8. KAPITEL
Cherry plante ihre Aktion sorgfältig. Auf jeden Fall wollte sie St. Andrews im Schutz der Dunkelheit erneut betreten. Im Supermarkt kaufte sie sich eine Taschenlampe. Außerdem vertauschte sie in ihrem Pensionszimmer ihren Overall gegen einen dunklen Jogginganzug. Statt ihrer Arbeitsschuhe mit Stahlkappen zog sie Turnschuhe mit Gummisohlen an, in denen sie sich völlig geräuschlos bewegen konnte.
Es war bereits später Nachmittag gewesen, als sie die Kirche verlassen hatte. Dennoch musste sie noch ein paar Stunden warten, bis sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen konnte. Es war Sommer, und deshalb wurde es erst spät dunkel.
Sie musste immer wieder an Mark denken. Wie es ihm wohl ging? Ob er in Gefahr war? Einige Male probierte sie noch, ihn auf seinem Handy anzurufen. Aber das Gerät war nach wie vor abgeschaltet. Cherry wusste immer noch nicht, wie sie sein Verschwinden deuten sollte. Doch über ihre Gefühle war sie sich inzwischen klar geworden. Sie hatte sich in ihn verliebt. Daran bestand kein Zweifel mehr.
Endlich zog die tintenschwarze Nacht über Pittstown hinauf. Wolken ballten sich zusammen. Vielleicht würde es später ein Gewitter geben. Die Luft war drückend und schwül. Wie ein Schatten huschte Cherry durch die stillen Gassen. Hinter der Friedhofsmauer wartete sie kurz und schaute sich aufmerksam nach allen Seiten um. Doch nichts deutete darauf hin, dass außer ihr noch ein anderer Mensch in der Nähe war.
Ob sich Blackburn und Lonnegan noch in St. Andrews befanden? In der Kirche brannte auf jeden Fall Licht, aber das musste nichts bedeuten. Cherry erinnerte sich daran, dass Father Nolan das Gotteshaus Tag und Nacht für die Gläubigen geöffnet halten wollte. Wenn Blackburn die Kirche jetzt eigenmächtig abschloss, würde er sich nur verdächtig machen.
Cherry lief quer über den Friedhof. Sie wollte St. Andrews nicht durch das Hauptportal, sondern durch eine schmale Pforte an der Südseite betreten. Dort hatte sie eine größere Chance, unbemerkt in die Kirche zu gelangen. Cherry drückte die Klinke nach unten. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, öffnete sie die uralte Holztür. Die Scharniere knarrten. Nervös presste Cherry die Lippen aufeinander. Sie durfte sich nicht selbst verrückt machen. Sie wusste, dass das Geräusch nicht sehr laut gewesen sein konnte. Dennoch hielt sie unwillkürlich den Atem an, bevor sie ins Innere der Kirche spähte. Abgesehen von den Lichtinseln der wenigen Lampen und Kerzen war der größte Teil des Raums in ein geheimnisvolles Halbdunkel getaucht. Der Geruch von Weihrauch und die nur verschwommen wahrnehmbaren Heiligenbilder und Skulpturen trugen zu der mysteriösen und unwirklichen Atmosphäre von St. Andrews bei.
Cherry musste sich zusammennehmen, um sich davon nicht zu stark beeindrucken zu lassen. Es war wirklich etwas anderes, tagsüber hier zu arbeiten und die Arbeitsgeräusche von Mark, Lonnegan und Blackburn zu hören. Jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit, kam es ihr vor, als würde sie eine fremde Welt betreten. Doch der Gedanke an Mark drängte ihre Beklemmung zurück. Sie hatte das Gefühl, dass er ihre Hilfe brauchte. Und sie konnte nichts für ihn tun, wenn sie sich wie ein ängstliches Mäuschen benahm.
Cherry zog die schmale Pforte wieder zu, nachdem sie die Kirche betreten hatte. Sie lauschte angestrengt. Nichts deutete darauf hin, dass Blackburn und Lonnegan noch hier waren. Geduckt schlich Cherry durch den Mittelgang. Wenn jetzt jemand auftauchte, konnte sie schnell in eine der Bankreihen springen und sich flach auf den Boden werfen.
Sie näherte sich der Krypta. Der Zugang zu der unterirdischen Begräbnisstätte gähnte wie ein finsteres Maul vor ihr. Dort unten waren die Lampen, in deren Lichtkegeln Blackburn arbeitete, nicht eingeschaltet. Aber hieß das auch, dass der Restaurator nicht da war?
Cherry wollte auf jeden Fall vorsichtig sein. Sie schaltete ihre Taschenlampe an. Als sie mit Mark in der Krypta gewesen war, wäre sie beinahe auf den steilen und feuchten Treppenstufen ausgerutscht. Das war verflixt gefährlich. Während Cherry hinabstieg, glitt der Strahl ihrer Leuchte über kleine huschende Wesen, und sie hörte das Trappeln von winzigen Pfoten sowie schrilles Pfeifen.
Ratten.
Eigentlich war es nicht verwunderlich, dass es diese Nager hier unten gab. Sie trieben sich überall in alten Gemäuern und Kellern herum. Cherry hatte einmal gelesen, dass es allein in London mehr Ratten als Menschen gab. Aber dieser Gedanke beruhigte sie nicht. Manchmal wurden Leute angeblich auch von den Tieren angegriffen. Cherry hoffte aber, dass das nur Schauermärchen waren. Momentan hatten es die Ratten jedenfalls nicht auf sie abgesehen. Sie nahmen Reißaus, sobald Cherry zufällig in ihre Richtung leuchtete. Cherry konnte unmöglich einschätzen, wie viele es waren. Jedenfalls schienen die Biester nachtaktiv zu sein. Bei ihrem ersten kurzen Besuch in der Krypta hatte sie jedenfalls weit und breit keines dieser Tiere gesehen.
Suchend leuchtete Cherry über die Bögen der hohen Gewölbe. Es war nicht leicht, sich hier unten zu orientieren. Aber sie schlich an zwei massiven Sarkophagen vorbei auf die Westseite der Krypta zu. Dort stand ein weiteres steinernes Denkmal. In der Nähe lag auch die Plane, unter der die Knochen und der Schädel verborgen waren. Woher stammten diese menschlichen Überreste? Cherry konnte sich nicht vorstellen, dass sie einfach hier herumgelegen hatten. Schließlich war die Krypta ein Teil von St. Andrews, der normalerweise zur Besichtigung freigegeben war.
Die Wände des unterirdischen Gemäuers bestanden aus großen Granitquadern. Es sah nicht so aus, als ob es hier irgendwo ein geheimes Gewölbe geben könnte. War das Verschwinden von Sir Geoffrey vielleicht doch nur eine Legende? Hatte es das Gruftgold ebenso wenig gegeben wie einen verborgenen Gang, der zur Steilküste führte?
Cherry überwand sich und deckte noch einmal das Skelett auf. Wenn sie sich nicht gewaltig täuschte, dann stammten diese Beckenknochen von einer Frau. Wessen Gebeine waren es? Der Lichtstrahl ihrer Taschenlampe wanderte über den steinernen Sarkophag, der mit seiner Schmalseite direkt an die westliche Außenwand gerückt war. Auf dem Grabmal waren zwei Worte eingemeißelt:
LORETTA DUNNINGTON
Cherrys Herzschlag beschleunigte sich. Hier lag also die Frau begraben, die den Spruch zugunsten der roten Rose in den Beichtstuhl geritzt hatte. War sie wirklich Sir Geoffreys Geliebte gewesen? Aber wieso war sie nach seinem Verschwinden hier gesehen worden? Hatte am Ende nur ihr Geist in der Krypta gespukt?
Das war Unsinn. Cherry wusste aus ihrem Studium, dass Sarkophage schon zu Lebzeiten der Personen gemeißelt wurden, die nach ihrem Tod darin bestattet wurden.
Cherry kam ein anderer Gedanke. Vielleicht hatte die Begräbnisstätte als eine Art Tarnung gedient.
Wenn das Boot und die Münze in der Rätselschrift nun Fingerzeige in Richtung Geheimgang waren? Das Geldstück symbolisierte vielleicht das Gruftgold, und das Boot stand für ein Entkommen über das Meer. Aber wie hatte Blackburn es geschafft, die Knochen aus dem Sarg zu holen? Selbst mithilfe des starken Lonnegan war es ohne Maschinen nicht möglich, den tonnenschweren steinernen Sargdeckel anzuheben. Cherry zerbrach sich den Kopf über die vielen Rätsel, die die Krypta aufwarf, bis sie feine Schleifspuren auf dem Boden direkt vor ihr entdeckte.
Die Ritzen zwischen den Steinplatten am Vorderteil waren uneben. Der Sarg ließ sich offenbar an der Schmalseite öffnen. Aber wie? Cherry legte die Taschenlampe beiseite. Sie drückte und tastete eine Zeitlang, bis sie den Mechanismus entdeckte.
Cherry bekam eine Gänsehaut, als sich der Sarkophag an seiner Schmalseite öffnete. Vor ihr gähnte eine Luke – groß genug, um einen Menschen hineinzulassen. Cherrys Herzschlag beschleunigte sich, während ihre Kehle wie zugeschnürt war. Noch vor kurzer Zeit hätte sie sich niemals träumen lassen, freiwillig in einen Sarg zu kriechen. Natürlich hatte sie Angst, wie sie sich eingestehen musste. Doch wenn sie jetzt nicht weitermachte, war ihre ganze Aktion umsonst gewesen.
Deshalb zögerte sie nur kurz. Doch ihre Hand zitterte, als sie sich die Lampe griff und auf Händen und Knien in das Grabmal vordrang. Cherry erschrak sich beinahe zu Tode, als sich der Zugang hinter ihr rumpelnd wieder schloss. Das war automatisch geschehen. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als sich vorwärts zu bewegen. Wie man aus dem Grab wieder entkommen konnte, wusste sie noch nicht.
Immerhin waren in dem steinernen Behältnis keine Knochen mehr zu sehen. Also lagen wirklich die sterblichen Überreste von Loretta Dunnington dort draußen unter der Plane. Kein anderer als Blackburn konnte sie herausgenommen haben. Cherry stieß einen verächtlichen Laut aus. Das, was Blackburn hier trieb, konnte man wirklich nicht als seriöse Restaurierungsarbeit bezeichnen. Für sie gab es nun keinen Zweifel mehr, dass ihr Boss hinter dem Gruftgold her war.
Aber was hatte das Ganze mit Mark zu tun?
Sein Verschwinden beschäftigte Cherry mehr als alles andere. Doch momentan musste sie sich ganz auf ihre eigene Lage konzentrieren. Es zeigte sich nämlich, dass ihr Verdacht stimmte. Der Sarkophag war gegen die Wand gerückt, doch in dieser klaffte ein großes Loch. Man konnte also durch Lorettas Grabmal direkt in den Geheimgang gelangen.
Dort war es etwas geräumiger als im Sarkophag. Cherry musste nicht mehr kriechen, sondern konnte sich aufrichten. Gewiss, die Decke über ihr war ziemlich niedrig. Ein hochgewachsener Mann musste sich hier geduckt fortbewegen. Cherry führte sich vor Augen, dass in früheren Jahrhunderten die meisten Menschen durchschnittlich wesentlich kleiner gewesen waren als heutzutage. Ein normaler Typ des 15. Jahrhunderts hatte vermutlich dieselbe Körpergröße wie Cherry.
Sie bewegte sich weiter vorwärts, bis sie plötzlich Stimmen hörte.
Unwillkürlich hielt Cherry den Atem an.
Sie presste sich gegen die feuchte Wand des Geheimgangs und schaltete ihre Taschenlampe aus. Nun war es um sie herum stockfinster. Aber das war momentan ihre einzige Chance, nicht bemerkt zu werden. Doch plötzlich hörte sie Stimmen.
Wer mochte das sein?
Cherry konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber sie war davon überzeugt, Männerstimmen gehört zu haben. Aber es hallte in den kahlen Gängen, und sie hatte keine Ahnung, wie weit sie von diesen Personen entfernt war. Doch wenn sie nicht zwischen den kalten feuchten Mauern Wurzeln schlagen wollte, dann musste Cherry sich vorsichtig weiter voranpirschen.
Sie musste ihren Ekel vor den zahlreichen Spinnweben unterdrücken, als sie sich an der Wand entlangtastete. Bald stellte sie fest, dass sich der Gang gabelte und in mindestens zwei verschiedene Richtungen führte. Offenbar gab es auch abgeteilte Kammern, wie Cherry vermutete, als ihre Finger über das Holz einer Tür führten. Und dann bemerkte sie links vor sich einen fahlen Lichtschein. Allmählich konnte sie die Stimmen deutlicher erkennen. Es waren Blackburn und Lonnegan. Am Tonfall war zu erkennen, dass die Männer stritten.
„Zum letzten Mal, eine Leiche ist mehr als genug. Ich will keine weiteren Schwierigkeiten, Jake.“
Cherry kniff die Augen zusammen. Diese Worte waren eindeutig von Blackburns Lippen gekommen. Aber warum hatte er den anderen Mann Jake genannt? Lonnegan hieß doch mit Vornamen Sam. Diese Frage beantwortete sich im nächsten Moment von selbst.
„Du sollst mich doch nicht bei meinem richtigen Namen nennen, du Trottel. Nachher verplapperst du dich noch, zum Beispiel bei deiner neugierigen Praktikantin. Für die Leute hier bin ich Sam Lonnegan, kapiert? Und ich weiß nicht, wie du diesen Mark ansonsten ruhigstellen willst. Der Kerl hat zu viel mitgekriegt, das weißt du genau. Ich werde ihn zum Schweigen bringen, und zwar für immer. Das hätte ich schon längst tun sollen.“
Cherrys Herz krampfte sich zusammen, als Lonnegan diese tödliche Drohung ausstieß. War Mark in der Gewalt dieses üblen Duos? Momentan sprach alles dafür. Cherry musste ihm helfen, aber sie schätzte ihre Kräfte realistisch ein. Schließlich war sie nicht größenwahnsinnig. Auf ihre Karatekenntnisse konnte sie zwar vertrauen, aber gegen Lonnegan hatte sie vermutlich keine Chance. Wenn er wirklich schon jemanden umgebracht hatte, dann konnte sie von ihm gewiss keine Gnade und keine Rücksichtnahme erwarten.
„Wir könnten Mark mit Geld zum Schweigen bringen“, schlug Blackburn vor. „Wir geben ihm einfach einen kleinen Teil des Gruftgoldes.“
„Bist du jetzt völlig durchgedreht? Wir haben das Zeug doch noch gar nicht, schon vergessen? Wir müssen es erst finden. Ich hoffe wirklich, dass es heute Nacht endlich klappt. Dieses verfluchte Steinlabyrinth scheint immer größer zu werden, je weiter wir vordringen.“
„Das täuscht, Sam. Ich habe dir doch schon mal erklärt, dass solche Kirchen wie St. Andrews in früheren Zeiten eine letzte Zuflucht für die Dorfbewohner bei Überfällen waren. Wir sind hier in Küstennähe. Wenn Piraten kamen, haben sich die Leute in der Kirche verschanzt. In diesen geheimen Gemächern wurden teilweise auch Lebensmittelvorräte gehortet, um eine Belagerung durchzustehen.“
„Sehr interessant, Herr Professor. Aber ich habe meine Zeit nicht gestohlen. Lass uns jetzt weitersuchen. Um Mark kümmere ich mich später. Er kann uns in seinem Kerker ja sowieso nicht entkommen. Wenn du nicht mitkriegen willst, wie ich ihm das Lebenslicht ausblase, kannst du ja verschwinden.“
„Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen“, murrte Blackburn. Aber es klang nicht so, als ob er sich letztlich würde durchsetzen können. Dass Blackburn Marks Tod verhindern wollte, machte ihn Cherry zum ersten Mal sympathisch. Doch Lonnegan war ihm körperlich haushoch überlegen.
Sie hörte, wie sich die Schritte der beiden Männer von ihr entfernten. Offenbar suchten sie in einer anderen Richtung nach dem Gruftgold. Marks Leben stand auf dem Spiel, und sie brauchte dringend Hilfe.
Cherry holte die Mobilfunknummer von Inspektor Abercrombie aus dem Telefonbuchspeicher ihres Handys. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Hoffentlich funktionierte ihr Handy hier unten, und der Polizeibeamte hatte sein Gerät nicht ausgeschaltet.
Das Freizeichen ertönte. Cherrys Herz krampfte sich zusammen. Dann hörte sie endlich die tiefe Stimme des Inspektors. „Abercrombie.“
„Hier ist Cherry Wynn, Sir.“
„Können Sie bitte etwas lauter sprechen, Miss Wynn? Sie sind kaum zu verstehen.“
„Das geht nicht. Ich bin in einem unterirdischen Gang, der von der Krypta in St. Andrews angeblich zur Steilküste führen soll. Blackburn und Lonnegan haben Mark gefangen und wollen ihn töten. Und Lonnegan heißt in Wirklichkeit ganz anders.“
„Er heißt Jake Porter, Miss Wynn. Meine Kollegen und ich befinden uns in unmittelbarer Nähe von Ihnen. Am besten, Sie verstecken sich irgendwo, bis wir die beiden Verbrecher festgenommen haben.“
Cherry blinzelte ungläubig. Der Inspektor schien genau zu wissen, dass mit Lonnegan etwas nicht stimmte. Ob er die Kriminellen schon länger observierte? Plötzlich wurde die Verbindung unterbrochen. Cherry versuchte abermals, Abercrombie anzurufen. Aber auf ihrem Handy-Display erschien nur die Anzeige KEIN NETZ.
Verflixt! Cherry drückte noch einige Male auf Wahlwiederholung, dann gab sie auf. Wahrscheinlich war es großes Glück gewesen, dass sie den Inspektor überhaupt von diesem Gemäuer aus erreicht hatte. Schließlich befand sie sich einige Meter unter der Erdoberfläche und war von dicken alten Mauern umgeben.
Es war ein gutes Gefühl, die Polizei in der Nähe zu wissen. Nun konnte es nicht mehr lange dauern, bis Cherry Hilfe bekam. Dadurch bekam sie neuen Auftrieb. Sie würde sich ganz gewiss nicht in einer Ecke verkriechen, während Mark in höchster Lebensgefahr schwebte. Nein, sie musste ihn suchen. Vielleicht konnte sie ihn sogar befreien, bevor Inspektor Abercrombie und seine Kollegen anrückten. Blackburn und Lonnegan waren ja damit beschäftigt, nach dem Gruftgold zu suchen. Das hatten sie jedenfalls gesagt.
Vorsichtig setzte Cherry einen Schritt vor den anderen, bis sie die Tür erreichte, die sie vor Kurzem ertastet hatte. Nun glitt der Lichtstrahl ihrer Taschenlampe, die sie eingeschaltet hatte, über das uralte Holz. Cherry konnte erkennen, dass die Tür mit einem primitiven Eisenriegel verschlossen war, den sie zurückschob. Dann spannte sie ihre Muskeln an. Sie musste ihre ganze Kraft aufwenden, um die Tür aufzuziehen. Die Scharniere quietschten leise, während Cherry trotz der Kälte, die in der Gruft herrschte, vor Anstrengung Schweißperlen auf der Stirn standen.
In dem Raum, der sich hinter der Tür verbarg, herrschte ein fauliger Gestank. Vermutlich gab es kein Fenster, sodass die einzige Luftzufuhr durch die Ritzen zwischen den festen Bohlen der schweren Tür kam. Cherry leuchtete in die Kammer. Sie erschrak, denn auf einigen zerfetzten Lumpen lagen menschliche Überreste. Abermals erblickte sie ein Skelett. Da sie schon die Knochen von Loretta Dunnington gesehen hatte, war der Schock diesmal nicht ganz so groß. Jedenfalls waren die Überreste so verwittert, dass der Tote schon vor mehreren Hundert Jahren gestorben sein musste. Gestorben? „Ermordet“ war wohl das passendere Wort. Als Cherry ihre Lampe auf den Totenschädel richtete, sah sie ganz deutlich den gespaltenen Stirnknochen. Vermutlich war er damals erschlagen worden.
Ob es die sterblichen Überreste von Sir Geoffrey waren, der hier ein gewaltsames Ende gefunden hatte?
Cherry war so auf die Skelettteile konzentriert, dass sie alles um sich herum vergaß.
Doch plötzlich wurde sie von hinten an der Kehle gepackt!