Dumm gelaufen

 

Berthold Kunze hatte den Kanal gestrichen voll.

Egal, an wen aus seinem Abschlussjahrgang er auch dachte, der hatte es geschafft. Gut, räumte er ein, Chlodwig nicht. Der saß ein. War nicht anders zu erwarten gewesen, nach dem Theater. Wer eben zu blöd war für krumme Geschäfte, fuhr auf geradem Weg in den Knast ein. Schicksal.

Sein großer Coup dagegen lief bestens. Schluss mit Berthold, dem Loser. Ab jetzt würden die anderen Bauklötze staunen. Beim nächsten Klassentreffen würde auch er mit einem glänzenden Daimler vorfahren, einen Anzug aus feinstem Zwirn tragen und dicke Zigarren an die anderen verteilen!

Sein Geld war schon sicher– nun gut, fast sicher–, es musste nur noch eine Kleinigkeit erledigt werden und schon bald hieß es dann ›Adieu Deutschland, adieu Frau Berthold Kunze, adieu Arbeitsalltag– ab in die Sonne!‹. Er seufzte sehnsuchtsvoll, wenn er an die Villa am Strand dachte, die ihm schon gehörte und nur darauf wartete, dass er endlich mit seinem Koffer dort einzog. 14 Tage noch, dann waren alle Transaktionen abgeschlossen – und in ein paar Monaten konnte es endlich losgehen.

In seinem Briefkasten lag ein Schreiben der Staatsanwaltschaft, nicht das erste.

»Scheiße! Was wollen die Idioten denn nun schon wieder von mir?«, fluchte er, schlitzte das Schreiben auf und überflog die Zeilen auf dem Weg durch den Gang in sein ›Arbeitszimmer‹.

Was nun? Wenn er darauf reagierte, wäre seine Planung hinfällig. Natürlich hatte er gewusst, dass das Lästigste am betrügerischen Konkurs die Gläubiger sein würden, die versuchten, ihre Außenstände eintreiben zu lassen– aber er hatte nicht geahnt, wie penetrant die tatsächlich sein konnten! Wie Flöhe oder Läuse im Pelz!

Schon als das erste Schreiben in seinem Briefkasten lag, hatte Kunze eine geniale Idee gehabt. Von dem Tag an verfuhr er mit allen anderen Briefen dieser Art auf dieselbe Weise. So würde er es auch diesmal handhaben, beschloss er, hatte sich ja bewährt.

 

Für ihn war die Sache schon beinahe vergessen. Umso erstaunter war er, als am Morgen eines sonnigen Septembertages ein Streifenwagen vorfuhr, zwei Beamte in Blau ausstiegen und zielsicher auf seinen Hauseingang zuhielten.

Er reagierte empört, behauptete, Opfer eines Irrtums zu sein– es half nicht. Nach einem kurzen Wortwechsel nahmen sie Berthold Kunze einfach mit.

»Sie haben einen Schriftsatz zugestellt bekommen, der die Forderungen des Gläubigers Heinrich Schlamm auflistet. Der Gläubiger besteht auf Bezahlung seiner Rechnungen und Begleichung seiner weiteren Auslagen. Zugrunde liegen deutliche Zweifel des Herrn Schlamm an den Angaben, die Sie zum Verbleib der Gelder gemacht haben.«

»Welchen Schriftsatz meinen Sie?«, fragte Kunze ratlos zurück und der Staatsanwalt begann in seinen Unterlagen zu blättern.

»Sie erhielten das Schreiben mit Datum vom 25. Juli dieses Jahres. Es wurde per Einschreiben zugestellt. Einschreiben Einwurf.«

»Nee, ganz sicher nicht. Ich habe von Ihnen kein Schreiben bekommen. Hat der Postbote vielleicht falsch eingeworfen, kommt doch mal vor.« Kunze spielte auf Zeit. Er hatte die Strategie durchgeplant und war fest davon überzeugt, dass sie aufgehen würde. Die eng beschriebenen Seiten wurden längst von den eifrigen Männern der Stadtreinigung entsorgt– in geschreddertem Zustand versteht sich. Berthold Kunze verschränkt die Arme vor dem ausladenden Bauch. Dann macht mal los und beweist mir das Gegenteil, forderte er die Ermittler in Gedanken auf und ein zufriedenes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit.

»Nicht nur dieser Brief gilt als in Ihren Einfluss- und Machtbereich gelangt– das gilt auch für die beiden Vorladungen in mein Büro, die wir Ihnen geschickt haben, wegen des Verdachts auf betrügerische Insolvenz. Der Postbote hat den Einwurf jeweils ordentlich dokumentiert.«

»Der kann viel dokumentieren. Ich habe den Brief nicht bekommen, basta!«, pumpte Kunze, der meinte, es wäre nun an der Zeit, seinen Unmut deutlich zu zeigen.

»Herr Kunze, bei der vorhin in Ihrer Wohnung durchgeführten Durchsuchung wurden Teile des Umschlags entdeckt.« Das Zusammenzucken seines Gegenübers schien der Staatsanwalt nicht zu bemerken– oder er hielt es für einen klugen Schachzug, nicht darauf einzugehen. »In dem Verfahren gegen Sie geht es um einen erheblichen Geldbetrag– da können Sie davon ausgehen, dass die Ermittlungsbehörde dranbleibt. Auch wenn ja leider bei dem Feuer Ihre gesamte Buchführung in Flammen aufgegangen ist– wie Sie wissen, sind die Brandermittler noch mit der Auswertung beschäftigt.«

Kunze verdrehte die Augen. Beschloss, sich in seine schneeweiße Villa zu träumen. Er kniff die Augen fest zusammen. Sonne, Wind, das Rauschen des Meeres

Erst als er sie wieder öffnete, bemerkte er, dass der Staatsanwalt das Zimmer verlassen hatte. Kunze stellte sich auf eine längere Wartezeit ein. Seiner Meinung nach hatten die Behörden nun all ihr Pulver verschossen.

 

Staatsanwalt Friedrich Schacht sah das allerdings ganz anders.

Wenn er nachweisen könnte, dass Kunze diesen Briefumschlag in der Hand gehabt hatte, wäre das der Beweis dafür, dass er ihn auch bekommen hatte. Ein Sachverständiger musste her, der die sichergestellten Reste auf Fingerspuren untersuchte. Friedrich Schacht griff zum Telefon.

»Klaus Winter«, meldete sich die viel zu hohe Stimme des Sachverständigen beim LKA.

Schacht schilderte seinen Fall. »Und da dachte ich, Sie könnten womöglich Fingerspuren auf den Umschlagresten finden. Damit es uns gelingt, ihn festzunageln. Wenn ich die Akten zum Gericht gebe, muss die Sache wasserdicht sein.«

Der Sachverständige zögerte. »Mein Schreibtisch ist im Augenblick ziemlich voll.«

»Meiner auch. Das ist Normalzustand.«

»Aber ich kann mich schon nicht einmal mehr an die Farbe der Schreibtischplatte erinnern, so lange habe ich die nicht mehr zu Gesicht bekommen!«, trumpfte Winter auf.

»Ich brauche diesen Nachweis.«

»Wissen Sie eigentlich, wie teuer diese Untersuchung ist? Sind Sie sicher, dass ich die durchführen soll? Ich könnte mir vorstellen, dass sie den Kerl auch anders überführen können. Wie wäre es mit der guten alten Polizeiarbeit?«

»Herr Winter, das ist ausgereizt. Nun brauchen wir die Fingerspuren!«

»Die Untersuchung ist giftig!«, protestierte Winter, der als Hysteriker verschrien war. Friedrich Schacht dachte, dass es für die Psyche dieses Sachverständigen besser gewesen wäre, einen anderen Beruf zu ergreifen. »Ich muss da ein Mittel einsetzen, das krebserregend ist«, lamentierte Winter weiter.

»Hm.«

»Ninhydrin.« Ein letzter Versuch.

Friedrich Schacht wusste, dass nun alles gesagt war. Er kannte diese Appelle schon. Sie zielten immer in die gleiche Richtung: ›Können Sie verantworten, dass ich mich wegen dieser Untersuchung einem solchen Risiko aussetze?‹ Schacht konnte.

 

Klaus Winter tauchte einige Tage später den Umschlag, der nun Asservat 1163/11 hieß, in eine Speziallösung mit Ninhydrin und lüftete ihn gründlich ab. »Na, da haben wir ihn ja!«, stellte der Sachverständige zufrieden fest. »Schacht wird sich über diesen blauen Ton ganz besonders freuen!«

 

Friedrich Schacht bestellte Kunze ein. Er erschien, wie vermutet, nicht zum vergesehenen Termin, Schacht ließ ihn erneut vorführen.

»Nun reicht es mir aber!«, polterte der schwere Mann schon beim Eintreten. »Ich lasse mich doch von Ihnen nicht abführen wie ein Verbrecher!«

»Sie haben eine Ladung von uns bekommen und es vorgezogen, diese zu ignorieren. Das lassen wir nicht durchgehen, Herr Kunze. Schon gar nicht, wenn wir wichtige neue Erkenntnisse mit Ihnen besprechen möchten.«

Der ›insolvente‹ Firmenchef setzte sich murrend.

»Auf dem Briefumschlag sind Ihre Fingerabdrücke gefunden worden«, hielt der Staatsanwalt ihm vor. »Das beweist, dass Sie ihn in der Hand hatten. Selbst und höchstpersönlich.«

Kunze schwieg sicherheitshalber. Spürte, wie ihm die Luft ein wenig knapp wurde, weil er die Schlinge um seinen Hals physisch fühlen konnte. Nervös griff er sich an die Kehle und begann zu hüsteln. Das Bild seiner Villa wollte sich vor seinem inneren Auge nicht scharf stellen lassen. Scheiße, dachte er, die haben dich am Arsch! Doch dann war plötzlich alles wieder da: das weiße Haus, der Strand, das Rauschen… Ein Geistesblitz.

»Mensch, klar!« Er schlug sich mit seiner Patschhand kräftig vor die Stirn. »Jetzt erinnere ich mich! Dass mir das nicht gleich eingefallen ist!« Er guckte den Staatsanwalt zerknirscht an. »Muss in dem ganzen Stress mit der Insolvenz untergegangen sein! Da vergisst sich schon mal das eine oder andere!«

Friedrich Schacht lehnte sich zurück und wartete auf die nächste abenteuerliche Erklärung.

»Der Umschlag lag in meinem Kasten und ich habe ihn aufgemacht– stimmt. Aber ganz ehrlich: Da war kein Brief drin! Und das war auch nicht der erste dieser Art. Ich weiß noch genau, wie erstaunt ich darüber war, dass man mir leere Hüllen schickt. Aber, dachte ich mir, wenn die mir was Wichtiges zusenden wollen, merken die das bestimmt noch und dann kriege ich einen neuen Brief. Deshalb habe ich auch nicht nachgefragt. Fehler passieren eben, nicht wahr?«, sprudelte seine neue wunderbare Idee nur so aus ihm heraus.

Schacht wiegte nachdenklich den Kopf.

»Sehen Sie, Herr Kunze, da kann ich Ihnen nur zustimmen. Fehler passieren, sie sind menschlich. Und tatsächlich bin auch ich mehr als erstaunt über den leeren Umschlag.« Der Staatsanwalt machte eine kurze Pause, stand auf, ging in seinem Büro auf und ab.

Berthold Kunze freute sich im Innern wie ein Schneekönig. Geschafft! Umso größer war sein Schrecken, als Schachts Faust plötzlich auf die Tischplatte donnerte.

»Wissen Sie, was mich am meisten erstaunt?«, fragte der Staatsanwalt lauernd.

Kunze schüttelte den Kopf.

»Dass Sie den Umschlag überhaupt bekommen haben!«, polterte der andere los. »Wir verschicken unsere Post in Umschlägen mit einem Fenster. Ihre Anschrift steht auf dem Briefkopf und wird durch das Fenster gelesen! Wäre also kein Brief in dieser Hülle gewesen, hätte man bei der Post nur den grauen Hintergrund gesehen– und niemand hätte ein Schreiben bekommen, Herr Kunze!«

Kunzes Träume zerplatzten wie eine Seifenblase. Dumm gelaufen, dachte er noch und seufzte besiegt.

 

Ninhydrin: wird als Nachweissubstanz für Aminosäuren und Eiweiße benutzt. Durch die Schweißproduktion entstehen auch an den Händen des Menschen Aminosäuren, die sich in Fingerspuren nachweisen lassen. Da nur eine äußerst geringe Menge Ninhydrin notwendig ist, um eine Reaktion (Farbreaktion– Ruhemanns Violett) zu erreichen, wird es besonders beim Aufspüren schwer zu entdeckender Fingerabdrücke eingesetzt. Die Papillarlinien sind im Prinzip eine Anordnung von Bergen und Tälern, die als Gesamtausdruck die bekannten Formen von Fingerabdrücken zeigen. Die Reaktion von Aminosäuren mit Ninhydrin führt zu sehr beständigen Verbindungen, sodass das Bild eines Fingerabdrucks leicht dokumentiert werden kann.

Mit der menschlichen Haut darf die Chemikalie nicht in Berührung kommen, da sie als krebserregend eingestuft ist. Daher ist bei den Untersuchungen ein hoher Aufwand hinsichtlich des Arbeitsschutzes zu realisieren, um Mitarbeiter vor Erkrankungen zu schützen.