»Sie essen Suppe bei der ARD

Bonn
1969–1972
Im Januar 1969 zog Richard Nixon ins Weiße Haus ein, entschlossen, die amerikanische Politik von seinem Arbeitszimmer aus mit seiner eigenen Mannschaft zu bestimmen und nicht mehr den erregten öffentlichen Diskussionen zu überlassen, die Amerika im Jahrzehnt zuvor erschüttert hatten. Nixon war misstrauisch gegen alle unabhängigen liberalen Kritiker und auch gegen fast alle Journalisten. Die Arbeit der White-House-Korrespondenten verlor an Reiz, weil es zu persönlichen Begegnungen mit dem Präsidenten und seinen Experten nicht mehr kam. Das machte mir den Umzug nach Deutschland leichter, wo ich die Leitung des Bonner Studios der ARD übernehmen sollte.
Als Korrespondent in der Sowjetunion und in den USA hatte ich stets aufmerksam die Auseinandersetzungen über die Zukunft Deutschlands beobachtet. Es war zu spüren, dass sich in den Hauptstädten beider Supermächte Entscheidungen über die Deutschlandpolitik vorbereiteten, und ich war gespannt darauf, wie sich die Bonner auf diese neue Lage einstellen würden. Tatsächlich versprach das politische Geschehen hier interessant zu werden. Die Ära der CDU-geführten Regierungen unter Adenauer und Erhard wurde nach dem Zwischenspiel der Großen Koalition im Herbst 1969 durch die neue Regierungskoalition aus SPD und FDP unter Bundeskanzler Willy Brandt und Außenminister Walter Scheel beendet. Damit war die Zeit, in der die Entscheidungen innerhalb des Regierungsapparats getroffen und dann in den Parlamentsdebatten nur noch mit vorhersehbarem Ergebnis diskutiert wurden, vorbei, und der neue Kurs, den die Regierung Brandt in der Ostpolitik einschlug, brachte Bewegung in die festgefahrene Konfrontation auf einem Gebiet, das mich seit Jahren besonders interessierte.
Die Bundeshauptstadt Bonn sei noch langweiliger als Washington, so hatten mich Diplomaten gewarnt. Tatsächlich bestand Bonn auf eigenartige Weise aus einer Reihe von Kleinstädten, die miteinander fast nicht kommunizierten. Da gab es – unmittelbar wichtig für uns Journalisten – den politischen Komplex mit den Parteien und der Regierung. Dann den riesigen Beamtenapparat der Ministerien, dessen Mitglieder am liebsten unter sich blieben, dazu die »Reisegesellschaft« der Bundestagsabgeordneten, die von Freitagmittag bis Montag in ihre Wahlkreise verschwanden. Dann war da die nicht sehr große Kolonie der Diplomaten, von denen nur ein kleiner, wenn auch interessanter Teil den Kontakt mit der deutschen Politik und Kultur suchte. Dazu gab es noch die Universität, die kaum Verbindungen zum politischen Bonn unterhielt, und schließlich die Bonner Bürger, die mit alldem nichts zu tun haben wollten und eigentlich dem Verlust ihres rheinischen Kleinstadtlebens nachtrauerten.
Die Journalisten in der Bundeshauptstadt waren eine eigene Gruppe am Rande des Politikbetriebs – überall ein bisschen mit dabei, aber in ihrer Mehrheit doch fest verbunden mit bestimmten Vertretern von Parteien und Ministerien. Schon unter Bundeskanzler Konrad Adenauer war ein spezielles System der Gesprächskreise entstanden, in denen man einer kleinen Anzahl von ausgewählten Journalisten Informationen und Hinweise zukommen ließen. Das verschaffte solchen Pressevertretern einen Informationsvorsprung und den Politikern den Vorteil, dass ihre Meinungen oder Absichten bereits in der Öffentlichkeit waren, ehe Gegner und Kritiker von ihnen erfahren konnten. Fast zwanzig Jahre lang hatte sich dieses System entwickelt, das Adenauer vervollkommnet hatte und das viele zu imitieren versuchten. Ende der sechziger Jahre aber zeigte es Risse, als in den Parteien eine neue Generation auftrat, die sich den alten Gewohnheiten und Denkmustern nicht einfach unterordnete.
Das Studiogebäude der ARD hatte im Bonner Regierungsviertel einen strategisch günstigen Standort. Es lag in der Mitte zwischen dem Bundestag mit dem Plenarsaal und den Fraktionssälen, den Arbeitsräumen und den Wohnungen der Abgeordneten, dem Bundespresseamt, dem Bundeskanzleramt und dem Sitz des Bundespräsidenten. Da saßen wir nun im Zentrum des von Gerüchten und Informationen brummenden Bienenkorbs. Auf dem Weg von einer Sitzung zur anderen machten Politiker manchmal einen kleinen Umweg und schauten auf ein kurzes Gespräch oder eine Tasse Kaffee bei uns vorbei. Nach abendlichen Aufzeichnungen oder Livesendungen kamen manche von ihnen auf einen Whiskey in mein Büro, und wenn es spät wurde, machte unsere Sekretärin auch mal einen Teller Suppe warm. Besonders jüngere Politiker – Abgeordnete oder auch Kabinettsmitglieder – blieben mitunter lange sitzen. Sie hatten Vertrauen genug, um offen über schwierige Themen zu sprechen. Einige Male war auch der Bundeskanzler ein später Gast, ebenso der Vorsitzende der SPD-Fraktion Herbert Wehner, der große alte Mann der Sozialdemokratie. Bei einem Besuch erzählte er bis spät in die Nacht von seiner Emigrationszeit in den dreißiger Jahren, von der Angst vor Verhaftungen im Moskauer Hotel Lux oder auch von noch früheren Wanderungen im Thüringer Wald. Er blieb so lange, bis seine Stieftochter (und spätere Frau) sich gegen zwei Uhr morgens neben seinem Sessel aufstellte und so lange stehenblieb, bis Wehner mit ihr nach Hause ging.
In den Tagen kurz vor der Abstimmung über das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt im Frühjahr 1972 saß ein jüngerer CDU-Abgeordneter bei mir im Büro. Er war ganz erschrocken, als sich die Tür öffnete und Franz Josef Strauß, der CSU-Chef, ihn vorwurfsvoll begrüßte: »Sie hier? Sie essen Suppe bei der ARD?« Der Abgeordnete verabschiedete sich schnell, Strauß hingegen blieb, aß selbst einen Teller und beantwortete eine Frage, die uns damals alle beschäftigte. Ob er den CDU-Fraktionschef Rainer Barzel, der mit dem Misstrauensvotum auf die Kanzlerschaft zustrebte, ins rostige Messer laufen lassen würde. Die Antwort kam knochentrocken: »Mein Messer ist nie rostig.« Öffentlich hatte Strauß immer wieder erklärt, er unterstütze Barzel und habe keinerlei Absicht, ihn als Kanzlerkandidaten zu ersetzen. In solchen Fällen lohnte sich das Gespräch: Eine knappe Andeutung des Hauptbeteiligten war mehr wert als die vielen Gerüchte, die uns sonst zugetragen wurden.
Unserem Studiogebäude in Bonn haftete etwas angenehm Unfertiges, Improvisiertes an. Es war seit den ersten Tagen der Bundesrepublik in Betrieb und seither ständig umgebaut worden. Mein Vorgänger Günter Müggenburg war von Anfang an ein Teil des Bonner Milieus gewesen, mit unzähligen Verbindungen und Beziehungen, mit allen bekannt, mit vielen befreundet und nicht im Verdacht parteipolitischer Einseitigkeit. Dasselbe galt auch für die drei Kollegen Friedrich Nowottny, Ernst Dieter Lueg und Klaus Altmann, mit denen ich nach seinem Weggang in der Redaktion zusammenarbeitete. Jeder hatte Bekannte in Ministerien und Fraktionen, aber wir verfügten über so unterschiedliche Kontakte und Quellen, dass man uns keine einseitige Festlegung vorwerfen konnte. Die parteipolitischen Schlachten wurden in den Rundfunkräten der ARD-Anstalten geschlagen und dann vom Intendanten des WDR, dem das Bonner Studio unterstand, fast immer ohne Druck an uns Hauptstadt-Korrespondenten weitergemeldet. Die dreißig Kilometer Entfernung zwischen dem Funkhaus in Köln und dem Studio in Bonn waren meist ein angenehmer Filter in der Kommunikation.
Zunächst schien es so, als erreichten technische Neuerungen das Bonner Studio stets mit Verspätung, dann jedoch konnten auf dem »kleinen Dienstweg« größere Veränderungen ausgehandelt werden. Bei einem seiner seltenen Besuche im Studio gratulierte uns der WDR-Verwaltungsdirektor dazu, dass auch wir nun ein eigenes Kamerateam hätten. Tatsächlich standen uns inzwischen auch ein voll ausgerüstetes Studio und ein Schneideraum zur Verfügung. Die hatten Kollegen aus der technischen Direktion abgezweigt, nachdem das Studio in Brüssel modern ausgerüstet worden war und wir dessen alte Ausstattung übernehmen durften. Brüssel galt als künftiges Zentrum Europas, Bonn dagegen war als Bundeshauptstadt eine Übergangslösung. Auch unser Studio würde nach der Wiedervereinigung selbstverständlich nach Berlin zurückverlegt, so dachten viele, möglicherweise ins große Funkhaus an der Masurenallee. Irgendwie wirkte in Bonn alles vorläufig und endgültig zugleich.
Die Bundespolitik war zu dieser Zeit mit einem zentralen Thema beschäftigt, das mich schon lange fasziniert hatte. Die Regierung Brandt suchte einen neuen Kurs in der Ostpolitik. Nach Jahren der einseitigen Ausrichtung auf Westeuropa, insbesondere Frankreich, sollte nun das Gespräch mit dem anderen, bis dahin vernachlässigten Partner der westdeutschen Außenpolitik aufgenommen werden. Es ging um die Frage, ob eine Annäherung an die Sowjetunion und damit auch an die anderen Staaten des Ostblocks möglich sei, ohne den Weg zu einer Wiedervereinigung zu verschließen. So war die erste Jahreshälfte 1970 eine Zeit des Abtastens und der Vorverhandlungen zwischen den beiden Regierungen in Bonn und Moskau. Diese Vorgespräche lösten im Bundestag eine erbitterte innenpolitische Auseinandersetzung aus, die oft von Vermutungen oder frei erfundenen Gerüchten beherrscht war. Die Opposition aus CDU/CSU, die von Konrad Adenauer eine Politik der festen Bindungen an Westeuropa und Amerika und ein absolutes Misstrauen gegenüber der Sowjetunion geerbt hatte, sprach vom Ausverkauf bundesdeutscher Interessen. Jede vertragliche Einschränkung der militärisch-politischen Sicherheit sowie des Anspruchs auf Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten in Deutschlands alten Grenzen galt ihnen als Verrat. Die westlichen Mächte wiederum wussten, dass eine unbewegliche Haltung Bonns gegenüber Gesprächen mit Moskau eine Entspannungspolitik in Mitteleuropa sehr viel schwerer machen würde. Davon abgesehen, gestalteten sich die Sondierungsgespräche mit der Sowjetunion aber auch deshalb kompliziert, weil die Führung in Moskau innerlich gespalten war. Bei vielen Politikern im Kreml herrschte große Furcht, die sozialistischen Länder Osteuropas könnten sich eines Tages zu stark nach Westen orientieren.
Im Auftrag des Bundeskanzlers hatte Staatssekretär Egon Bahr seit Ende 1969 erste Gesprächskanäle geöffnet und in Moskau Unterredungen von höchster Vertraulichkeit geführt, über die auch das Kabinett oft nur teilweise informiert war. Bahr konnte in diesen Monaten ein kleines, unsichtbares Netz vertraulicher Beziehungen aufbauen, wodurch deutsche Vorschläge nicht von Außenministerium zu Außenministerium übermittelt werden mussten, sondern den inneren Kreis der Breschnew-Berater auf direktem Weg erreichten. Es lag in der Natur der Sache, dass der Inhalt solcher vorbereitenden Gespräche nicht öffentlich bekannt gemacht werden konnte. In Moskau durften die Gegner einer neuen Deutschlandpolitik nicht gereizt werden, und in Bonn konnte der Bundeskanzler keine aufgeheizte Debatte über veränderte Beziehungen zu Moskau gebrauchen – was freilich auch bedeutete, dass diese unterdrückte Diskussion das Misstrauen der Opposition wachsen ließ. Als ich Willy Brandt in diesen Monaten einmal fragte, ob es nicht besser sei, der Öffentlichkeit Klarheit über Absicht und Stand der Moskauer Gespräche Egon Bahrs zu vermitteln, antwortete er: »So genau weiß ich das auch nicht. Das ist alles Egon und die Detektive.« Am Ende sollte sich Brandts großes Vertrauen in seinen Unterhändler auszahlen: Anfang August 1970 war der Boden durch die Vorgespräche so weit bereitet, dass es zu mehrtägigen Verhandlungen zwischen den beiden Außenministern Scheel und Gromyko kam. Kurz darauf konnte Willy Brandt seine Reise zur Unterzeichnung des Moskauer Vertrags antreten.
Ich hatte als Korrespondent in Moskau, Washington und nun in Bonn viele Jahre hindurch Diskussionen und Verhandlungen über die Ost-West-Beziehungen und die Deutschlandfrage verfolgt. Nun gehörte ich zu der Gruppe deutscher Journalisten, die den Bundeskanzler zu seinen Gesprächen und zur Paraphierung des Vertragswerks in Moskau begleitete. Der Vertragstext, so schien es, war ausgearbeitet und musste nur unterschrieben werden. Wie sich dann jedoch zeigte, hatten die Gäste aus Westdeutschland die Meinungsverschiedenheiten unterschätzt, die immer noch innerhalb der sowjetischen Führung herrschten. Abends, im Gästehaus auf den Leninhügeln, erzählte uns Willy Brandt, wo es bei den letzten Unterredungen vor der Vertragsunterzeichnung hakte: Manchmal sei er sich mit Breschnew bereits einig gewesen, dann aber habe Außenminister Gromyko eingegriffen und mit Hinweisen auf Verträge und Klauseln erklärt, Breschnew könne in einer bestimmten Frage dem deutschen Formulierungsvorschlag nicht zustimmen. Schließlich waren aber auch diese letzten Hürden beseitigt. Das Abkommen schrieb im Wesentlichen einen gegenseitigen Gewaltverzicht, die Wahrung der territorialen Integrität und die Unverletzlichkeit der Grenzen fest. Zusätzlich übergab Außenminister Scheel einen »Brief zur deutschen Einheit«, in dem festgehalten wurde, dass eine deutsche Wiedervereinigung nicht im Widerspruch zu den Vereinbarungen des Vertrages stünde.
Während wir Journalisten vor der Vertragsunterzeichnung auf die Ergebnisse der abschließenden Gespräche warteten, kamen manche unserer sowjetischen Kollegen mit ungewohnt großer Offenheit auf uns zu. Dabei merkten wir, dass besonders diejenigen, die in ihrer Arbeit eng mit der DDR verbunden gewesen waren, einer Annäherung zwischen Bonn und Moskau misstrauten. Bei ihnen war ein nie offen ausgesprochener und doch zäher Widerstand zu spüren. Sie fürchteten offenbar, der Vertrag könne den zweiten deutschen Staat aushöhlen und die ostdeutschen Kommunisten in ihrem Selbstverständnis verunsichern. Wie stark sich die Gegner einer engeren Bindung zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion fühlten, gab uns in diesen Tagen der Chef des sowjetischen Fernsehens und Rundfunks, Sergej Lapin, zu verstehen. Er war ein alter Apparatschik, ein eisenharter Funktionär. Anfang der fünfziger Jahre hatte er an der Botschaft in der DDR gearbeitet. Später war er Erster Parteisekretär im Außenministerium gewesen und hatte danach die staatliche Nachrichtenagentur TASS geleitet. Wenige Wochen vor dem Brandt-Besuch war er zum Vorsitzenden des Staatskomitees für Rundfunk und Fernsehen aufgestiegen, der wichtigsten Propagandaeinrichtung der KPDSU. Nun waren wir auf ihn und seinen Apparat angewiesen, wenn wir unsere Zuschauer in Deutschland über die Ergebnisse in Moskau informieren wollten.
Der Leiter des Bundespresseamts und frühere Chefredakteur des Spiegel, Conrad Ahlers, hatte dem Moskauer ARD-Korrespondenten Lothar Loewe und mir den Wunsch des Bundeskanzlers übermittelt, am Tage der Vertragsunterzeichnung im Fernsehen zu den Deutschen zu sprechen. Die ARD verfügte in Moskau aber nur über ein kleines Büro ohne eigene Übertragungsmöglichkeiten. Mehr erlaubten die sowjetischen Behörden ausländischen Korrespondenten grundsätzlich nicht, und so war unsere Berichterstattung in technischer Hinsicht vollkommen vom sowjetischen Fernsehen abhängig. Folglich ließ sich eine Rede des deutschen Bundeskanzlers nur mit der Hilfe des Staatskomitees für Rundfunk und Fernsehen nach Deutschland übermitteln. Wir wandten uns daher an die Abteilung für Auslandsbeziehungen beim Sowjetfernsehen und erhielten nach einigen Stunden telefonisch eine Absage, ohne jede Begründung. Fernsehfunktionäre, mit denen wir offiziell Kontakt haben durften, sahen keinen Spielraum für Verhandlungen, und noch am Abend vor der Unterzeichnung erklärten sie es für völlig ausgeschlossen, dass eine Ansprache des Bundeskanzlers nach Deutschland übertragen werden könnte. Sergej Lapin zog sich auf die Position zurück, dass die Frage der Übertragungstechnik nicht Sache des Fernsehens sei. Ein sowjetischer Kollege gab uns schließlich vorsichtig zu verstehen, Lapin habe durchaus die Möglichkeit, eine Übertragung zu verhindern, so dass die Genehmigung am Ende von Breschnew persönlich kommen müsste.
Aber wo und wie sollten wir als Ausländer eine solche Genehmigung einholen, wenn Breschnew und Brandt im Kreml verhandelten? Für ausländische Diplomaten und Journalisten war jeder Zugang durch die großen Mauern und Tore versperrt. Wir standen vor dem Kreml am Borowizki-Tor und stellten mit Hilfe der deutschen Botschaft eine Verbindung zu Conrad Ahlers her, der in Breschnews Vorzimmer wartete. Allerdings konnte Ahlers mit uns nur außerhalb der Kremlmauern telefonieren. Es war ein langer Weg für ihn durch den Kreml und zurück, und schließlich musste er fast seine Ellenbogen gebrauchen, um wieder bis zum Arbeitszimmer vorzudringen, in dem Brandt und Breschnew noch immer miteinander sprachen. Der sowjetische Parteichef entschied sofort: Natürlich könne der deutsche Bundeskanzler seine Ansprache beim sowjetischen Fernsehen aufnehmen. Mit dieser Nachricht schickte Ahlers ein Delegationsmitglied auf denselben langen Weg durch den Kreml zu uns, und wir gaben sie an das sowjetische Fernsehen weiter.
Damit aber waren unsere Verhandlungen nicht zu Ende. Niemand wollte uns sagen, wo die Ansprache des Bundeskanzlers am nächsten Morgen aufgezeichnet werden sollte. Es hieß lediglich, der Kanzler werde nach dem Frühstück abgeholt und in ein Studio gebracht. Also postierten Lothar Loewe und ich uns morgens in seinem Volkswagen auf der Straße vor dem Gästehaus der Regierung und warteten. Als die Wagen mit Willy Brandt und seinen engsten Mitarbeitern mit hoher Geschwindigkeit aus dem großen Tor herausgeschossen kamen, hängten wir uns sofort an sie dran. Die Begleitwagen versuchten mehrfach, uns in die Bäume am Straßenrand abzudrängen oder auszubremsen. Aber wir waren sicher, dass sie während des Brandt-Besuchs keinen Unfall mit uns provozieren durften, und blieben nah an der Kolonne. Sie fuhr überraschenderweise nicht zum großen Hauptgebäude des Fernsehens in Ostankino, sondern in eine ganz andere Richtung. Schließlich stoppten wir auf dem Hof eines Hauses, an dem nichts darauf hindeutete, dass es sich um ein Fernsehstudio handelte. Sergej Lapin war bereits vor Ort, wurde als Mitglied des Zentralkomitees im Ministerrang vorgestellt und nahm den deutschen Bundeskanzler mit kühler Formalität in Empfang. Dann sahen wir von einem improvisierten Kontrollraum aus in eine Art Studio, in dem Willy Brandt an einem hölzernen Tisch saß, äußerlich ruhig, aber doch angespannt. Während er wartete, zerbrach er Streichhölzer und klopfte unablässig mit dem Fuß auf den Boden. Niemand vom sowjetischen Personal konnte sagen, wann es weitergehen würde. Schließlich kam ein technischer Mitarbeiter und stellte vor dem Kanzler ein großes Schild auf den Tisch: »APN – Presseagentur Novosti«. Das hatten auch die sowjetischen Studiotechniker noch nie gesehen: Der Fernsehvorsitzende demonstrierte damit, dass sein Fernsehen nicht für eine Ansprache des deutschen Bundeskanzlers zur Verfügung stand. Die Übertragung begann und endete somit ohne das gewohnte Logo des Sowjetfernsehens. Willy Brandt sprach etwa fünf Minuten, und es war deutlich, dass er sich mit dieser Rede vor allem auch an die politische Opposition in Deutschland wandte. Mit diesem Vertrag gehe nichts verloren, was nicht längst verspielt worden sei, sagte er. Der Vertrag beeinträchtige in keiner Weise die feste Verankerung der Bundesrepublik im westlichen Bündnis, er gefährde nichts und niemanden, sondern solle mithelfen, den Weg nach vorn zu öffnen, und werde dem Frieden in ganz Europa nützen.
Der deutsche Bundeskanzler blieb nach der Aufzeichnung noch einige Minuten am Studiotisch sitzen, doch der sowjetische Fernsehchef mied ein Gespräch mit ihm und machte den Abschied kurz. Brandt fuhr zum Kreml zurück. »Nun macht mal schön und sagt uns Bescheid, wann die Überspielung in Bonn ankommt«, sagte Conrad Ahlers. Die Frage gaben wir an die sowjetischen Techniker weiter, denn wir mussten Leitungen und ein Aufnahmestudio in Deutschland bestellen. Die Antwort war nur ein Achselzucken. Das, sagte ein Fernsehvertreter, sei nicht seine Sache: »Das Band mit der Aufzeichnung wird an die deutsche Botschaft ausgeliefert werden.« Und dann ging auch er. Wir fuhren ohne Behinderung in die Stadt zurück und überlegten, ob es noch möglich sei, die Aufzeichnung per Flugzeug wenn nicht direkt nach Deutschland, so doch nach Helsinki oder Wien zu schaffen und von dort aus überspielen zu lassen. Aber dazu reichte die Zeit bis zur abendlichen Sendung nicht mehr. Also versuchten wir erneut, Conrad Ahlers im Kreml zu informieren. Er schaffte es unter großen Schwierigkeiten, zu Breschnew und Brandt vorzudringen, und Breschnew zeigte sich überrascht: Natürlich werde die Ansprache des Kanzlers nach Deutschland übermittelt, erklärte er. Deshalb sei sie ja gemacht worden. Mehr erfuhren wir nicht, aber wir informierten die Kollegen von der Tagesschau in Hamburg über Fernschreiber, dass am späten Nachmittag eine Leitung aus der Sowjetunion auflaufen werde. Möglicherweise komme kein schriftlicher Bescheid, aber die Technik müsse einfach für einen Sekundenstart bereit sein.
Tatsächlich kam die Leitung schließlich über Schaltstellen in der DDR und in Polen zustande, und die Fernsehtechniker beim NDR ließen sich durch die unbekannte Kennung »Presseagentur Novosti« nicht verwirren. Sie zeichneten die Überspielung aus Moskau auf und sendeten sie. Ich erzählte diese Geschichte einem sowjetischen Kollegen, den ich ein wenig näher kannte, und fragte, wie diese unfreundliche Behandlung durch die Fernsehleute zu erklären sei. »Lapin«, sagte er, »ist einer von den Offizieren des Zweiten Weltkriegs, die nicht verzeihen können, dass die Sowjetarmee nur bis zur Elbe und nicht bis zum Rhein gekommen ist.« Es gebe eben so manchen in der Parteiführung, der lieber eine harte Linie weiterfahren würde. Lapin blieb der Herrscher über Rundfunk und Fernsehen in der Sowjetunion, bis ihn Michail Gorbatschow fünfzehn Jahre später in Pension schickte.
Die Unterzeichnung des Moskauer Vertrags markierte keineswegs das Ende der Auseinandersetzung um die deutsche Ostpolitik, sondern stand am Beginn einer besonders harten Phase des innenpolitischen Kampfes in Bonn. CDU und CSU warfen Brandt und Scheel vor, mit diesem Vertragsabschluss deutsche Interessen verraten zu haben. Dem Gewaltverzicht auf dem Papier stehe ein Schießbefehl in der Wirklichkeit gegenüber, erklärte CDU-Fraktionschef Rainer Barzel. Wenn die Sowjetunion nicht in Grundsatzfragen nachgebe, was die Selbstbestimmung und die Einheit Deutschlands sowie einen Verzicht auf Reparationsforderungen angehe, dann sei Moskau den deutschen Interessen eben keinen Schritt entgegengekommen. Hinter der Kritik stand unausgesprochen die Überzeugung, mit kommunistischen Ländern dürfe nicht verhandelt werden. Genau das jedoch betrieb die Regierung Brandt intensiv weiter: Seit Februar 1970 waren auch in Warschau Gespräche aufgenommen worden, die schließlich im Dezember 1970 zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrags führten. Wie schon im Moskauer Vertrag verpflichteten sich die Unterzeichner zu Gewaltverzicht und Achtung ihrer territorialen Integrität. Außerdem wurde die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens faktisch festgeschrieben.
Es sollte nach dem Besuch Willy Brandts in der sowjetischen Hauptstadt fast zwei Jahre dauern, bis die Verträge von Moskau und Warschau im Mai 1972 im Bundestag ratifiziert werden konnten. Im Vorfeld war es jedoch keineswegs sicher gewesen, dass die Regierungskoalition die erforderliche Mehrheit für die Abstimmung über die Ostverträge zusammenbringen könnte. Vor diesem Hintergrund hatte Rainer Barzel am 27. April im Bundestag die Machtfrage gestellt. Nachdem mehrere Abgeordnete aus dem Regierungslager zur Opposition übergewechselt waren und weil vermutet wurde, dass manche Abgeordnete aus der Regierungskoalition die Ratifizierung ablehnten, schien das konstruktive Misstrauensvotum gegen den Bundeskanzler durchaus eine Erfolgschance zu haben. Barzel erhielt am Ende jedoch nur 247 von 249 erforderlichen Stimmen. Damit herrschte im Bundestag eine Pattsituation, die eine Zusammenarbeit in der Ratifizierungsfrage erforderlich machte. Parallel zu den Verhandlungen in Bonn liefen Gespräche mit Moskau, um mit Modifikationen den Gegnern der Verträge entgegenkommen zu können. Schließlich konnten sich Opposition und Regierung auf einen Kompromiss einigen: In einer gemeinsamen Entschließung schrieben sie fest, dass die endgültige Festsetzung der Grenzen Deutschlands einem Friedensvertrag vorbehalten bleibe, während die Verpflichtung zu Gewaltverzicht das Kernstück der Übereinkunft darstellen solle. Es war keine grundsätzliche Veränderung, aber sie machte es den Abgeordneten der Opposition möglich, die Ostverträge am 17. Mai 1972 wenigstens durch Stimmenthaltung passieren zu lassen.
Für mich waren dies neben den Putschtagen 1991 in Moskau die heißesten Wochen in meinem Leben als politischer Korrespondent. Das Studio Bonn war mehrere Tage lang praktisch rund um die Uhr auf Sendung. Zum ersten und einzigen Mal durfte das Fernsehen nicht nur offizielle Bilder aus dem Plenarsaal zeigen, sondern direkt aus den meisten Räumen und Korridoren des Bundestags berichten. Eigentlich war das technisch mit den Mitteln der ARD gar nicht möglich, aber die Ingenieure hatten uns aus Telefon- und Konferenzleitungen ein System zusammengestrickt, mit dem wir über direkte Bild- und Tonverbindungen zur Tagesschau nach Hamburg verfügten. Mit unseren Kameras konnten wir aus allen Teilen des Bundestagsgebäudes live auf Sendung gehen und hatten damit die Möglichkeit, Redeausschnitte, Interviews und zufällige Nebenbemerkungen bis spät in die Nacht zu übertragen. So unmittelbar war der Blick des Fernsehens auf die Politik in Deutschland wohl nie wieder. Das bedeutete, dass nicht nur führende Leute der Fraktionen, sondern auch Hinterbänkler im Fernsehen zu sehen und zu hören waren. Sie waren gerade in den Tagen vor dem Misstrauensvotum plötzlich wichtig geworden, weil alle wussten, dass der Ausgang von zwei oder drei Stimmen oder Stimmenthaltungen abhängen würde. Ein Hinterbänkler, der wegen der extrem knappen Mehrheitsverhältnisse zum ersten Mal in seinem Leben ein gefragter und umworbener Mann geworden war, gab uns auf dem Flur vor dem Bundestagsrestaurant ein Liveinterview. Ergriffen von seiner neugewonnenen Bedeutung und erschüttert von den ernsten Überzeugungsgesprächen seiner Fraktionsführung, zeigte sich der Abgeordnete deutlich »bis über die Ohren unter Korn«, wie Parteifreunde seine eigenwilligen Äußerungen später zu erklären versuchten.
Auch in den Tagen, in denen um die Ratifizierung der Ostverträge gerungen wurde, waren wir mit unseren Kameras dicht am Geschehen. Noch kurz vor der Einigung zwischen der Bundesregierung und dem sowjetischen Botschafter schoss Rainer Barzel nach einer wichtigen Fraktionssitzung der CDU auf dem Flur an uns vorbei und rief mir zu: »Ich blicke da nicht mehr durch, ich mache nicht mehr mit.« Auch das lief live im Programm der ARD. Im Bericht aus Bonn öffnete sich dann später am Abend leise die Tür zum Studio, in dem ich den Tagesverlauf schilderte. Ich erblickte den Kanzleramtsminister Horst Ehmke, der mir durch ein Zeichen zu verstehen gab, dass er dringend mit mir sprechen müsse. So etwas war uns bisher noch nicht passiert, aber während des nächsten kurzen Filmbeitrags winkte ich Ehmke zum Moderationstisch herüber. Irgendwie bezog ich ihn dann in meine Zwischenmoderation ein, gab ihm das Wort, und Ehmke berichtete über das Ergebnis der allerletzten spätabendlichen Verhandlung mit dem sowjetischen Botschafter: Moskau hatte ein entscheidendes Zugeständnis in den Formulierungen über die Frage der deutschen Wiedervereinigung gemacht. Der sowjetische Botschafter habe die entsprechende Nachricht gerade aus Moskau erhalten. Damit war die Formel entfallen, welche die Opposition bisher als Grund für ihre Ablehnung genannt hatte.
Horst Ehmke sagte das ganz ruhig und ohne jede Nervosität. Als der nächste Film lief, fragte ich ihn, was ihn geritten habe, so in das laufende Programm zu platzen. Er habe Rainer Barzel nicht anders über diese entscheidend veränderte Lage informieren können, erklärte er mir. Am Telefon habe niemand geantwortet, und auf einen Brief, den er Barzel unter der Wohnungstür durchschieben ließ, sei auch kein Rückruf gekommen. Nun hoffe er, dass Barzel den Bericht aus Bonn gesehen und die wichtige Nachricht verstanden habe. Das war natürlich gegen alle Regeln, aber es war mir auch recht. So hatten wir vielleicht etwas für eine Verständigung in der Ostpolitik getan und unseren Zuschauern und den Kollegen eine Exklusivmeldung geliefert. Tatsächlich war der Weg für die Abstimmung im Bundestag nun frei. Die Bundesrepublik konnte künftig in den Entspannungsprozess der Großmächte einbezogen werden, ohne auf den Anspruch auf Wiedervereinigung verzichten zu müssen. Ein solches Ergebnis hatte ich auf dem Höhepunkt der Diskussionen kaum zu erhoffen gewagt.
In diesen Wochen hielten die Zeitungskollegen abends die Druckmaschinen oft so lange an, bis sie die letzten Informationen aus der Spätausgabe der Tagesschau mitnehmen konnten. Kollegen von einem Hamburger Nachrichtenmagazin polemisierten gegen die Indiskretionen unserer Direktübertragungen – vielleicht, weil bei uns live jene Hintergrundinformationen zu erfahren waren, mit denen es sonst seine Leser überraschen konnte. Der Ältestenrat des Bundestags beschloss am Ende, solche Bedenken zu teilen: Von nun an durften nur noch die festinstallierten Kameras im Plenarsaal und in den Fraktionssälen das politische Geschehen im Bonner Bundestag zeigen.
So aufregend es für mich war, die Auseinandersetzungen in diesen Bonner Jahren zu verfolgen, so war ich wohl doch nicht ganz die optimale Besetzung auf meinem Posten. Ich warf als ehemaliger Auslandskorrespondent zwar einen kühlen Blick auf die Bonner Machtkämpfe, war dabei aber nicht der ideale Studioleiter, der in den Konflikten der Innenpolitik aufging und in mühsamen Verhandlungen die Interessen der ARD gegenüber den Parteizentralen und Fraktionsführungen vertreten mochte. Die Sekundenzählerei, mit der manche Parteimitarbeiter ihren Arbeitseifer demonstrierten, ertrug ich nur schwer. Immer wieder ging es um den Vorwurf, in unseren Sendungen habe die eine Partei eine oder eine halbe Sendeminute mehr oder weniger gehabt als die andere. Die mechanische Zählerei und das Misstrauen, das sich darin ausdrückte, stammten mehr aus dem Mittelbau als von den bekannteren Abgeordneten oder den Führungsspitzen der Parteien. Ärgerlich waren sie dennoch. So kam es mir sehr gelegen, als sich im Sommer 1972 die Möglichkeit bot, den ehemaligen Außenminister Gerhard Schröder auf einer großen offiziellen Reise nach China zu begleiten.
Um die Beziehungen zu China hatte es in Bonn schon längere Zeit eine heftige Auseinandersetzung gegeben. Die Bundesregierung war von sowjetischen Diplomaten gewarnt worden: Engere Kontakte zwischen Bonn und Peking würde Moskau als Unterstützung der Politik der Amerikaner deuten, die durch eine engere Zusammenarbeit mit den Chinesen die Sowjetunion unter Druck setzen wollte. Um nicht die Entspannung zu stören, die sich gerade zwischen Bonn und Moskau abzeichnete, behandelte die Bundesregierung deshalb jeden Kontakt mit der chinesischen Regierung vorsichtig und zurückhaltend. Egon Bahr warnte vor einem Scheitern des Moskauer Vertrags, falls das Auswärtige Amt gleichzeitig diplomatische Beziehungen mit Peking aufzunehmen versuche. Darauf reagierte die Opposition mit scharfer, grundsätzlicher Kritik. Die Bonner Regierung habe sich dem Druck der Sowjetunion ausgeliefert und richte sich nun nach den Wünschen Moskaus, lautete der Vorwurf. Es war jedenfalls eine undurchsichtige Situation in Bonn, bei der aus Peking keine erklärenden Signale kamen und aus Moskau meist nur harte Warnungen vor einem »Bündniswechsel«.
Ich hatte das Glück, dass einer meiner ältesten russischen Bekannten, der Journalist und Spezialist für Außenpolitik Lew Besymenski, zu Gesprächen nach Bonn kam. Anderthalb Jahrzehnte zuvor war er in Moskau mein halboffizieller Kontaktmann gewesen. Gelegentlich hatten wir zusammen gegessen. Unsere Gespräche waren mit der Zeit vertrauter geworden, schließlich empfanden wir uns als Freunde, redeten ziemlich offen und hatten uns angewöhnt, Einschätzungen der deutsch-sowjetischen Beziehungen auszutauschen. Bei seinem Bonn-Besuch zur Zeit der Diskussionen um die China-Politik der Bundesregierung warnte Besymenski davor, die Besorgnisse eines Teils der hohen Sowjetfunktionäre zu unterschätzen. Er deutete an, Walter Ulbricht – bis zu seiner Entmachtung im Mai 1971 SED-Parteichef in der DDR – habe seine Ämter auch deshalb verloren, weil er den Kontakt mit China nutzen wollte, um sich im Verhältnis zu Moskau mehr Luft zu verschaffen. Andererseits, so ließ er in unseren Gesprächen auch durchblicken, selbst wenn Beziehungen zwischen Bonn und Peking aufgenommen würden, erwarte die sowjetische Führung davon keine praktischen weltpolitischen Veränderungen, da Peking zu einer zielgerichteten Außenpolitik gar nicht in der Lage sei.
Im Januar 1972 kontaktierte die Bundesregierung die Volksrepublik auf dem Weg über die beiden Botschafter in Paris mit einer Anfrage: Ob Peking zur Aufnahme von Verhandlungen über diplomatische Beziehungen bereit sei. Von chinesischer Seite kam keine Antwort. Stattdessen traf im April 1972 in Bonn eine Einladung ein, die nicht an die Bundesregierung, sondern an einen Mann der Opposition gerichtet war: an den ehemaligen Außenminister Gerhard Schröder von der CDU, nun Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags. Im Regierungslager empfand man das fast als beleidigend. Auch mich traf Kritik: Da ich zu den sechzehn Journalisten in Schröders Reisegruppe gehören sollte, sahen manche meiner Kollegen in dieser Teilnahme einen unfreundlichen Akt gegen die Regierung. Oppositionspolitiker hingegen gratulierten mir und vermuteten hinter meinem Entschluss eine Ablehnung der Ostpolitik Willy Brandts. Ich aber war einfach nur neugierig und wollte mir auf dieser Reise, so weit es überhaupt möglich war, ein eigenes Bild von dem geheimnisvollen, riesigen kommunistischen Land machen. Gegen Ende der fünfziger Jahre hatte ich schon einmal den Versuch unternommen, Chinesisch zu lernen, in der Hoffnung, als Korrespondent nach Peking gehen zu können. Aber nachdem sich mit der Kulturrevolution die politische Situation immer weiter verhärtet hatte, glaubte ich damals nicht, dass ausländische Journalisten in das Land gelassen würden. Nun gab es erste Anzeichen, dass sich in China etwas zu ändern begann, und die Reise mit Schröders Journalistengruppe bot die erste Chance für mich, dies mit eigenen Augen zu sehen.
In Bonn existierte zu dieser Zeit eine kleine chinesische Kontaktstelle. Es war das Büro der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua, bestehend aus dem Bürochef und seinem Stellvertreter. In Peking hatten die Deutschen seit Jahren eine ähnliche Einrichtung in Form eines Büros der Deutschen Presseagentur. Zwischen beiden Vertretungen gab es jedoch einen kleinen, aber grundsätzlichen Unterschied: Die dpa-Korrespondenten waren tatsächlich Journalisten, im Bonner Büro von Xinhua war der Chef dagegen ein gehobener Parteifunktionär und sein Vertreter und Dolmetscher ein Diplomat aus dem chinesischen Außenministerium. Die beiden wohnten und arbeiteten in einem Haus am Rande von Bad Godesberg, doch Bonner Politiker und außenpolitische Experten suchten kaum Kontakt zu ihnen. Ich hatte sie gelegentlich zu Gesprächen über China und seine Beziehungen zur sowjetischen und zur westlichen Welt besucht – zunächst bei einer Tasse Tee, später manchmal bei einem leichten, eher improvisierten chinesischen Essen und einem Gläschen hochprozentigem Maotai-Schnaps. Zweimal hatte ich sie zu kleinen Cocktailpartys bei mir zu Hause eingeladen, wo sie einige Abgeordnete und auch Mitarbeiter aus dem Außen- und Verteidigungsministerium getroffen hatten. Sie stellten eine Frage nach der anderen – vermutlich zur Belebung ihres Berichts nach Peking – und waren mit diesem ungewöhnlichen Kontakt zur deutschen Politik sichtlich zufriedener als manche der deutschen Gäste, die den chinesischen Wissensdurst ermüdend fanden.
Nun sollte ich die Formalitäten der Visaerteilung für die vierzehntägige Chinareise im Juli 1972 bei ihnen erledigen. Ich nutzte die Gelegenheit, um eine Mitreisegenehmigung für ein kleines Kamerateam zu erbitten. Zunächst waren sie skeptisch, zeigten sich dann aber einige Zeit später sehr zufrieden, als sie mir die Erlaubnis erteilen durften, einen Kameramann und einen Tontechniker mit auf die Reise zu nehmen. Das war ein großer Erfolg, ja eine kleine Sensation: Seit mehreren Jahren, seit dem Beginn der Kulturrevolution, war kein ausländisches Kamerateam mehr durch China gereist. Was wir dort sehen und eventuell filmen dürften, blieb undefiniert. Doch was immer wir auf der Reise vor die Kamera bekommen würden – wir wollten es drehen. Alles war interessant, und wir waren sicher, Gerhard Schröder würde als Gast dafür sorgen, dass nicht nur trockene Aufnahmen vom Verhandlungstisch gefilmt würden, sondern dass anderes, farbigeres Bildmaterial die Berichte von seiner Chinareise schmückte.
Nördlich von Peking führten die Chinesen ihren deutschen Gast auf die Große Mauer, mehrere Tausend Kilometer lang, zweieinhalbtausend Jahre alt und ursprünglich erbaut zum Schutz gegen die Reitervölker aus dem Norden. Wir standen auf einem der massiven Türme, der deutsche Gast blickte über die Hügelkette und deutete mit der Hand in die Ferne: Dort liege Deutschland, das immer noch geteilte Vaterland. Dabei zeigte er mit ausgestrecktem Arm über die Mauer allerdings in Richtung Ostsibirien und Alaska. Die Chinesen hatten ihn trotzdem verstanden. Am nächsten Tag standen die chinesischen Gastgeber mit ihrem deutschen Gast auf einem Truppenübungsplatz im Süden des Landes und schauten Soldaten zu, die mit dem Bajonett auf Pappkameraden einstachen und dazu »cha, cha!« brüllten, was so viel wie »tötet!« heißt. Wir besichtigten im Nordosten des Landes das Stahlwerk Anshan, das mit sowjetischer Hilfe erbaut worden war, filmten die Stahlarbeiter vor den Hochöfen, die sie, wie man uns sagte, ohne jede fremde Hilfe entscheidend vergrößert und verbessert hätten. In den Städten drehten wir das riesige Heer der Radfahrer, das sich durch die breiten Straßen schob. In Peking durften wir einige Bilder von den leeren Höfen der Verbotenen Stadt machen, dem alten Kaiserpalast, der seit Jahren für alle Chinesen gesperrt war, und wir filmten die schaulustigen Provinzler auf dem Tiananmen-Platz vor der Großen Halle des Volkes. Zum Begrüßungsbankett war Gerhard Schröder noch korrekt im schwarzen Anzug erschienen, beim Abschiedsessen in der Großen Halle des Volkes trug er dann eine Art Mao-Hemd. Aus dem antikommunistischen CDU-Konservativen, so schien uns, war ein Verbündeter des antisowjetischen chinesischen Kommunismus geworden.
Die aktuellen Besuchsberichte waren schnell in kürzeren Beiträgen abgearbeitet. Darüber hinaus hatten wir aber genügend Material gesammelt, aus dem sich nach unserer Rückkehr ein lebendiger, ungewöhnlicher Dokumentarfilm zusammenschneiden ließ. Die meisten unserer Filmrollen waren gefüllt mit Bildern aus dem Alltagsleben in China, wie man sie im Westen noch nie gesehen hatte. Der Film kam zwar nicht hautnah an das chinesische Leben heran, konnte aber doch Zustand und Entwicklung des Landes von unterschiedlichen Seiten zeigen. Leider war er statt fünfundvierzig Minuten fast neunundvierzig Minuten lang geworden. Das war in jener Zeit flexiblerer Fernsehprogramme normalerweise kein Problem. Aber offenbar hatten sich die Vorgaben gerade geändert, und der Programmdirektor der ARD entschied, der Film müsse um fünf Minuten gekürzt werden. Dazu war ich nicht bereit, woraufhin Programmdirektion und Chefredaktion die Kürzung selbst übernahmen. Sie beschlossen, die ersten Minuten herauszunehmen, die im Wesentlichen eine Vorbemerkung von mir enthielten: Dies sei ein Reisefilm mit fast touristischen Bildern, hatte ich da gesagt, nicht der Versuch, Chinas Kommunismus oder die Veränderungen und Leiden durch Maos Kulturrevolution zu schildern oder zu analysieren. Es sei einfach ein ungewöhnlich direktes Bild des heutigen China. Diesen Aufsager, wie wir es damals nannten, fanden die ARD-Kollegen unnötig und zu lang. Gekürzt war der Film nun lebhafter und gefälliger, aber auch ohne selbstkritische Einschränkung.
Das war ärgerlich, doch ironischerweise erwies sich der Eingriff als eine Art Glücksfall. Am Tag nach der Sendung begrüßte mich Herr Wang Shu, der Leiter des Büros der chinesischen Presseagentur, besonders herzlich. Das sei ein sehr guter Film, sagte er, und er wirkte so begeistert, wie ein zurückhaltender chinesischer Funktionär überhaupt sein kann. Die Bilder meines Reisefilms hatten ihm offenbar gefallen, und tatsächlich kam darin ja die ausdrückliche Erwähnung der Zeiten blutiger und totaler Diktatur nicht mehr vor. Am Ende des Gesprächs sagte er, wenn ich wolle, könne ich sicherlich ein Dauervisum bekommen und regelmäßig aus seinem Land berichten, allerdings nur für die Presse, nicht für das Fernsehen oder den Rundfunk. Eine Visazusage hatte ich also. Jetzt brauchte ich nur noch einen Korrespondentenposten in Peking, und zwar bei einer Zeitung.
Ich fand ihn bei der Welt im Axel-Springer-Verlag. Ich hatte Springer 1958 unter eigenartigen Bedingungen in Moskau kennengelernt. Damals wohnte er einige Tage inkognito im Hotel National, nur ein paar Räume entfernt von der kleinen Suite, die für mich Büro und Wohnung war. Er hoffte damals, den sowjetischen Parteichef Nikita Chruschtschow für einen deutschlandpolitischen Plan zu gewinnen, den er selbst ersonnen hatte und der einen Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands aufzeigen sollte. Aber Chruschtschow hatte Springer mit seinem Plan abblitzen lassen. Seitdem setzte der Verleger eher auf China, das er als Gegner der sowjetischen Vorherrschaft verstand. Ich überlegte ein paar Tage, bevor ich mich an den Springer-Verlag mit der Anfrage wandte, ob man einen Korrespondentenplatz in Peking eröffnen wolle. Meine Bonner Kollegen waren überrascht bis verärgert: Schließlich galt ich vielen als linksliberaler Anhänger der Ostpolitik Willy Brandts, und mit dem konservativen Springer-Verlag hatte ich zuletzt eher Verständigungsschwierigkeiten gehabt. Manche hielten einen Wechsel von der ARD zu Springer gar für eine Art Fahnenflucht. Aber dann sagte mir Kanzleramtsminister Ehmke, ich könnte diesen Schritt doch ruhig riskieren – vorausgesetzt, Axel Springer nähme nicht zur Kenntnis, dass die Chinesen Kommunisten seien, und die Chinesen nähmen nicht zur Kenntnis, dass Springer ein großer Kapitalist und Antikommunist sei. Das war ein Scherz, aber er überzeugte mich. Ich ginge ja nicht zu einer Zeitung, um einen Eid auf ihre Leitartikel abzulegen, sondern um vom neuen China zu berichten.
Als ich einigen Kollegen erzählte, Herbert Wehner habe mich zu einem Gespräch gebeten, meinten sie mit Genugtuung, er werde mir in seiner gefürchteten Bärbeißigkeit den Kopf waschen. Das Gespräch, das dann folgte, hätte sie jedoch überrascht. Wehner redete nur über China, die chinesische Revolution, die inneren Machtkämpfe und den neuen Schrecken der Kulturrevolution, die Mao in Gang gesetzt hatte. Er empfahl mir einige Bücher, besonders das eines katholischen Missionars, der die Machtergreifung der Kommunisten erlebt, erlitten und genau geschildert hatte. Die revolutionären Veränderungen in China und ihre Folgen hatten Wehner nach den Erfahrungen seiner Moskauer Emigrationsjahre lange beschäftigt. Das Gespräch mit ihm war ebenso überraschend wie faszinierend. Als ich mich verabschiedete, hatten zwei Journalisten, die in seinem Vorzimmer warteten, zu meiner Begrüßung schon Mitleidsmienen aufgesetzt. Dass uns beiden China so wichtig erschien, war ihnen kaum verständlich. Und dass man dafür einen guten Posten in Bonn freiwillig verlassen kann, verstanden sie erst recht nicht. Mich hingegen faszinierte die Gelegenheit, nach der Sowjetunion und den USA nun das dritte große Land kennenzulernen, das – so dachte ich – auf der schwierigen Suche nach seinem Platz in der Weltpolitik sein musste.