3. KAPITEL
Cherry war verblüfft und geschockt zugleich. Was hatte das zu bedeuten, und wer konnte das getan haben? Etwa der Suffolk-Killer? Waren seine brutalen Morde nichts anderes als irrsinnige Rituale, um dunklen Mächten Menschenopfer zu bringen?
Fragen über Fragen drängten sich auf. Wenigstens gab es keinen Zweifel daran, woher die Kreide stammte. Überall in St. Andrews lag sie in verschiedenen Farben herum. Damit wurden an den Wänden und Stützbalken Abmessungen und Abstände gekennzeichnet. Praktisch jeder konnte sich ein Stück Kreide genommen haben, um Cherrys Reisetasche zu markieren. Und nachdem Mrs Warrens Tochter geschrien hatte, galt alle Aufmerksamkeit nur noch der Leichenhalle. Es war sehr einfach, sich während dieser Zeit unbemerkt in die Kirche zu schleichen.
Aber was sollte das Ganze für einen Sinn haben?
„Träumen Sie, Miss Wynn?“
Cherry zuckte zusammen. Sie war so in ihre Überlegungen versunken gewesen, dass Blackburn sich ihr unbemerkt nähern konnte. Nun stand er stirnrunzelnd neben ihr. Das bedrohliche Zeichen auf ihrer Reisetasche hatte sie mehr durcheinandergebracht, als sie sich eingestehen wollte.
„Sir, ich wollte mein Gepäck holen – und dann habe ich das Pentagramm gesehen!“ Cherry deutete auf das Symbol.
Der Restaurator nickte langsam. „Ja, ein Pentagramm. Was wissen Sie über dieses Zeichen?“
Cherry blinzelte irritiert. Sollte das jetzt eine Prüfung werden? „Das Pentagramm wird zur Geisterbeschwörung verwendet, glaube ich“, antwortete sie.
„Ja, aber nicht nur. Es ist ein uraltes Zeichen, das im alten Ägypten ‚Stern des Isis‘ genannt wurde. Damals sollte es den Schoß der Erde symbolisieren. Im antiken Babylon wurde es als heilendes Amulett getragen. Später wurde es wirklich bei magischen Ritualen verwendet, um sich vor bösen Geistern zu schützen. Wenn ein Zacken nach unten zeigt, gilt es als schwarzmagisches Symbol, so wie dieses hier. Und Sie sind sich sicher, dass Sie es nicht selbst auf Ihre Tasche gemalt haben?“
Cherry riss die Augen auf. Was wollte Blackburn ihr denn unterstellen?
„Warum sollte ich so etwas tun, Sir?“, fragte sie ungläubig.
„Das weiß ich nicht. Vielleicht wollen Sie sich nur interessant machen? Das würde zu dem Bild passen, das ich von Ihnen gewonnen habe. Ihre unpassende Kleidung, Ihre Frechheit. Ich habe den Eindruck, dass Sie Ihr Praktikum nicht sehr ernst nehmen.“
Cherry schenkte ihrem Chef ein zuckersüßes Lächeln, obwohl sie sich fürchterlich über seine herablassende und beleidigende Art aufregte. Aber sie wollte bestimmt nicht in Tränen ausbrechen und fortlaufen. Diesen Gefallen würde sie ihm ganz gewiss nicht tun.
„Genau deshalb wollte ich meine Tasche holen, Sir – um mein Kleid gegen Arbeitsklamotten zu vertauschen. Ich ziehe mich nur kurz in meiner Pension um und komme dann sofort zurück, damit ich mit dem Praktikum beginnen kann.“
Der Restaurator schien enttäuscht zu sein, weil er Cherry immer noch nicht vertreiben konnte.
„Meinetwegen“, knurrte er. „Aber beeilen Sie sich!“
Cherry nahm ihre Reisetasche, bevor sie schnell die Kirche verließ. Sie überlegte kurz, ob sie das Pentagramm dem Inspektor zeigen sollte. Aber dann entschied sie sich dagegen. Es gab keinen Hinweis darauf, dass der Suffolk-Killer mit magischen Symbolen hantierte. Jedenfalls hatte der Kriminalbeamte nichts davon erwähnt. Außerdem konnte sie später immer noch zur Polizei gehen. Wahrscheinlich hatte sich irgendein durchgedrehter Dorftrottel einen dummen Scherz erlaubt.
Der Weg bis zu ihrer Pension war nicht weit. Das Haus von Thelma Miller befand sich nur drei Querstraßen von der Kirche entfernt. Das verwunschen wirkende alte Gebäude mit der efeubewachsenen Fassade gefiel Cherry auf Anhieb. Sie betätigte den Türklopfer aus Bronze.
Gleich darauf wurde ihr von einer alten Dame mit Nickelbrille die Tür geöffnet. Freundlich blinzelte die Frau Cherry zu.
„Hallo! Du musst Cherry Wynn sein. Man sieht doch sofort, dass du aus der Hauptstadt kommst. Ich bin Thelma Miller.“ Die Pensionswirtin streckte Cherry ihre Rechte entgegen. Die beiden so unterschiedlichen Frauen gaben sich die Hand.
„Merkt man mir echt an, dass ich aus London komme?“, fragte Cherry erstaunt.
„Sicher, so modisch, wie du aussiehst. Ich weiß, wovon ich rede. Vor fünfzig Jahren habe ich auch in London gelebt. Ich war damals jung und trug schöne Kleider nach Pariser Mode. Die Provinzlerinnen hier in Pittstown haben sich die Mäuler über mich zerrissen, weil sie selbst aussahen wie graue Mäuse. Damals gab es ja noch kein Internet, und man konnte sich so weitab der Modezentren nicht einfach tolle Sachen bestellen. Außer Tee zu trinken und zu tratschen taten die Frauen damals sowieso nicht besonders viel.“
Cherry lachte. Thelma Miller war ihr vom ersten Moment an sympathisch. Vielleicht lag es daran, dass die Pensionswirtin auch aus London stammte, genau wie sie selbst. Die ältere Frau schien darüber hinaus eine scharfe Zunge zu haben.
„Und wie hat es Sie nach Pittstown verschlagen, Mrs Miller?“
„Nenne mich doch bitte Thelma, sonst fühle ich mich so alt, wie ich es schon längst bin. Mein Arthur bekam einen Posten in der Gemeindeverwaltung. Wir haben hier glücklich gelebt, nachdem wir uns an die Provinz gewöhnt hatten. Aber vor fünf Jahren ist mein Mann gestorben. Und ich habe die Pension eröffnet, damit wieder etwas Leben in die Bude kommt.“
Thelma Miller schien über den Tod ihres Mannes hinweggekommen zu sein. Jedenfalls wirkte sie auf Cherry offen und fröhlich. Nach Mark und Father Nolan war sie die dritte nette Person in Pittstown.
Die Pensionswirtin zeigte ihr das Zimmer. Es war in hellen Farben gestrichen und enthielt neben Bett und Schrank auch zwei Stühle und einen Schreibtisch.
„Wir haben im ganzen Haus WLAN“, erklärte Thelma Miller. „Du kannst also jederzeit ins Internet, wenn du willst.“
Anerkennend pfiff Cherry durch die Zähne. „Sie sind ja auf dem neuesten Stand der Technik, Thelma.“
Die Pensionswirtin zuckte mit den Schultern. „Manche Leute in meinem Alter haben Angst vor den Neuerungen. Aber für mich sind die Neuen Medien ein Segen. Ich bin eben von Natur aus neugierig. Da fällt mir ein: Was war eigentlich vorhin in der Kirche los? Ich habe die Polizeisirenen gehört, einige Fahrzeuge sind in die Richtung gerast. Du arbeitest doch in der Kirche, oder? Jedenfalls hast du das bei deiner Internet-Buchung geschrieben.“
Während sie sprach, lotste die Pensionswirtin Cherry in ihre Küche und begann damit, einen Tee zu kochen. Cherry warf einen unauffälligen Seitenblick auf die Uhr. Eigentlich wollte sie umgehend zu Blackburn zurückkehren. Andererseits konnte es nicht schaden, mit Thelma zu reden und sich besser über Pittstown und die Kirche zu informieren. Außerdem wollte sich Cherry von dem Restaurator nicht hetzen lassen. Wenn er freundlich zu ihr gewesen wäre, hätte sie sich anders verhalten. Aber sie konnte manchmal sehr dickköpfig sein. Hatte er nicht gesagt, sie solle sich beeilen? Nun, genau deshalb wollte Cherry jetzt erst recht etwas Zeit verbummeln.
Kopfschüttelnd hörte Thelma Miller zu, während Cherry von dem Leichenfund und dem Verdacht gegen den Suffolk-Killer erzählte.
„Was für eine furchtbare Sache! Natürlich habe ich Mrs Warren gekannt. Das bleibt in einem kleinen Ort wie diesem nicht aus. Sie hätte sich wohl niemals träumen lassen, dass ihr Sarg nach ihrem Tod so viel Aufregung verursachen würde. Ich hoffe, dass die Polizei diesen Dreckskerl bald schnappt. Normalerweise ist nämlich Pittstown ein sehr verschlafenes Städtchen. Kriminalität ist hier ein Fremdwort.“
„Dann gibt es hier also auch keine merkwürdigen Leute?“, hakte Cherry nach.
Die Pensionswirtin goss ihrem Gast eine Tasse Tee ein. „Das kommt darauf an, was du darunter verstehst.“
„Typen, die ein solches Zeichen auf mein Gepäck kritzeln.“ Cherry lief in den Flur und holte ihre Reisetasche, um ihrer Pensionswirtin das Kreide-Pentagramm zu zeigen. Als Thelma Miller es erblickte, war sie verblüfft.
„Das ist doch ein magisches Symbol, oder? Nein, Grufties oder solche Leute gibt es in Pittstown nicht. Die kenne ich nur aus dem Fernsehen. Höchstens – aber nein, ich will niemanden beschuldigen.“
Die Pensionswirtin stellte Kekse auf den Küchentisch. Cherry mochte aber jetzt nichts Süßes naschen, denn der letzte Satz hatte sie erst richtig neugierig gemacht.
„Wieso beschuldigen? Gibt es denn jemanden, dem Sie diesen Blödsinn zutrauen würden? Bitte sagen Sie es mir. Dieses Zeichen hat mich ziemlich durcheinandergebracht. Ich will wissen, wer etwas gegen mich hat.“
Thelma Miller seufzte. „Also gut, aber es ist nur eine Vermutung. Der Einzige, dem ich diese Kritzelei zutrauen würde, ist der Sohn von Linda und John Gilmore. Er heißt Mark, wenn ich mich richtig erinnere. Hilft er nicht auch bei der Restaurierung der Kirche?“
Cherry war geschockt. „Ja, er arbeitet dort. Aber wie kommen Sie auf ihn, um Himmels willen? Warum sollte er so etwas anstellen?“
„Vielleicht war er es ja auch gar nicht“, wiegelte Thelma Miller ab. „Aber Mark ist doch ein Jahr in Afrika gewesen, um dort beim Bau einer Dorfschule mitzuhelfen. Das habe ich jedenfalls von seiner Mutter gehört, als ich sie auf dem Wochenmarkt getroffen habe.“
„Ja, von dem Afrikatrip hat er mir selbst erzählt. Aber ich kapiere nicht, weshalb Sie ihn verdächtigen, Thelma. Was hat das Pentagramm mit seinem Entwicklungshilfejob zu tun?“
„Hat Mark dir auch erzählt, dass er monatelang krank gewesen war? Seine Mutter sagte, dass er trotz Impfung Malaria bekommen hätte. Es gab in der abgelegenen Region keinen Arzt, nur eine Art Heilerin. Und diese Frau soll ihn mit irgendwelchen Zaubereien kuriert haben.“
Cherry schüttelte den Kopf. „Und Sie glauben, deshalb malt er jetzt hier in Pittstown ein magisches Symbol auf meine Reisetasche? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich habe Mark schon kennengelernt. Und auf mich wirkt er überhaupt nicht durchgeknallt, sondern völlig normal.“
Doch noch während Cherry diese Sätze sprach, begann der Zweifel an ihr zu nagen. Wie konnte sie so sicher sein, was mit Mark los war? Ihre Menschenkenntnis hatte bereits einmal kläglich versagt, als sie auf diesen Blender Tony Sanders hereingefallen war. Aber sie wollte sich einfach nicht vorstellen, dass Mark sich zu solchen Spinnereien hinreißen ließ. Außerdem war er doch die ganze Zeit bei ihr gewesen, nachdem die Tochter von Mrs Warren die fremde Tote im Sarg ihrer Mutter entdeckt hatte.
Die ganze Zeit? Nein, das stimmte nicht. Als Cherry von Inspektor Abercrombie verhört wurde, hätte Mark in aller Ruhe in die Kirche gehen und ihr Gepäck mit diesem blöden Pentagramm verunzieren können. Aber warum sollte er das tun? Um ihr Angst einzujagen und dann als starker männlicher Beschützer aufzutrumpfen?
Cherry wusste nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollte. Sie wünschte sich inständig, dass Mark unschuldig war. Wie auch immer, sie wollte ihn unbedingt zur Rede stellen. Wenn er etwas mit dem Pentagramm zu tun hatte, würde sie das schon bemerken.
Sie trank ihren Tee aus und stand vom Küchentisch auf.
„Habe ich dich verärgert, Cherry?“
„Nein, Thelma. Überhaupt nicht. Ich bin für jeden Tipp dankbar, echt. Aber jetzt muss ich mich schnell umziehen und dann zur Baustelle zurückkehren. Mr Blackburn wartet gewiss schon auf mich.“
Cherry zog in ihrem Zimmer ihr Minikleid aus und vertauschte es gegen einen blauen Overall aus derbem Stoff, wie Monteure ihn trugen. Dieses Teil hatte sie sich extra für ihr Praktikum gekauft. Statt der halbhohen Pumps trug sie nun Arbeitsschuhe mit Stahlkappen. Irgendwie kam Cherry sich wie verkleidet vor, als sie sich gleich darauf im großen Wandspiegel betrachtete. Vielleicht war dies ein äußeres Zeichen dafür, dass mit dem Praktikum ein neuer Lebensabschnitt begann.
Als sie wenig später in St. Andrews eintraf, starrte Blackburn sie grimmig an.
„Wie schön, dass Sie uns auch schon mit Ihrer Anwesenheit beehren, Miss Wynn“, sagte er ironisch. „Wenigstens sehen Sie jetzt wie eine Restauratorin aus. Aber was in Ihnen steckt, das müssen Sie erst noch zeigen.“
Blackburn deutete auf einen der beiden Beichtstühle, die sich in der Kirche befanden. „Das Holz wurde irgendwann während der letzten dreißig Jahre mit schwarzem Glanzlack übertüncht, was natürlich furchtbar aussieht. Der Beichtstuhl stammt wahrscheinlich aus dem 16. Jahrhundert. Sie werden jetzt zunächst den Lack abschleifen, bevor wir das Holz wieder in den ursprünglichen Zustand versetzen. Dafür nimmt man normalerweise eine Maschine. Aber da wir als Restauratoren sehr vorsichtig sein müssen, machen Sie es mit Schmirgelpapier und bloßen Händen.“
Blackburn gab ihr das Material. Unter seinem kritischen Blick begann Cherry, den Lack an einer Stelle zu entfernen, was äußerst mühselig war.
„Sie brauchen einen Mundschutz, sonst atmen Sie die giftigen Lackpartikel ein, Miss Wynn. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei dieser Aufgabe. Melden Sie sich bei mir, wenn Sie fertig sind.“
Mit diesen Worten verschwand der Restaurator im Halbdunkel des Kirchenschiffs. Cherry setzte sich eine Atemmaske auf und fuhr mit dem Abschleifen fort. Schon bald begann sie innerlich zu fluchen. Obwohl das Schmirgeln körperlich nicht sehr anstrengend war, musste sie sich stark konzentrieren. Die Anspannung trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Außerdem hockte Cherry zusammengekauert vor dem Beichtstuhl. Ihr Rücken machte sich schon bald schmerzhaft bemerkbar. Der Erfolg hielt sich in Grenzen, denn bisher hatte sie nur wenige Zentimeter von der Lackschicht entfernen können. Wenn Cherry in dem Tempo weitermachte, würde sie sich mindestens eine Woche lang mit dieser Arbeit beschäftigen müssen.
Aber es waren die üblichen Tätigkeiten eines Restaurators, wie sie aus dem Studium wusste. Deshalb biss sie die Zähne zusammen und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß weg. Bald war ihr Gesicht mit einer dunklen Schmutzschicht überzogen, denn ihre Finger waren über und über mit Staub bedeckt.
Cherrys Laune war auf dem Tiefpunkt. Sie kam sich einsam und verlassen vor, obwohl sich die anderen Mitarbeiter des Restaurierungsprojekts in Rufweite befanden. Blackburn war vorhin in der Krypta verschwunden, nachdem er Cherry diese Arbeit gegeben hatte. Sam Lonnegan werkelte wieder auf dem Gerüst vor dem Portal. Jedenfalls drangen von draußen leise Geräusche herein, die offenbar von seinen Werkzeugen stammten.
Und wo war Mark?
Kaum hatte Cherry an ihn gedacht, da trat er durch den Haupteingang in die Kirche. Er trug nun seinen Werkzeuggürtel um die Hüften. Mark winkte und kam auf den Beichtstuhl zu. Cherrys Herz hüpfte vor Freude, während sie zugleich eine gewisse Beklemmung verspürte. Wenn dieser Typ nun wirklich das Pentagramm auf ihre Reisetasche gemalt hatte? Sie würde sich ganz gewiss nicht auf jemanden einlassen, der nicht klar im Kopf war. Einen Moment lang war Cherry verwirrt. Was sollte sie von Mark halten?
„Hallo, Cherry. Wie geht’s?“
„Mittelprächtig. Ich muss den Beichtstuhl abschmirgeln, das ist meine erste Praktikumsaufgabe.“
„Sieht mir nach einer Wahnsinnsarbeit aus. Ich muss jetzt noch eine Verschalung anbringen, aber danach habe ich erstmal nichts zu tun. Ich kann dir helfen, wenn du willst.“
„Nein, danke. Ich mache das allein“, erwiderte sie abweisend.
„Bist du irgendwie sauer auf mich, Cherry?“
„Warum hast du mir nichts von der Zauberin in Afrika erzählt?“, platzte sie heraus. „Und von deiner Krankheit?“
Eigentlich hatte Cherry nicht vorgehabt, ihre Karten so schnell auf den Tisch zu legen. Aber sie musste einfach wissen, ob Mark hinter dieser Kritzelei steckte. Gerade weil sie Gefühle für ihn entwickelte, hielt sie die Ungewissheit nicht aus.
Mark schien überrascht. „Woher weißt du, dass ich Malaria hatte?“
„Ich habe es gehört, das ist alles. Und ich frage mich, ob du irgendwie auf magischen Hokuspokus abfährst. Du hast nicht zufällig ein Pentagramm auf meine Reisetasche gemalt?“
„Was soll ich gemacht haben? Mit Zauberei habe ich nun wirklich nichts am Hut. Die schwarze Lady, die mich geheilt hat, war übrigens keine Magierin, sondern eine Kräuterfrau. Solche Frauen nennt man in Afrika Witch Doctor, aber das bedeutet nicht, dass sie wirklich hexen können. Ich glaube nämlich nicht an so etwas. Du etwa?“
„Ich doch nicht“, behauptete Cherry, obwohl sie in ihrem tiefsten Inneren nicht sicher war. Seit ihrer Ankunft in St. Andrews hatte sie das mulmige Gefühl einer unterschwelligen Bedrohung, die sie weder sehen noch hören konnte.
Jedenfalls wirkte Marks Unschuldsbeteuerung glaubwürdig auf sie. Cherry wollte es sich nicht mit ihm verderben.
„Tut mir leid, dass ich dich verdächtigt habe. Ich bin extrem nervös. Wegen der Sache mit der Reisetasche denke ich, dass es jemand auf mich abgesehen hat. Ich drehe deswegen noch durch, ehrlich“, erwiderte sie.
„Schon gut, ich verstehe das. Mir ist es ähnlich gegangen. Als ich aus Afrika zurückkam, schienen in meinem Elternhaus plötzlich Dinge zu fehlen. Nichts Wertvolles, nur solche Kleinigkeiten wie ein Kugelschreiber oder eine Gießkanne aus Plastik. Ich dachte schon, ich würde spinnen. Bis ich dann durch Zufall merkte, dass meine Exfreundin dafür verantwortlich war.“
„Wie bitte?“ Cherry war verwirrt.
„Ja, meine Exfreundin Jenny. Sie schlich sich ins Haus, wenn sie glaubte, dass niemand daheim wäre. Sie hat wohl irgendwann den Reserveschlüssel meiner Mom geklaut. Als ich sie zur Rede stellte, brach sie in Tränen aus. Jenny behauptete, das alles nur getan zu haben, um mir nahe zu sein. Darum hat sie diesen Kleinkram mitgenommen, verstehst du? Sie konnte sich nicht damit abfinden, dass ich Schluss gemacht hatte. Dabei ist sie eigentlich sympathisch, aber wir passen einfach nicht zueinander.“
Cherry schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass sich manche Leute aus Liebe zu den merkwürdigsten Dingen hinreißen ließen. Zu dem Thema hatte sie von ihren Freundinnen schon haarsträubende Geschichten gehört.
Ob Mark inzwischen eine neue Freundin hatte? Cherry wollte ihn nicht danach fragen, das wäre zu offensichtlich gewesen. Trotzdem war sie wissbegierig, wie es mit dieser Jenny weitergegangen war.
„Und wie läuft es jetzt mit Jenny?“, fragte sie gespielt munter.
Als Mark mit der Antwort zögerte, warf Cherry ihm einen warnenden Blick zu. Er seufzte, bevor er wieder den Mund öffnete.
„Ich will ehrlich zu dir sein. Jenny war eine Zeit lang in einer Nervenklinik. Sie hat ein Mädchen angegriffen und verletzt, das sie für meine neue Freundin hielt. Aber Jenny hat ihre Tat bereut und erkannt, dass sie Hilfe braucht.“
Cherry spürte, dass Mark ihr die Wahrheit gesagt hatte. Es war ihm gewiss nicht leichtgefallen, denn diese Jenny hatte ihm ja einmal etwas bedeutet. Sie musste wirklich sehr neben der Spur gewesen sein, wenn sie sogar im Krankenhaus gewesen war.
„Ist deine Ex jetzt wieder okay?“
„Das hoffe ich für sie. Wir haben uns schon ein paar Wochen lang nicht mehr gesehen. Aber das kann auch daran liegen, dass ich bis vor Kurzem auf einer Baustelle in Colchester gearbeitet habe. Für die Restaurierung der Kirche hat mich Blackburn erst vor einer Woche angeheuert.“
„Also bist du erst seit einigen Tagen wieder in Pittstown.“
„Genau. Aber ich bin hier geboren und aufgewachsen. Ich kenne den Ort wie meine Westentasche. Was hältst du davon, wenn ich dir heute nach Feierabend das Städtchen zeige?“
„Ja, darauf hätte ich Lust“, sagte Cherry und meinte es auch wirklich so. Ihr Verdacht gegen Mark hatte sich wieder zerstreut, denn er kam ihr glaubwürdig vor. Cherry fand es toll, dass er seine Ex nicht als durchgeknallte Schreckschraube dargestellt hatte, obwohl sie in sein Elternhaus eingebrochen war und in der Nervenklinik behandelt werden musste. Von so viel Fairness konnten sich andere Typen eine Scheibe abschneiden, jedenfalls nach ihrer Meinung.
Mark gab Cherry seine Handynummer und bekam im Austausch ihre. „Du willst dich wahrscheinlich erst duschen und umziehen, bevor wir heute Abend Pittstown unsicher machen“, meinte er.
Sie schaute an sich herab und grinste. „Ja, ich bin jetzt schon total dreckig. Aber wenn Blackburn meint, dass eine echte Restauratorin so auszusehen hat, dann kann ich damit leben.“
Mark blinzelte verschwörerisch und trat näher.
„Ist dir übrigens aufgefallen, dass unser großer Meister fleißig simst?“, fragte er.
„Blackburn? Wie kann er denn eine SMS schreiben, wo er doch gar kein Handy besitzt? Jedenfalls hat er mir das weismachen wollen, Mark.“
„Mir auch. Vielleicht ist er ja einfach ein Heuchler, der nach außen hin den Fortschritt ablehnt, aber ohne moderne Technik nicht leben kann.“
„Das kann uns ja egal sein.“
„Finde ich auch. Also bis später, ich muss mich jetzt um meine Verschalung kümmern.“
Mark ging hinüber in ein Seitenschiff des Kirchenraums. Cherry konnte ihn nicht mehr sehen. Aber Hammerschläge und das Geräusch einer elektrischen Säge zeugten davon, dass er dort seiner Arbeit nachging.
Cherry war erleichtert, weil sie Mark direkt auf ihren Verdacht angesprochen hatte. Natürlich gab es keinen Beweis dafür, dass er unschuldig war. Sie musste ihm vertrauen. Aber konnte sie das wirklich tun? Nach ihren schlechten Erfahrungen mit Tony Sanders fiel es ihr schwer, obwohl sie sich sehr stark zu Mark hingezogen fühlte. Auf keinen Fall würde Cherry sich ihm blindlings an den Hals werfen, das nahm sie sich ganz fest vor.
Aber es war doch nichts dabei, wenn sie sich abends von ihm die Stadt zeigen ließ – oder? Würde sich Mark deshalb gleich etwas einbilden?
Cherry wollte nicht länger grübeln. Das führte letztlich zu nichts. Sie wurde von heftigem Durst geplagt, und unter ihrer Atemmaske kam ihr die Luft besonders trocken vor. Im Eingangsbereich der Kirche standen einige Cola- und Limoflaschen herum, die offenbar für die Restauratoren gedacht waren. Cherry genehmigte sich eine kurze Pause, um dort etwas zu trinken.
Sie erhob sich aus ihrer kauernden Stellung. In St. Andrews herrschte das übliche Halbdunkel. Allerdings gab es dort Lichtinseln, wo gearbeitet wurde. Blackburn hatte einen starken mobilen Scheinwerfer eingeschaltet, um Cherrys Arbeitsplatz am Beichtstuhl gut auszuleuchten. Deshalb mussten sich ihre Augen erst wieder an das dämmrige Licht in den hohen finsteren Räumen gewöhnen.
Cherry blinzelte und legte den Kopf in den Nacken, um ihren verspannten Nacken zu entlasten.
Dadurch rettete sie vermutlich ihr Leben.
Als Cherry nämlich unter der Chorempore hindurchgehen wollte, fiel von oben ein riesiger Balken auf sie hinab. Sie stieß einen schrillen Schreckensschrei aus und sprang zur Seite. Das massive Holzstück krachte nur einen Fußbreit neben ihr auf den Granitboden der Kirche.