Gottes eigenes Panoptikum

Erste Auslandsreportagen
1950–1954
Auf mich schien allerdings niemand mit besonderem Interesse gewartet zu haben, als ich mich im Frühjahr 1950 in Belgrad bei der Presseabteilung des Außenministeriums vorstellte. Man teilte mir lediglich mit, in welchem Hotel ein Zimmer für mich gebucht sei und dass ich mich zwei Tage später wieder beim Außenministerium vorstellen solle. Immerhin hatte ich Glück: In der Hotelhalle saß der Korrespondent einer großen Schweizer Zeitung, ein älterer Mann mit langjähriger Erfahrung, der in den dreißiger Jahren als Emigrant aus Berlin nach Bern gekommen war und dann nach Kriegsende regelmäßig als Korrespondent nach Jugoslawien reiste. Kurz darauf traf ich noch den Kollegen einer weiteren Zeitung aus der Schweiz, einen hochintelligenten ehemaligen Trotzkisten, der im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte, und schließlich als dritten ausländischen Journalisten einen jungen Engländer. Wir vier waren eine seltsame kleine Gruppe, verbunden durch unsere politische Neugier und die wenig erfolgreichen Bemühungen, Kontakte mit Politikern, Beamten und Wirtschaftsleuten vor Ort herzustellen.
Jugoslawien, das sich zu Beginn der fünfziger Jahre dem dominierenden Einfluss Stalins entziehen wollte, war immer noch ein kommunistisches, sowjetisch geprägtes Land, streng überwacht durch die Geheimpolizei. Hinter den Kulissen tobte zu der Zeit ein innerparteilicher Machtkampf. Ministerpräsident Tito und seinen Kameraden aus dem Partisanenkampf des Zweiten Weltkriegs standen die Funktionäre aus der Parteibürokratie gegenüber, die sich und ihr Land dem Moskauer Herrschaftsbereich anpassen wollten. Alle meine Begegnungen mit jugoslawischen Offiziellen vollzogen sich daher in einer Atmosphäre der Doppeldeutigkeit und Vorsicht. Gleichgültig, ob wir über Weltpolitik, Industrialisierung oder die Landwirtschaft in den neuen Kollektivbetrieben sprachen – alles, was man mir erzählte, schien weniger meiner Information zu dienen, als vielmehr von den taktischen Auseinandersetzungen im Parteiapparat bestimmt zu sein. Wenn wir mit einheimischen Journalistenkollegen zusammen aßen und dabei mitunter reichlich Sliwowitz tranken, waren wir uns sympathisch, manchmal fast wie Freunde, aber sobald wir über Innen- oder Außenpolitik sprachen, wurde die Atmosphäre kühl und berechnend. Für mich hatte man einige Reisen vorbereitet, bei denen ich außerhalb von Belgrad und zum Teil weiter entfernt, in Montenegro und Mazedonien, landwirtschaftliche und industrielle Großbetriebe sowie Stadt- und Ortsverwaltungen besichtigen durfte. Offene Gespräche, etwa mit Studenten an den Universitäten, kamen dabei aber nie zustande. Unterwegs saß ich häufiger abends mit dem offiziellen Begleiter und dem Fahrer zusammen und versuchte ein bisschen mehr über das Leben in Jugoslawien zu erfahren. Über Politik hörte ich wenig Neues, weil sie Titos Rolle zwischen Stalins Sowjetunion und dem amerikanisch geführten Westen selbst nicht einschätzen konnten und über die Spannungen in der jugoslawischen Führung nicht reden wollten. Doch über den Alltag und seine Schwierigkeiten, über ihre Hoffnungen und ihre Befürchtungen redeten sie ziemlich offen mit mir.
So mühsam die Arbeit war, so spannend war die Frage, welchen Kurs ein von Moskau unabhängiges Jugoslawien einschlagen würde – falls eine solche Selbständigkeit überhaupt möglich war. Denn immer noch bestand die Gefahr, dass die sowjetische Armee von den Nachbarländern Ungarn oder Rumänien aus nach Jugoslawien einrücken könnte. Das, so unsere damalige Einschätzung, hätte nicht zu einem schnellen Sieg des Moskauer Lagers geführt, sondern zu einer Wiederbelebung des blutigen Partisanenkriegs, mit dem sich Tito und seine Anhänger lange und heftig zur Wehr setzen würden. Mit meinen Berichten wollte ich den deutschen Hörern verständlich machen, welche Chancen die jugoslawische Entwicklung für Osteuropa bieten könnte, aber auch welche Gefahren damit verbunden waren. Allerdings blieb es schon technisch außerordentlich schwierig, mit diesen Informationen die Redaktion in Deutschland überhaupt zu erreichen. Telefonisch oder fernschriftlich war nichts zu machen. Ich wäre völlig abgeschnitten gewesen, wenn mir nicht die beiden Schweizer Kollegen geholfen hätten. Sie waren schon seit Monaten in Belgrad, kannten halblegale Verbindungswege und schleusten so dreimal ein Manuskript von mir über ihre Schweizer Redaktionen zum WDR nach Deutschland. Da aber auch sie nicht riskieren konnten, für mich Geld über die Grenzen nach Belgrad zu bringen, war klar, dass mein Aufenthalt schon bald zu Ende gehen würde.
Im Hotel Majestique wohnten fast ausschließlich Geschäftsleute aus dem Westen. In der undurchsichtigen Situation, in der sich Jugoslawien befand, sondierten sie die Möglichkeiten, diesen selbständigen kommunistischen Staat durch Finanz- und Handelsbeziehungen zu erschließen. Manche von ihnen erschienen mir als reichlich zwielichtige Gestalten der internationalen Finanzwelt. Bei den Millionengeschäften, die sie durchzuziehen versuchten, spielten die hohen Hotel- und Reisekosten offensichtlich keine Rolle. Gelegentlich wurden wir Korrespondenten von einem fast siebzigjährigen Amerikaner eingeladen, einem Arzt, der Jahre zuvor Tito behandelt hatte und nun als eine Art Dauergast des Staatschefs im Hotelrestaurant seine Rechnungen bloß abzuzeichnen und nicht zu bezahlen brauchte. Offenbar suchte er die Nähe der jugoslawischen Freundin meines englischen Kollegen. Sie war eine hübsche Balletttänzerin und die einzige Jugoslawin in Belgrad, zu der wir eine Art freundschaftliche Beziehung unterhielten – bis wir entdeckten, dass sie gleichzeitig die Geliebte eines höheren Geheimdienstoffiziers war.
Eines Abends rief mich der Portier des Hotels an und sagte, ich würde in der Lobby von einem Mann aus Deutschland erwartet. Wir trafen uns dann in der Bar, beide ein wenig zurückhaltend, und er stellte sich vor: Wolfgang Leonhard. Ich hatte schon von ihm gehört, dachte aber, er lebe noch im Osten Berlins. Als einer der zehn Mitglieder der sogenannten Gruppe Ulbricht war er unmittelbar nach Ende der Kriegshandlungen aus der Sowjetunion nach Ostdeutschland gekommen. Diese kleine Gruppe deutscher kommunistischer Funktionäre sollte den Kern einer politischen Neuorganisation bilden. Wolfgang Leonhard war in der Sowjetunion aufgewachsen, nachdem seine kommunistische Mutter mit ihm vor der Verfolgung in Hitlerdeutschland geflohen war. In der DDR sollte er die Jugendarbeit organisieren und ideologisch verankern. Doch er war ernüchtert von den stalinistischen Verhältnissen und schließlich 1949 aus Ost-Berlin geflohen. Statt allerdings zum »westlichen Klassenfeind« überzulaufen, reiste er über die Tschechoslowakei nach Jugoslawien, in der Hoffnung, im Titoismus eine bessere Variante des marxistischen Sozialismus zu finden. Schon 1950 aber ging er doch in den Westen und beschrieb einige Jahre später den politischen Zustand der Sowjetunion in seinem berühmten Buch Die Revolution entlässt ihre Kinder. Bei aller Vorsicht, die wir uns in unserem ersten Gespräch in Belgrad auferlegten, war dies doch der Anfang einer langen Freundschaft. Seine Freundin erzählte mir später, Wolfgang habe an diesem Abend nachdenklich zu ihr gesagt: »Für einen Westdeutschen ist dieser Ruge doch ziemlich fortschrittlich.«
Jedenfalls war ich fest entschlossen, neugierig zu bleiben und meine Urteile nicht in erster Linie auf den Berichten und Erfahrungen anderer aufzubauen. Was ich schließlich aus Jugoslawien mitbrachte, waren daher vielleicht keine tiefschürfenden Analysen, aber dafür erste Augenzeugenberichte aus einer osteuropäischen, kommunistischen Welt im Umbruch. Außerdem wusste ich nun, dass man mit einigem Glück und trotz aller Schwierigkeiten auch als junger Deutscher fünf Jahre nach dem Krieg fremde Länder und Gesellschaften aus der Nähe kennenlernen konnte.
Ich war erst zweiundzwanzig, als ich mich 1950 um eine Amerikareise bewarb, zu der das US-Außenministerium ein halbes Dutzend Rundfunkjournalisten aus Deutschland einladen wollte. Vor der amerikanischen Auswahlkommission äußerte ich ganz schlicht und offen meinen Wunsch, das Land mit eigenen Augen zu sehen, was anscheinend gut ankam. Dass ich nach dem Kurs in der Dolmetscherschule ziemlich gut Englisch sprach, war sicher auch ein Pluspunkt. Und da es bei den Amerikanern eine gewisse Neugierde auf die allerjüngste deutsche Journalistengeneration gab, gehörte ich schließlich zusammen mit sechs Kollegen zu der Gruppe von Radiojournalisten, die nun erstmals nach Kriegsende eine Einladung für eine mehrwöchige Reise ins Gelobte Land bekamen.
Vor der großen Überfahrt von Bremen nach New York suchte meine Mutter für mich auf dem Dachboden Knickerbocker-Hosen und Shuffleboard-Schläger heraus, schicke Sportgeräte, die sie noch von den Seereisen mit ihrer Mutter kannte. Die Schläger ließ ich allerdings über Bord fallen, sobald das Schiff aus der Wesermündung in die Nordsee bog. Auf dem amerikanischen Truppentransporter hätten die Soldaten nur darüber gestaunt und gelacht, und in der Sechserkabine mit den doppelstöckigen Betten wäre es mir wohl kaum gelungen, die Schläger vor den mitreisenden Soldaten zu verstecken. Wir hatten unsere Kojen im Mannschaftsdeck, aber Kontakte mit den GIs gab es kaum. An Gesprächen mit Deutschen waren die meisten nicht besonders interessiert. Ihre Zeit in Europa war vorbei, nun unterhielten sie sich über ihre Zukunft in Amerika. Die deutschen Kollegen in unserer Gruppe waren viel älter und erfahrener als ich, aber gegenüber den amerikanischen Soldaten eher unsicher und überheblich.
An einem frühen Nachmittag lief unser Schiff in den Hudson River ein. Wir standen an der Reling und staunten über die New Yorker Wolkenkratzer-Kulisse. Ein Bus brachte uns schließlich durch die Straßenschluchten zu einem großen Studentenheim der Rockefeller-Stiftung. Ich war viel zu aufgeregt, um mich in meinem Zimmer zu erholen, wie es der Reiseleiter empfohlen hatte. Schon eine halbe Stunde nach der Ankunft war ich mit einem Kollegen wieder unterwegs, und bei Sonnenuntergang standen wir auf der Aussichtsplattform des Empire State Building, fasziniert von den glitzernden Fensterfronten der Hochhäuser, hinter denen eine unendliche Zahl von Lichtern aufleuchtete. Von einer Wolkenkratzer-Stadt hatten wir natürlich schon in Deutschland gelesen, auch Fotografien gesehen, aber die Wirklichkeit war nun ein überwältigendes Erlebnis. Fast bis Mitternacht blickten wir von oben rundum auf dieses Städtewunder, das einer anderen Welt und einem anderen Jahrhundert anzugehören schien.
Das State Department hatte einen Politologen beauftragt, uns Amerika zu zeigen und zu erklären. Der Mann, ein bekannter österreichischer Akademiker, der nach Amerika emigriert war, hatte freilich keine allzu große Lust, uns Journalisten die komplizierten Zusammenhänge in seinem neuen Heimatland nahezubringen. Am zweiten Abend saßen wir mit ihm in der Bibliothek des Studentenheims, wo er über die amerikanische Innenpolitik referierte. Ein junger Schwarzer hatte zuvor in dem Raum Klavier gespielt, lehnte nun im Halbschlaf auf dem Flügel und wartete darauf, dass wir wieder gingen. Als sich die Runde schließlich wieder auflöste, musizierte er weiter, schön und jazzig, wie ich fand, und so blieb ich sitzen, um ihm zuzuhören. Nach einer halben Stunde kamen wir ins Gespräch. Er erzählte mir, dass er an diesem Abend ein kleines Konzert geben würde, um damit etwas Geld zu verdienen. Leider aber besitze er kein Jackett, und in Hemdsärmeln könne er nicht auftreten. Ob ich ihm wohl für diesen Abend meine Jacke leihen könne? Am nächsten Morgen wolle er sie mir zurückbringen. Was sollte ich machen? Wir kannten uns nicht, aber ich fand ihn nett, und irgendwie wäre es mir peinlich gewesen, ihm seine Bitte abzuschlagen. Er verschwand dann mit meiner Jacke, und ich hatte eine etwas unruhige Nacht, aber tatsächlich klopfte er am nächsten Morgen um sieben an meine Tür und brachte sie zurück. Er habe am Abend noch ein Konzert, sagte er, und wenn ich noch eine zweite Jacke hätte, würde er mich mitnehmen.
Also trafen wir uns am Abend wieder. Tagsüber hatte unsere Gruppe eine große Besichtigungstour durch New York gemacht, die uns vom Bankenviertel an der Wall Street über das Boheme-Viertel Greenwich Village und die eleganten Ladenstraßen um die Fifth Avenue bis zur Studentenmensa der Columbia-Universität geführt hatte. Nun zog mein neuer Freund zu Fuß mit mir los. Wir gingen bloß fünfzehn Minuten Richtung Norden und waren doch plötzlich gänzlich anderswo. Mir war etwas unheimlich zumute, denn ich sah keine Weißen mehr, nur noch Schwarze, die man damals auch in Harlem noch ganz unbefangen »negroes« nannte. Auf den Straßen herrschte lautes, quirliges Leben. Mein Freund zeigte mir ein paar Theater und Bars und erzählte, was in Harlem gerade angesagt sei.
Zu meiner Überraschung fand das Konzert nicht in einem Saal, sondern in einer großen Privatwohnung statt, einem Apartment mit vielen Zimmern. Mein Freund setzte sich im großen Empfangsraum an den Flügel und begann zu spielen. Um mich herum kein einziges weißes Gesicht, stattdessen eine Reihe junger schwarzer Frauen, ziemlich sexy aufgemacht. Ab und zu kamen recht smart gekleidete, aber nicht sonderlich seriös wirkende Männer, redeten mit den Frauen und verschwanden mit der einen oder anderen im Nebenzimmer. Mich beäugten sie neugierig und ein bisschen misstrauisch. Mein Freund gab ein Konzert besonderer Art: Er spielte in einem Bordell. Zwischendurch fragte ihn eine der Frauen, wieso er mich mitgebracht habe, und dann erzählte er, ich sei ein besonders netter Deutscher, überhaupt kein Rassist und so hilfsbereit, dass ich ihm sogar meine Jacke geliehen hätte. Das fanden die Damen und ihre Kunden offenbar bemerkenswert, und einige versuchten, mit mir ins Gespräch zu kommen. Sie hatten noch nie mit einem Weißen zusammengesessen, schon gar nicht mit einem Deutschen. Es beunruhigte mich ein wenig, als sie fragten, wie viel Geld ich bei mir hätte. Sie luden den jungen Pianisten und mich schließlich zum Cocktail ein. Zwei der Männer, die sich zu uns gesellten, waren als Besatzungssoldaten in Deutschland gewesen, wo es ihnen gefallen hatte. Nazis oder Rassisten seien ihnen dort nicht begegnet, erzählte einer der beiden.
Dann machte ich mich allein auf den Rückweg zum Studentenheim und lief durch ein lebhaftes schwarzes Vergnügungsviertel. Manchem weißen New Yorker, erfuhr ich später, hätte ein nächtlicher Spaziergang dort Angst bereitet. Für mich hingegen war das alles nur fremd, und als ich nach zehn Minuten allmählich in die fast menschenleeren Straßen des weißen New York kam, fühlte ich mich dort keineswegs sicherer, sondern eher einsam.
Meine deutschen Kollegen und der österreichisch-amerikanische Politologe hielten mich einfach nur für verrückt, als sie von meinem nächtlichen Abenteuer hörten. Nur Clark Foreman, der Assistent des Politologen, war von dem Ausflug fasziniert und setzte sich zu einem längeren Gespräch mit mir zusammen. Er sollte für jeden der deutschen Journalisten eine Besuchs- und Reiseroute organisieren und kümmerte sich von nun an besonders um mich. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass er zwar im Auftrag des State Department arbeitete, politisch aber zum äußersten linken Flügel der Demokratischen Partei gehörte. Er stand nicht für die Politik von Präsident Truman, sondern näher bei dem ehemaligen Vizepräsidenten Henry Wallace. Dessen Progressive Party – Wallace hatte mit ihr 1948 die Präsidentschaftswahl verloren – fand ich in ihrer Einschätzung der Sowjetunion und der Kommunisten zwar ziemlich wirklichkeitsfern und sozialromantisch, aber Foreman kannte Theorie und Praxis der Rassenkonflikte in den USA, die lange nach dem Ende der Sklaverei noch immer die Grundlagen der amerikanischen Innenpolitik mitbestimmten.
So lernte ich, zehn Jahre vor dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung und bevor die Fragen der Gleichberechtigung zu wachsenden Spannungen und Zusammenstößen führten, über Clark Foreman einige der zukünftigen Anführer und Organisatoren, Sänger und Musiker kennen, die später den Protestbewegungen gegen Rassenungleichheit oder gegen den Vietnamkrieg ihr Gesicht und ihre Stimme geben sollten. Stärker noch als in anderen Städten kündigte sich in New York schon zu Beginn der fünfziger Jahre die tiefgreifende Veränderung an, die Amerika ein Jahrzehnt später erschüttern sollte, und ich traf auf kleinen Partys oder in Jazzclubs die Leute, über die ich Kontakt zu den schwarzen und weißen Gegnern der Rassentrennung finden konnte.
In weiten Teilen des Landes, und nicht nur in seinen südlichen Staaten, war die Segregation schlichtweg eine allgemein akzeptierte Tatsache. Einer meiner älteren deutschen Kollegen formulierte das so: »Wenn es der großen Mehrheit der Bürger eines Landes so gut geht wie hier, aber fünfzehn Prozent in schlechten Verhältnissen leben, dann muss man jede Veränderung vermeiden, durch die die Mehrheit in ein schlechteres Leben gezwungen wird.« Darin war er sich mit den allermeisten weißen Amerikanern einig, von denen manche die Gleichberechtigung als Prinzip akzeptierten, die Rassentrennung aber für durchaus gerechtfertigt hielten. Ich hatte solche Gedanken zunächst ebenfalls einleuchtend gefunden – ehe ich über meine neuen Freunde die Realität der Rassendiskriminierung kennenlernte.
Clark Foreman hatte für mich eine Busfahrt in die Südstaaten der USA gebucht. Das Ziel meiner Reise war die Highlander Folk School in Monteagle, Tennessee. Auf halbem Weg dorthin erlebte ich meinen ersten Schock. In der Busstation von Richmond, Virginia, hingen Schilder mit den Worten »White« und »Colored« an den Türen der Toiletten und an den Trinkwasserspendern. Im Bus durften die Schwarzen nur auf den hinteren Plätzen sitzen. Für sie war es nicht nur verboten, sondern geradezu lebensgefährlich, sich einen Platz zwischen den Weißen zu suchen. Von nun an galt das auf allen Busstationen bis zur südlichen Grenze der USA.
Die Highlander Folk School war eine Mischung zwischen Heimschule und Volkshochschule. Ursprünglich, im Jahr 1932, war sie für die Ausbildung von Mitgliedern der Landarbeitergewerkschaft gegründet worden, und auch noch Anfang der fünfziger Jahre wurde hier Hilfe für die Männer organisiert, die auf den Farmen Lohnarbeit verrichteten und ohne jegliche Rechte waren. An der Schule wurden weiße Gewerkschafter und Studenten mit Techniken des Widerstands vertraut gemacht, mit denen sie sich gegen die unbeschränkte Ausbeutung wehren konnten. Das brachte die Einrichtung nicht nur ständig in Gefahr, von den lokalen Behörden und Gerichten geschlossen zu werden, sondern trug ihr auch den Ruf einer Art kommunistischer Institution ein, die keinerlei staatlichen Schutz verdiente. Alle paar Wochen stoppten vorbeifahrende Autos. Dann zogen Schüler und Lehrer den Kopf ein und kauerten auf dem Boden der Klassenräume, weil manchmal aus solchen Autos heraus auf die Fenster des Schulgebäudes geschossen wurde. Weder der örtliche Sheriff noch die Gerichte gingen gegen solche Überfälle vor, die an der Außenwand der Schule ihre Spuren hinterlassen hatten.
In der ersten Hälfte der fünfziger Jahre wendete sich die Schule immer stärker dem Kampf gegen die Segregation zu und holte nun immer mehr Schwarze in ihre Kurse. Dadurch wurde die Highlander Folk School auch im Norden der USA bekannt. Angesehene Wissenschaftler, Theologen, Schriftsteller und Musiker unterstützten die Einrichtung, später kam sogar Eleanor Roosevelt, die charismatische Witwe des ehemaligen Präsidenten, zu Besuch. Zu denen, die sich dort ausbilden ließen, gehörte auch ein junger schwarzer Geistlicher, Martin Luther King. Er ließ sich hier in die Philosophie und Praxis des gewaltlosen Widerstands einführen, ebenso wie Rosa Parks, die sich am 1. Dezember 1955 in Montgomery im Bundesstaat Alabama weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für einen Weißen freizumachen. Damit löste sie in der Stadt monatelange Proteste gegen die Rassentrennung in Autobussen, Zügen, Restaurants, Hotels oder Kinos aus. An der Schule sammelte man aber auch die Lieder der armen Weißen aus den Tennessee Mountains und anderen Regionen. Einem alten protestantischen Kirchenlied aus dieser Tradition begegnete ich dort zum ersten Mal. Zehn Jahre später sollte »We shall overcome« zur Hymne der Bürgerrechtsbewegung werden, gesungen von Hunderttausenden auf den Demonstrationen in den Großstädten und in der Hauptstadt Washington.
Mich hat die frühe Begegnung mit Menschen, die für Gleichberechtigung und Meinungsfreiheit kämpften, sicher davor bewahrt, in jenen blinden Antiamerikanismus zu verfallen, der später die kritische Haltung vieler junger Europäer mitgeprägt hat. Als ich die Highlander Folk School nach einigen Tagen wieder verließ, ging meine Reise weiter durch die Kornfelder des Mittleren Westens und durch die Industriestädte des Ostens. Auch meine Erlebnisse im weiteren Verlauf der Fahrt zeigten mir deutlich, dass sich meine Erwartungen an das reiche und mächtige Amerika keineswegs auf die Alltagswirklichkeit des Landes übertragen ließen. Was ich in meiner ersten großen Reisereportage über das Hinterland der modernen Städte schrieb, weiß ich nicht mehr genau. Aber der Titel, scheint mir, spricht für sich: »Gottes eigenes Panoptikum«.
Viele, denen ich begegnete, waren neugierig zu hören, was ein junger Deutscher wenige Jahre nach dem Ende der Hitlerherrschaft dachte und sagte. Vor allem in New York mit seinen zahlreichen Intellektuellen und jüdischen Emigranten fragte man mich nach den politischen Vorstellungen in meiner Heimat. Im Mittleren Westen und den kleineren Städten dagegen, auf den Partys des Mittelstands, der Ärzte, Anwälte und Geschäftsleute, erschöpfte sich das Interesse an der deutschen Vergangenheit und Gegenwart meist ziemlich schnell. Zu Hause hatten mich Kollegen gewarnt, ich würde in Amerika auf eine regelrechte Deutschfeindlichkeit stoßen. Aber eine solche Haltung war kaum zu bemerken. Einmal allerdings überraschte mich eine Frau, als ich ihr vorgestellt wurde. »Oh really«, sagte sie zu mir, »I never thought I’d see a real Nazi alive.« Und dann fing sie an, mich regelrecht zu bemuttern.
Einige Tage verbrachte ich auch in Madison, wo ich mit amerikanischen Studenten ins Gespräch kam. Im Bundesstaat Wisconsin mit seinen vielen Einwohnern deutscher Abstammung, mit seinen deutschen Brauereien und dem deutschen Ordnungssinn stellten mir die jungen Amerikaner kaum Fragen nach den Nazijahren. Gleichzeitig stand für sie unumstößlich fest, dass Amerika das beste aller Länder sei. Sie überlegten allen Ernstes, wie ich wohl an ein amerikanisches Einwanderungsvisum gelangen könne, und heckten schließlich einen Plan aus: Zwei Studenten, die für die Armee gemustert werden sollten, würden mich mitnehmen und dort einschmuggeln. Mein Englisch sei gut genug, und es gebe dort so wenig Bürokratie, dass man mich glatt als kriegsdiensttauglich durchwinken würde. Dann wäre es nur noch ein kleiner Schritt, ich würde in die Armee rutschen und bekäme ein oder zwei Jahre später die amerikanische Staatsbürgerschaft. Ich glaubte inzwischen zwar, dass in Amerika alles möglich sei, aber davor schreckte ich doch zurück – zumal gerade in Korea aus dem Kalten Krieg zwischen Ost und West ein heißer Krieg geworden war. Als meine Zeit in Amerika nach drei Monaten zu Ende ging, hätte ich sehr gern aus der Nähe beobachtet, wie sich die großen und kleineren Mächte (unter amerikanischer Führung als UNO-Truppen zusammengefasst) in dieser bedrohlichen Krise verhielten, aber nicht gerade als US-Soldat oder in einer der anderen Einheiten, die unter dem Kommando der Vereinten Nationen den Süden der koreanischen Halbinsel zurückerobern sollten.
So kehrte ich nach Köln zurück und arbeitete zunächst in der Regionalredaktion, die im Land zwischen Rhein und Weser nach interessanten Themen suchte und über das Leben in den schwer zerstörten Industriestädten an der Ruhr berichtete. Wahrscheinlich tat mir das ganz gut, denn gerade in der Lokalberichterstattung kann man einiges lernen. Kommentare und Leitartikel zur Welt- und Kulturpolitik oder zur wirtschaftspolitischen Großwetterlage sind manchmal einfacher zu schreiben als Berichte über regionale Ereignisse – da genügt ein kleiner Fehler, um einen Bürgermeister oder Landespolitiker zu einem verbissenen Protest zu veranlassen. Schließlich nutzte ich dann aber doch die erste Gelegenheit, als Augenzeuge aus Korea zu berichten, als deutscher Journalist, nicht als US-Soldat.
Fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte es so ausgesehen, als würden sich die großen Weltmächte in Ostasien in einen neuen Konflikt stürzen. Mitte 1950 waren die amerikanischen Besatzungstruppen und die südkoreanische Armee nach einem Überraschungsangriff des Nordens bis zur Südspitze der koreanischen Halbinsel zurückgedrängt worden. Nach der dramatischen Wendung, die der Kriegseintritt Chinas gebracht hatte, einigten sich Ost und West im Juli 1953 auf einen Waffenstillstand, der die Teilung des Landes besiegelte und dem, wie gesagt, bis heute kein Friedensschluss gefolgt ist. Der Koreakrieg veränderte die allgemeine Einschätzung der Ost-West-Spannungen. Die Gefahr einer neuen Auseinandersetzung auch in Europa stand allen plötzlich vor Augen, und die Alliierten sahen in den Westdeutschen nun nicht mehr nur die ehemaligen Feinde, sondern auch Verbündete, die ihnen helfen könnten, einen Angriff der Sowjetunion zu verhindern oder aufzuhalten.
Ende 1953 stellte die Bundesrepublik Deutschland den Vereinten Nationen ein Feldlazarett für den Einsatz in Korea zur Verfügung – kein Militärlazarett, aber eines, in dem Ärzte und Schwestern vom Deutschen Roten Kreuz Verwundete und Kranke behandeln sollten. Wo es ein deutsches Lazarett gab, so meine Überlegung, mussten eigentlich auch deutsche Journalisten die Genehmigung zur Berichterstattung bekommen. So wandte ich mich mit meinem Anliegen an die zuständigen zivilen und militärischen Einrichtungen der Amerikaner und hatte Glück: Mit einer Befürwortung aus dem US-Verteidigungsministerium gelangte ich an den Pressedienst der Vereinten Nationen. Von nun an ging alles reibungslos. Ich erhielt die Genehmigung, in der Sondermaschine mit dem Lazarett nach Korea zu fliegen, was auf deutscher Seite mehr Erstaunen und Vorbehalte weckte als bei den Amerikanern. Beim Zwischenstopp in Tokio begab ich mich sofort zur Pressestelle des UNO-Oberkommandos, und innerhalb eines Tages besaß ich einen Journalistenausweis und eine amerikanische Uniform, die deutlich mit »UN War Correspondent« gekennzeichnet war und mich als »Nichtkombattanten« auswies. Arbeitsbedingungen und Alltag der Kriegskorrespondenten waren genau, aber großzügig geregelt: Unterbringung in amerikanischen Militärunterkünften bei gleicher Behandlung, wie sie einem Oberst der US-Armee zustand. Ziemlich bemerkenswert für einen fünfundzwanzigjährigen deutschen Journalisten.
Auf dem Feldflughafen von Taegu, dem ersten Stopp auf koreanischem Boden, warteten außer mir noch fünf ältere Offiziere auf eine Militärmaschine nach Norden. Als sie gelandet war, teilte uns der Platzkommandant mit, dass in der Maschine leider nicht mehr für alle Platz sei. Er zog eine Streichholzschachtel aus der Tasche und hielt uns sechs Streichhölzer hin. Wer das kopflose Streichholz zog, musste auf ein anderes Flugzeug warten. Als es dann einen Oberstleutnant traf, wollte ich zu seinen Gunsten verzichten. Der Flugplatzkommandant aber verwarnte mich und meinte, ich dürfe die Regeln nicht verletzen. Dies war meine erste Begegnung mit dem militärischen Reglement der Amerikaner – eine solch privilegierte Behandlung für einen jungen Journalisten hätte ich mir in einer deutschen Armee nicht vorstellen können. Als ich meinem Nebenmann im Flugzeug, einem amerikanischen Zeitungskorrespondenten, von dem Vorfall erzählte, war auch er geradezu empört über den Versuch, einem Offizier den Vorrang einzuräumen. Wenn so etwas einmal einreiße, dann würden am Ende alle Journalisten, auch die amerikanischen, Schwierigkeiten bekommen, meinte er.
Damit endeten die Überraschungen allerdings nicht. Im Pressecamp von Pusan gab es ein Einzelzimmer für mich, und beim Frühstück trat ein Unteroffizier an meinen Tisch und fragte: »Können Sie Auto fahren?« Als ich bejahte, stellte er mir einen Militärführerschein aus und drückte ihn mir mit den Worten in die Hand: »Ihr Jeep steht unten im Hof, gute Fahrt!« Donnerwetter, dachte ich, die Rechte der Journalisten müssen gewaltig sein. Ganz so groß waren sie dann aber doch nicht, denn wie sich herausstellte, lag eine Verwechslung vor: Am Abend zuvor waren vier amerikanische Starjournalisten angekommen, und ihretwegen war die Richtlinie ausgegeben worden, sie ohne viele Fragen bevorzugt zu behandeln. Man hatte mich irrtümlich für einen von ihnen gehalten.
Über zweihundert akkreditierte Journalisten arbeiteten in Korea. Fast alle waren Amerikaner, dazu kamen ein Dutzend Engländer, drei oder vier Franzosen und einzelne Kollegen aus jenen UNO-Staaten, die Truppen nach Korea entsandt hatten. Ich war vor allem mit einem Belgier und einem Schweden zusammen. Für die Presseoffiziere waren wir die »Europäer«, exotische Außenseiter, die zu keiner militärischen Einheit gehörten, dabei auch keine Koreaner waren und sich trotzdem frei bewegen durften und Zugang zu amerikanischen Unterkünften und Kasinos hatten. Außerdem waren wir bei weitem die Jüngsten, alle drei etwa Mitte zwanzig, und entschlossen, möglichst nah an Informationen und Ereignisse heranzukommen. Tatsächlich waren wir dann manchmal in den Unterständen und Gräben oder auf Patrouille dichter an gefährlichen Situationen als unsere Kollegen, die von den Offizieren vorsichtig im Auge behalten wurden. Einige Monate später trafen wir drei uns in Indochina wieder, und in der letzten Phase des Kriegs, den die Franzosen dort führten, stieß noch ein junger Schweizer Fotograf zu unserer Gruppe.
Der Koreakrieg war ein Krieg, der nie zu Ende ging. Nach den Feldzügen, in denen bei Grabenkämpfen, Bombardierungen und Partisanenaktionen fast eine halbe Million Soldaten auf beiden Seiten ihr Leben verloren hatten, lagen sich die Armeen seit 1951 auf einer Linie mitten durch das Land in Bunkern und Grabenstellungen gegenüber. Es gab aber auch Einheiten, denen das zu langweilig war, meist aus kleineren Ländern, wie etwa die Frankokanadier, die im ersten Jahr des Waffenstillstands immer wieder nachts zu Patrouillenvorstößen aufbrachen, in Schießereien verwickelt wurden und gelegentlich mit einem gefangenen Nordkoreaner zurückkamen. Das alles machte sie bei den Einheiten, die neben ihnen an der Frontlinie lagen, nicht gerade beliebt, denn die waren ganz zufrieden damit, dass der Krieg nach dem Waffenstillstand einzuschlafen drohte. Uns drei Korrespondenten aus Europa interessierte vor allem, wie nach einer so mörderischen Auseinandersetzung ein Übergang zu einer friedlichen Lösung möglich war. Anders als die meisten unserer Kollegen beunruhigte uns die Frage, ob eine Verschärfung der Spannungen zwischen Ost und West auch in Europa zu blutigen Zusammenstößen und womöglich zu einem ausgewachsenen Krieg führen könnte. Die chinesische Armee war in Korea eingedrungen – könnte die Rote Armee in ähnlicher Weise nach Westeuropa vorstoßen? Und wie würde das Leben in einem Land weitergehen, das zwar keinen Krieg mehr führte, aber auch noch keinen Frieden hatte?
Nach einiger Zeit war ich nicht mehr UN War Correspondent, sondern ein normaler Auslandskorrespondent. Ich fuhr in kleine Städte und in Dörfer, die noch in Trümmern lagen. Das war manchmal gefährlicher als ein Aufenthalt in der Nähe des Frontverlaufs. An der Südspitze Koreas geriet ich einmal in einen umkämpften Landstrich, in dem sich weit von der Front entfernt kommunistische Partisanen und südkoreanische Polizeieinheiten völlig unübersichtliche Gefechte lieferten. Ein koreanischer Lehrer, der mich aus Hilfsbereitschaft und Neugier als Dolmetscher begleitete, merkte früher als ich und noch ehe geschossen wurde, dass wir uns zwischen gefährlich umkämpften Dörfern befanden. Schließlich konnten wir nur den Armee-Jeep zwischen ein paar zerfallenen Strohhütten stehenlassen und uns zu Fuß auf die Suche nach südkoreanischen Soldaten oder Polizisten machen. Wir waren erleichtert, als uns bald tatsächlich eine kleine Gruppe von Bereitschaftspolizisten umstellte. Als westlichen Ausländer akzeptierten sie mich. Mein Dolmetscher, der ihnen meine Ausweispapiere übersetzt hatte, war dagegen schlechter dran und wurde als Gefangener behandelt. Erst der Chef dieser Mannschaft erklärte ihn für frei und sorgte auch dafür, dass wir unseren Jeep unbeschädigt wiederbekamen. Schließlich tranken wir zusammen ein paar Schnäpse, und er nannte mir seinen Namen: Chief Tiger Kim. Solange wir bei ihm waren, hielt sich mein Dolmetscher respektvoll, ja fast furchtsam hinter mir. Erst am nächsten Morgen erzählte er mir, wer Chief Tiger Kim war: einer der blutrünstigsten Partisanenbekämpfer, ein Folterer, manche sagten Mörder. Mich hatte er eingeladen, in seinem Camp zu übernachten, nach einem guten Abendessen und mit hübschen Frauen. »Chief Tiger Kim – bloody best fuck in the world«, pries er sich an. Ich war ihm dankbar, dass er uns aus einer schwierigen Situation herausgeholt hatte, aber dieses Angebot mochte ich dann doch nicht annehmen.
In der südkoreanischen Hauptstadt Seoul begann sich das Leben allmählich zu normalisieren. Neben der UNO-Militärpräsenz gab es koreanische Verwaltungseinrichtungen und den Apparat des Präsidenten Syngman Rhee, der seine Macht mit einem diktatorischen Herrschaftssystem zu sichern suchte. Einmal bemühten wir drei jungen Korrespondenten uns um ein gemeinsames Interview mit ihm und seiner österreichischen Frau, was jedoch unter den amerikanischen Kollegen für Protest sorgte. Wieso sollten ausgerechnet diese jungen Männer aus irgendwelchen westeuropäischen Staaten Zugang zu Syngman Rhee bekommen? Die Engländer und Franzosen sahen das ähnlich. In einer Bar artete das Ganze schließlich in einen lauten Streit mit einigen amerikanischen Korrespondenten aus. Wir Europäer seien doch bloß Mitläufer, die sich um die Teilnahme an diesem Krieg drückten, ließen sie uns wissen. Ein Sergeant kam so in Fahrt, dass er uns aus der Bar prügeln wollte. Aber eine richtige Schlägerei wusste die Militärpolizei zum Glück zu verhindern. Aus unserem Interview wurde selbstverständlich nie etwas.
So hielt ich mich lieber an die Kontakte zu Koreanern, vor allem an Gespräche mit Lehrern und Professoren, die sich bemühten, an Kulturgütern und Geschichtszeugnissen zu retten, was die japanische Okkupation und den Krieg überlebt hatte. Einer der Direktoren des Nationalmuseums hatte in Deutschland studiert und freute sich, wieder einmal Deutsch sprechen zu können. Für mich bot sich umgekehrt die Möglichkeit, mit der koreanischen Kunst und Kultur in Berührung zu kommen. Gelegentlich konnte ich sogar ein bisschen mithelfen, wenn Kunstwerke aus den zerstörten Museen in den Händen von Ausländern auftauchten – für ein paar Dollar als Souvenir erstanden. Das meiste davon war nicht wirklich bedeutend, aber wenn man einen der neuen Besitzer überreden konnte, sein Kunstwerk an Museumsleute zu verkaufen oder manchmal auch zu verschenken, dann zeigten diese stolz die Siegel des zerstörten Museums, das die Stücke nun zurückbekam.
Viele der Koreaner sprachen gut Deutsch. Als ich meinen schwedischen Kollegen einmal beim Arzt abholte, war der koreanische Mediziner so begeistert, dass er sogar zu singen anfing: »In München steht ein Hofbräuhaus.« Das Lied kannte er noch aus seinen Studientagen in München, Mitte der dreißiger Jahre, in einer Zeit, die für ihn vielleicht die beste seines Lebens gewesen sei, meinte er. So gut sei die Hitlerzeit nun auch nicht gewesen, entgegnete ich. Als ausländischer Student sehe man das eben anders, sagte er daraufhin und wollte von mir wissen, was ich wohl an koreanischen Erinnerungen behalten würde. Tatsächlich kannte ich auch nur ein einheimisches Volkslied namens »Arirang«. Das hatten mir die Tänzerinnen vom Nationalballett beim Besuch einer ihrer Proben vorgesungen. Mehr als die schmalzige Melodie und das eine Wort »Arirang« hatte ich freilich nicht behalten.
Prosaischer und praktischer war der Kontakt mit koreanischen Journalisten und ihren ersten wiedergegründeten Zeitungen. Für Kookje Ilbo in Pusan, eine der ersten Zeitungen, die aus dem Trümmerchaos auftauchte, schrieb ich gelegentlich eine Kolumne über internationale Politik. Nicht weil ich ein besonders kenntnisreicher Leitartikler war, sondern weil sich koreanische Kollegen und Leser einfach für das interessierten, was Ausländer über die Weltlage dachten. Ich verdiente damit ein wenig Geld, das ich wahrlich gut gebrauchen konnte. Denn die Dollarscheine, die ich als kleines Päckchen aus Deutschland mitgebracht hatte, gingen zur Neige. Es gab keine Bankverbindung zwischen Korea und der Bundesrepublik, nicht einmal zwischen der Bundesrepublik und Japan. Im deutschen Lazarett lieh ich mir hin und wieder etwas Geld, woraufhin in Deutschland WDR-Kollegen den entsprechenden Betrag auf das Konto eines Arztes überwiesen. Auch die Manuskripte aktueller Berichte konnte ich bisweilen von dort nach Hause schicken.
Angesichts des zur Bewegungslosigkeit erstarrten Waffenstillstands im Korea wollte ich mir nun lieber von dem anderen Krieg in Asien, Frankreichs Verteidigung seiner Kolonialherrschaft in Indochina, ein eigenes Bild machen. Ich hatte sogar schon herausgefunden, wie ich nach Saigon, eine der beiden Hauptstädte der französischen Kolonie, gelangen konnte: Ein Rückflugticket Tokio–Düsseldorf ließ sich auf einen Stopp in der thailändischen Hauptstadt Bangkok umschreiben, und von Bangkok, so hatte mir mein belgischer Kollege erzählt, konnte man leicht nach Saigon weiterfliegen. Mein Problem blieb nur, dass ich kein Visum für Indochina besaß und, wie ich herausfand, auch nur schwer eines bekommen würde. Aus dem unbeschreiblichen Wirrwarr, in dem sich Frankreichs Kolonialpolitik befand, hatten zivile und militärische Instanzen verschiedenste Vorrechte für sich abgeleitet; dazu gab es noch die neu entstandene Bürokratie der vietnamesischen Übergangsregierung und einer teilweise selbständigen vietnamesischen Armee. Zum Ärger der Franzosen hatte sich diese von ihnen eingesetzte und unwillig geduldete Übergangsregierung ein nur scheinbar nebensächliches Recht, nämlich die Erteilung kurzfristiger Visa, gesichert. Mehr zufällig traf ich in Bangkok einen jungen vietnamesischen Offizier, der für die Vertretung dieser eigentlich nicht vorhandenen neuen vietnamesischen Regierung arbeitete. Wir waren ungefähr gleich alt und verstanden uns gut. Die Idee, dass ein deutscher Journalist in sein Land reisen würde, gefiel nicht nur ihm, sondern auch seinen Vorgesetzten. Ich erhielt mein Visum und konnte so die Kontrolle der französischen Behörden umgehen, die sehr aufmerksam darüber wachten, was international über das Schicksal der Vietnamesen bekannt wurde.
Nun zog ich also in das Hotel Majestic, einen Prachtbau am Saigon-Fluss. Für die französische Kolonialverwaltung war ich offiziell nicht existent. Von meinem neuen Freund in Bangkok hatte ich die Adresse eines Professors für Volkswirtschaft bekommen, bei dem er einige Jahre vorher studiert hatte. Mit ihm lernte ich einen der ersten Indochina-Vietnamesen kennen, die bei ihrem Studium in Frankreich von den Ideen und Ideologien der Linksintellektuellen geprägt worden waren. Sie waren überwiegend Trotzkisten und wurden von den Vietminh, den Verbündeten der Sowjetkommunisten, verfolgt. Ich traf in Vietnam auf eine für mich weitgehend undurchsichtige Mischung politischer Gruppierungen und hatte Kontakt zu Vertretern unterschiedlicher regionaler Machtzentren mit jeweils eigenen Söldnern und Kämpfern. Von ihnen wurde ich sozusagen von Hand zu Hand weitergereicht. Das war spannend, aber auch der Weg durch einen Irrgarten.
In Bangkok hatte ich Dollar zu einem guten Kurs in französische Kolonialfrancs getauscht. Als das Geld sehr bald knapp wurde, half ein abenteuerlicher Umweg über Südkorea: Noch in Pusan hatte mir die Zeitung Kookje Ilbo vorgeschlagen, meine Artikel zu drucken und anzubieten, denn sie war auch die Verteilungsstelle, über die die englische Nachrichtenagentur Reuters andere koreanische Zeitungen bediente. Nun lieferte ich ein paar Artikel beim Büro von Reuters ab, sie wurden nach Korea weitergeleitet, und ein paar Tage später zahlte man mir in Saigon das Honorar in Dollar aus – nicht viel, aber immerhin etwas. Eine Dauerlösung war das natürlich nicht. Als es ganz eng wurde, verkaufte ich meine Rolleicord-Kamera an den Direktor des Majestic Hotels, und mit dem Geld konnte ich schließlich noch den Flug von Bangkok nach Düsseldorf buchen.
Beinahe hätte ich allerdings die Heimreise noch einmal aufgeschoben. Wochenlang hatten die französischen Armeedienststellen meine Bitte um Zugang zu militärischen Stellungen oder Operationen abgelehnt. Kurz vor meiner Abreise nach Deutschland boten sie mir plötzlich an, mit ihren Truppen zu einem großen und entscheidenden Feldzug aufzubrechen: nach Dien Bien Phu im Norden des Landes, wo eine Schlacht die Überlegenheit der klassischen französischen Kriegführung über die Guerillatechnik der Vietminh beweisen sollte. Doch ich lehnte ab – auch weil ich bezweifelte, dass die französische Strategie Erfolg haben würde. Und tatsächlich erlitten die Franzosen im Mai 1954 eine entscheidende Niederlage, faktisch hatten sie den Krieg verloren. Fast zehntausend französische Soldaten waren gefallen, zehntausend in Gefangenschaft geraten, in der die meisten von ihnen nicht überlebten – darunter viele Deutsche, die aus der Kriegsgefangenschaft in die französische Fremdenlegion übergewechselt waren.
Eines jedenfalls hatte ich in meiner Arbeit als Kriegskorrespondent gelernt: Man tut gut daran, sich so weit wie irgend möglich von militärischen Stellen fernzuhalten. Später, während des Algerienkriegs, waren es die Geheimdienste, die uns Journalisten mit falschen Hinweisen beeinflussen oder verwirren sollten. Außerdem gab es auf französischer wie auf algerischer Seite Gruppierungen, die gegen ihre eigenen Landsleute agierten und uns Korrespondenten in gefährliche Aktionen hineinzuziehen versuchten. Eine andere abschreckende Erfahrung machte ich Ende der sechziger Jahre während des Kriegs in Vietnam. Ich kannte einige junge Amerikaner in wichtigen militärischen und politischen Positionen. Mit einem war ich schon lange befreundet, und wenigstens bei ihm war ich überzeugt davon, dass er mir zwar nicht die ganze Wahrheit erzählen konnte, mich aber auch nicht, wie er es dann tat, aktiv belügen würde. Man hat eben unweigerlich immer nur eine eingeschränkte Sicht auf das Geschehen, wenn man als Korrespondent bei militärischen Einheiten »embedded« ist und zusammen mit ihnen in die umkämpften Zonen fährt.
Als ich Anfang Mai 1954 in Düsseldorf aus dem Flugzeug stieg, hielt ich alles, was ich aus Ostasien mitgebracht hatte, unter dem Arm: einen Schuhkarton, der mit leuchtendem chinesischem Reklametext bedruckt war, darin Seife, ein Rasierapparat und ein kleines Handtuch; hinzu kam, was ich anhatte: ein kurzärmliges Khakihemd, eine olivgrüne Hose und Sandalen. Die Zollbeamten wunderten sich über den frierenden Ankömmling. Aber es war tatsächlich alles, was mir geblieben war. Der Rest war irgendwo zwischen Saigon und Bangkok verlorengegangen, darunter mein ohnehin kleiner Koffer und auch das Keramik-Trinkhorn, das mir mein koreanischer Kunsthistoriker-Freund aus den wiedergefundenen Stücken des zerstörten Nationalmuseums in Seoul herausgesucht hatte. Was leider auch fehlte: die meisten meiner Notizen, Manuskripte, Tonbänder und sämtliche Filmrollen. »Das hätte schlimmer kommen können«, meinte einer der Zollbeamten. Einerseits hatte er damit recht, andererseits konnte er nicht wissen, warum verlorenes Papier so viel für mich bedeutete. Immerhin, den Stoff für zwei große Hörfunkreportagen bekam ich aus dem Handgepäck noch zusammen.
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Als dreizehnjähriger Internatsschüler mit Rehkitz in Marienau.
Quelle: Als Internatsschüler mit Rehkitz: Privatarchiv Gerd Ruge