»Das Leben besteht aus
Fragen.«
Schluss
Michail Gorbatschow war der letzte
Präsident der riesigen Sowjetunion. Boris Jelzin war der erste
gewählte Präsident des neuen, immer noch großen Russland. Die
beiden waren im Laufe der Auflösung des Vielvölkerstaats zwischen
Pazifik und Ostsee zu Gegnern, schließlich zu ausgemachten Feinden
geworden. Trotzdem haben sie gemeinsam die große Leistung
vollbracht, dass sich der hochgerüstete sowjetische Polizeistaat
mit seiner gescheiterten Kommandowirtschaft ohne Bürgerkrieg und
Selbstzerstörung in ein anderes Land verwandelte.
Jedes Mal, wenn ich nach Ablauf meiner
Korrespondentenzeit nach Russland zurückkehrte, entdeckte ich viele
sichtbare Veränderungen, konnte mir aber kein Bild davon machen,
wie dieses Russland in Zukunft aussehen und funktionieren würde.
Dabei war die Hoffnung der meisten Russen, die ich im weiten Land
außerhalb von Moskau kennengelernt hatte, gewöhnlich nicht sehr
groß gewesen. Sie erlitten und erlebten die tiefen Veränderungen
zunächst nur als Zerstörung der gewohnten Lebensordnung, mit
Verschlechterungen im Alltagsleben und einer neuen Art von
Ungerechtigkeit. In der Hauptstadt Moskau aber lernte ich nun ganz
andere Leute kennen: junge Wirtschafts- und Industriefunktionäre,
die sich erstaunlich schnell und erfolgreich durch den Dschungel
einer ganz oder teilweise privatisierten, in vielen Fällen
schließlich wieder unter staatliche Kontrolle zurückgeführten neuen
Wirtschafts- und Finanzwelt kämpften. Sie waren zu Millionären und
Milliardären geworden und wollten nun mit Politikern und
Funktionären, die sich eilig den gewandelten Verhältnissen
angepasst hatten, eine Gesellschaft ganz neuer Ordnung errichten.
Vielen erschien diese Welt der neuen Reichen als Anfang eines
Aufstiegs zum allgemeinen Wohlstand. Wenn ich vorsichtig einwandte,
dass auch der Kapitalismus seine Schwierigkeiten mit sich bringe,
stieß ich in den ersten Jahren in Jelzins Russland auf
Unverständnis und manchmal auf den Vorwurf, ich unterschätzte die
Leistungsfähigkeit der Russen aus westlichem Hochmut. Statt einer
breiten Diskussion über die zukünftigen Strukturen von Politik und
Wirtschaft gab es hauptsächlich das Versprechen, dass es im Laufe
der nächsten Jahre besser werden würde.
Zunächst waren die ersten Experimente noch auf
seltsame Weise von marxistischen Theorien geprägt. Auf halbem Wege
zwischen Moskau und Petersburg besuchte ich die größte
Streichholzfabrik Russlands, die nicht mehr dem Staat gehörte. Sie
sollte eine Art Aktiengesellschaft werden, deren Anteile nur an die
Mitarbeiter vergeben wurden. Aber diese Weitergabe gemeinsamen
Reichtums war den Betriebsangehörigen so undurchsichtig erschienen,
dass sie ihre Anteile schnell verkauften. In einem Büro saß die
Schwiegermutter des Direktors mit einer großen Kasse und tauschte
die »Tschekis« genannten Aktien gegen Rubelscheine aus. Dass selbst
weiche Rubel besser seien als die Tschekis, überzeugte fast alle,
die ihr Leben lang nur Schlimmes über den Kapitalismus gehört
hatten – die Gewinner dieses Geschäfts waren am Ende der Direktor
und seine Schwiegermutter. Doch nicht nur die Leute in der Provinz
waren misstrauisch: Die zweitgrößte Zeitung Russlands, die
Iswestija, wurde in den Besitz ihrer
Mitarbeiter überführt, aber nach zwei Jahren schon zeigte sich,
dass die meisten ihre Anteile weiterverkauft hatten, ohne die
Kollegen Miteigentümer zu informieren. Die Aktien gingen nun durch
die Hände der neuen Geschäftsleute an Großkonzerne, dann an den
Ölriesen Gazprom und schließlich in den Privatbesitz eines
Milliardärs mit guten Beziehungen zur Regierung.
Im Laufe der ersten zehn Jahre nach der
Auflösung der Sowjetunion wuchs besonders außerhalb der Großstädte
die Unzufriedenheit mit den verschlechterten Lebensverhältnissen.
Weit von Moskau leerten sich die Kleinstädte und Dörfer, am Rande
der Arktis begann der Fortzug aus Landstrichen, die seit der
Stalin-Zeit von Moskau aus besiedelt worden waren und deren
Bewohner sich nun vergessen und abgeschrieben fühlten. In den
sibirischen Großstädten hat ein Prozess der Abwanderung der
gebildeten Jüngeren in den Westen Russlands begonnen, der sich dort
bei der Schicht der jungen Akademiker mit der Hoffnung auf ein
besseres und interessanteres Leben im Ausland fortsetzte.
Nach acht Jahren Amtszeit hatte Jelzin das
Ansehen seiner Präsidentschaft abgebaut. Als er seinem Nachfolger
Wladimir Putin die Macht überließ, trauten viele Russen dem Mann
aus dem Mittelbau des KGB zu,
mit Parolen des autokratisch gelenkten Staatskapitalismus eine
leistungsfähigere Gesellschaft auf den Weg zu bringen. Auch die
alten nationalistischen Schlagworte von Russlands Größe und Macht
hatten ihre Kraft nicht verloren. Die Wiederbelebung der
stalinschen Nationalhymne – ohne Erwähnung Stalins – klang vielen
gut in den Ohren, ebenso wie die Bekenntnisse zu Ordnung und
Disziplin. Eine Mehrheit der Bevölkerung war bereit, Putin zu
folgen und ihn zum Staatschef zu wählen. Aber zugleich nahm die
Zahl der russischen Bürger zu, denen die mäßigen Verbesserungen des
Lebensstandards kein Ausgleich für die Einschränkung demokratischer
Mitwirkung und Meinungsfreiheit zu sein schienen.
Wladimir Putins Überzeugungskraft hat
inzwischen nachgelassen, die Zahl der Gegenstimmen bei Wahlen und
der Teilnehmer an Protestdemonstrationen ist gewachsen. Eine
Mittelschicht beginnt zu entstehen. Immer mehr Studenten und
Professoren, junge Geschäftsleute und Facharbeiter, auch einige
prominente Oligarchen und Millionäre und die weltweit bekannt
gewordenen jungen Frauen, die »oben ohne« gegen den Rückfall in die
alte Zwangsgesellschaft demonstrieren, sind bereit, auf die Straße
zu gehen. Dennoch: Der Entwicklungsprozess in der russischen
Gesellschaft, in Wirtschaft und Staat, ist längst nicht beendet,
und Russland sucht weiter sein künftiges Gesicht, seine Rolle in
der Welt, ohne dass die Umrisse dieser Zukunft schon deutlich zu
erkennen wären.
Das aber lässt sich über fast alle der
vielen Länder sagen, die ich nach meiner Zeit als ständiger
Korrespondent bereist habe. 1993 wurde ich pensioniert. Zum
Abschluss konnte ich drei Sendungen machen, für die ich in den
Jahren zuvor niemals Gelegenheit gehabt hatte: drei ausführliche
Dokumentarfilme von einer Reise durch Ostsibirien, über China nach
Japan, zurück nach Sibirien und schließlich zum Abschluss in die
USA nach Alaska – eine
Entdeckungsfahrt, die mein Team und mich auf Reiserouten und an
Grenzübergänge führte, die für Ausländer bis dahin nicht erreichbar
gewesen waren. Die Sendungen kamen gut an, und der WDR ließ mich weiter drehen: Rund dreißig
Berichte aus Osteuropa, Afrika, Nordamerika, China und natürlich
aus Russland sind seitdem entstanden. Diese Reisen wurden für mich
zur Wiederbegegnung mit Ländern, die alle in den letzten
Jahrzehnten große Veränderungen durchgemacht hatten.
Die Unterschiede zwischen Vergangenheit
und Gegenwart waren überall gewaltig und unübersehbar, am meisten
natürlich in China. Die Radikalen der Kulturrevolution waren von
der Macht verdrängt worden. Die Politik bestimmten sie nicht mehr,
seit Mao tot und seine Frau im Gefängnis war. Die kommunistische
Partei war die Mehrheitspartei der Wirtschaftspragmatiker geworden.
Trotzdem blieb es schwer, die allgemeinen theoretischen Grundlagen
dieser chinesischen Wirtschaftspolitik zu definieren. Zwischen der
offiziellen Doktrin und der praktischen Ausführung tauchten
Widersprüche und seltsame Brüche auf, wie sie wahrscheinlich nur
ein Land wie China ertragen kann. Die Vermischung von Kommunismus,
Sozialismus, Kapitalismus und undefinierter Gewinnsucht trägt heute
seltsame Blüten. Die Volkskommune Hua Xi, die man mir beim ersten
Besuch 1976 als leuchtendes Beispiel maoistischer
Wirtschaftsführung gezeigt hatte, war mir zwei Jahrzehnte später
durch ein Luxushotel aufgefallen, das sich der Parteisekretär Wu
als Krönung der radikalen Umgestaltung hatte einfallen lassen.
Inzwischen überragt es ein Neubau von 328 Metern Höhe mit einer
goldenen Kugel auf der Spitze – so hoch wie die höchsten Gebäude in
Peking. Hua Xi ist heute bei weitem das reichste Dorf Chinas, und
seine Einwohner sind immer noch seine Besitzer: Den 400 Familien
gehören die großen Industriewerke, die nun auch als
genossenschaftliche Unternehmen an der chinesischen Börse notiert
sind. Den Wohlstand jeder Besitzerfamilie mit umgerechnet etwa
100.000 Euro aber erzeugen 30.000 Wanderarbeiter, die in den
Werkshallen zu Billigstlöhnen schuften. Der Sohn des alten
Parteisekretärs Wu hat das Amt seines Vaters übernommen, heißt nun
aber Generaldirektor und sieht auch wie einer aus. Doch auch er
lässt über die vielen Lautsprecher an den Straßen immer wieder die
Hymne spielen: »Sozialismus ist das Beste«.
In Peking hat Xi Jinping, seit November 2012
Generalsekretär der kommunistischen Partei, versprochen, den
»Chinesischen Traum« der großen Wiedergeburt des Landes zu
verwirklichen – vielleicht als Weltmacht, vielleicht als
Wohlfahrtsstaat. Was immer von der chinesischen Politik verkündet
wird, ist widersprüchlich. Das Verhältnis zu Russland bleibt
unberechenbar, auch wenn Peking keine territorialen Ansprüche mehr
auf Teile von Sibirien erhebt. Der Nachbar Nordkorea ist seit dem
Ende des Kriegs vor über sechzig Jahren abhängig vom Schutz durch
den einzigen Verbündeten China, aber die nordkoreanische Führung
lässt sich von Peking nicht kontrollieren. Überhaupt scheint offen,
inwieweit China in der Lage sein wird, seine riesige
wirtschaftliche Kraft in der Region und darüber hinaus in
politischen Einfluss umzusetzen.
Mit der Wahl des ersten schwarzen
Präsidenten hat sich in den USA
eine dramatische Veränderung vollzogen. Doch wo ich ehemaligen
Bekannten oder Kollegen begegnete, traf ich auf widersprüchliche
Vorstellungen von dem, was Amerika und die Welt brauchen. In
Chicago hatte ich vor fünfzig Jahren jenes Wohnviertel besucht, das
damals als einziges seiner Art in den USA nicht von der Rassentrennung
gekennzeichnet war. Schwarze und Weiße hatten dort seit den
sechziger Jahren nebeneinander und in denselben Häusern gewohnt –
überwiegend linksliberale Intellektuelle, zum großen Teil von der
Universität Chicago. Auch die Mutter des Präsidenten Barack Obama
hatte in dem Viertel gelebt, und Obama hatte dort Menschen
kennengelernt, in deren politischem Denken die Hautfarbe keine
bestimmende Rolle spielte. Nun regiert er als erster Schwarzer ein
Land, das die extremen Härten der Rassenkonflikte überwunden hat
und in dem sich das Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen durch
die große Zuwanderung aus Lateinamerika zu verschieben beginnt.
Unklar bleibt noch, welche Konsequenzen solche Veränderungen für
die amerikanische Innen- und Außenpolitik mit sich bringen. Nach
dem Zweiten Weltkrieg sah sich Amerika in der Rolle des bewaffneten
Beschützers der Demokratie in aller Welt, aber die Bereitschaft,
sich militärisch in anderen Ländern zu engagieren, hat im letzten
Jahrzehnt nach den negativen Erfahrungen im Irak und in Afghanistan
deutlich nachgelassen. Neue Kriegstechniken, wie der Einsatz von
Drohnen, werden den USA die
moralische Auseinandersetzung über derartige Einsätze nicht
ersparen. Amerika ist mächtiger als alle anderen, aber es hat
bisher keine umfassenden neuen Ideen für seine Politik gegenüber
den Staaten der Dritten Welt, gegenüber Russland und der neuen
Großmacht China gefunden, die die eigenen Bürger überzeugen. Der
Mehrheit der Amerikaner steht nicht der Sinn nach weiteren großen
militärischen Unternehmungen oder einem stärkeren Engagement in der
internationalen Politik.
In Europa haben die Zwänge der
Innenpolitik und die Auswirkungen von Wirtschafts- und Finanzkrise
dem Europa-Idealismus klare Grenzen aufgezeigt. Die
Auseinandersetzung um die Zukunft des Kontinents tritt hinter
wirtschafts- und sozialpolitische Erwartungen zurück, und dem
früheren Enthusiasmus der neu gegründeten Europäischen Gemeinschaft
ist der ärgerliche und quälende Streit über die Verteilung der
Leistungen von Wirtschafts- und Finanzpolitik gefolgt. Die Zeit der
großen Hoffnung auf ein neues Europa, das auf gemeinsame
Entschlüsse setzt, scheint vorüber. Und dabei können doch auch bei
unseren Nachbarn Spannungen und Gegensätze wieder zutage treten,
die gemeinhin als überwunden galten. In den Ländern des ehemaligen
Jugoslawien etwa, mehr als zehn Jahre nach den Kriegen auf dem
Balkan, entstehen im Streit der nationalistischen und
wirtschaftlichen Ansprüche neue politische Strukturen, unter denen
alte Feindseligkeiten rumoren.
Auch in anderen Weltgegenden sind langjährige
Konflikte nicht geregelt oder neue Krisenherde entstanden. So gibt
es trotz der zahlreichen Friedensmissionen im Nahen Osten bis heute
keine Lösung im israelisch-arabischen Konflikt, und auch zahlreiche
afrikanische Staaten laufen Gefahr, durch ethnische oder religiöse
Konfrontationen zerrissen zu werden. Die gewaltigen, blutigen
Schrecken, die Zeiten der Diktaturen eines Hitler, Stalin oder Mao,
sind zwar vorbei, doch die Leiden, denen die Weltpolitik auch heute
noch Menschen in vielen Ländern unterwirft, sind es nicht.
Mit der Welt hat sich auch das Leben und
die Arbeit von uns Journalisten verändert – nicht zuletzt durch die
Hightech-Entwicklungen des letzten Jahrzehnts, die den
Heimatredaktionen in kürzester Zeit Nachrichten auf den Tisch
liefern. Wo in der Unübersichtlichkeit der neuen Konflikte selbst
Regierungen und ihre Geheimdienste mit blitzschnellen, aber kaum
kontrollierbaren Informationen operieren müssen, fällt es auch
Journalisten schwer, Meldungen richtig einzuschätzen. Mächtige
Wirtschaftsverbände und Unternehmen bauen Nachrichtenlandschaften
auf, die in die Irre führen können. Quotendruck und die Nachfrage
nach emotionaler Schnellberichterstattung haben dafür gesorgt, dass
trotz der besseren Reisebedingungen und des unmittelbaren Zugangs
zu Bildern und Informationen die Korrespondentenarbeit nicht
leichter und nicht ungefährlicher geworden ist.
Also sind drei Sprüche, die ich als junger
Journalist auf Reisen durch die Trümmerlandschaften der Weltpolitik
lernte, wohl gültig geblieben. »Die Katastrophen sind die
Saturnalien der Journalisten«, hatte mir einst ein Schweizer
Kollege gesagt – eine ironische Warnung davor, vor allem die
schrecklichen Ereignisse als journalistisch relevant zu betrachten,
sich von dramatischen Sensationen blenden zu lassen und dadurch
Abstand und Überblick zu verlieren. Nur scheinbar im Gegensatz dazu
steht jene andere, einfache Redeweisheit: »Neugier und gesunde
Beine sind das Wichtigste für einen Journalisten.« Und schließlich:
»Das Leben besteht aus Fragen und Antworten und Fragen und
Antworten, die zur nächsten Frage führen.«