiegelkabinett befinden würde. Die unterirdische Begräbnisstätte veränderte ständig ihre Wände, Ecken, Gewölbe und Bögen. Cherry wusste nicht, ob sie in dem Traum Jägerin oder Gejagte war – vielleicht sogar beides.

Durch eine Ohrfeige wurde Cherry wieder aus dem Schlaf gerissen.

Im ersten Moment glaubte sie an eine Nachwirkung ihres Traums, obwohl in der Krypta außer ihr selbst niemand gewesen war. Aber das Brennen auf ihrer Wange war gewiss keine Einbildung. Sie riss die Augen auf.

Jenny stand über sie gebeugt und funkelte sie aggressiv an.