Lebendnachweis
Als Kai Baumwerk am Morgen dieses 8.Juni2004 in sein Büro trat, war nicht zu übersehen, dass er ausgesprochen schlechte Laune hatte. Da konnte ihn auch der Blick über die Dächer von Cottbus nicht besänftigen. Ein Tag nach einer durchwachten Nacht. Wieder einmal. Seit er mit Bärbel verheiratet war, gehörten Ringe unter den Augen zu seinem Gesicht wie die stressgerupften Brauen. Heute konnte jedenfalls nicht sein Tag werden. Nicht nach der Offenbarung des letzten Abends.
»Liebling, ich bin schwanger!«, hatte sie ihm entgegengeflötet. Typisch für Bärbel, sich über die Konsequenzen gar keine Gedanken gemacht zu haben. Volles Risiko!
Er seufzte, strich sich den schon wieder zu langen Pony aus der Stirn und betrachtete angewidert den Stapel Akten auf seinem Schreibtisch. Bei der Hitze arbeiten zu müssen war ohnehin eine Zumutung, dachte Baumwerk grantig. Andere lagen jetzt im Sand am Badesee und genossen das Leben! Lustlos schob er sich hinter den Arbeitstisch, schaltete Computer und Ventilator ein.
»Martha Gräbert, geboren 1897, Breslau«, las er laut. Grinste. Da hatte sich wohl jemand gründlich vertan! »Haha! 1897! Dann wäre die gute Martha ja jetzt schon…« Bei den hochsommerlichen Temperaturen fiel selbst das Lösen banaler Subtraktionsaufgaben schwer. »107!« Er schlug die Akte auf, griff schon nach einem gelben Klebezettel, um eine zynische Notiz für den Kollegen über dessen eingeschränktes Denkvermögen an dem Vorgang zu befestigen, da fiel sein Blick auf das vorgeheftete Deckblatt.
›Martha Gräbert, geb. 1897, Breslau‹, stand auch dort zu lesen.
»Einmal kann man sich ja vertun, aber zweimal«, murmelte Baumwerk vor sich hin und blätterte weiter. Wenige Seiten später hatte er von vier Schwangerschaften und Entbindungen erfahren, von einem Bandscheibenvorfall, einer Kur im Jahre 1970. Seit der Rückkehr aus der Rehaklinik musste es Martha Gräbert richtig gut gegangen sein, weitere Maßnahmen zur Wiederherstellung waren seither wohl nicht mehr vonnöten gewesen.
»Hm«, grunzte der Sachbearbeiter der Versicherung. »Das ist zumindest ungewöhnlich.« Ein Verdacht keimte in ihm auf. Das übliche eben, ganz bestimmt. Sozialbetrug. Da kassierte jemand Rente für eine Verstorbene!
»Wäre ja nicht das erste Mal, haben schon Tausende vor dir probiert. Und wir haben sie doch gekriegt!«, murmelte er im zornigen Jagdfieber vor sich hin. Mit seiner Entrüstung stieg auch sein Blutdruck. Er begann, wieder stärker zu schwitzen. Der letzte Nachweis, der als glaubhafter und unwiderlegbarer Beleg dafür gelten konnte, dass Frau Gräbert lebte, stammte aus dem Jahr 1982. Der ab dem 80.Geburtstag regelmäßig von der Rentenversicherung verschickte Gratulationsbrief schien anstandslos seinen Adressaten erreicht zu haben, zurückgeschickt worden war er jedenfalls nicht.
»Tja, das ist die Krux dabei«, grantelte der junge Mann vor sich hin. »Das sagt im Grunde nämlich gar nichts aus. Der Brief könnte ja auch von der Nachbarin oder einem Verwandten entgegengenommen worden sein. Eine so umwerfend gute Idee ist das gar nicht, sage ich schon seit Jahren. Will nur keiner wahrhaben, dass ›zugestellt‹ nicht automatisch bedeuten muss, der Jubilar lebt auch tatsächlich noch, mit freundlichen Grüßen an die Geschäftsleitung, herzlichst Kai B.«
Da war der Besuch zum Geburtstag schon eine sicherere Methode. Ab dem 95.Geburtstag ging der jeweils älteste Mitarbeiter der Rentenkasse persönlich zur Gratulation vorbei. Baumwerk blätterte sich gründlich durch die Schriftstücke. Zweimal. Grunzte wütend. Die obligatorischen Gratulationsbesuche waren nicht erfolgt!
»Schlamperei! Wieso hat das denn niemand bemerkt?«, schimpfte Baumwerk und notierte sich die Anschrift, unter der Martha Gräbert gemeldet war. Er würde der Sache eben selbst auf den Grund gehen!
Das überschaubare Dorf lag idyllisch, fast schon verwunschen hinter einem Waldstück, umgeben von Feldern und ein paar Weideflächen, auf denen Kühe gemütlich mit dem Wiederkäuen ihres zweiten Frühstücks beschäftigt waren. Fast ein wenig neidisch beobachtete er die großen Tiere. »Den ganzen Tag lang Picknick machen«, zischte er vor sich hin. »Das könnte mir auch gefallen!«
Eine Stunde später klingelte er an einem kleinen Eigenheim. Niemand öffnete. Vom Garten war auf den ersten Blick so gut wie nichts zu erkennen. Die Hecke, die das Grundstück umgab, hätte auf jeden Fall ein bisschen Zuwendung vertragen können. Wie hoch durfte so eine grüne Mauer eigentlich sein? Das Wachstum dieser hier war auf jeden Fall außer Kontrolle geraten. Baumwerk hüpfte wild, um wenigstens einen flüchtigen Blick in den Garten werfen zu können. Sein Blick fiel auf ungepflegte Gehölze, einige ungeputzte Fenster, eine Sammlung von Müllsäcken am Rand der Terrasse. Als ihm bewusst wurde, wie albern und befremdlich sein Benehmen auf die Nachbarn oder Passanten wirken musste, stellte er das Springen wieder ein. Möglicherweise würden aufmerksame Anwohner noch die Polizei verständigen, weil sie glaubten, er wolle etwas ausbaldowern. Immerhin, die Straße hatte man vor Kurzem gefegt. Ganz offensichtlich wohnte hier jemand.
»So eine dichte Hecke ist ganz schön praktisch, wenn man nicht möchte, dass andere einem in den Kochtopf gucken, nicht wahr?«, murmelte er böse vor sich hin. »So kann man auch im Garten schalten und walten, wie man möchte, und niemand sieht, wie man die Leiche einfach verschwinden lässt. Na, wir werden ja sehen!«
Kai Baumwerk seufzte, wandte sich um und entschied sich für das grün verputzte Nachbarhaus auf der linken Seite. Die Dame, die ihm misstrauisch durch den Türspalt entgegenblinzelte, war etwa Mitte 60. Der Sperrriegel wurde erst geöffnet, nachdem er seinen Ausweis vorgezeigt hatte. In dieser Gegend war man vorsichtig.
»Sehen Sie, man weiß ja nie, wer da klingelt! Und ständig hört man in den Nachrichten, dass ältere Frauen in ihren Wohnungen überfallen werden. Da ist es allemal besser, sich zu vergewissern«, lachte die Frau, die, nach dem Schild an der Klingel zu urteilen, Markgraf hieß und den Fremden mit unverhohlener Neugier ansah. »Um was geht es denn?«
»Ich wollte gern zu Frau Gräbert, aber es scheint niemand zu Hause zu sein.«
»Um diese Zeit ist sie auf dem Friedhof. Wenn Sie in etwa einer Stunde wiederkommen, treffen Sie sie wahrscheinlich an.«
»Ist ja erstaunlich, dass sie sich in diesem Alter noch selbst versorgen kann. Gibt es nicht oft.«
»Ja, mag sein. Aber mit ihren knapp 80 ist sie noch gut zu Fuß. Und der Friedhof ist nicht weit– nur über die Straße.«
»Nach unseren Unterlagen ist Frau Gräbert aber schon über 100 Jahre alt. 107, um genau zu sein. Ein Fall fürs Guinness-Buch der Rekorde.« Sofort spürte er, wie eine belastende Hitze über seine Wangen zog. Die letzte Äußerung hätte er gern zurückgenommen. Dazu war es nun zu spät.
Ein schlauer Zug kroch über Frau Markgrafs Gesicht. »Oh, Sie reden gar nicht von Marianne! Sie meinen ihre Mutter! Die habe ich schon lange nicht mehr gesehen! Ich nehme an, sie verlässt das Haus schon gar nicht mehr. Nach dem Tod ihres Mannes vor etwa 20Jahren hat sie sich völlig zurückgezogen. Schon tragisch, wissen Sie. Die beiden waren ein Jahrgang, haben zwei Weltkriege miteinander überstanden, drei ihrer Kinder beerdigt und nun war die arme Frau plötzlich allein– wenn man mal von Marianne absieht. Ehrlich gesagt, Martha hatte ich schon fast vergessen.«
»Das bedeutet dann aber auch, dass die 80-jährige Tochter ihre Mutter versorgt. Ist Ihnen denn schon mal ein Auto von einem Pflegedienst aufgefallen?«
Das runde Gesicht wurde nachdenklich. »Nein«, antwortete die Nachbarin dann gedehnt. »Aber das ist auch nicht wirklich überraschend. Martha ist eine resolute, etwas schwierige Persönlichkeit. Sicher duldet sie nicht, dass ein Fremder sie anfasst. Ach, wir können alle nur hoffen, dass uns so ein Schicksal später mal erspart bleibt«, seufzte sie dann. »Auf die eigenen Kinder ist jedenfalls überhaupt kein Verlass mehr! In alle Winde verstreut, niemand hat Zeit oder Lust, sich um die alten Eltern zu kümmern. Eine Schande!«
Ja, dachte Kai, das sollte sich Bärbel mal überlegen! Erst zog man die Brut groß und dann, wenn man selbst Hilfe brauchte, starb man einsam oder in der Obhut Fremder, wurde im schlimmsten Fall von der Polizei gefunden, die die Tür wegen des Gestanks aus der Wohnung aufbrach. Schuldbewusst dachte er an seine eigene Mutter, versuchte zu überschlagen, wann er sie das letzte Mal besucht hatte. Na ja, mit dem Enkelkind würden auch die Fahrten zur Großmutter an Häufigkeit zunehmen, und telefoniert hatte er ja erst letzte– nein, korrigierte er sich ein wenig erschrocken– vorvorletzte Woche mit ihr.
Kai Baumwerk bedankte sich freundlich. Im Geiste hörte er die Stimme seines Chefs, der in solchen Fällen besonders gereizt reagierte. Sozialbetrug! So etwas nahm Dr.Hubert Ring den Tätern persönlich übel– und seinen Mitarbeitern ebenfalls. Er sprach dann gern von Köpfen, die in Kürze rollen würden. Nun, Kai Baumwerk schluckte hart und lockerte den Kragen ein wenig, seiner Karriere konnte es nur förderlich sein, wenn er diese gottverdammte Schlamperei hier aufklärte und das Geld wiederbeschaffte. Er spürte fast schon die schwere, warme Hand des Vorgesetzten wohlwollend auf seiner Schulter ruhen. ›Baumwerk, das haben Sie fantastisch gelöst. Für fähige Mitarbeiter Ihres Kalibers finden wir zeitnah eine angemessene Stelle im »Konzern«. Hätten Sie irgendwelche Präferenzen?‹, hörte er ihn sagen und ihm brach schon jetzt vor Stolz der Schweiß aus.
Frau Lehmann, Nachbarin auf der anderen Seite der Gräberts, wusste Ähnliches über die beiden alten Damen zu berichten. »Die Martha muss ja inzwischen über 100 sein. Die habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Ich sag immer: Von der hören wir erst wieder etwas, wenn sie beerdigt wird!«
»Kommen denn die Frauen gut miteinander aus? Ich meine, manchmal sind Menschen in diesem Alter schwierig. Vielleicht streiten sie gelegentlich?«
Frau Lehmann dachte lange darüber nach, schüttelte dann jedoch entschieden den Kopf. »Von den Mannteufels höre ich oft laute Stimmen. Aber das ist auch klar, der Mann geht dauernd fremd und seine Frau ist darüber natürlich nicht glücklich. Da gibt’s permanent Streit. Die Meyers zanken ständig. Da geht’s ums Geld. Er ist so unglaublich geizig und sie würde gern das Leben genießen. Tja! Bei den Strunzes gibt’s viel Ärger wegen der Tochter. Die ist in der Pubertät und sorgt für anhaltende Schwierigkeiten. Neulich hat eine Polizeistreife das Gör nach Hause gebracht– Ladendiebstahl! Dabei hat die mehr Taschengeld als manch einer Rente!«
»Können Sie sich an den letzten lauten Wortwechsel zwischen den Gräberts erinnern?«, erkundigte sich Baumwerk gespannt.
»Hm, das ist eine Ewigkeit her. Die beiden scheinen sich die meiste Zeit über völlig einig zu sein. Warten Sie mal … Das muss kurz nach dem Tod des alten Gräbert gewesen sein. Ich weiß noch, dass mir das unglaublich pietätlos vorkam, in der Trauerzeit derart heftig rumzukeifen. Ja! Da ging es um die Frage, wo Martha später einmal beigesetzt werden sollte«, sie lächelte entschuldigend. »Die Tür zum Garten stand offen, da lässt sich nicht immer vermeiden, dass man die Gespräche der Nachbarn hört, und wenn man sich noch so bemüht, nichts mitzubekommen.«
Baumwerk signalisierte Verständnis für dieses Problem. »Wie unangenehm, wenn man immer unfreiwillig in die privatesten Angelegenheiten reingezogen wird.«
»Nun, jedenfalls wollte Martha auf keinen Fall auf dem Friedhof gegenüber beerdigt werden. Schien ihr wichtig zu sein. Dabei liegen ihr Gustav und die drei anderen Kinder ja auch dort. Eigentlich schrecklich, wenn eine Mutter die meisten ihrer Kinder zu Grabe tragen muss. Schlag auf Schlag sind die gestorben. Der Sohn an der Grippe, der muss damals gerade dreißig gewesen sein, und zwei der Töchter an Typhus, alle drei in einem Zeitraum von fünf Jahren, die Schwestern innerhalb derselben Woche. Wer isst auch Kartoffelsalat im Sommer?« Die Nachbarin bemerkte den ratlosen Blick des Besuchers und erklärte: »Salmonellen! Die vermehren sich in allen Nahrungsmitteln rasant, in denen rohes Ei enthalten ist. Besonders, wenn es warm ist– also im Sommer!« Dann holte sie tief Luft und wandte sich nach diesem Exkurs wieder dem Ausgangsthema zu: »Vielleicht möchte sie deshalb später nicht auch dort beigesetzt werden, hatte genug von der ganzen Familie, habe ich damals noch überlegt. Die alte Mutter dachte sicher nicht eine Sekunde daran, dass es für die bedauernswerte Tochter sehr umständlich würde, wenn sie irgendwann Gräber auf unterschiedlichen Friedhöfen pflegen müsste. Wenn sie alt werden, kommt bei manchen ein widerwärtiger Egoismus auf. Sehe ich auch bei meiner eigenen Schwiegermutter. Es muss sich alles nur um sie drehen, sonst wird erbarmungslos gezickt!«
Der Vertreter der Rentenkasse verabschiedete sich eilig, um weiteren Einzelheiten der Lehmann’schen Familienchronik zu entgehen, und setzte sich mit einer Zeitung in ein nahegelegenes Café. Eine Stunde könnte er so bequem rumbringen, dachte er zufrieden, danach würde er einen zweiten Versuch an der Tür der Gräberts starten.
Und tatsächlich, anderthalb Stunden später öffnete ihm eine grobknochige, derbe Frau. Baumwerk registrierte die seltsam verwischten Gesichtszüge, die tief in den Höhlen liegenden Augen, deren Lider sich nicht mehr ganz anheben wollten. Die weißen Haare, fettig, schütter und strähnig, waren streng aus dem Gesicht gekämmt, fielen hinter den Ohren bis auf die Schultern, die Kleidung wirkte nachlässig zusammengestellt. Dem Haus entströmte ein muffiger Geruch. Essensdünste vermischten sich in den ungelüfteten Räumen mit dem Geruch nach allgemeiner Vernachlässigung und Verfall.
»Mein Name ist Kai Baumwerk, ich komme von der Rentenversicherung Ihrer Mutter.« Huschte da ein hektisches Entsetzen durch den Blick der Tochter oder sah er schon Gespenster?
»Und?«, fragte Marianne Gräbert unfreundlich zurück und musterte den Ausweis kritisch, ohne die Hand danach auszustrecken.
»Ich möchte gern mit Martha Gräbert sprechen. Es gibt ein paar Dinge zu klären«, formulierte der Sachbearbeiter vorsichtig.
»Kommen Sie rein. Ich hab Mittag auf dem Herd stehen, das brennt sonst an!«, forderte Marianne und drehte sich um, verschwand im Flur, ohne sich zu vergewissern, dass der ungebetene Besucher auch folgte.
Baumwerk bemerkte einen deutlichen Gehfehler. Hüfte, schoss ihm durch den Kopf, bestimmt braucht sie einen Rollator. Wie soll sie da ihre alte Mutter heben oder stützen können. Er sah sein Misstrauen schon beinahe bestätigt.
»Meine Mutter ist aber nicht da«, informierte sie ihn wenig später und rührte in einem Suppentopf. Auf der Spüle stand eine geöffnete Dose Linsensuppe.
»Sie ist nicht zu Hause?«, staunte der junge Mann.
»Gibt doch keine Pflicht für alte Leute ständig in ihren vier Wänden zu hocken, oder?«
»N-nein«, stotterte der ratlose Sachbearbeiter. »Wann kommt sie wieder?«
»Wenn sie dazu Lust hat.«
»Und wohin ist sie gegangen?«
»Gegangen?« Nun war es an Marianne, verunsichert zu sein. »Zu Fuß doch nicht!«
Baumwerk warf der alten Frau einen forschenden Blick zu. War sie geistig doch nicht so fit, wie er nach den Berichten der Nachbarn vermutet hatte? Eventuell gar ein wenig dement? Dazu passte auch das winterliche Linseneintopfgericht bei fast 30Grad Celsius im Sommer, die der Jahreszeit nicht angemessene Kleidung und der ungepflegte Gesamteindruck. Neben allem anderen noch ein Grund mehr anzunehmen, dass sie kaum in der Lage war, ihre noch viel ältere Mutter zu pflegen. Unmöglich!
»Wo ist Ihre Mutter denn?«, hakte er deshalb schnell nach.
»Na, sie ist in Kanada!«, erklärte Marianne Gräbert und lachte breit.
»In ihrem Alter!«, entfuhr es dem Sachbearbeiter unbedacht. »Und wo dort? Vielleicht kann ich sie ja anrufen.«
»Es gibt da irgendwo einen Zettel«, begann Marianne unsicher. Ihre Augen irrten haltlos durch die Küche. »Hier nicht. Vielleicht drüben.« Sie rührte hastig noch einmal durch die Suppe und lief ins angrenzende Wohnzimmer. An der Wand stand ein Sekretär aus dunklem Holz, dessen Schreibfläche heruntergeklappt war. Papiere, ungeöffnete Briefe und viele lieblos herausgerissene Zeitungsartikel lagen wild durcheinander. Während Marianne nervös und unsystematisch begann, in dem Haufen zu wühlen, sah Baumwerk sich in dem kargen Raum um. Außer dem Sekretär gab es noch einen kleinen, dunklen Holztisch, an dem zwei Stühle mit verschossenem, abgewetztem Bezug standen, vor der Tür zum Garten wartete ein Schaukelstuhl auf einen Gast, dessen Bespannung an mehreren Stellen gerissen war, der Teppich davor schien fleckig und abgetreten, vom ursprünglichen Muster konnte man nicht mehr viel entdecken. Vor dem Fenster hingen Stores, die offensichtlich seit vielen Jahren nicht mehr gewaschen worden waren. Mehr Mobiliar war nicht vorhanden. Baumwerk fühlte sich unbehaglich.
Marianne wimmerte unglücklich. »Ich muss ihn verloren haben«, ließ sie ihn wissen und eilte an den Herd zurück, um den Eintopf vor dem Ansetzen zu bewahren. Danach schwieg sie, antwortete auf keine weitere Frage mehr, blieb nur eisern bei ihrer Aussage, ihre Mutter sei in Kanada.
Nach einer Weile gab Baumwerk auf und fuhr in sein Büro zurück. Seiner Meinung nach gab es keinen Interpretationsspielraum das Schicksal der alten Frau Gräbert betreffend. Sie war tot, die Tochter hatte sie verschwinden lassen und erfreute sich an den Rentenzahlungen, die sie nun ganz für sich allein verbrauchen konnte. So recht wollte zu dieser Theorie allerdings der Eindruck nicht passen, den er von den Lebensumständen der Marianne Gräbert gewonnen hatte. Ärmlich erschien ihm die Einrichtung, die Tochter verwirrt, vielleicht auf dem Weg in die Demenz, sicher nicht damit beschäftigt, sich einen unbeschwerten und luxuriösen Lebensabend zu gönnen. Dennoch: Martha Gräbert war tot, daran konnte es keinen vernünftigen Zweifel geben. Die Geschichte mit dem Aufenthalt in Kanada? Ein Märchen, das ihn ablenken sollte. Eine 107-Jährige flog doch nicht ohne Begleitung eine solche Strecke! Niemals.
Was tun?
Der Verdacht auf Betrug der Sozialsysteme war keinesfalls ausgeräumt– jetzt kam noch das ungeklärte Verschwinden der Mutter hinzu. Hatte Marianne Gräbert ihre Mutter irgendwo auf diesem unübersichtlichen Grundstück einfach verscharrt? Möglicherweise gar getötet, ehe sie die Leiche verschwinden ließ? Auszuschließen war in diesem Fall gar nichts! An dieser Stelle schaltete Kai Baumwerk die Polizei ein.
So kam es, dass schon am nächsten Tag ein Beamter der Kriminalpolizei bei Marianne Gräbert schellte. Der große, bullige Mann machte der alten Dame offenkundig Angst, sie wirkte gehetzt und unsicher.
»Schäfer mein Name!«, stellte sich der Riese vor. »Roger Schäfer, Kriminalpolizei.« Er lächelte vertrauensbildend.
»Ja?«
»Wir hätten gern mit Ihrer Mutter gesprochen.«
Marianne Gräbert antwortete in fragendem Ton, als wisse sie es selbst plötzlich nicht mehr so recht: »Sie ist in Kanada?«
»Das haben Sie dem Herrn von der Versicherung gestern auch erzählt. Wir möchten nun wissen, wo genau sich Ihre Mutter aufhält.« Schäfer bemühte sich um einen neutralen Ton. Noch gab es nicht den geringsten Beweis für das Vorliegen einer Straftat.
»Der Zettel ist weg. Mein Gedächtnis lässt mich manchmal im Stich, ich weiß nicht mehr, wie der Ort heißt.«
»Meldet sie sich ab und zu bei Ihnen, damit Sie wissen, dass es ihr gut geht?«
»Sie wollte schreiben. Aber die Post von dort hierher ist lang unterwegs«, lächelte die Tochter nachsichtig.
»Machen Sie sich keine Sorgen?«, erkundigte sich Schäfer freundlich.
»Aber nein. Um meine Mutter braucht sich niemand Gedanken zu machen.«
Marianne Gräbert bat den netten Herrn von der Polizei ins Haus, kochte Tee, stellte ein paar Kekse auf den kleinen Tisch im Wohnzimmer, platzierte ihren Gast so, dass er in den Garten hinaus sehen konnte, der hinter den staubigen Stores freilich nur zu erahnen war.
»Ist ziemlich einsam hier.«
»Ich bin daran gewöhnt«, erklärte die alte Frau und reichte dem Kriminaloberkommissar die Zuckerdose.
»Und nun, wo Ihre Mutter verreist ist, sind Sie ganz allein. Sie ist wohl schon länger fort?«
Die alte Dame dachte darüber nach. »Ja, ich glaube das stimmt. Seit einiger Zeit jedenfalls«, antwortete sie schließlich, als sei sie sich dessen nicht ganz sicher.
»Dann kommt sie bestimmt bald wieder zurück, nicht wahr? Es gibt ja sicher einen Termin für den Rückflug«, versuchte Schäfer erneut verlässliche Informationen zu bekommen.
»Nein. Oder vielleicht … Aber ich weiß es nicht!« Fahrig strichen die knotigen Finger über die schmutzige Kittelschürze, fuhren über die Augen, zitterten nervös an der Unterlippe entlang.
»Schlafen Sie hier im Parterre? Oder wohnen Sie oben? Könnte ich verstehen, wenn Sie sich etwas fürchten. Bei dem Gesindel heutzutage«, bot Schäfer zuvorkommend ein neues Thema an. Vielleicht konnte er später mehr über den Kanadaaufenthalt der Mutter in Erfahrung bringen.
»Sie möchten sich vielleicht umsehen?«, freute sich Marianne Gräbert und führte ihn durchs Haus.
Das Zimmer der Mutter war ordentlich aufgeräumt, das Bett abgezogen, Inlette und Kissen hatte Marianne mit einer Wolldecke vor Staub geschützt. Nur am Rand blitzte die blaue Steppdecke ein wenig hervor. Am Schrank hing ein schwarzes Kleid, darunter standen nebeneinander zwei flache, ebenfalls schwarze Pumps.
Einer Eingebung folgend, zog der Beamte eine der Türen auf. Leer. »Ihre Mutter hat all ihre Kleidung mitgenommen?«, wunderte er sich.
»Viel ist es nicht«, beschied ihm die Tochter unbeeindruckt.
In Mariannes Zimmer war es weit weniger aufgeräumt. Die Schranktüren ragten weit geöffnet in den Raum hinein, auf dem ungemachten Bett lagen Kleidungsstücke in wildem Durcheinander. Auf dem Nachttisch entdeckte Schäfer ein Foto in einem angelaufenen, silbernen Rahmen.
»Ihre Mutter?«
»Ja. Aber jetzt ist sie in Kanada.«
»Wer wohnt oben?«
»Niemand. Ich lebe hier mit Mutter allein.«
Als sie ins Wohnzimmer zurückkamen, fiel Schäfer eine Veränderung in der Struktur des Teppichs vor dem Schaukelstuhl auf. »Schlimmer Fleck. Wie ist das denn passiert?«, erkundigte er sich freundlich.
»Weiß ich nicht mehr. Muss viele Jahre her sein.«
»Hm«, grunzte der Beamte, zog den vergilbten Store zurück, um mehr Licht zu haben, und ging in die Hocke. »Frau Gräbert, sehen Sie mal genauer hin, durch irgendetwas hat sich das Gewebe verändert, man sieht ganz deutlich etwas wie eine Kontur. Mit ein bisschen Fantasie sieht es aus wie der Umriss eines gekrümmt daliegenden Menschen. Hier der Kopf, dort die Beine, die Arme… Können Sie mir das bitte erklären?«
Die 80-Jährige starrte interessiert auf die Stelle und schüttelte schweigend den Kopf.
»Vielleicht möchten Sie mir jetzt zeigen, wo Ihre Mutter ist?«, fragte Roger Schäfer sanft.
»Aber das wissen Sie doch schon: Sie ist in Kanada. Dort trifft sie sich mit ihrem Mann Gustav. Gustav Anton Paul Gräbert. Das ist mein Vater. Der ist schon länger weg. Ist vorausgefahren.«
Roger Schäfers Brauen zogen sich fest zusammen. Eine tiefe Falte entstand senkrecht über der Nasenwurzel. »Aber Frau Gräbert«, tadelte er leise, »Ihr Vater ist doch schon vor Jahrzehnten verstorben. Sie besuchen ihn und ihre Geschwister jeden Tag drüben auf dem Friedhof.«
Marianne Gräberts Gesicht bekam einen schlauen Zug, sie zupfte am Ärmel Schäfers, signalisierte ihm, er möge sich zu ihr hinunterbeugen.
Ihr deutlicher Oberlippenbart kratzte an seiner Ohrmuschel, als sie ihm anvertraute: »Das denken alle. Das sollten die Leute glauben! Aber das ist nicht wahr. Wir haben damals große Steine in den Sarg gelegt!« Sie kicherte verhalten. »Hat keiner gemerkt!«
Während er auf die Ergebnisse der Analyse der vom Teppich entnommenen Proben wartete, die an ein Labor geschickt worden waren, versuchte Roger Schäfer, das Rätsel um das Verschwinden der Martha Gräber auf anderem Weg zu lösen.
Zunächst überprüfte er das Konto der Vermissten. Zu seinem nicht geringen Erstaunen wies es einen Stand von mehr als 200.000Euro auf. Ein Abgleich mit Kai Baumwerk vom Rententräger ergab, dass diese Summe dem Betrag entsprach, der innerhalb von fast 20Jahren monatlich dort eingegangen, jedoch niemals angetastet worden waren. Die Krankenkasse der Martha Gräber bestätigte, dass sie ihre Versichertenkarte seit Mai 1990 nicht mehr eingesetzt hatte. All das erhärtete den Anfangsverdacht, die alte Dame sei nicht mehr am Leben.
Roger Schäfer zog weitere Erkundigungen ein, machte den Hausarzt Gustav Gräberts ausfindig, Dr.Jürgen Petzold. Er war überrascht, als er dessen Praxisräume betrat. Ein junges Team arbeitete hier, den Mediziner selbst schätzte Schäfer auf Mitte bis Ende 40.
»Gustav Gräbert? An den kann ich mich gut erinnern, da brauche ich keine Akte.«
Der Kripobeamte zog fragend eine Augenbraue hoch. »So?«
»Ja. Sehen Sie, der war sozusagen meine erste offizielle Leiche.« Der Arzt lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Da übernehme ich eine gutgehende Praxis von meinem Onkel, beginne gerade mit den meist älteren Leutchen warm zu werden, da ruft man mich zu einem Notfall. Als ich ankomme, finde ich einen hochbetagten Mann, der so unter Sauerstoffmangel leidet, dass er praktisch am ganzen Körper blau geworden ist. Ehefrau und Tochter sind in heller Aufregung. Der alte Herr habe von der Suppe gegessen und plötzlich sei ihm die Luft weggeblieben. Was soll ich sagen? Noch während ich versuche, ihn zu beatmen und abzusaugen, stirbt der Greis. Großes Geschrei, Tränen, Anschuldigungen. Es hat mich Monate harter Arbeit gekostet, den anderen Patienten klarzumachen, dass nicht ich an seinem Tod schuld war. Suppe in der rechten Lunge! Und dass bei vorgeschädigter Lunge und Herzinsuffizienz. Das konnte er in seinem Alter nicht überleben.« Er grinste schief. »Mein Onkel überlegte gar, aus dem Ruhestand zurückzukehren. Toll, sagte er damals, erst übernimmst du meine Praxis und dann rottest du die Patienten aus! Säg mal nicht den Ast ab, auf dem dein Konto geführt wird!«
»Sie stellten den Totenschein aus.«
»Ja. Selbstverständlich. Er wurde nicht obduziert–die Staatsanwaltschaft sah keinen Grund, bei den medizinischen Vorbefunden. Drei Tage später konnte er bestattet werden. Ich bin hingegangen, als Demonstration meines reinen Gewissens, Sie verstehen schon.«
»Wissen Sie noch, wann genau das war?«
»Ja. Am 5. Februar 1981. Es war eisig kalt, stürmisch. Die Grube auf dem Friedhof auszuheben, muss eine echte Herausforderung für die Totengräber gewesen sein.«
Schäfer nickte dem Arzt zum Abschied zu. Wenn der Vater tatsächlich tot und bestattet war– log Marianne Gräbert dann oder wusste sie es nicht besser, konnte sich nicht erinnern, lebte längst nicht mehr in dieser Welt? Sollte er auf eine Exhumierung bestehen, überlegte er, nur um ganz sicherzugehen? Nein, verwarf er diesen Gedanken sofort, das war nicht sinnvoll und teuer würde es auch, ganz abgesehen von der unerwünschten Aufmerksamkeit, die es erregen würde.
Der Arzt hatte den Tod bestätigt, Marianne sich die Geschichte mit den Steinen nur ausgedacht. Aber warum? Weil sie sich wünschte, er wäre noch am Leben? Die Frage nach dem Verbleib von Martha Gräbert war die, die er beantworten musste.
Marianne Gräbert zu befragen, erschien zunehmend sinnlos. Durch ihre rapide fortschreitende Demenz war sie als Gefangene ihrer wirren Gedankenwelt kaum zu einer sinnvollen Antwort in der Lage. Die Pflegekräfte des Heimes, in dem sie nun wohnte, berichteten übereinstimmend, die über 80-Jährige behaupte anderen gegenüber immer wieder, die Mutter sei nach Kanada gereist. Manchmal jedoch jammere sie, sie sei eine gute Tochter, habe alle Wünsche erfüllt. Die Mutter habe keinen Grund, böse auf sie zu sein.
Gelegentlich kam sie in Gesprächen auch auf die Geschichte von den Steinen im Sarg des Vaters zurück. Es sei der ausdrückliche Wunsch der Mutter gewesen, so zu verfahren, sie habe nur getan, worum sie gebeten wurde. Wie eigentlich immer in ihrem Leben.
Die Ermittlung drehte sich im Kreis, drohte, sich festzufahren. Das letzte Gespräch mit seinem Vorgesetzten war für Schäfer eher unerfreulich verlaufen. Man erwarte konkrete Ergebnisse, es könne doch nicht so schwierig sein, den Verbleib der alten Frau zu klären, ob er schon bemerkt habe, dass er jeden Morgen genügend Anregungen dazu in der Boulevardpresse finden könne?
»Na, hat er dich wieder angemeiert?«, fragte ein Kollege mitfühlend, den er auf dem Gang traf. Das ›Gespräch‹ war demnach auf den Fluren gut zu hören gewesen. Peinlich! So eine Zurechtweisung sollte er in Zukunft besser vermeiden, wollte er seiner Karriere nicht ernsthaft schaden.
Als das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte, schrak er zusammen. Konrad Kunze aus dem Labor. Die von Schäfer in Auftrag gegebenen Untersuchungen am Teppich zum Fall Gräbert führten zum Ergebnis, es sei sehr wahrscheinlich, dass an jener Stelle ein toter Körper längere Zeit gelegen habe. Die Freisetzung von Körperflüssigkeiten habe eine Vielzahl von Insekten angelockt. Die ins Gewebe gesickerten Substanzen, die beim Verwesungsprozess entstünden, bildeten über einen langen Zeitraum Ernährungsgrundlage für Maden und Larven der verschiedensten Fliegen- und Käferarten. Im Laufe der Jahre wurden alle Rückstände restlos vertilgt, was zum Verlust der Wollstruktur in Form einer Körperkontur geführt hatte. Ob der Tod natürliche Ursachen oder Folge eines Mordanschlages war, könne man nicht feststellen.
Super, dachte Schäfer sarkastisch, das bringt ja so richtig Schwung in die Nachforschungen. Mit Schaudern dachte er an Marianne Gräbert. Hatte sie wochenlang den Leichnam der Mutter im Wohnzimmer auf dem Teppich liegen lassen, während er verweste, und sich nach und nach immer mehr interessierte Insekten einfanden? Wie konnte sie dieses Bild ertragen– und den Gestank? Berufsbedingt dachte er zunächst an abgrundtiefen Hass und Freude an der langsam voranschreitenden Zersetzung der Mutter, danach kam ihm der Gedanke, Marianne könne schlicht mit der Situation überfordert gewesen sein. Die von der ganzen Familie verlassene und einsame Frau konnte nichts unternehmen, weil sie nicht wusste, wie sie vorgehen musste, da ihr Denken von Trauer blockiert war. Also überließ sie den Körper der Mutter einfach sich selbst und seinem biologischen Schicksal.
Ein illegales Begräbnis mit Unterstützung durch ein Bestattungsunternehmen? Nein, er verwarf die Idee. Bestatter wollten Geld verdienen– mit großen Beisetzungen, die Aufsehen erregten und bei manch einem der Trauergäste Begehrlichkeiten für die eigene Beerdigung weckten. Und wie hätte die Tochter erklären sollen, dass von Martha Gräbert kaum mehr etwas übrig war? Am ehesten hatte sie die Lösung des Problems irgendwann selbst in die Hand genommen.
Kai Baumwerk hörte dem Beamten gut zu, den er in sein Lieblingscafé eingeladen hatte. Dieses Ergebnis war mehr als unbefriedigend. Auch Roger Schäfer fragte sich, ob er annehmen musste, Marianne habe ihre Mutter kaltblütig umgebracht. Sollte die Tochter ihre Mutter etwa zerstückelt haben, um den Abtransport zu bewerkstelligen, als sie sich bereits im fortgeschrittenen Zustand der Verwesung befand? Wenn er den Fall nicht bald zum Abschluss brachte, würde er noch nachhaltig Schaden nehmen, Albträume verfolgten ihn schon jetzt.
»Wissen Sie, Herr Schäfer, mir fällt da was ein. Als ich mit den Nachbarn sprach, behauptete eine der Damen, es habe nur selten Streit zwischen Mutter und Tochter gegeben. Aber einmal ging es bei einem lauten Disput um den Wunsch der Mutter, auf keinen Fall auf dem Friedhof gegenüber beerdigt zu werden. Wäre das ein Ansatz?«
Für Roger Schäfer fügte sich das Puzzle plötzlich zusammen. Es mochte sein, dass die alte Dame eines natürlichen Todes gestorben war– und sich die Tochter eingedenk des Gezeters dazu entschlossen hatte, den letzten Wunsch der Mutter zu erfüllen.
Aber wo war der Beweis? Er hatte natürlich daran gedacht, den Garten umgraben zu lassen. Doch der war riesig. Ohne einen konkreten Hinweis auf die Stelle, die zu untersuchen war, konnte ein Team hier wochenlang beschäftigt sein. Teuer. Und natürlich würde die Presse schnell Wind von der Aktion bekommen, Fernsehsender könnten auf die Idee verfallen, live zu berichten. Nein. Er musste herausfinden, wie er den Bereich eingrenzen konnte, an dem gesucht werden sollte. Ein Screening.
Oder einen Leichenspürhund!
Er rief bei der Staffel an und erfuhr, die meisten der Hunde seien zurzeit abkommandiert. Man versuche in einem Erdbebengebiet, Überlebende zu finden beziehungsweise die Leichen Verschütteter wegen der Seuchengefahr. Lediglich eine Hündin stünde ihm zur Verfügung.
Olga und Horst Michalik, der Hundeführer, gaben sich redlich Mühe. Alle zehn bis fünfzehn Minuten hatte das Tier Pause. Die beiden gingen das Grundstück gründlich und planvoll ab. Das Ergebnis war ernüchternd. Olga setzte sich nicht ein einziges Mal hin, um zu signalisieren, sie sei fündig geworden.
Schäfer überlegte, ob sie wohl einfach keine Lust hatte, schließlich waren all ihre tierischen Kollegen verreist, nur sie musste zum Arbeiten in Cottbus bleiben.
»Keine Sorge, so etwas gibt es bei Tieren nicht«, beruhigte ihn Horst Michalik. »Wenn sie keinen Fund signalisiert, dann liegt es daran, dass keine Leiche zu entdecken ist.« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern und tätschelte Olgas mächtigen Kopf.
Weihnachten rückte unaufhaltsam näher. Roger Schäfer stöberte in der lokalen Buchhandlung nach einem Bildband, den er seiner Schwester schenken wollte. Afrika käme infrage, aber auch etwas über Wölfe wäre nicht schlecht, überlegte er, während er die Buchrücken der einzelnen Ausgaben eingehend betrachtete.
»›Deutschland von oben‹ klingt auch spannend. Da bekommt sie mal einen ganz anderen Eindruck von ihrer Heimat«, schmunzelte Schäfer und blätterte das Buch durch.
Klar! So könnte er Martha Gräbert doch noch finden! Vor ein paar Jahren hatte er an einer Fortbildung teilgenommen, die sich mit Möglichkeiten der Bodenuntersuchung befasst hatte. Ohne Eingriff– mit Technik. Georadar? Geomagnetresonanzmethode? Die Unterlagen mussten noch in seinem Büro liegen! Zusammen mit der Liste der Firmen, die diesen Service anboten. Gab es da auch welche in Brandenburg? Und wie teuer konnte solch ein Einsatz spezieller Technik werden?
Auf dem Weg ins Büro fiel ihm immer mehr dazu ein. Der Prof– wie hieß der denn noch?– hatte ein bisschen blumig davon gesprochen, dass man mit elektronischen Augen in Bereiche sehen könne, die dem menschlichen Auge so nicht zugänglich wären. Begriffe purzelten durch seine Erinnerung: Impedanzen, Feldstärken, Magnetfelder, war da nicht auch die Rede von geophysikalischen Kontrasten gewesen, von Nanotesla pro Zentimeter und kooperativen Böden? Schon beim Gedanken an all die fremden Möglichkeiten wurde ihm leicht schwindelig.
»Materie erzeugt Schwingung. Auch Leichen sind Materie, und die hat Eigenschaften wie zum Beispiel Volumen, hat einen elektrischen Widerstand, ist nicht magnetisch«, hatte der Dozent gesagt. Damals war ihm das ziemlich pietätlos vorgekommen, aber im Grunde stimmte es ja. In dem Kurs hatte er doch einen alten Kollegen getroffen, der könnte ihm möglicherweise weiterhelfen. Vielleicht fand er auch Seiten mit vertiefenden Informationen zu diesem Thema im Internet, schöpfte er neue Hoffnung.
Als er später mit einem lauten Seufzen den Hörer auflegte, war er mehr als ernüchtert. Kostspielig sei das Verfahren und er könne nicht mit Sicherheit davon ausgehen, Martha Gräberts sterbliche Reste zu finden, ganz abgesehen davon, dass viel von der alten Dame ohnehin nicht mehr übrig sein könne. »Am ehesten finden Sie eine Gießkanne, einen alten Topf, das abgebrochenes Blatt einer Schaufel und allerhand andere Erinnerungsstücke im Boden. Sie wird Ihnen möglicherweise auch gar nicht den Gefallen getan haben, die Leiche komplett an einer Stelle beizusetzen.«
Schäfer dachte an seinen schon jetzt sehr gereizten Vorgesetzten und verschob den Einsatz der Technik auf einen späteren Zeitpunkt.
Und natürlich die Umgehungsstraße! Eine zweite Idee, die ihm beim Stöbern in den Bildbänden gekommen war. Als damals die Trasse geplant wurde, die den lästigen Durchgangsverkehr von der Innenstadt fernhalten sollte, hatte man einen Hubschrauber mit spezieller Kameratechnik ausgerüstet. Dabei waren Luftaufnahmen angefertigt worden, die den Verlauf der Straße für die Stadtverordneten und die betroffenen Bürger deutlich machten. Zahlreiche Einsprüche von Anwohnern und Umweltschutzgruppen hatten Kontrollaufnahmen über einen längeren Zeitraum notwendig erscheinen lassen. Allemal billiger als der Einsatz von Fremdtechnik, denn die Bilder gab es ja schon. Einen Versuch war es jedenfalls wert.
Im Baudezernat war man allenfalls überrascht. Freundlich suchte ein Praktikant die gewünschten Unterlagen aus diversen Schubladen und Schränken, breitete alle Fundstücke auf einem großen Tisch aus und zog sich diskret zurück.
Roger Schäfer bemühte sich, eine chronologische Reihenfolge herzustellen, ordnete die Bilder den fotografierten Straßen zu. Der Hubschrauber war im relevanten Planungszeitraum an mehreren Jahren hintereinander über das gesamte Gebiet geflogen. Bei jedem dieser Flüge hatte er Haus und Garten der Gräberts aufgenommen. In einem der Nachbargärten waren sogar die zum Trocknen aufgehängten Spitzendessous deutlich zu erkennen.
»Aber, Frau Lehmann! Solche Wäsche?«, lachte Schäfer und beugte sich noch tiefer über die Bilder.
»Na, dann wollen wir doch mal sehen«, murmelte er gespannt. Ein Leichnam, der verwest, gibt einen guten Dünger für seine Umgebung ab, wusste er. Doch ihn in die Erde zu bringen, wäre im Garten der Gräberts ein ziemliches Problem geworden. Wildwuchs überall. Marianne Gräbert hätte zunächst einmal eine Stelle roden müssen, den Boden von Wurzelwerk befreien. Er würde also nach großräumigeren Veränderungen forschen müssen– und nach Pflanzen, die wegen der Extraportion organischen Materials auffällig üppig gedeihen konnten. »Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn ich die auf den Bildern nicht finden könnte!«
Und tatsächlich! Es gab eine solche Stelle. Schäfer atmete zufrieden auf. »Ein Rosenbeet! Typisch.« Aus der zeitlichen Reihenfolge war zu ermitteln, in welchem Jahr das Beet angelegt worden war. Mai 1983! Bild neben Bild ließ erkennen, dass diese Rosen weit üppiger gediehen waren als vergleichbare Pflanzen in einem der anderen Gärten.
»Da hast du sie also verscharrt, mein altes Mädchen! Auch wenn du dich schon nicht mehr an deine Mutter erinnern kannst– der Boden hat in diesem Fall ein gutes Gedächtnis.« Voller Tatendrang fuhr er ins Büro zurück.
Die neuen Hausbesitzer, eine Familie Brettschneider, staunten nicht schlecht, als Roger Schäfer ein paar Tage nach seiner Entdeckung bei ihnen klingelte.
»Tut mir leid. Wir vermuten in Ihrem Garten den Leichnam der verschollenen Martha Gräbert. Diese Herren hier«, dabei deutete er hinter sich, wo einige Beamte mit geschulterten Spaten bereitstanden, »müssen das Beet neben der Linde dort umgraben.«
Frau Brettschneider griff wortlos und bleich nach den Jacken der drei Kinder. »Zieht euch an! Wir fahren zum Einkaufen!«, erklärte sie und schob kaum eine Minute später die nörgelnden Geschwister ins Auto, die enttäuscht den Polizisten nachsahen.
Schäfer hoffte, sie würde nicht umgehend die Presse informieren und dafür sorgen, dass sie ungebetene Zuschauer in Scharen bekamen.
Roger Schäfer beaufsichtigte die gesamte Aktion von der Terrasse des Häuschens aus. 25 Jahre waren ein langer Zeitraum. Eine Leiche zersetzte sich unter günstigen Bedingungen schon innerhalb von Monaten. Er hoffte darauf, wenigstens noch Reste von Knochen oder Zähnen zu finden– irgendein analysefähiges DNA-Material. Dann könnte Martha Gräbert doch noch anständig beigesetzt werden, blieb nicht länger anonym verscharrt. Die Beamten entfernten die Rosenstöcke und begannen damit, kraftvoll das Erdreich auszuheben.
»Wie tief?«, rief einer der Polizisten Schäfer zu.
»Spatentief!« Immerhin war die Tochter zum vermuteten Todeszeitpunkt der Mutter auch nicht mehr die Jüngste gewesen. Es erschien unwahrscheinlich, dass sie ein metertiefes Loch von entsprechender Größe hätte ausheben können.
Nichts.
»Dann versucht es mit einem Meter!«, wies er sie an, als sie auch bei zweimal spatentief nichts gefunden hatten. Womöglich war Marianne Gräbert mit 50 bis 60 eine kräftige, sportliche Frau gewesen. Doch auch in diesem Bereich fanden sich keine Hinweise darauf, dass hier jemand verscharrt worden war. Die Beamten würden am nächsten Tag erneut kommen und weitergraben, informierten sie den Familienvater und zogen ab.
Martha Gräbert ist bis heute verschwunden. Marianne Gräbert starb ein halbes Jahr nach ihrem Umzug in das Pflegeheim an den Folgen ihrer Demenz, ohne das Geheimnis um das Verschwinden oder den Tod ihrer Mutter aufgeklärt zu haben.
Geophysikalische Methoden nutzen aktiv oder passiv die Veränderung eines Signals aus dem Boden. Die entstehenden grafischen Darstellungen können von Fachleuten ausgewertet und interpretiert werden– je nach Fragestellung kommen unterschiedliche Verfahren zum Einsatz.
Georadar: Siehe ›Leichenwasser‹, S. 120
Luftbildauswertung: Luftaufnahmen können von einem entsprechend präparierten Flugzeug, Hubschrauber, Zeppelin oder Heißluftballon gemacht werden. Dabei kommen, je nach Auftrag und Fragestellung, unterschiedliche Kameras und Computerprogramme bei der Auswertung zum Einsatz.
Generell werden Luftbildaufnahmen genutzt, um große Räume in ihrer Entwicklung zu beobachten, zum Beispiel um Veränderungen der Vegetation bei Eingriffen ins Ökosystem feststellen zu können, aber auch, um Subventionsschwindel auf die Spur zu kommen (von Bauern gemeldete Brachflächen, Kornfolge etc.) oder um die günstigste Variante für eine neue Trasse im Straßenbau festzulegen und neue Wohn- und Gewerbegebiete zu konzipieren.
Bei einer langfristig geplanten Überwachung von Veränderungen eines Lebensraumes greift man auf RotGrünBlau-Aufnahmen zurück. Besonders aussagekräftige Bilder erzielt man mit CIR-aufnahmen (ColoredInfraRed) zur Kontrolle der Vegetation. Gestresste Pflanzen liefern dunklere Farbtöne im Vergleich zu gesunder, kraftstrotzender Bepflanzung.
Aber selbstverständlich sind auch auf Echtfotos Eingriffe in Bebauung oder Struktur deutlich zu sehen. Zum Beispiel Änderungen der Vegetation durch menschliche Eingriffe in einem definierten Areal.
Leichenspürhunde: Siehe ›Leichenwasser‹, S. 121