2. KAPITEL
„Das kam aus der Leichenhalle!“, rief Father Nolan. Wie auf ein lautloses Kommando hin rannten alle aus der Kirche. Cherry und Mark waren am schnellsten. Er wandte sich draußen nach links und lief auf ein kleines Gebäude hinter der Kirche zu. Cherry war ihm dicht auf den Fersen. Auch Sam Lonnegan kletterte vom Gerüst herunter, um nachzusehen. Harris Blackburn und Father Nolan kamen keuchend als Letzte an.
Mark stieß die Flügeltüren der Leichenhalle auf. An der Stirnseite stand ein Sarg auf Holzböcken, dessen Deckel nun geöffnet war. Daneben befand sich eine Frau in schwarzer Trauerkleidung, die am ganzen Leib zitterte. Die Tränen rannen ihr über die Wangen. Außerdem gab es noch zwei Männer in dunklen Anzügen, die vermutlich vom Beerdigungsinstitut waren und sie zu beruhigen versuchten.
„Was ist passiert?“, rief Mark.
„Meine Mutter“, schluchzte die Frau. „Wer macht denn so etwas?“
Gemeinsam mit Mark ging Cherry zum aufgebahrten Sarg, wobei sie ein mulmiges Gefühl beschlich. Als sie in die Totenkiste blickte, zuckte sie entsetzt zusammen. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.
Im Sarg lag eine tote alte Frau im Leichenhemd, die mindestens neunzig Jahre gewesen sein musste. Doch außer ihr befand sich noch eine junge Frau darin – im trendigen Freizeitoutfit, aber ebenfalls tot!
Cherry hatte noch nie eine echte Leiche gesehen, und nun hatte sie gleich zwei vor Augen. Allerdings hätte der Unterschied nicht größer sein können. Die Seniorin war offensichtlich friedlich gestorben, wie der Pfarrer gesagt hatte. Jedenfalls sah ihr Gesicht entspannt und gelöst aus. Die junge Tote hingegen war eindeutig ermordet worden. Selbst eine kriminalistische Laiin wie Cherry konnte deutlich die Würgemale an ihrem Hals erkennen.
Einer der Anzugträger ergriff nun das Wort. „Die Tochter der Toten“, er deutete auf die weinende Frau, „ist heute aus Birmingham angereist. Sie wollte ihrer Mutter ein Bild in den Sarg legen, ein Familien-Erinnerungsstück. Deshalb haben wir den Deckel noch einmal geöffnet. Normalerweise hätten wir das nicht gemacht. Na ja, und jetzt haben wir die Bescherung.“
„Kennt man das Mordopfer?“ Cherry war erschrocken darüber, wie dünn und zittrig ihre Stimme plötzlich klang. Eigentlich war sie kein Angsthase. Aber andererseits hatte sie noch nie im Leben tote Menschen gesehen, außer natürlich im Fernsehen. Doch das hier war echt und unmittelbar. Die jüngere Frau konnte nicht viel älter gewesen sein als sie. Allein schon deshalb fühlte sich Cherry der Toten verbunden.
Die Tochter von Mrs Warren schüttelte nur den Kopf und begann erneut zu weinen. Sie schien unter Schock zu stehen.
„Aus Pittstown stammt sie jedenfalls nicht, sonst würden wir sie kennen“, antwortete einer der Männer vom Beerdigungsinstitut.
„Wir müssen sofort die Polizei verständigen“, meinte Father Nolan. Blackburn machte nicht gerade einen begeisterten Eindruck, aber das konnte man angesichts der zwei Leichen wohl auch nicht erwarten. Außerdem hatte Cherry den Restaurator noch nie gut gelaunt erlebt, seit sie ihn vor wenigen Minuten kennengelernt hatte. Doch ihr kleinlicher Zoff mit Blackburn erschien ihr angesichts des gewaltsamen Todes der jungen Frau belanglos.
Innerhalb kurzer Zeit traf die Polizei ein. Die uniformierten Beamten drängten die inzwischen eintreffenden Trauergäste für das Begräbnis von Mrs Warren vom Sarg weg und forderten die Spurensicherung an.
„Das Begräbnis muss verschoben werden. Es könnten sonst Hinweise auf den Täter vernichtet werden“, erklärte der wenig später ankommende Inspektor Abercrombie. Er war ein blasser Mann mit kahlem Schädel und dicker Hornbrille. Während sich die Spezialisten von der Spurensicherung in ihren weißen Overalls an die Arbeit machten, wurden Zeugen befragt. Auch Cherry und Mark mussten warten, bis sie an der Reihe waren.
„Du kannst einem echt leidtun, Cherry. Kaum bist du in Pittstown eingetroffen, hast du schon eine Leiche vor der Nase. Aber du hältst dich tapfer, das muss ich dir lassen.“
Obwohl Marks Worte gewiss als Kompliment gemeint waren, fühlte sich Cherry von ihm herablassend behandelt. Das wollte sie sich nicht gefallen lassen.
„Ich halte mich tapfer? Und was ist mit dir, Mark? Du musst mir nicht den harten Mann vorspielen, den nichts erschüttern kann. Du bist doch kaum älter als ich, allerhöchstens vierundzwanzig. Willst du mir erzählen, dass du mehr Leichen als ich gesehen hast?“, erwiderte sie selbstbewusst.
„Ja, ich glaube schon“, erwiderte Mark ernst. „Ich war nämlich als Zimmermann für ein Entwicklungshilfe-Projekt in Afrika und habe dort mehr Tod und Elend erfahren, als gut für mich war. Aber wir konnten wenigstens etwas für die Menschen, die dort leben, tun, und darum war es zu ertragen. Ansonsten hast du mich gut geschätzt, ich bin nämlich dreiundzwanzig.“
Das war also der Grund, weshalb Mark reifer und erwachsener wirkte als viele andere Typen in seinem Alter. Cherry hatte sich durch seine Ausstrahlung sofort zu ihm hingezogen gefühlt. Natürlich konnte er ihr auch Blödsinn erzählen, um anzugeben. Doch ob er Entwicklungshilfe gemacht hatte oder nicht, das ließ sich nachprüfen. Trotz der bedrückenden Situation flatterten die Schmetterlinge in ihrem Bauch ganz gewaltig.
Dennoch wollte Cherry sich Mark nicht gleich an den Hals werfen. Sie hatte schlechte Erfahrungen damit gemacht, sich spontan zu verlieben. An der Uni war ihr das mit dem Frauenhelden Tony Sanders passiert. Er hatte im Bett seinen Spaß mit ihr gehabt und am nächsten Morgen nichts mehr von ihr wissen wollen. So etwas sollte Cherry nicht noch einmal passieren, wenn es nach ihr ging.
Sie schaute zu dem Spurensicherungsteam hinüber, das am anderen Ende der Leichenhalle arbeitete.
„Und du kanntest die Ermordete auch nicht, Mark?“, fragte Cherry.
„Nein, sie stammt gewiss nicht aus Pittstown. Und auch nicht aus einem der umliegenden Dörfer. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, abgesehen von dem einen Jahr in Afrika. Mir ist völlig schleierhaft, wie sie in den Sarg kommen konnte.“
„Der Mörder hat sie dort hineingelegt, was denn sonst? Es war doch purer Zufall, dass der Sarg noch einmal geöffnet wurde. Überleg mal, Mark. Wenn das nicht geschehen wäre, hätte man die Leiche niemals gefunden. Die junge Frau wäre gemeinsam mit Mrs Warren ganz normal beerdigt worden“, folgerte Cherry.
Mark blickte nachdenklich. „Ja, das stimmt. Aber woher wusste der Mörder, dass die Leiche der alten Dame hier aufgebahrt war?“
„Er muss es ja gar nicht gewusst haben. Vielleicht hat er nach einer Möglichkeit gesucht, die Tote einfach loszuwerden. Dann schaute er in die Leichenhalle und hat die einmalige Gelegenheit genutzt. Weißt du eigentlich, ob das Gebäude nachts abgeschlossen wird?“
„Keine Ahnung, es würde mich aber wundern. Father Nolan legt ja auch sehr großen Wert darauf, dass die Kirche trotz unserer Arbeiten für seine Schäfchen geöffnet bleibt.“
„Ja, das habe ich auch schon mitgekriegt. Sag mal, wie ist Harris Blackburn eigentlich so als Chef? Er scheint sich überhaupt nicht zu freuen, dass ich hier mein Praktikum machen will.“
„Er ist ein Eigenbrötler und kann stur wie ein Maulesel sein. Mich lässt er meistens in Ruhe, weil ich meine Holzarbeiten mache und ihm bei seiner Kirchenkunst nicht ins Handwerk pfusche. Davon habe ich allerdings auch nicht viel Ahnung.“
„Das scheint Blackburn von mir auch zu denken“, seufzte Cherry. Besänftigend legte Mark eine Hand auf ihren Unterarm. Als seine Finger ihre Haut berührten, lief ihr ein wohliger Schauer über den Rücken.
„Das darfst du nicht persönlich nehmen, Cherry. Blackburn glaubt, dass er die Weisheit mit Löffeln gefressen hat. So ist er nun einmal. Aber selbst ein berühmter Restaurator wie er konnte bisher das Geheimnis des Gruftgoldes nicht lüften.“
Geheimnis? Für Mysterien hatte Cherry schon immer eine Schwäche gehabt. Außerdem wurde sie dadurch ein wenig von dem gewaltsamen Tod der jungen Frau abgelenkt, der ihr nicht aus dem Kopf gehen wollte. Aber was hatte Blackburn mit dieser Sache zu schaffen? Er war schließlich Restaurator und kein Schatzgräber. Doch falls er eine aufsehenerregende Entdeckung machte, schadete das seinem Ruf gewiss nicht. Nun war Cherry neugierig geworden.
„Gruftgold? Davon habe ich noch nie etwas gehört“, gestand sie.
„Das ist auch nur eine Legende aus Pittstown. Ich weiß gar nicht, ob sie überhaupt jemals aufgeschrieben wurde. Aber hier in unserer Provinzstadt wird sie mündlich weitererzählt. Es gab in der Regierungszeit von Heinrich VI. einen Bürgerkrieg zwischen der weißen und der roten Rose.“
Cherry nickte. „Davon habe ich schon mal gelesen. Die Blumen symbolisierten die Adelshäuser Lancaster und York, die um die Vorherrschaft im Land kämpften.“
„Genau. Jedenfalls lebte in der Nähe von Pittstown ein Landadliger namens Sir Geoffrey Stowe. Er schlug sich auf die Seite der roten Rose, aber in dieser Gegend gewannen seine Feinde die Oberhand. Sir Geoffrey besaß keine Burg, sondern nur ein befestigtes Herrenhaus. Es wurde von den Soldaten der weißen Rose niedergebrannt. Seine ganze Familie fiel der brutalen Horde zum Opfer.“
„Das ist furchtbar, aber was hat das mit der Kirche St. Andrews zu tun?“
„Der Legende nach konnte Sir Geoffrey als Einziger fliehen. Er hatte einen Goldschatz in seinen Satteltaschen. Mit diesem Vermögen sollten fremde Söldner angeworben werden, um für die rote Rose in den Bürgerkrieg zu ziehen. Sir Geoffrey zog sich in die Kirche von Pittstown zurück, doch seine Feinde waren ihm dicht auf den Fersen.“
„Saß der Flüchtling hier nicht wie eine Maus in der Falle?“, fragte Cherry.
„Eigentlich schon, aber angeblich gibt es in der Krypta unter der Kirche verborgene Gemächer und sogar einen Geheimgang, der hinaus zu den Klippen an der Küste führt. Als die Soldaten der weißen Rose die Kirche stürmten, fehlte von Sir Geoffrey jede Spur. Sie schlugen sogar den Pfarrer tot, weil er nicht sagen konnte oder wollte, wo der Flüchtende mit dem Schatz abgeblieben war. Die Männer durchsuchten jeden Winkel der Kirche, ohne etwas zu finden. An diesem Tag entstand die Geschichte vom Gruftgold, das irgendwo in der Krypta von St. Andrews verborgen sein soll. Plötzlich tauchte nämlich eine geheimnisvolle verschleierte Frau auf. Niemand kannte ihren Namen. Es hieß, sie wäre die heimliche Geliebte des Verschwundenen. Andere Leute meinten, sie wäre ein Geist. Auf jeden Fall hat sie sich wohl öfter in der Kirche zu schaffen gemacht. Was sie dort tat, wusste niemand. Doch eines Tages kam sie nicht mehr.“
„Und was wurde aus Sir Geoffrey?“, fragte Cherry.
„Man hat ihn nie wieder gesehen. Das spricht einerseits dafür, dass er sich wirklich verstecken und seinen Verfolgern entkommen konnte. Vielleicht ist er ja auch später mit dieser Frau durchgebrannt, wer weiß? Das Söldnerheer, das er angeblich mit dem Gold der roten Rose anwerben wollte, tauchte jedenfalls niemals auf. Manche Leute glauben auch, die Kirche sei verflucht und Sir Geoffrey würde immer noch durch das Gemäuer geistern – er und diese namenlose Frau. Aber ich glaube, dass das Unsinn ist.“
„Vielleicht hat Sir Geoffrey das Vermögen ja behalten und irgendwo in der Fremde unter falschem Namen ein neues Leben begonnen.“
Mark zuckte mit den Schultern und fuhr sich mit der Hand durch sein modisch geschnittenes Haar. „Das wäre möglich. Geheimgänge waren jedenfalls in früheren Jahrhunderten keine Seltenheit. Denk zum Beispiel an die ägyptischen Pyramiden. Dort hat man erst nach Jahrtausenden vergessene Wege zu den Grabkammern wiederentdeckt.“
Cherry nickte. Sie war selbst überrascht, wie gut sie den Anblick der beiden toten Frauen verkraftet hatte. Aber das lag hauptsächlich an Marks Gegenwart. Es kam ihr vor, als ob sie sich schon sehr lange kennen würden. Offenbar hatten sie dieselbe Wellenlänge. Doch trotz dieses glücklichen Zusammentreffens mit Mark durfte sie nicht vergessen, dass in Pittstown ein Mörder frei herumlief, und diese Tatsache hatte etwas sehr Beunruhigendes. Cherry war doch ängstlicher, als sie sich eingestehen wollte. Dabei hielt sie sich eigentlich für tapfer, aber mit einem Mord in ihrer unmittelbaren Umgebung hatte sie noch nie zu tun gehabt.
„Miss Wynn? Wir hätten ein paar Fragen an Sie.“
Cherry zuckte zusammen, als ein uniformierter Polizist sie ansprach. Sie hatte gar nicht auf ihn geachtet, obwohl er direkt auf sie zugekommen war. Sie atmete tief durch und versuchte sich zu konzentrieren. Cherry folgte dem Beamten zum Pfarrhaus, wo Inspektor Abercrombie für seine Vernehmungen das Büro von Father Nolan benutzen durfte. Der Kriminalist forderte sie mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen.
Der Inspektor checkte zunächst ihre Personalien, bevor er weitere Fragen stellte. Cherry berichtete, dass sie erst vor wenigen Stunden in Pittstown eingetroffen war und ein Praktikum absolvieren wollte.
„Kannten Sie das Opfer, Miss Wynn? Der Gerichtsmediziner schätzt die Tote auf Anfang zwanzig. Sie war also ungefähr in Ihrem Alter.“
„Nein, Sir. Aber ich lebe ja normalerweise in London, wie ich schon gesagt habe. In dieser Gegend hier kenne ich mich überhaupt nicht aus. Weiß man denn immer noch nicht, wie die Tote heißt?“
Inspektor Abercrombie schüttelte den Kopf. „Nein, Miss Wynn. Allerdings haben die Kollegen von der Spurensicherung ihre Fingerabdrücke genommen und werden sie mit unseren Dateien vergleichen. Außerdem prüfen wir natürlich die Vermisstenanzeigen aus ganz Großbritannien, ob sich dort eine Übereinstimmung ergibt. Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?“
Während der Kriminalbeamte die Frage stellte, legte er ein Phantombild auf die Tischplatte. Cherry lief ein kalter Schauer über den Rücken, während sie sich vorbeugte, um das Bild genauer zu betrachten. Bisher kannte sie Phantombilder nur aus dem Fernsehen.
Die Gesichtszüge des Mannes auf der Zeichnung wirkten bedrohlich. Seine Augen lagen tief in den Höhlen. Die Lippen waren schmal, während das Kinn kaum ausgeprägt war. Besonders männlich oder kernig sah der Typ nicht aus. Aber der Polizeizeichner hatte es geschafft, ihn mit einer gefährlichen Aura zu umgeben. Wäre Cherry dieser Kerl draußen entgegengekommen, dann hätte sie sofort die Straßenseite gewechselt. Widerwillig schaute sie das Bild an, bevor sie es dem Kriminalbeamten zurückgab.
„Nein, dieser Mann ist mir noch nie begegnet, Sir. Das Gesicht hätte sich mir bestimmt eingeprägt. Wer ist das?“
„Er wird von der Sensationspresse als ‚Suffolk-Killer‘ bezeichnet. Leider verfügen wir bisher lediglich über diese Phantomzeichnung, die aufgrund von Zeugenaussagen gefertigt wurde. Wir kennen den Namen des Täters noch nicht. Aber er steht in dringendem Verdacht, mindestens vier Frauenmorde begangen zu haben. Er schlägt stets in der Grafschaft Suffolk zu, daher sein Spitzname.“
Cherry fühlte sich, als würde eine eiskalte Klaue nach ihrem Herzen greifen.
„Und wie kommen Sie darauf, dass der Killer auch die Frau aus der Leichenhalle auf dem Gewissen hat?“
„Das ist nur eine mögliche Spur, Miss Wynn. Momentan gehen wir allen Hinweisen nach. Aber dieser Mord würde in sein Tatschema passen. Der Suffolk-Killer hat bisher immer nachts getötet. Seine Opfer waren stets Frauen Anfang zwanzig, und sie wurden ausnahmslos erwürgt.“
Cherry selbst passte also auch erstklassig in sein Beuteprofil. Sie verdrängte diesen Gedanken und fragte stattdessen: „Dann weiß man also schon, wann die Frau ermordet wurde?“
„Ja, der Gerichtsmediziner geht von ihrem gewaltsamen Tod zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens aus. Aber zurück zu Ihrer Aussage, Miss Wynn. Ist Ihnen in der Kirche oder auf dem Friedhof etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Oder vielleicht auf dem Weg vom Bahnhof hierher? Versuchen Sie bitte, sich genau zu erinnern.“
Cherry schüttelte den Kopf. „Nein, Sir. Wie gesagt, ich bin fremd hier. Wo wurde die Frau denn ermordet? Gibt es irgendwelche Spuren?“
„Das wissen wir bislang nicht. Die Kriminaltechniker arbeiten noch daran, das herauszufinden. Fest steht, dass es in der vergangenen Nacht in Pittstown und Umgebung sehr stark geregnet hat. Falls das Opfer unter freiem Himmel erwürgt wurde, wird es sehr schwer sein, Hinweise auf den Täter zu finden. Das wäre zunächst alles, Miss Wynn. Bitte schicken Sie mir Mark Gilmore als nächsten Zeugen. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, rufen Sie mich bitte an. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.“
Inspektor Abercrombie gab Cherry eine seiner Visitenkarten. Trotz des makabren Anlasses empfand Cherry einen Moment lang fast so etwas wie Stolz. Sie kam sich sehr wichtig vor, weil sie Zeugin in einem Mordfall geworden war. Doch im nächsten Augenblick musste sie stumm über sich lachen. Was hatte sie denn schon auszusagen? Genau genommen gar nichts! Cherry schämte sich ein wenig, als sie an das tragische Schicksal der Toten dachte. Die Frau war nicht älter als sie selbst gewesen und hatte ihre Zukunft vor sich gehabt. Natürlich war auch das Ende von Mrs Warren bedauerlich, doch die Seniorin war nach einem langen Leben wenigstens friedlich eingeschlafen. Das konnte man von der Erwürgten nicht behaupten. Durch einen brutalen Mörder war sie kaltblütig aus der Welt herausgerissen worden.
Und noch hatte die Polizei keine Spur von dem Täter.
Cherry verließ das Pfarrhaus und ging zurück zur Leichenhalle, um Mark Bescheid zu geben. Auf dem kurzen Weg dorthin wirbelten ihr die unterschiedlichsten Gedankenfetzen durch den Kopf. Ob es ein Fehler gewesen war, überhaupt nach Pittstown zu kommen? Blackburn und sein Helfer Sam Lonnegan hatten sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Aber die Arbeit selbst konnte spannend und abwechslungsreich werden. Die Legende, von der Mark ihr erzählt hatte, stachelte Cherrys Neugier auf die geheimnisvolle alte Kirche zusätzlich an.
Doch Mark war der Hauptgrund, der gegen eine vorzeitige Rückkehr nach London sprach. Daran hatte Cherry nämlich auch schon gedacht, vor allem seit dem Leichenfund und nachdem sie das Phantombild des Suffolk-Killers gesehen hatte. Allein die Vorstellung, dass dieser Kerl sie angreifen könnte, ängstigte sie – und das, obwohl sie eine trainierte Karatekämpferin war.
Ihr Professor würde nicht begeistert sein, wenn sie das Praktikum einfach abbrach. Aber er konnte sie deshalb nicht von der Uni werfen. Schlimmstenfalls würde sie ein Semester länger studieren müssen.
Aber wenn Cherry sich in den Zug setzte, würde sie Mark wahrscheinlich niemals wiedersehen. Und sie spürte deutlich, dass sich etwas zwischen ihnen entwickeln konnte. Nach ihren schlechten Erfahrungen mit dem Frauenhelden Tony Sanders, den sie von der Uni kannte, glaubte Cherry nicht an die Liebe auf den ersten Blick. Doch hatte sie sich noch nie mit einem Menschen auf Anhieb so gut verstanden wie mit Mark. Außerdem war sie beeindruckt davon, dass er als Zimmermann in Afrika Entwicklungshilfe geleistet hatte. Sie hatte es immer schon großartig gefunden, wenn jemand etwas riskierte, um anderen Menschen zu helfen. Mark war für sie ein interessanter Typ – und das nicht nur, weil er verdammt gut aussah …
Cherry musste sich zusammenreißen, als sie auf ihn zuging. Sie wollte ihn nicht zu offensichtlich anhimmeln, weil sie das affig fand. Außerdem sollte er nicht glauben, bei ihr leichtes Spiel zu haben. Dabei hielt sie ihn nicht für einen Jungen, der eine Situation einfach eiskalt ausnutzte.
„Der Inspektor will jetzt mit dir quatschen“, sagte sie betont lässig. Mark nickte und löste sich von der Wand, gegen die er sich gelehnt hatte.
„Alles klar. Sehen wir uns später auf der Baustelle? Ich weiß ja nicht, wie dein Praktikum abläuft, aber ich könnte dir einiges zeigen.“
„Ich werde Blackburn fragen, wann ich kommen soll. Aber zuerst möchte ich mein Gepäck in meine Pension bringen.“
Mark nickte und ging zum Pfarrhaus, um dort seine Aussage zu machen. Cherry wandte sich der Kirche zu, wo sie ihre Reisetasche zurückgelassen hatte. Ihr Zimmer in einer preiswerten Frühstücks-Pension hatte sie über das Internet gebucht. Mit einem kurzen Seitenblick stellte sie fest, dass Father Nolan und Harris Blackburn immer noch mit den aufgeregten Angehörigen von Mrs Warren redeten. Nur Sam Lonnegan war wie vom Erdboden verschluckt. Vielleicht machte er ja Mittagspause. Cherry konnte sich bei diesem Kerl nicht vorstellen, dass er den Hinterbliebenen Trost spendete. Er wirkte auf sie nicht besonders sensibel.
Oder befand sich der Arbeiter im Inneren der Kirche?
Als Cherry das Gotteshaus betrat, wirkte es wie ausgestorben. Die Reisetasche war immer noch dort, wo Cherry sie vorhin abgestellt hatte, nämlich im Mittelgang vor dem Altar. Doch jemand musste sich inzwischen an ihrem Gepäck zu schaffen gemacht haben.
Unwillkürlich hielt Cherry den Atem an.
Auf den dunklen Stoff ihrer Reisetasche war mit roter Kreide ein Pentagramm gekritzelt worden. Ein Zacken zeigte nach unten.
Wollte sie jemand verfluchen?