4. KAPITEL
Cherry konnte sich nicht auf den Beinen halten. Bei ihrer abrupten Seitwärtsbewegung verlor sie das Gleichgewicht und fiel hin. Sie stieß sich schmerzhaft den Ellenbogen an den harten Steinplatten.
Plötzlich hatte das Hämmern aufgehört, denn ihr Schrei und das Poltern des herabfallenden Balkens waren Mark nicht entgangen. Er rannte auf sie zu, um ihr zu helfen. Aber Cherry hörte noch etwas anderes.
Schnelle Schritte auf der Treppe, die zur Chorempore führte!
Aus ihrer Position konnte Cherry die Stufen nicht sehen. Aber eines war ihr jetzt klar – der Balken war nicht von selbst hinabgefallen, sondern jemand hatte kräftig nachgeholfen.
Bevor sie den Gedanken weiterführen konnte, war Mark bei ihr und nahm sie vorsichtig in seine Arme. Die Berührung tat ihr gut, denn sie zitterte am ganzen Körper.
„Mark, der Typ – er entkommt!“, stieß sie hervor.
„Was für ein Typ?“
„Der Schwachkopf, der den Balken von der Chorempore gestoßen hat!“
Cherry deutete auf das Kirchenportal. Mark lief in die Richtung. Sie hörte, wie er kurz draußen mit jemandem sprach. Dann kehrte er zu ihr zurück.
„Da ist weit und breit kein Mensch zu sehen, Cherry. Und Sam Lonnegan sagt, er hätte auch niemanden bemerkt.“
„Ich habe es mir aber nicht eingebildet!“, rief Cherry empört und verängstigt. „Da war jemand, und er wollte mich umbringen!“
„Wer wollte Sie umbringen, Miss Wynn?“
Diese Frage kam von Blackburn, der inzwischen aus der Krypta gekommen war und sich nun Cherry näherte. Seine Stimme klang weniger besorgt als genervt, aber das wunderte sie nicht wirklich. Sie berichtete, was geschehen war. Blackburn machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Das war ein simpler Unfall, nichts weiter. Diesen geheimnisvollen Attentäter haben Sie sich gewiss nur eingebildet.“
Cherry wollte schon aus der Haut fahren, aber da kam ihr Mark zu Hilfe.
„Das muss ein Anschlag gewesen sein, Sir. Sehen Sie, der Balken ist wirklich schwer. Das Holz kann nicht plötzlich ein Eigenleben entwickeln und von dem Stapel rutschen, der dort oben gelagert wird. Ich habe bereits per Handy die Polizei verständigt“, entgegnete er.
Am liebsten wäre Cherry Mark um den Hals gefallen, weil er sich auf ihre Seite geschlagen hatte. Blackburn wirkte missmutig, aber Cherry hatte ihn bisher niemals anders erlebt.
„Also gut, wenn Sie sich unbedingt blamieren wollen – die Beamten werden schon feststellen, dass alles ganz harmlos war. Sind Sie verletzt, Miss Wynn? Müssen Sie am Ende sogar Ihr Praktikum abbrechen?“
Der letzte Satz klang richtig hoffnungsvoll. Cherry konnte sich eine scharfzüngige Erwiderung nicht verkneifen. Inzwischen hatte sie den ersten Schock schon etwas überwunden.
„Keine Sorge, Mr Blackburn – so schnell werden Sie mich nicht los. Ich werde gleich weiterarbeiten, nachdem ich meine Aussage gemacht habe.“
Von draußen hörte man das Geräusch einer sich nähernden Streifenwagensirene. Gleich darauf betraten zwei uniformierte Polizisten die Kirche. Nachdem Cherry von dem Balkenfall erzählt hatte, gingen sie zur Chorempore hoch.
Cherry dachte nach. Wer hasste sie so sehr, dass er sie töten oder zumindest schwer verletzen wollte? Gab es jemanden in Pittstown, dem sie im Weg war? Ihr fiel sofort Blackburn ein, der seiner neuen Praktikantin mit offenem Widerwillen entgegentrat. Doch ausgerechnet der Restaurator hatte ein erstklassiges Alibi. Er war in der Krypta gewesen, als das schwere Holz auf Cherry niederkrachte. Blackburn wäre von Cherry bemerkt worden, wenn er auf die Chorempore gestiegen wäre. Außerdem war der Täter nach draußen gelaufen, während Blackburn soeben aus der Krypta gekommen war.
Und Sam Lonnegan? Der muskulöse Arbeiter konnte Cherry offenbar auch nicht ausstehen, und er hatte sogar vor der Kirche gewerkelt. Doch gerade dadurch wurde er entlastet, denn Cherry hatte seine Werkzeuggeräusche die ganze Zeit gehört, auch während des Anschlags. Er konnte nicht gleichzeitig den Balken von der Chorempore stoßen und vor dem Kirchenportal mit Hammer und Meißel arbeiten.
Es blieb noch der mysteriöse Suffolk-Killer als Verdächtiger übrig. Cherry passte perfekt in sein Beuteschema, denn sie war eine junge Frau – genau wie die anderen Opfer. Aber sie waren stets nachts getötet und zudem noch erwürgt worden. Der Anschlag mit dem Balken passte überhaupt nicht in dieses Muster. Cherry hatte einmal gelesen, dass Serientäter meist nach einem selbst geschaffenen Schema vorgingen. So gesehen kam auch dieser unheimliche Verbrecher nicht infrage.
Die Polizisten, die sich als Sergeant Murdoch und Officer Hickey vorgestellt hatten, kehrten von der Chorempore zurück. Nun traf auch Father Nolan ein, der noch in der Leichenhalle mit den Hinterbliebenen von Mrs Warren gesprochen hatte. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
„Was geschieht bloß in diesem altehrwürdigen Gotteshaus! Sind Sie schlimm verletzt, Miss Wynn?“, rief er besorgt.
„Nein, Hochwürden. Ich habe mir nur den Ellenbogen gestoßen.“
Sergeant Murdoch ergriff nun das Wort. Er war ein rotgesichtiger Mann und kratzte sich beim Sprechen die ganze Zeit im Nacken. „Das kann kein Unfall gewesen sein, Miss. Wir haben uns den Holzstapel angeschaut. Es ist nicht viel Kraft erforderlich, um einen Balken über die Balustrade zu schieben, damit er nach unten fällt. Aber von allein kann das keinesfalls geschehen sein.“
„Sind Sie sicher, Sergeant?“ Blackburns Stimme verriet, dass er völlig anderer Meinung war. „Aber wer sollte so etwas tun?“
Der Polizist zuckte mit seinen breiten Schultern. „Dieselbe Art von Idioten, die Steine von Autobahnbrücken werfen. Das sind auch sinnlose Taten, die sich nicht gegen eine bestimmte Person richten. Miss Wynn ist zufällig zum Opfer geworden.“
Das war natürlich möglich, aber Cherry glaubte nicht daran. Es musste mehr dahinterstecken. Aber da sie keinen konkreten Verdacht hatte, behielt sie ihre Zweifel lieber für sich.
„Zum Arzt muss ich jedenfalls nicht, denn mein Ellenbogen tut kaum noch weh. Ich würde jetzt lieber weiterarbeiten. Wir haben schon genug Zeit verloren.“
„Da sind wir ausnahmsweise einmal einer Meinung, Miss Wynn“, sagte Blackburn. Die Polizisten verabschiedeten sich, nachdem sie auch noch Father Nolan und den draußen arbeitenden Sam Lonnegan befragt hatten. Aber keiner von ihnen wollte etwas bemerkt haben. Dem Geistlichen glaubte Cherry, Blackburns Kompagnon hingegen nicht. Steckte Sam Lonnegan vielleicht mit dem geheimnisvollen Attentäter unter einer Decke? Aber welches Motiv sollte er haben, Cherry ins Jenseits zu befördern?
Oder gab es vielleicht einen Zusammenhang zwischen Cherry und der unbekannten jungen Toten aus der Leichenhalle? Aber was für einen? Cherry war sicher, diese Frau noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen zu haben.
Die wilden Spekulationen brachten sie nicht weiter. Es war wirklich besser, wenn sie sich wieder auf das Abschmirgeln des Beichtstuhls konzentrierte. Sie setzte erneut ihre Atemmaske auf, nachdem sie Mark noch einmal versichert hatte, dass sie okay sei und sich nach wie vor abends mit ihm treffen wollte.
Auch Blackburn, Sam Lonnegan und Mark kehrten zu ihren Tätigkeiten zurück. Nur Father Nolan blieb in Cherrys Nähe, was ihr aber nicht unangenehm war.
„Und mit Ihnen ist wirklich alles in Ordnung, Miss Wynn?“, fragte er besorgt.
„Nennen Sie mich doch bitte Cherry. Ja, mir geht es gut, Hochwürden. Ich glaube, dass dieser Zwischenfall Sie mehr mitnimmt als mich. Als der Balken herabgestoßen wurde, habe ich mich furchtbar erschrocken und deshalb geschrien. Aber jetzt geht es mir wieder gut. Ich wüsste nur gerne, wer das getan hat.“
„Ich auch, Cherry, ich auch. Es kommt mir so vor, als ob der Herr die bösen alten Zeiten wieder anbrechen lässt, um unseren Glauben zu prüfen.“
„Was für ‚böse alte Zeiten‘ meinen Sie, Hochwürden?“
„Ich spreche vom Bürgerkrieg zwischen den Männern der roten und der weißen Rose.“
„Mark hat mir davon erzählt. Damals soll sich dieser Sir Geoffrey Stowe mit seinem Gold in der Kirche versteckt haben. Es wurde niemals gefunden, obwohl seine Feinde von der weißen Rose das Unterste zuoberst gekehrt haben.“
„Es war eine grausame Zeit. Bis heute ist völlig unklar, ob es dieses sogenannte Gruftgold überhaupt gibt oder ob es nur eine märchenhafte Legende ist. Dabei existiert sogar ein Beweis dafür. Nur kann ich damit leider nichts anfangen. Vielleicht möchte Gott auch gar nicht, dass dieses Geheimnis jemals gelüftet wird.“
„Ich verstehe nicht, wovon Sie reden, Hochwürden“, erwiderte Cherry irritiert.
Der Pfarrer, der auf einer Kirchenbank saß, beugte sich vor und senkte ein wenig seine Stimme. Doch scheinbar war außer Cherry niemand in der Nähe, der ihn hören konnte.
„Hat Mark dir auch berichtet, dass mein damaliger Amtsvorgänger von den Aufständischen der weißen Rose ermordet wurde?“
„Ja. Das tut mir leid, Hochwürden. Diesen Kerlen war noch nicht einmal ein Mann des Glaubens heilig.“
„Das stimmt leider. Wie gesagt, es war eine grausame Zeit. Aber mein Vorgänger – er hieß Father Stephens – muss geahnt haben, was für ein Schicksal ihm bevorstand. Vielleicht hatte er auch eine göttliche Eingebung, das wird sich nach so vielen Jahrhunderten wohl nicht mehr klären lassen. Auf jeden Fall schrieb er in das Kirchenbuch, wo Sir Geoffrey Stowe und dessen Satteltaschen abgeblieben waren. Und in diesen Satteltaschen soll sich ja der legendäre Schatz befunden haben.“
„Und das steht in einem Kirchenbuch, Hochwürden? Dort, wo Taufen, Eheschließungen, Bestattungen und anderes notiert sind?“
„Richtig, Cherry. Ein Kirchenbuch soll normalerweise solche Ereignisse für die Nachwelt festhalten. Mein Amtsvorgänger machte sich vermutlich keine Illusionen darüber, was die Feinde von Sir Geoffrey Stowe mit ihm vorhatten. Deshalb schrieb er auf, was mit dem Flüchtenden geschah.“
„Aber dann ist es doch kein Geheimnis mehr, oder?“
„Doch, denn Father Stephens verwendete eine Symbolschrift, deren Bedeutung nur er selbst kannte.“
Cherry kniff die Augen zusammen. Sie konnte kaum glauben, was der Geistliche ihr erzählte. Doch Father Nolan würde sie gewiss nicht auf den Arm nehmen.
„Und diese Geheimschrift – sie ist in all den Jahren niemals entschlüsselt worden?“, fragte sie.
Der Pfarrer hob die Schultern. „Mir ist es beim besten Willen nicht gelungen. Aber es hat immer wieder Anläufe gegeben, das Rätsel zu lösen. Zuletzt hat sogar ein Chiffrierexperte des Geheimdienstes sein Glück versucht – vergeblich. Ich nehme an, es ist einfach nicht Gottes Wille, dass dieses Geheimnis gelüftet wird. Und außerdem: Wer immer dieses sogenannte Gruftgold findet, müsste es an die Nachfahren von Sir Geoffrey Stowe zurückgeben. Denn sie sind die rechtmäßigen Erben.“
„Dann wurde also die Familie während der Kämpfe nicht ausgerottet?“
„Sir Geoffreys direkte Verwandte schon, aber ein Neffe im fernen Sheffield hat überlebt. Seine Blutlinie wurde bis heute fortgeführt.“
Cherry war während des Gesprächs mit dem Geistlichen immer aufgeregter geworden. So spannend hatte sie sich ihr Kunstgeschichtsstudium nicht vorgestellt. Ihre Neugier war kaum noch zu bezwingen. Father Nolan schien zu spüren, was in ihr vorging. Verständnisvoll lächelte er sie an.
„Würdest du dir das Kirchenbuch gerne einmal anschauen, Cherry?“
„Sie würden mir tatsächlich die geheimnisvolle Schrift zeigen?“, fragte sie erstaunt. Von mysteriösen Dingen war Cherry schon immer fasziniert gewesen.
„Sicher, warum nicht? Für mich ist diese ganze Sache gewiss nicht halb so interessant wie für dich. Ich habe nur den Wunsch, dass wieder Ruhe und Frieden in St. Andrews einziehen.“
Cherry war dankbar für die Unterbrechung ihrer eintönigen Arbeit. Sie folgte dem Geistlichen in das Pfarrhaus. Father Nolan öffnete in seinem Büro einen normalen Glasschrank, der nicht besonders gesichert zu sein schien. Aber weshalb auch? Das Kirchenbuch war vollkommen wertlos, wenn man die Bedeutung des Eintrags nicht entschlüsseln konnte.
Dennoch war Cherry total aufgeregt. Ihr Herz raste, als Father Nolan das in Schweinsleder gebundene alte Buch vor ihr auf den Tisch legte. Sie traute sich nicht, es anzufassen, denn ihre Hände waren von der Arbeit immer noch staubig.
„Siehst du, Cherry? Hier sind die seltsamen Zeichen.“
Der Geistliche hatte das Buch an der passenden Stelle aufgeschlagen. Davor und dahinter fanden sich Einträge in altertümlichem Englisch, die trotz der geschwungenen Schrift noch halbwegs gut lesbar waren. Aber der kurze Absatz aus der Feder von Father Nolans Amtsvorgänger war komplett unverständlich.
„Hochwürden – darf ich diese Seite abfotografieren?“
„Gewiss, warum nicht?“
Cherry griff zu ihrer Handykamera und machte eine Aufnahme, bevor der Seelsorger es sich anders überlegte. Noch während sie das Bild machte, musste sie still über sich selbst lachen. War sie eigentlich größenwahnsinnig geworden? Glaubte sie im Ernst, ein Rätsel lösen zu können, an dem sogar Dechiffrierexperten gescheitert waren? Cherry wusste nicht, ob ihr das tatsächlich gelingen würde, aber sie würde alles versuchen, um das Geheimnis zu lüften.
Rätsel der Vergangenheit hatten Cherry immer schon fasziniert. Das war auch ein Hauptgrund gewesen, warum sie mit dem Studium der Kunstgeschichte angefangen hatte. Viele Leute glaubten, dass die Dinge aus der Vergangenheit verstaubt und altmodisch wären. Doch Cherry war vom Gegenteil überzeugt. Die damaligen Menschen hatten genauso geliebt und gehasst, wie man es auch heute noch tat. Es gab kein Internet, sondern man war auf berittene Boten angewiesen. Aber das war nach Cherrys Meinung auch schon der größte Unterschied zwischen dem 15. und dem 21. Jahrhundert. Sogar heute gab es Machtkämpfe, denen Unschuldige zum Opfer fielen. Und falls es dieses Gruftgold wirklich gab, dann würde es einen Menschen der Gegenwart auf einen Schlag steinreich machen.
Cherry bedankte sich bei dem Geistlichen und kehrte dann schnell wieder zu ihrer Arbeit zurück, um Blackburn keinen neuen Anlass zum Meckern zu geben. Sie wollte den Bogen nicht überspannen, sonst warf er sie am Ende noch wirklich hinaus.
Cherry spürte ihre Nervosität. Schließlich passierte es ihr nicht jeden Tag, dass sie eine Ermordete zu sehen bekam und wenig später jemand versuchte, sie mit einem schweren Balken zu erschlagen. Das Leben in Pittstown schien doch nicht so langweilig zu sein, wie sie zunächst befürchtet hatte.
Cherry widmete sich wieder den Schmirgelarbeiten. Gegen Abend kam Blackburn aus der Krypta hoch. Er war übellaunig wie immer, doch an ihrer Tätigkeit hatte er nichts auszusetzen.
„Nicht schlecht für den Anfang, Miss Wynn. Vielleicht sind Sie ja doch nicht ganz so unbegabt, wie ich befürchtet hatte. Sie können für heute Schluss machen, wir sehen uns dann morgen früh hier in St. Andrews.“
„Danke, Sir“, erwiderte Cherry. Für Blackburns Verhältnisse waren seine Worte schon beinahe ein Kompliment. Ob der alte Griesgram sich doch allmählich an sie gewöhnte? Sie hatte einmal gehört, dass viele Genies unausstehlich wären. Wenn diese Annahme stimmte, musste Blackburn wirklich ein erstklassiger Restaurator sein. Und das war er ja auch angesichts der vielen internationalen Auszeichnungen, die er schon bekommen hatte.
Cherry war erschöpft, schmutzig und verschwitzt. Sie freute sich auf eine heiße Dusche. Per SMS hatte sie mit Mark abgemacht, dass er sie eine Stunde später in ihrer Pension abholen würde. Ihr blieb also genug Zeit, um sich zu stylen.
Plötzlich bekam Cherry gute Laune. Sie freute sich auf den Abend mit Mark. Doch als sie die Pension von Thelma Miller schon fast erreicht hatte, wurde sie plötzlich am Arm gepackt und in einen Hauseingang gezerrt.
Sie fürchtete schon, den Suffolk-Killer vor sich zu haben. Das Phantombild von dem unheimlichen Kerl würde sie wohl niemals vergessen. Doch stattdessen stand Cherry einer etwa gleichaltrigen Frau gegenüber, die kaum größer war als sie. Die Unbekannte hatte eigentlich ein hübsches Gesicht, das von einem coolen Fransenschnitt umrahmt wurde. Doch sie schaute so finster und drohend, dass ihre Schönheit darunter litt.
„Spinnst du?“, schimpfte Cherry, während sie sich loszureißen versuchte. „Was soll das?“
„Was das soll? Du machst dich an meinen Freund heran und spielst jetzt die Unschuldige? Wie krank ist das denn?“
„Dein Freund?“, hakte Cherry nach. Einen Moment lang kapierte sie gar nichts. Aber dann verstand sie, worum es ging. „Ah, du musst Jenny sein! Es geht dich zwar nichts an, aber Mark und ich arbeiten nur zusammen. Ich mache ein Praktikum bei dem Restaurator Harris Blackburn. Bist du nun zufrieden?“
„Nein, bin ich nicht!“, blaffte Jenny. Ihre Finger waren immer noch fest in Cherrys Ärmel gekrallt. „Mark hat dir also schon von mir erzählt? Und trotzdem bist du so unverschämt, uns auseinanderbringen zu wollen?“
Genervt verdrehte Cherry die Augen. Wenn sie etwas auf die Palme brachte, dann waren es hysterische Frauen. Vor dieser Jenny fürchtete sie sich jedenfalls nicht. Mit ihren Karatefähigkeiten würde sich Cherry notfalls gegen diese Zicke verteidigen können. Sie konzentrierte sich und befreite sich aus Jennys Klammergriff.
In London gab es rabiate Mädchen-Gangs, und mit einer von ihnen hatte Cherry schon einmal Ärger gehabt. Damals war sie nur mühsam mit heiler Haut davongekommen. Im Vergleich dazu erschien ihr diese Exfreundin nun wirklich nicht besonders gefährlich. Andererseits machte sie einen unberechenbaren Eindruck. Cherry trat selbstbewusst auf, blieb aber auf der Hut.
„Noch einmal zum Mitschreiben, Jenny: Mark und ich sind nur Kollegen. Ich bin schließlich erst heute in Pittstown angekommen. Aber selbst wenn es nicht so wäre – was geht dich das an? Mark sagte mir, ihr wärt nicht mehr zusammen.“
„Das stimmt nicht!“ Als Jenny diesen Schrei ausstieß, tat sie Cherry beinahe leid. „Das erfindest du nur, du falsche Schlange. Mark liebt mich immer noch, das spüre ich ganz deutlich. Und ich rate dir, dich von ihm fernzuhalten. Sonst wirst du es bitter bereuen“, rief sie.
„Willst du mir drohen? Das kannst du vergessen. Ich lasse mich nicht einschüchtern, und von dir schon gar nicht. Was zwischen Mark und dir gewesen ist, interessiert mich nicht. Aber ich gehe heute Abend mit deinem Exfreund aus, damit du es nur weißt!“
Vielleicht hätte Cherry sich diese Provokation schenken sollen. Aber sie war nun ebenfalls ziemlich wütend. Sie wollte sich jedenfalls nicht einfach alles gefallen lassen, sonst würde diese Jenny niemals Ruhe geben.
Jenny antwortete auf Cherrys Worte mit einem schrillen, empörten Kreischen und wollte sich schon auf sie stürzen, aber diesmal kam der Angriff nicht unerwartet. Cherry machte rasch einen großen Satz nach hinten. Im nächsten Moment schnellte ihr linker Fuß nach vorne. Der Karatetritt traf Jenny an der Hüfte. Sie taumelte rückwärts und knallte mit dem Rücken gegen die Häuserwand.
Wenn Blicke töten könnten, wäre für Cherry jetzt jede Hilfe zu spät gekommen. Sie stellte sich schon auf eine neue Attacke durch ihre Widersacherin ein. Doch Jenny gab auf und rannte davon. Nach einigen Schritten drehte sie den Kopf und rief Cherry über die Schulter hinweg zu: „Das wird dir noch leidtun, du Biest!“
Jennys Stimme hatte einen Unterton, der lauernd und eiskalt war. Marks Ex hatte in der Vergangenheit bereits einmal Gewalt gegen eine andere Frau angewandt. Bei ihr musste man mit allem rechnen. Offenbar hatte die Therapie nicht viel gebracht.
Cherry schüttelte sich, als ob sie einen bösen Traum abstreifen wollte. Ihr wurde bewusst, dass sie in Gefahr schwebte. Zwar hatte Jenny ihr nicht wirklich etwas getan, aber immerhin eine Drohung ausgestoßen.
Cherry fasste den Vorsatz, sich nicht von Jenny terrorisieren zu lassen. Eigentlich sollte sie mit dieser Verrückten Mitleid empfinden. Sie musste Mark wirklich sehr lieben, wenn sie sich seinetwegen so idiotisch aufführte. Aber hatte das überhaupt noch etwas mit Liebe zu tun? War Jennys Benehmen nicht eher krankhaft?
Cherry wusste es nicht, schließlich war sie keine Nervenärztin. Aber sie wollte sich durch den Zwischenfall nicht den Abend vermiesen lassen. Dann hätte Jenny nämlich ihr Ziel erreicht.
Zum Glück brachte die freundliche Begrüßung durch ihre alte Pensionswirtin sie sofort wieder auf andere Gedanken. Offenbar war Thelma Miller zu einem Schwatz aufgelegt, aber Cherry blockte ab.
„Es tut mir leid, aber ich habe noch eine Verabredung. Und wie ich jetzt aussehe, will ich keinem Mann unter die Augen treten“, entschuldigte sie sich.
„Ich verstehe schon.“ Verschwörerisch zwinkerte die Wirtin ihr zu. „Dann lass dich nicht von mir aufhalten, wir können ja auch morgen beim Frühstück noch miteinander plaudern. Das heißt, falls du die Nacht in deinem Zimmer verbringst!“
Cherry blieb die Luft weg. Was sollte diese Anspielung denn bedeuten? Hielt Thelma Miller sie für eine Bitch, die gleich bei der ersten Verabredung im Bett ihres Verehrers landete? Aber ein Blick in das lächelnde Gesicht der älteren Frau brachte sie von diesem Gedanken ab. Mrs Miller hatte sie nur freundschaftlich hochnehmen wollen. Und das war ihr auch gelungen. Nun bewies Cherry, dass sie auch schlagfertig sein konnte.
„Ob ich hier übernachte? Das wird sich zeigen, Thelma. Sie wissen ja, wie die Londonerinnen sind. Sie waren schließlich selbst mal eine Hauptstädterin!“
Die Pensionswirtin lachte. „Gut pariert, meine Liebe. Jedenfalls wünsche ich dir heute Abend viel Spaß.“
Lächelnd ging Cherry in ihr Zimmer. Der kurze Wortwechsel mit ihrer Wirtin hatte sie die unangenehme Begegnung mit Jenny schon fast vergessen lassen. Doch als sie zufällig aus dem Fenster schaute, sah sie ihre Widersacherin auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen. Jenny lehnte sich einfach nur gegen die Häuserwand und starrte zu Cherrys Zimmer hoch. Aber gerade dieses bewegungslose Verharren strahlte eine lauernde Gefährlichkeit aus.
Am liebsten hätte sie das Fenster geöffnet und Jenny angeschrien, dass sie sich verziehen sollte, aber sie beherrschte sich. Wenn sie jetzt die Nerven verlor, würde Jenny das als einen Teilsieg werten. Daran zweifelte Cherry nicht, obwohl sie ihre Rivalin kaum kannte.
Rivalin?
Sah sie Jenny wirklich als ihre Rivalin an? Während Cherry coole Klamotten für den Abend heraussuchte, dachte sie darüber nach. Sie fühlte sich wirklich absolut wohl in Marks Gegenwart. Das bedeutete aber noch lange nicht, dass sie sich Hals über Kopf in ihn verknallt hatte. Ihr Handy klingelte. Cherry überlegte, ob sie den Anruf jetzt überhaupt annehmen sollte. Schließlich brauchte sie noch Zeit, um sich zu stylen. Doch als ihr Blick auf das Handydisplay fiel, machte ihr Herz vor Freude einen Luftsprung. RHONDA RUFT AN lautete die Meldung.
Rhonda Wilson war ihre beste Freundin, mit der sie seit Jahren durch dick und dünn ging. Sie studierte ebenfalls Kunstgeschichte, und die beiden hatten schon viel Spaß miteinander gehabt. Ein Telefonat mit Rhonda würde Cherry garantiert die trüben Gedanken wegen dieser Gewitterziege Jenny vertreiben.
Gut gelaunt griff sie zum Handy. „Hallo, Süße! Wie läuft es in London?“
„Wie soll es schon laufen ohne dich, Cherry? Eigentlich sollte ich sauer auf dich sein, weil du dich noch gar nicht gemeldet hast, du treulose Tomate. Wie ist es denn so in der tiefsten Provinz?“
Cherry bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre beste Freundin nicht angerufen hatte. Aber schließlich war seit ihrer Ankunft in Pittstown viel passiert, und sie hatte bisher kaum einen Moment Ruhe gehabt. Da war einfach keine Zeit für ausgiebigen Gedankenaustausch per Handy. Cherry beschloss spontan, den Mordanschlag auf sie vor Rhonda zu verheimlichen. Sonst würde ihre Freundin garantiert in Pittstown erscheinen und sie höchstpersönlich nach London zurückschleifen. Und das wollte sie nicht – vor allem wegen Mark, wie ihr in diesem Moment bewusst wurde.
„Wie es hier läuft, Rhonda? Oh, es ist ganz okay. Der Restaurator ist ein übellauniger alter Stinkstiefel, aber den muss ich ja nur tagsüber ertragen. Heute Abend lasse ich mir von einem tollen Typen namens Mark das Kleinstadt-Nachtleben zeigen. Deshalb habe ich jetzt nicht so viel Zeit zum Quatschen, denn ich werde gleich abgeholt.“
Rhondas Stimme klang anerkennend, als sie antwortete. „Du gehst mit jemandem aus? Das freut mich wirklich für dich, ehrlich. Ich hatte schon Angst, dass du dich nach der Geschichte mit Tony Sanders in dein Schneckenhaus zurückziehen würdest. Wir alle haben das gedacht, Eileen, Brigid, Tessa und ich. Uns kam dein Praktikum in Pittstown wie eine Flucht vor, ehrlich.“
Cherry war ein bisschen schockiert, obwohl sie so etwas schon befürchtet hatte. Und lagen ihre Freundinnen wirklich so falsch mit ihrem Urteil? Cherry war tief verletzt gewesen, als ihre kurze Affäre mit dem Frauenschwarm Tony vorbei war.
„Es kann schon sein, dass ich eine Zeitlang etwas durch den Wind war“, räumte sie ein. „Aber jetzt ist bei mir wieder alles okay. Ich muss dir bei Gelegenheit ausführlicher von Mark berichten.“
„Wirklich? Ich kenne dich doch. Bei dir läuft es nicht rund, das kann ich ganz deutlich spüren“, meinte Rhonda.
„Es hat hier Stress gegeben“, wich Cherry aus. „Ein Verbrechen ist geschehen, und deshalb ist etwas Unruhe in die verschlafene Kleinstadt gekommen. Die Stimmung hat mich angesteckt. Dabei sollte ich als Londonerin eigentlich an so etwas gewöhnt sein.“
„Okay, das verstehe ich, Cherry. Weißt du noch, als ich voriges Jahr in der U-Bahn ausgeraubt wurde? Danach habe ich auch eine Woche echt neben mir gestanden. Dann hoffe ich nur für dich, dass sich die Lage in Pittstown bald wieder beruhigt. Und versprich mir, dass du gut auf dich aufpasst, ja?“
„Das verspreche ich dir. Ich fand es total lieb, dass du angerufen hast, Rhonda. Wir sprechen uns bald wieder, darauf kannst du dich verlassen. Mach’s gut“, verabschiedete sie sich.
Nach dem Telefonat mit ihrer besten Freundin stand Cherry noch einige Minuten lang wie versteinert da, während sie auf das Handy starrte. Erinnerungen kamen in ihr hoch. Sie hatte ihre früheren Erlebnisse nur verdrängt. Nun wurde ihr erst wieder bewusst, wie sehr sie gedemütigt worden war. Es fiel ihr schwer, nach den schlechten Erfahrungen mit Tony Sanders einem Typen zu vertrauen. Doch genau das musste sie früher oder später tun. Sonst konnte sie nämlich den Rest ihres Lebens in einem Kloster verbringen.
Cherry zog sich aus und ging unter die Dusche. Bisher hatte sie eigentlich immer bessere Laune bekommen, wenn sie sich ausgiebig mit heißem Wasser und einem duftenden Duschgel reinigte. Und auch diesmal funktionierte der Trick. Es kam Cherry so vor, als würde sie mit dem Schmutz und dem Schweiß auch ihre trüben Gedanken abspülen. Als sie wenig später aus der Dusche kam und frische Wäsche anzog, war auf der Straße auch von Jenny nichts mehr zu sehen. Selbst Marks Ex war anscheinend nicht verrückt genug, um sich stundenlang die Beine in den Bauch zu stehen.
Cherry zog ein knielanges Etuikleid im Retro-Look an, das sie auf dem legendären Londoner Flohmarkt an der Pettycoat Lane ergattert hatte. Es sah ziemlich cool aus und würde in einer kleinen Stadt wie Pittstown gewiss Aufsehen erregen. Außerdem legte sie Make-up auf, wobei sie ihre großen ausdrucksvollen Augen mit einem Kajalstift zusätzlich betonte. Cherry fand, dass sie sich sehen lassen konnte.
Sie wollte Mark zwar nicht verführen, aber sie hatte auch keine Lust, als graue Maus aufzutreten. Cherry stylte sich gern, wenn ihr danach war. Als sie noch einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel warf, klingelte es unten an der Haustür. Das musste Mark sein. Er war auf die Minute pünktlich.
Cherry griff nach ihrer Handtasche und eilte die Treppe hinunter. Sie hörte, wie Mark mit Thelma Miller ein paar höfliche Worte wechselte.
„Dann grüße deine Mom von mir, Junge“, sagte die Pensionswirtin und zog sich in die Küche zurück. Doch als Mark ihr den Rücken zudrehte, zeigte sie Cherry ihren nach oben gerichteten Daumen und kniff ein Auge zu. Cherry lächelte. Die Wahl ihres Begleiters schien Thelma Millers Zustimmung zu finden.
„Du siehst einfach fantastisch aus, Cherry“, sagte Mark, nachdem sie die Pensionstür von außen geschlossen hatten und auf die Straße getreten waren.
„Lass das nicht deine Ex hören, sonst kratzt sie mir noch die Augen aus“, erwiderte sie.
Eigentlich hatte Cherry nicht vorgehabt, Mark von ihrer Begegnung mit Jenny zu erzählen. Deshalb ärgerte sie sich über sich, weil ihr diese Bemerkung herausgerutscht war. Doch andererseits liebte Cherry klare Verhältnisse, obwohl ihre direkte Art auf manche Leute verletzend wirkte. Aber sie hatte keine Lust, sich zu verbiegen – vor allem nicht bei jemandem, der ihr etwas bedeutete.
„Meine Ex? Wie meinst du das?“, fragte er verständnislos.
Cherry berichtete kurz davon, was geschehen war. Mark schien sauer zu sein. Missmutig schob er seine Hände in die Hosentaschen.
„Was ist nur in Jenny gefahren, dass sie sich so blöd benimmt? Ich dachte, allmählich wäre sie über unsere Trennung hinweggekommen. Am liebsten würde ich direkt zu ihr gehen und ihr die Meinung sagen.“
„Nein, Mark, lass das lieber bleiben. Ich hätte mit dir gar nicht darüber reden sollen.“
Er schüttelte den Kopf. „Ich bin froh, dass du es getan hast, Cherry. Ich habe Jenny keine neuen Hoffnungen mehr gemacht, das musst du mir glauben. Meine Ex und ich passen einfach nicht zusammen. Offensichtlich kann sie sich mit den Tatsachen nicht abfinden. Aber dass sie dir jetzt auch noch droht, geht zu weit. Sie muss doch auch hinter uns herspioniert haben. Woher weiß sie sonst, dass wir zusammenarbeiten und wo du wohnst?“
„Ja, das stimmt. Ob sie vielleicht mit der Ermordung der jungen Frau zu tun hat?“
„Die tote Frau in der Leichenhalle? Glaubst du das wirklich?“
„Nein, wahrscheinlich nicht, Mark. Ich musste nur daran denken, dass diese Unbekannte jung und schön gewesen ist.“
„Okay, da hast du recht. Und du meinst, Jenny könnte sie aus Eifersucht erwürgt haben? Hey, das ist ein schrecklicher Verdacht. Aber ich kann es mir nicht vorstellen. Außerdem habe ich diese Frau ja gar nicht gekannt. Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.“
Wirklich nicht? Diese Worte sprach Cherry nicht aus, aber sie konnte einen letzten Zweifel in ihrem Inneren nicht unterdrücken. Einerseits war sie schon überzeugt davon, dass Mark ehrlich zu ihr war. Aber andererseits wusste Cherry, dass sie leicht dem Charme eines sympathischen Typen erlag und dann nicht mehr klar denken konnte. Bei diesem verflixten Tony Sanders war ihr das jedenfalls passiert.
Cherry lachte, um ihre düsteren Gedanken zu vertreiben. Sie hakte sich bei Mark ein.
„Weißt du was? Wir sollten diese ganze Sache für heute Abend einfach vergessen. Nur weil Jenny ein bisschen eifersüchtig ist, muss sie noch lange keine Mörderin sein. Wahrscheinlich hat dieser Suffolk-Killer die Frau auf dem Gewissen, und den wird die Polizei früher oder später bestimmt erwischen. Und nun zeig mir mal, was Pittstown so zu bieten hat.“
Mark schien erleichtert. „Ja, das ist ein toller Vorschlag. Ich hoffe, du hast Hunger. Es gibt nämlich bei ‚Pietro‘ erstklassige Pizza. Das ist übrigens die einzige Pizzeria von Pittstown.“
Cherry mochte Pizza. Zum Glück musste sie nicht auf ihre Figur achten, denn das schweißtreibende Karatetraining war der beste Fettkiller, den sie sich vorstellen konnte. Ihr fehlte der Sport bereits jetzt. Sie hoffte nur, dass es in Pittstown ebenfalls einen Karateklub gab, in dem sie sich auspowern konnte. Doch momentan war sie froh, an der Seite eines so netten Typen wie Mark zu sein.
Er führte Cherry zu einem Gebäude am Waterloo Square, das von außen wie ein traditioneller Dorfpub aussah. Doch innen verströmte die alte Schenke mediterranes Urlaubsflair. Die verführerischen Düfte aus der Küche ließen Cherrys Magen vernehmlich knurren. Schließlich hatte sie den ganzen Tag lang hart geschuftet.
„Außer der Pizzeria gibt es noch eine Disco, die aber nur am Wochenende geöffnet hat. Das sind die einzigen Möglichkeiten, mit denen sich Leute in unserem Alter hier amüsieren können.“
Cherry bestellte eine Pizza Tonno und eine Cola, bevor sie antwortete. „Und trotzdem hältst du es hier aus?“
„Ja, warum nicht? Wenn ich nicht aus Afrika nach Pittstown zurückgekehrt wäre, hätten wir uns nie kennengelernt.“
Cherry fand es süß, wie Mark sie anflirtete. Trotzdem ging ihr die Sache etwas zu schnell. Sie beschloss, ihn zu bremsen.
„Du gehst ja ganz schön ran. Aber wieso glaubst du eigentlich, ich hätte keinen Freund? Das ist eigentlich nicht gerade ein Kompliment für mich. Wirke ich auf dich wie ein Mauerblümchen?“, fragte sie ein wenig kokett.
„Ich weiß nicht, was ich glauben soll, Cherry. Aber auf jeden Fall bist du kein Mädchen, das mehrere Eisen gleichzeitig im Feuer hat. So etwas spüre ich.“
„Okay, Mark. Damit hast du absolut recht. Aber ich habe eine Enttäuschung hinter mir, und ich kann nicht so schnell neue Gefühle entwickeln. Ist das ein Problem für dich?“
Er schüttelte den Kopf, während er mit einem Finger sanft über Cherrys Hand strich. „Nein, gar nicht. Du sollst nur wissen, dass ich Interesse habe.“
Cherry lächelte. Natürlich ließ es sie nicht kalt, dass Mark auf sie stand. Er gefiel ihr einfach unheimlich gut. Und sie wollte ihn nicht zu sehr entmutigen. Es war ein schmaler Grat, auf dem sie sich bewegte. Auf jeden Fall hatte sie keine Lust auf einen One-Night-Stand. Aber dafür war Mark auch nicht der Typ, jedenfalls hoffte sie das.
„Wenn du es mir nicht gesagt hättest, wäre ich nie darauf gekommen“, neckte sie ihn. Sie fühlte sich wirklich gut in Marks Gegenwart. Plötzlich musste Cherry an den wehmütigen Abschiedsabend mit ihren Londoner Freundinnen denken. Was sie wohl sagen würden, wenn sie sehen könnten, was für einen Spaß Cherry jetzt in der tiefsten Provinz hatte?
Wenig später brachte Pietro das Essen. Die Pizzen waren wirklich köstlich. Mark unterhielt Cherry mit seinen Erlebnissen, die er auf Baustellen gehabt hatte. Er konnte sehr witzig sein, und als er einen Polier mit starkem schottischen Akzent nachäffte, kamen Cherry vor Lachen die Tränen. Mark war nicht nur gut aussehend, er benahm sich ihr gegenüber auch sehr aufmerksam. Und Humor hatte er auch noch. Cherry hätte sich nie in einen Mann verlieben können, mit dem sie nicht gemeinsam lachen konnte.
„Ich wusste nicht, dass dein Job so amüsant sein kann“, stellte sie fest.
„Manchmal schon. Auf der Baustelle in St. Andrews kann man ja nur über Blackburn grinsen. Das ist jedenfalls besser, als seine ewige schlechte Laune ernst zu nehmen.“
„Dann ist er dir gegenüber also auch so missmutig?“, fragte Cherry.
„Allerdings. Wahrscheinlich ist er einfach nur ein menschenfeindlicher Stinkstiefel, der sich am liebsten mit Kunstschätzen aus vergangenen Jahrhunderten befasst. Obwohl es jemanden gibt, mit dem er öfter telefoniert. Und dann klingt Blackburn immer richtig begeistert.“
Cherry blinzelte Mark zu. „Du hast gelauscht? Pfui, das gehört sich aber nicht“, zog sie ihn auf.
„Nicht absichtlich, es ist zufällig passiert. Ich habe auch gar nicht gehört, worum es ging. Aber ich wunderte mich, weil er ein Handy benutzt hat. Dabei betont Blackburn doch immer so gern, dass er Mobiltelefone nicht ausstehen kann.“
„Ja, er ist ein richtiger Kauz.“ Cherry lachte.
„Und er kann es nicht leiden, wenn sich jemand in die Krypta verirrt. Er tut so, als ob dort unten seine Privatgemächer wären. Wenn du es dir nicht komplett mit ihm verscherzen willst, solltest du niemals die Krypta betreten. Blackburn würde fuchsteufelswild werden.“
„Wie heißt es doch so schön: Hunde, die bellen, beißen nicht. Aber trotzdem vielen Dank für die Warnung.“
Cherrys Neugier war geweckt. Was hatte Blackburns Geheimniskrämerei zu bedeuten? Dieser Gedanke beschäftigte sie für einen kurzen Moment, bis sie in Marks Augen blickte und alles andere vergaß. Je mehr Zeit sie mit ihm verbrachte, desto besser gefiel er ihr. Wenn es weiter so gut lief, würde sich zwischen ihnen etwas entwickeln. Daran hatte sie keinen Zweifel.
Nachdem sie ihre Pizzen aufgegessen hatten, schlenderten sie durch die stillen Gassen von Pittstown. Sie gelangten zu einer Allee, wo man den sanften Wind in den mächtigen Kastanien rauschen hören konnte. In der Dunkelheit wirkten die Bäume wie riesige Wächter. Cherry wurde plötzlich klar, dass man solche stillen Plätze in einer hektischen Millionenstadt wie London vergeblich suchte. Dort konnte man schon froh sein, wenn man einmal zehn Minuten lang nicht durch die wimmernde Sirene einer Ambulanz oder eines Streifenwagens aufgeschreckt wurde. Pittstown war eigentlich gar nicht so übel, obwohl Cherry sich erst an die fehlende Geschäftigkeit und das gemächliche Tempo gewöhnen musste. Einmal sah sie jemanden, der sich an einen Alleebaum schmiegte und sie nicht aus den Augen ließ. Aber Cherry ignorierte die Person und sagte auch nichts zu Mark. Sie wollte die Stimmung nicht verderben. Und wenn diese Zimtzicke Jenny glaubte, hinter ihnen herschleichen zu müssen, dann war das ihr Problem.
Schließlich standen sie wieder vor Thelma Millers Pension.
„Das war ein schöner Abend. Schlaf gut, wir sehen uns dann morgen“, verabschiedete sich Cherry und umarmte Mark flüchtig. Dann lief sie schnell ins Haus, bevor sie von ihren eigenen Gefühlen überwältigt wurde. Ihr Herz raste gewaltig, und die kurze Berührung hatte ihr gut gefallen, und gewiss nicht nur ihr. Sie spürte, dass es zwischen ihr und Mark heftig knisterte.
Trotz ihrer Aufregung schlief sie schnell ein, denn der Tag war lang und anstrengend gewesen.
Am nächsten Morgen konnte Cherry es kaum erwarten, zur Arbeit zu kommen. Sie duschte und frühstückte schnell, danach eilte sie in ihrem Overall zur Kirche.
Doch Cherrys gute Stimmung hielt nicht lange an. Bereits von Weitem sah sie die rotierenden Blaulichter von Streifenwagen und Ambulanz. Sie beschleunigte ihren Schritt. Vor der Friedhofsmauer hatten sich einige Schaulustige versammelt, die von der Polizei zurückgehalten wurden. Der Krankenwagen, der vor dem Pfarrhaus gestanden hatte, fuhr soeben mit heulenden Sirenen davon.
Sergeant Murdoch, der mit seinen Kollegen das Gelände absperrte, nickte Cherry zu und ließ sie durch.
„Was ist los, Sergeant? Warum sind Sie hier?“, fragte sie aufgeregt.
„Es hat ein Verbrechen stattgefunden, Miss Wynn. Ein schwerer Raubüberfall. Die Kollegen von der Kriminalpolizei ermitteln.“
Cherry fürchtete sich vor ihrer nächsten Frage, denn sie hatte Mark noch nirgendwo gesehen. Aber sie musste sich einfach Gewissheit verschaffen, obwohl ihre Kehle vor Angst wie zugeschnürt war. Ihre Stimme klang belegt, als sie nun wieder den Mund öffnete. „Und – wer wurde in der Ambulanz abtransportiert?“
„Father Nolan. Wir gehen davon aus, dass er den Täter überrascht hat. Der Pfarrer ist schwer verletzt und ohne Bewusstsein.“