»Sie essen Suppe bei der ARD?«
Bonn
1969–1972
1969–1972
Im Januar 1969 zog Richard Nixon ins Weiße
Haus ein, entschlossen, die amerikanische Politik von seinem
Arbeitszimmer aus mit seiner eigenen Mannschaft zu bestimmen und
nicht mehr den erregten öffentlichen Diskussionen zu überlassen,
die Amerika im Jahrzehnt zuvor erschüttert hatten. Nixon war
misstrauisch gegen alle unabhängigen liberalen Kritiker und auch
gegen fast alle Journalisten. Die Arbeit der
White-House-Korrespondenten verlor an Reiz, weil es zu persönlichen
Begegnungen mit dem Präsidenten und seinen Experten nicht mehr kam.
Das machte mir den Umzug nach Deutschland leichter, wo ich die
Leitung des Bonner Studios der ARD übernehmen sollte.
Als Korrespondent in der Sowjetunion und in den
USA hatte ich stets aufmerksam
die Auseinandersetzungen über die Zukunft Deutschlands beobachtet.
Es war zu spüren, dass sich in den Hauptstädten beider Supermächte
Entscheidungen über die Deutschlandpolitik vorbereiteten, und ich
war gespannt darauf, wie sich die Bonner auf diese neue Lage
einstellen würden. Tatsächlich versprach das politische Geschehen
hier interessant zu werden. Die Ära der CDU-geführten Regierungen unter Adenauer
und Erhard wurde nach dem Zwischenspiel der Großen Koalition im
Herbst 1969 durch die neue Regierungskoalition aus SPD und FDP unter Bundeskanzler Willy Brandt und
Außenminister Walter Scheel beendet. Damit war die Zeit, in der die
Entscheidungen innerhalb des Regierungsapparats getroffen und dann
in den Parlamentsdebatten nur noch mit vorhersehbarem Ergebnis
diskutiert wurden, vorbei, und der neue Kurs, den die Regierung
Brandt in der Ostpolitik einschlug, brachte Bewegung in die
festgefahrene Konfrontation auf einem Gebiet, das mich seit Jahren
besonders interessierte.
Die Bundeshauptstadt Bonn sei noch langweiliger
als Washington, so hatten mich Diplomaten gewarnt. Tatsächlich
bestand Bonn auf eigenartige Weise aus einer Reihe von
Kleinstädten, die miteinander fast nicht kommunizierten. Da gab es
– unmittelbar wichtig für uns Journalisten – den politischen
Komplex mit den Parteien und der Regierung. Dann den riesigen
Beamtenapparat der Ministerien, dessen Mitglieder am liebsten unter
sich blieben, dazu die »Reisegesellschaft« der
Bundestagsabgeordneten, die von Freitagmittag bis Montag in ihre
Wahlkreise verschwanden. Dann war da die nicht sehr große Kolonie
der Diplomaten, von denen nur ein kleiner, wenn auch interessanter
Teil den Kontakt mit der deutschen Politik und Kultur suchte. Dazu
gab es noch die Universität, die kaum Verbindungen zum politischen
Bonn unterhielt, und schließlich die Bonner Bürger, die mit alldem
nichts zu tun haben wollten und eigentlich dem Verlust ihres
rheinischen Kleinstadtlebens nachtrauerten.
Die Journalisten in der Bundeshauptstadt waren
eine eigene Gruppe am Rande des Politikbetriebs – überall ein
bisschen mit dabei, aber in ihrer Mehrheit doch fest verbunden mit
bestimmten Vertretern von Parteien und Ministerien. Schon unter
Bundeskanzler Konrad Adenauer war ein spezielles System der
Gesprächskreise entstanden, in denen man einer kleinen Anzahl von
ausgewählten Journalisten Informationen und Hinweise zukommen
ließen. Das verschaffte solchen Pressevertretern einen
Informationsvorsprung und den Politikern den Vorteil, dass ihre
Meinungen oder Absichten bereits in der Öffentlichkeit waren, ehe
Gegner und Kritiker von ihnen erfahren konnten. Fast zwanzig Jahre
lang hatte sich dieses System entwickelt, das Adenauer
vervollkommnet hatte und das viele zu imitieren versuchten. Ende
der sechziger Jahre aber zeigte es Risse, als in den Parteien eine
neue Generation auftrat, die sich den alten Gewohnheiten und
Denkmustern nicht einfach unterordnete.
Das Studiogebäude der ARD hatte im Bonner Regierungsviertel einen
strategisch günstigen Standort. Es lag in der Mitte zwischen dem
Bundestag mit dem Plenarsaal und den Fraktionssälen, den
Arbeitsräumen und den Wohnungen der Abgeordneten, dem
Bundespresseamt, dem Bundeskanzleramt und dem Sitz des
Bundespräsidenten. Da saßen wir nun im Zentrum des von Gerüchten
und Informationen brummenden Bienenkorbs. Auf dem Weg von einer
Sitzung zur anderen machten Politiker manchmal einen kleinen Umweg
und schauten auf ein kurzes Gespräch oder eine Tasse Kaffee bei uns
vorbei. Nach abendlichen Aufzeichnungen oder Livesendungen kamen
manche von ihnen auf einen Whiskey in mein Büro, und wenn es spät
wurde, machte unsere Sekretärin auch mal einen Teller Suppe warm.
Besonders jüngere Politiker – Abgeordnete oder auch
Kabinettsmitglieder – blieben mitunter lange sitzen. Sie hatten
Vertrauen genug, um offen über schwierige Themen zu sprechen.
Einige Male war auch der Bundeskanzler ein später Gast, ebenso der
Vorsitzende der SPD-Fraktion
Herbert Wehner, der große alte Mann der Sozialdemokratie. Bei einem
Besuch erzählte er bis spät in die Nacht von seiner Emigrationszeit
in den dreißiger Jahren, von der Angst vor Verhaftungen im Moskauer
Hotel Lux oder auch von noch früheren Wanderungen im Thüringer
Wald. Er blieb so lange, bis seine Stieftochter (und spätere Frau)
sich gegen zwei Uhr morgens neben seinem Sessel aufstellte und so
lange stehenblieb, bis Wehner mit ihr nach Hause ging.
In den Tagen kurz vor der Abstimmung über das
Misstrauensvotum gegen Willy Brandt im Frühjahr 1972 saß ein
jüngerer CDU-Abgeordneter bei
mir im Büro. Er war ganz erschrocken, als sich die Tür öffnete und
Franz Josef Strauß, der CSU-Chef, ihn vorwurfsvoll begrüßte: »Sie
hier? Sie essen Suppe bei der ARD?« Der Abgeordnete verabschiedete sich
schnell, Strauß hingegen blieb, aß selbst einen Teller und
beantwortete eine Frage, die uns damals alle beschäftigte. Ob er
den CDU-Fraktionschef Rainer
Barzel, der mit dem Misstrauensvotum auf die Kanzlerschaft
zustrebte, ins rostige Messer laufen lassen würde. Die Antwort kam
knochentrocken: »Mein Messer ist nie rostig.« Öffentlich hatte
Strauß immer wieder erklärt, er unterstütze Barzel und habe
keinerlei Absicht, ihn als Kanzlerkandidaten zu ersetzen. In
solchen Fällen lohnte sich das Gespräch: Eine knappe Andeutung des
Hauptbeteiligten war mehr wert als die vielen Gerüchte, die uns
sonst zugetragen wurden.
Unserem Studiogebäude in Bonn haftete etwas
angenehm Unfertiges, Improvisiertes an. Es war seit den ersten
Tagen der Bundesrepublik in Betrieb und seither ständig umgebaut
worden. Mein Vorgänger Günter Müggenburg war von Anfang an ein Teil
des Bonner Milieus gewesen, mit unzähligen Verbindungen und
Beziehungen, mit allen bekannt, mit vielen befreundet und nicht im
Verdacht parteipolitischer Einseitigkeit. Dasselbe galt auch für
die drei Kollegen Friedrich Nowottny, Ernst Dieter Lueg und Klaus
Altmann, mit denen ich nach seinem Weggang in der Redaktion
zusammenarbeitete. Jeder hatte Bekannte in Ministerien und
Fraktionen, aber wir verfügten über so unterschiedliche Kontakte
und Quellen, dass man uns keine einseitige Festlegung vorwerfen
konnte. Die parteipolitischen Schlachten wurden in den
Rundfunkräten der ARD-Anstalten
geschlagen und dann vom Intendanten des WDR, dem das Bonner Studio unterstand, fast
immer ohne Druck an uns Hauptstadt-Korrespondenten weitergemeldet.
Die dreißig Kilometer Entfernung zwischen dem Funkhaus in Köln und
dem Studio in Bonn waren meist ein angenehmer Filter in der
Kommunikation.
Zunächst schien es so, als erreichten
technische Neuerungen das Bonner Studio stets mit Verspätung, dann
jedoch konnten auf dem »kleinen Dienstweg« größere Veränderungen
ausgehandelt werden. Bei einem seiner seltenen Besuche im Studio
gratulierte uns der WDR-Verwaltungsdirektor dazu, dass auch wir
nun ein eigenes Kamerateam hätten. Tatsächlich standen uns
inzwischen auch ein voll ausgerüstetes Studio und ein Schneideraum
zur Verfügung. Die hatten Kollegen aus der technischen Direktion
abgezweigt, nachdem das Studio in Brüssel modern ausgerüstet worden
war und wir dessen alte Ausstattung übernehmen durften. Brüssel
galt als künftiges Zentrum Europas, Bonn dagegen war als
Bundeshauptstadt eine Übergangslösung. Auch unser Studio würde nach
der Wiedervereinigung selbstverständlich nach Berlin zurückverlegt,
so dachten viele, möglicherweise ins große Funkhaus an der
Masurenallee. Irgendwie wirkte in Bonn alles vorläufig und
endgültig zugleich.
Die Bundespolitik war zu dieser Zeit mit
einem zentralen Thema beschäftigt, das mich schon lange fasziniert
hatte. Die Regierung Brandt suchte einen neuen Kurs in der
Ostpolitik. Nach Jahren der einseitigen Ausrichtung auf Westeuropa,
insbesondere Frankreich, sollte nun das Gespräch mit dem anderen,
bis dahin vernachlässigten Partner der westdeutschen Außenpolitik
aufgenommen werden. Es ging um die Frage, ob eine Annäherung an die
Sowjetunion und damit auch an die anderen Staaten des Ostblocks
möglich sei, ohne den Weg zu einer Wiedervereinigung zu
verschließen. So war die erste Jahreshälfte 1970 eine Zeit des
Abtastens und der Vorverhandlungen zwischen den beiden Regierungen
in Bonn und Moskau. Diese Vorgespräche lösten im Bundestag eine
erbitterte innenpolitische Auseinandersetzung aus, die oft von
Vermutungen oder frei erfundenen Gerüchten beherrscht war. Die
Opposition aus CDU/CSU, die von Konrad Adenauer eine Politik
der festen Bindungen an Westeuropa und Amerika und ein absolutes
Misstrauen gegenüber der Sowjetunion geerbt hatte, sprach vom
Ausverkauf bundesdeutscher Interessen. Jede vertragliche
Einschränkung der militärisch-politischen Sicherheit sowie des
Anspruchs auf Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten in
Deutschlands alten Grenzen galt ihnen als Verrat. Die westlichen
Mächte wiederum wussten, dass eine unbewegliche Haltung Bonns
gegenüber Gesprächen mit Moskau eine Entspannungspolitik in
Mitteleuropa sehr viel schwerer machen würde. Davon abgesehen,
gestalteten sich die Sondierungsgespräche mit der Sowjetunion aber
auch deshalb kompliziert, weil die Führung in Moskau innerlich
gespalten war. Bei vielen Politikern im Kreml herrschte große
Furcht, die sozialistischen Länder Osteuropas könnten sich eines
Tages zu stark nach Westen orientieren.
Im Auftrag des Bundeskanzlers hatte
Staatssekretär Egon Bahr seit Ende 1969 erste Gesprächskanäle
geöffnet und in Moskau Unterredungen von höchster Vertraulichkeit
geführt, über die auch das Kabinett oft nur teilweise informiert
war. Bahr konnte in diesen Monaten ein kleines, unsichtbares Netz
vertraulicher Beziehungen aufbauen, wodurch deutsche Vorschläge
nicht von Außenministerium zu Außenministerium übermittelt werden
mussten, sondern den inneren Kreis der Breschnew-Berater auf
direktem Weg erreichten. Es lag in der Natur der Sache, dass der
Inhalt solcher vorbereitenden Gespräche nicht öffentlich bekannt
gemacht werden konnte. In Moskau durften die Gegner einer neuen
Deutschlandpolitik nicht gereizt werden, und in Bonn konnte der
Bundeskanzler keine aufgeheizte Debatte über veränderte Beziehungen
zu Moskau gebrauchen – was freilich auch bedeutete, dass diese
unterdrückte Diskussion das Misstrauen der Opposition wachsen ließ.
Als ich Willy Brandt in diesen Monaten einmal fragte, ob es nicht
besser sei, der Öffentlichkeit Klarheit über Absicht und Stand der
Moskauer Gespräche Egon Bahrs zu vermitteln, antwortete er: »So
genau weiß ich das auch nicht. Das ist alles Egon und die
Detektive.« Am Ende sollte sich Brandts großes Vertrauen in seinen
Unterhändler auszahlen: Anfang August 1970 war der Boden durch die
Vorgespräche so weit bereitet, dass es zu mehrtägigen Verhandlungen
zwischen den beiden Außenministern Scheel und Gromyko kam. Kurz
darauf konnte Willy Brandt seine Reise zur Unterzeichnung des
Moskauer Vertrags antreten.
Ich hatte als Korrespondent in Moskau,
Washington und nun in Bonn viele Jahre hindurch Diskussionen und
Verhandlungen über die Ost-West-Beziehungen und die
Deutschlandfrage verfolgt. Nun gehörte ich zu der Gruppe deutscher
Journalisten, die den Bundeskanzler zu seinen Gesprächen und zur
Paraphierung des Vertragswerks in Moskau begleitete. Der
Vertragstext, so schien es, war ausgearbeitet und musste nur
unterschrieben werden. Wie sich dann jedoch zeigte, hatten die
Gäste aus Westdeutschland die Meinungsverschiedenheiten
unterschätzt, die immer noch innerhalb der sowjetischen Führung
herrschten. Abends, im Gästehaus auf den Leninhügeln, erzählte uns
Willy Brandt, wo es bei den letzten Unterredungen vor der
Vertragsunterzeichnung hakte: Manchmal sei er sich mit Breschnew
bereits einig gewesen, dann aber habe Außenminister Gromyko
eingegriffen und mit Hinweisen auf Verträge und Klauseln erklärt,
Breschnew könne in einer bestimmten Frage dem deutschen
Formulierungsvorschlag nicht zustimmen. Schließlich waren aber auch
diese letzten Hürden beseitigt. Das Abkommen schrieb im
Wesentlichen einen gegenseitigen Gewaltverzicht, die Wahrung der
territorialen Integrität und die Unverletzlichkeit der Grenzen
fest. Zusätzlich übergab Außenminister Scheel einen »Brief zur
deutschen Einheit«, in dem festgehalten wurde, dass eine deutsche
Wiedervereinigung nicht im Widerspruch zu den Vereinbarungen des
Vertrages stünde.
Während wir Journalisten vor der
Vertragsunterzeichnung auf die Ergebnisse der abschließenden
Gespräche warteten, kamen manche unserer sowjetischen Kollegen mit
ungewohnt großer Offenheit auf uns zu. Dabei merkten wir, dass
besonders diejenigen, die in ihrer Arbeit eng mit der DDR verbunden gewesen waren, einer
Annäherung zwischen Bonn und Moskau misstrauten. Bei ihnen war ein
nie offen ausgesprochener und doch zäher Widerstand zu spüren. Sie
fürchteten offenbar, der Vertrag könne den zweiten deutschen Staat
aushöhlen und die ostdeutschen Kommunisten in ihrem
Selbstverständnis verunsichern. Wie stark sich die Gegner einer
engeren Bindung zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion
fühlten, gab uns in diesen Tagen der Chef des sowjetischen
Fernsehens und Rundfunks, Sergej Lapin, zu verstehen. Er war ein
alter Apparatschik, ein eisenharter Funktionär. Anfang der
fünfziger Jahre hatte er an der Botschaft in der DDR gearbeitet. Später war er Erster
Parteisekretär im Außenministerium gewesen und hatte danach die
staatliche Nachrichtenagentur TASS geleitet. Wenige Wochen vor dem
Brandt-Besuch war er zum Vorsitzenden des Staatskomitees für
Rundfunk und Fernsehen aufgestiegen, der wichtigsten
Propagandaeinrichtung der KPDSU. Nun waren wir auf ihn und seinen
Apparat angewiesen, wenn wir unsere Zuschauer in Deutschland über
die Ergebnisse in Moskau informieren wollten.
Der Leiter des Bundespresseamts und frühere
Chefredakteur des Spiegel, Conrad Ahlers,
hatte dem Moskauer ARD-Korrespondenten Lothar Loewe und mir
den Wunsch des Bundeskanzlers übermittelt, am Tage der
Vertragsunterzeichnung im Fernsehen zu den Deutschen zu sprechen.
Die ARD verfügte in Moskau aber
nur über ein kleines Büro ohne eigene Übertragungsmöglichkeiten.
Mehr erlaubten die sowjetischen Behörden ausländischen
Korrespondenten grundsätzlich nicht, und so war unsere
Berichterstattung in technischer Hinsicht vollkommen vom
sowjetischen Fernsehen abhängig. Folglich ließ sich eine Rede des
deutschen Bundeskanzlers nur mit der Hilfe des Staatskomitees für
Rundfunk und Fernsehen nach Deutschland übermitteln. Wir wandten
uns daher an die Abteilung für Auslandsbeziehungen beim
Sowjetfernsehen und erhielten nach einigen Stunden telefonisch eine
Absage, ohne jede Begründung. Fernsehfunktionäre, mit denen wir
offiziell Kontakt haben durften, sahen keinen Spielraum für
Verhandlungen, und noch am Abend vor der Unterzeichnung erklärten
sie es für völlig ausgeschlossen, dass eine Ansprache des
Bundeskanzlers nach Deutschland übertragen werden könnte. Sergej
Lapin zog sich auf die Position zurück, dass die Frage der
Übertragungstechnik nicht Sache des Fernsehens sei. Ein
sowjetischer Kollege gab uns schließlich vorsichtig zu verstehen,
Lapin habe durchaus die Möglichkeit, eine Übertragung zu
verhindern, so dass die Genehmigung am Ende von Breschnew
persönlich kommen müsste.
Aber wo und wie sollten wir als Ausländer eine
solche Genehmigung einholen, wenn Breschnew und Brandt im Kreml
verhandelten? Für ausländische Diplomaten und Journalisten war
jeder Zugang durch die großen Mauern und Tore versperrt. Wir
standen vor dem Kreml am Borowizki-Tor und stellten mit Hilfe der
deutschen Botschaft eine Verbindung zu Conrad Ahlers her, der in
Breschnews Vorzimmer wartete. Allerdings konnte Ahlers mit uns nur
außerhalb der Kremlmauern telefonieren. Es war ein langer Weg für
ihn durch den Kreml und zurück, und schließlich musste er fast
seine Ellenbogen gebrauchen, um wieder bis zum Arbeitszimmer
vorzudringen, in dem Brandt und Breschnew noch immer miteinander
sprachen. Der sowjetische Parteichef entschied sofort: Natürlich
könne der deutsche Bundeskanzler seine Ansprache beim sowjetischen
Fernsehen aufnehmen. Mit dieser Nachricht schickte Ahlers ein
Delegationsmitglied auf denselben langen Weg durch den Kreml zu
uns, und wir gaben sie an das sowjetische Fernsehen weiter.
Damit aber waren unsere Verhandlungen nicht zu
Ende. Niemand wollte uns sagen, wo die Ansprache des Bundeskanzlers
am nächsten Morgen aufgezeichnet werden sollte. Es hieß lediglich,
der Kanzler werde nach dem Frühstück abgeholt und in ein Studio
gebracht. Also postierten Lothar Loewe und ich uns morgens in
seinem Volkswagen auf der Straße vor dem Gästehaus der Regierung
und warteten. Als die Wagen mit Willy Brandt und seinen engsten
Mitarbeitern mit hoher Geschwindigkeit aus dem großen Tor
herausgeschossen kamen, hängten wir uns sofort an sie dran. Die
Begleitwagen versuchten mehrfach, uns in die Bäume am Straßenrand
abzudrängen oder auszubremsen. Aber wir waren sicher, dass sie
während des Brandt-Besuchs keinen Unfall mit uns provozieren
durften, und blieben nah an der Kolonne. Sie fuhr
überraschenderweise nicht zum großen Hauptgebäude des Fernsehens in
Ostankino, sondern in eine ganz andere Richtung. Schließlich
stoppten wir auf dem Hof eines Hauses, an dem nichts darauf
hindeutete, dass es sich um ein Fernsehstudio handelte. Sergej
Lapin war bereits vor Ort, wurde als Mitglied des Zentralkomitees
im Ministerrang vorgestellt und nahm den deutschen Bundeskanzler
mit kühler Formalität in Empfang. Dann sahen wir von einem
improvisierten Kontrollraum aus in eine Art Studio, in dem Willy
Brandt an einem hölzernen Tisch saß, äußerlich ruhig, aber doch
angespannt. Während er wartete, zerbrach er Streichhölzer und
klopfte unablässig mit dem Fuß auf den Boden. Niemand vom
sowjetischen Personal konnte sagen, wann es weitergehen würde.
Schließlich kam ein technischer Mitarbeiter und stellte vor dem
Kanzler ein großes Schild auf den Tisch: »APN – Presseagentur Novosti«. Das hatten
auch die sowjetischen Studiotechniker noch nie gesehen: Der
Fernsehvorsitzende demonstrierte damit, dass sein Fernsehen nicht
für eine Ansprache des deutschen Bundeskanzlers zur Verfügung
stand. Die Übertragung begann und endete somit ohne das gewohnte
Logo des Sowjetfernsehens. Willy Brandt sprach etwa fünf Minuten,
und es war deutlich, dass er sich mit dieser Rede vor allem auch an
die politische Opposition in Deutschland wandte. Mit diesem Vertrag
gehe nichts verloren, was nicht längst verspielt worden sei, sagte
er. Der Vertrag beeinträchtige in keiner Weise die feste
Verankerung der Bundesrepublik im westlichen Bündnis, er gefährde
nichts und niemanden, sondern solle mithelfen, den Weg nach vorn zu
öffnen, und werde dem Frieden in ganz Europa nützen.
Der deutsche Bundeskanzler blieb nach der
Aufzeichnung noch einige Minuten am Studiotisch sitzen, doch der
sowjetische Fernsehchef mied ein Gespräch mit ihm und machte den
Abschied kurz. Brandt fuhr zum Kreml zurück. »Nun macht mal schön
und sagt uns Bescheid, wann die Überspielung in Bonn ankommt«,
sagte Conrad Ahlers. Die Frage gaben wir an die sowjetischen
Techniker weiter, denn wir mussten Leitungen und ein Aufnahmestudio
in Deutschland bestellen. Die Antwort war nur ein Achselzucken.
Das, sagte ein Fernsehvertreter, sei nicht seine Sache: »Das Band
mit der Aufzeichnung wird an die deutsche Botschaft ausgeliefert
werden.« Und dann ging auch er. Wir fuhren ohne Behinderung in die
Stadt zurück und überlegten, ob es noch möglich sei, die
Aufzeichnung per Flugzeug wenn nicht direkt nach Deutschland, so
doch nach Helsinki oder Wien zu schaffen und von dort aus
überspielen zu lassen. Aber dazu reichte die Zeit bis zur
abendlichen Sendung nicht mehr. Also versuchten wir erneut, Conrad
Ahlers im Kreml zu informieren. Er schaffte es unter großen
Schwierigkeiten, zu Breschnew und Brandt vorzudringen, und
Breschnew zeigte sich überrascht: Natürlich werde die Ansprache des
Kanzlers nach Deutschland übermittelt, erklärte er. Deshalb sei sie
ja gemacht worden. Mehr erfuhren wir nicht, aber wir informierten
die Kollegen von der Tagesschau in Hamburg
über Fernschreiber, dass am späten Nachmittag eine Leitung aus der
Sowjetunion auflaufen werde. Möglicherweise komme kein
schriftlicher Bescheid, aber die Technik müsse einfach für einen
Sekundenstart bereit sein.
Tatsächlich kam die Leitung schließlich über
Schaltstellen in der DDR und in
Polen zustande, und die Fernsehtechniker beim NDR ließen sich durch die unbekannte
Kennung »Presseagentur Novosti« nicht verwirren. Sie zeichneten die
Überspielung aus Moskau auf und sendeten sie. Ich erzählte diese
Geschichte einem sowjetischen Kollegen, den ich ein wenig näher
kannte, und fragte, wie diese unfreundliche Behandlung durch die
Fernsehleute zu erklären sei. »Lapin«, sagte er, »ist einer von den
Offizieren des Zweiten Weltkriegs, die nicht verzeihen können, dass
die Sowjetarmee nur bis zur Elbe und nicht bis zum Rhein gekommen
ist.« Es gebe eben so manchen in der Parteiführung, der lieber eine
harte Linie weiterfahren würde. Lapin blieb der Herrscher über
Rundfunk und Fernsehen in der Sowjetunion, bis ihn Michail
Gorbatschow fünfzehn Jahre später in Pension schickte.
Die Unterzeichnung des Moskauer Vertrags
markierte keineswegs das Ende der Auseinandersetzung um die
deutsche Ostpolitik, sondern stand am Beginn einer besonders harten
Phase des innenpolitischen Kampfes in Bonn. CDU und CSU warfen Brandt und Scheel vor, mit
diesem Vertragsabschluss deutsche Interessen verraten zu haben. Dem
Gewaltverzicht auf dem Papier stehe ein Schießbefehl in der
Wirklichkeit gegenüber, erklärte CDU-Fraktionschef Rainer Barzel. Wenn die
Sowjetunion nicht in Grundsatzfragen nachgebe, was die
Selbstbestimmung und die Einheit Deutschlands sowie einen Verzicht
auf Reparationsforderungen angehe, dann sei Moskau den deutschen
Interessen eben keinen Schritt entgegengekommen. Hinter der Kritik
stand unausgesprochen die Überzeugung, mit kommunistischen Ländern
dürfe nicht verhandelt werden. Genau das jedoch betrieb die
Regierung Brandt intensiv weiter: Seit Februar 1970 waren auch in
Warschau Gespräche aufgenommen worden, die schließlich im Dezember
1970 zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrags führten. Wie schon
im Moskauer Vertrag verpflichteten sich die Unterzeichner zu
Gewaltverzicht und Achtung ihrer territorialen Integrität. Außerdem
wurde die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens faktisch
festgeschrieben.
Es sollte nach dem Besuch Willy Brandts in der
sowjetischen Hauptstadt fast zwei Jahre dauern, bis die Verträge
von Moskau und Warschau im Mai 1972 im Bundestag ratifiziert werden
konnten. Im Vorfeld war es jedoch keineswegs sicher gewesen, dass
die Regierungskoalition die erforderliche Mehrheit für die
Abstimmung über die Ostverträge zusammenbringen könnte. Vor diesem
Hintergrund hatte Rainer Barzel am 27. April im Bundestag die
Machtfrage gestellt. Nachdem mehrere Abgeordnete aus dem
Regierungslager zur Opposition übergewechselt waren und weil
vermutet wurde, dass manche Abgeordnete aus der Regierungskoalition
die Ratifizierung ablehnten, schien das konstruktive
Misstrauensvotum gegen den Bundeskanzler durchaus eine
Erfolgschance zu haben. Barzel erhielt am Ende jedoch nur 247 von
249 erforderlichen Stimmen. Damit herrschte im Bundestag eine
Pattsituation, die eine Zusammenarbeit in der Ratifizierungsfrage
erforderlich machte. Parallel zu den Verhandlungen in Bonn liefen
Gespräche mit Moskau, um mit Modifikationen den Gegnern der
Verträge entgegenkommen zu können. Schließlich konnten sich
Opposition und Regierung auf einen Kompromiss einigen: In einer
gemeinsamen Entschließung schrieben sie fest, dass die endgültige
Festsetzung der Grenzen Deutschlands einem Friedensvertrag
vorbehalten bleibe, während die Verpflichtung zu Gewaltverzicht das
Kernstück der Übereinkunft darstellen solle. Es war keine
grundsätzliche Veränderung, aber sie machte es den Abgeordneten der
Opposition möglich, die Ostverträge am 17. Mai 1972 wenigstens
durch Stimmenthaltung passieren zu lassen.
Für mich waren dies neben den Putschtagen 1991
in Moskau die heißesten Wochen in meinem Leben als politischer
Korrespondent. Das Studio Bonn war mehrere Tage lang praktisch rund
um die Uhr auf Sendung. Zum ersten und einzigen Mal durfte das
Fernsehen nicht nur offizielle Bilder aus dem Plenarsaal zeigen,
sondern direkt aus den meisten Räumen und Korridoren des Bundestags
berichten. Eigentlich war das technisch mit den Mitteln der
ARD gar nicht möglich, aber die
Ingenieure hatten uns aus Telefon- und Konferenzleitungen ein
System zusammengestrickt, mit dem wir über direkte Bild- und
Tonverbindungen zur Tagesschau nach Hamburg
verfügten. Mit unseren Kameras konnten wir aus allen Teilen des
Bundestagsgebäudes live auf Sendung gehen und hatten damit die
Möglichkeit, Redeausschnitte, Interviews und zufällige
Nebenbemerkungen bis spät in die Nacht zu übertragen. So
unmittelbar war der Blick des Fernsehens auf die Politik in
Deutschland wohl nie wieder. Das bedeutete, dass nicht nur führende
Leute der Fraktionen, sondern auch Hinterbänkler im Fernsehen zu
sehen und zu hören waren. Sie waren gerade in den Tagen vor dem
Misstrauensvotum plötzlich wichtig geworden, weil alle wussten,
dass der Ausgang von zwei oder drei Stimmen oder Stimmenthaltungen
abhängen würde. Ein Hinterbänkler, der wegen der extrem knappen
Mehrheitsverhältnisse zum ersten Mal in seinem Leben ein gefragter
und umworbener Mann geworden war, gab uns auf dem Flur vor dem
Bundestagsrestaurant ein Liveinterview. Ergriffen von seiner
neugewonnenen Bedeutung und erschüttert von den ernsten
Überzeugungsgesprächen seiner Fraktionsführung, zeigte sich der
Abgeordnete deutlich »bis über die Ohren unter Korn«, wie
Parteifreunde seine eigenwilligen Äußerungen später zu erklären
versuchten.
Auch in den Tagen, in denen um die
Ratifizierung der Ostverträge gerungen wurde, waren wir mit unseren
Kameras dicht am Geschehen. Noch kurz vor der Einigung zwischen der
Bundesregierung und dem sowjetischen Botschafter schoss Rainer
Barzel nach einer wichtigen Fraktionssitzung der CDU auf dem Flur an uns vorbei und rief mir
zu: »Ich blicke da nicht mehr durch, ich mache nicht mehr mit.«
Auch das lief live im Programm der ARD. Im Bericht aus
Bonn öffnete sich dann später am Abend leise die Tür zum
Studio, in dem ich den Tagesverlauf schilderte. Ich erblickte den
Kanzleramtsminister Horst Ehmke, der mir durch ein Zeichen zu
verstehen gab, dass er dringend mit mir sprechen müsse. So etwas
war uns bisher noch nicht passiert, aber während des nächsten
kurzen Filmbeitrags winkte ich Ehmke zum Moderationstisch herüber.
Irgendwie bezog ich ihn dann in meine Zwischenmoderation ein, gab
ihm das Wort, und Ehmke berichtete über das Ergebnis der
allerletzten spätabendlichen Verhandlung mit dem sowjetischen
Botschafter: Moskau hatte ein entscheidendes Zugeständnis in den
Formulierungen über die Frage der deutschen Wiedervereinigung
gemacht. Der sowjetische Botschafter habe die entsprechende
Nachricht gerade aus Moskau erhalten. Damit war die Formel
entfallen, welche die Opposition bisher als Grund für ihre
Ablehnung genannt hatte.
Horst Ehmke sagte das ganz ruhig und ohne jede
Nervosität. Als der nächste Film lief, fragte ich ihn, was ihn
geritten habe, so in das laufende Programm zu platzen. Er habe
Rainer Barzel nicht anders über diese entscheidend veränderte Lage
informieren können, erklärte er mir. Am Telefon habe niemand
geantwortet, und auf einen Brief, den er Barzel unter der
Wohnungstür durchschieben ließ, sei auch kein Rückruf gekommen. Nun
hoffe er, dass Barzel den Bericht aus Bonn
gesehen und die wichtige Nachricht verstanden habe. Das war
natürlich gegen alle Regeln, aber es war mir auch recht. So hatten
wir vielleicht etwas für eine Verständigung in der Ostpolitik getan
und unseren Zuschauern und den Kollegen eine Exklusivmeldung
geliefert. Tatsächlich war der Weg für die Abstimmung im Bundestag
nun frei. Die Bundesrepublik konnte künftig in den
Entspannungsprozess der Großmächte einbezogen werden, ohne auf den
Anspruch auf Wiedervereinigung verzichten zu müssen. Ein solches
Ergebnis hatte ich auf dem Höhepunkt der Diskussionen kaum zu
erhoffen gewagt.
In diesen Wochen hielten die Zeitungskollegen
abends die Druckmaschinen oft so lange an, bis sie die letzten
Informationen aus der Spätausgabe der Tagesschau mitnehmen konnten. Kollegen von einem
Hamburger Nachrichtenmagazin polemisierten gegen die Indiskretionen
unserer Direktübertragungen – vielleicht, weil bei uns live jene
Hintergrundinformationen zu erfahren waren, mit denen es sonst
seine Leser überraschen konnte. Der Ältestenrat des Bundestags
beschloss am Ende, solche Bedenken zu teilen: Von nun an durften
nur noch die festinstallierten Kameras im Plenarsaal und in den
Fraktionssälen das politische Geschehen im Bonner Bundestag
zeigen.
So aufregend es für mich war, die
Auseinandersetzungen in diesen Bonner Jahren zu verfolgen, so war
ich wohl doch nicht ganz die optimale Besetzung auf meinem Posten.
Ich warf als ehemaliger Auslandskorrespondent zwar einen kühlen
Blick auf die Bonner Machtkämpfe, war dabei aber nicht der ideale
Studioleiter, der in den Konflikten der Innenpolitik aufging und in
mühsamen Verhandlungen die Interessen der ARD gegenüber den Parteizentralen und
Fraktionsführungen vertreten mochte. Die Sekundenzählerei, mit der
manche Parteimitarbeiter ihren Arbeitseifer demonstrierten, ertrug
ich nur schwer. Immer wieder ging es um den Vorwurf, in unseren
Sendungen habe die eine Partei eine oder eine halbe Sendeminute
mehr oder weniger gehabt als die andere. Die mechanische Zählerei
und das Misstrauen, das sich darin ausdrückte, stammten mehr aus
dem Mittelbau als von den bekannteren Abgeordneten oder den
Führungsspitzen der Parteien. Ärgerlich waren sie dennoch. So kam
es mir sehr gelegen, als sich im Sommer 1972 die Möglichkeit bot,
den ehemaligen Außenminister Gerhard Schröder auf einer großen
offiziellen Reise nach China zu begleiten.
Um die Beziehungen zu China hatte es in Bonn
schon längere Zeit eine heftige Auseinandersetzung gegeben. Die
Bundesregierung war von sowjetischen Diplomaten gewarnt worden:
Engere Kontakte zwischen Bonn und Peking würde Moskau als
Unterstützung der Politik der Amerikaner deuten, die durch eine
engere Zusammenarbeit mit den Chinesen die Sowjetunion unter Druck
setzen wollte. Um nicht die Entspannung zu stören, die sich gerade
zwischen Bonn und Moskau abzeichnete, behandelte die
Bundesregierung deshalb jeden Kontakt mit der chinesischen
Regierung vorsichtig und zurückhaltend. Egon Bahr warnte vor einem
Scheitern des Moskauer Vertrags, falls das Auswärtige Amt
gleichzeitig diplomatische Beziehungen mit Peking aufzunehmen
versuche. Darauf reagierte die Opposition mit scharfer,
grundsätzlicher Kritik. Die Bonner Regierung habe sich dem Druck
der Sowjetunion ausgeliefert und richte sich nun nach den Wünschen
Moskaus, lautete der Vorwurf. Es war jedenfalls eine
undurchsichtige Situation in Bonn, bei der aus Peking keine
erklärenden Signale kamen und aus Moskau meist nur harte Warnungen
vor einem »Bündniswechsel«.
Ich hatte das Glück, dass einer meiner ältesten
russischen Bekannten, der Journalist und Spezialist für
Außenpolitik Lew Besymenski, zu Gesprächen nach Bonn kam.
Anderthalb Jahrzehnte zuvor war er in Moskau mein halboffizieller
Kontaktmann gewesen. Gelegentlich hatten wir zusammen gegessen.
Unsere Gespräche waren mit der Zeit vertrauter geworden,
schließlich empfanden wir uns als Freunde, redeten ziemlich offen
und hatten uns angewöhnt, Einschätzungen der deutsch-sowjetischen
Beziehungen auszutauschen. Bei seinem Bonn-Besuch zur Zeit der
Diskussionen um die China-Politik der Bundesregierung warnte
Besymenski davor, die Besorgnisse eines Teils der hohen
Sowjetfunktionäre zu unterschätzen. Er deutete an, Walter Ulbricht
– bis zu seiner Entmachtung im Mai 1971 SED-Parteichef in der DDR – habe seine Ämter auch deshalb
verloren, weil er den Kontakt mit China nutzen wollte, um sich im
Verhältnis zu Moskau mehr Luft zu verschaffen. Andererseits, so
ließ er in unseren Gesprächen auch durchblicken, selbst wenn
Beziehungen zwischen Bonn und Peking aufgenommen würden, erwarte
die sowjetische Führung davon keine praktischen weltpolitischen
Veränderungen, da Peking zu einer zielgerichteten Außenpolitik gar
nicht in der Lage sei.
Im Januar 1972 kontaktierte die Bundesregierung
die Volksrepublik auf dem Weg über die beiden Botschafter in Paris
mit einer Anfrage: Ob Peking zur Aufnahme von Verhandlungen über
diplomatische Beziehungen bereit sei. Von chinesischer Seite kam
keine Antwort. Stattdessen traf im April 1972 in Bonn eine
Einladung ein, die nicht an die Bundesregierung, sondern an einen
Mann der Opposition gerichtet war: an den ehemaligen Außenminister
Gerhard Schröder von der CDU,
nun Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen
Bundestags. Im Regierungslager empfand man das fast als
beleidigend. Auch mich traf Kritik: Da ich zu den sechzehn
Journalisten in Schröders Reisegruppe gehören sollte, sahen manche
meiner Kollegen in dieser Teilnahme einen unfreundlichen Akt gegen
die Regierung. Oppositionspolitiker hingegen gratulierten mir und
vermuteten hinter meinem Entschluss eine Ablehnung der Ostpolitik
Willy Brandts. Ich aber war einfach nur neugierig und wollte mir
auf dieser Reise, so weit es überhaupt möglich war, ein eigenes
Bild von dem geheimnisvollen, riesigen kommunistischen Land machen.
Gegen Ende der fünfziger Jahre hatte ich schon einmal den Versuch
unternommen, Chinesisch zu lernen, in der Hoffnung, als
Korrespondent nach Peking gehen zu können. Aber nachdem sich mit
der Kulturrevolution die politische Situation immer weiter
verhärtet hatte, glaubte ich damals nicht, dass ausländische
Journalisten in das Land gelassen würden. Nun gab es erste
Anzeichen, dass sich in China etwas zu ändern begann, und die Reise
mit Schröders Journalistengruppe bot die erste Chance für mich,
dies mit eigenen Augen zu sehen.
In Bonn existierte zu dieser Zeit eine kleine
chinesische Kontaktstelle. Es war das Büro der staatlichen
Nachrichtenagentur Xinhua, bestehend aus dem Bürochef und seinem
Stellvertreter. In Peking hatten die Deutschen seit Jahren eine
ähnliche Einrichtung in Form eines Büros der Deutschen
Presseagentur. Zwischen beiden Vertretungen gab es jedoch einen
kleinen, aber grundsätzlichen Unterschied: Die dpa-Korrespondenten
waren tatsächlich Journalisten, im Bonner Büro von Xinhua war der
Chef dagegen ein gehobener Parteifunktionär und sein Vertreter und
Dolmetscher ein Diplomat aus dem chinesischen Außenministerium. Die
beiden wohnten und arbeiteten in einem Haus am Rande von Bad
Godesberg, doch Bonner Politiker und außenpolitische Experten
suchten kaum Kontakt zu ihnen. Ich hatte sie gelegentlich zu
Gesprächen über China und seine Beziehungen zur sowjetischen und
zur westlichen Welt besucht – zunächst bei einer Tasse Tee, später
manchmal bei einem leichten, eher improvisierten chinesischen Essen
und einem Gläschen hochprozentigem Maotai-Schnaps. Zweimal hatte
ich sie zu kleinen Cocktailpartys bei mir zu Hause eingeladen, wo
sie einige Abgeordnete und auch Mitarbeiter aus dem Außen- und
Verteidigungsministerium getroffen hatten. Sie stellten eine Frage
nach der anderen – vermutlich zur Belebung ihres Berichts nach
Peking – und waren mit diesem ungewöhnlichen Kontakt zur deutschen
Politik sichtlich zufriedener als manche der deutschen Gäste, die
den chinesischen Wissensdurst ermüdend fanden.
Nun sollte ich die Formalitäten der
Visaerteilung für die vierzehntägige Chinareise im Juli 1972 bei
ihnen erledigen. Ich nutzte die Gelegenheit, um eine
Mitreisegenehmigung für ein kleines Kamerateam zu erbitten.
Zunächst waren sie skeptisch, zeigten sich dann aber einige Zeit
später sehr zufrieden, als sie mir die Erlaubnis erteilen durften,
einen Kameramann und einen Tontechniker mit auf die Reise zu
nehmen. Das war ein großer Erfolg, ja eine kleine Sensation: Seit
mehreren Jahren, seit dem Beginn der Kulturrevolution, war kein
ausländisches Kamerateam mehr durch China gereist. Was wir dort
sehen und eventuell filmen dürften, blieb undefiniert. Doch was
immer wir auf der Reise vor die Kamera bekommen würden – wir
wollten es drehen. Alles war interessant, und wir waren sicher,
Gerhard Schröder würde als Gast dafür sorgen, dass nicht nur
trockene Aufnahmen vom Verhandlungstisch gefilmt würden, sondern
dass anderes, farbigeres Bildmaterial die Berichte von seiner
Chinareise schmückte.
Nördlich von Peking führten die Chinesen ihren
deutschen Gast auf die Große Mauer, mehrere Tausend Kilometer lang,
zweieinhalbtausend Jahre alt und ursprünglich erbaut zum Schutz
gegen die Reitervölker aus dem Norden. Wir standen auf einem der
massiven Türme, der deutsche Gast blickte über die Hügelkette und
deutete mit der Hand in die Ferne: Dort liege Deutschland, das
immer noch geteilte Vaterland. Dabei zeigte er mit ausgestrecktem
Arm über die Mauer allerdings in Richtung Ostsibirien und Alaska.
Die Chinesen hatten ihn trotzdem verstanden. Am nächsten Tag
standen die chinesischen Gastgeber mit ihrem deutschen Gast auf
einem Truppenübungsplatz im Süden des Landes und schauten Soldaten
zu, die mit dem Bajonett auf Pappkameraden einstachen und dazu
»cha, cha!« brüllten, was so viel wie »tötet!« heißt. Wir
besichtigten im Nordosten des Landes das Stahlwerk Anshan, das mit
sowjetischer Hilfe erbaut worden war, filmten die Stahlarbeiter vor
den Hochöfen, die sie, wie man uns sagte, ohne jede fremde Hilfe
entscheidend vergrößert und verbessert hätten. In den Städten
drehten wir das riesige Heer der Radfahrer, das sich durch die
breiten Straßen schob. In Peking durften wir einige Bilder von den
leeren Höfen der Verbotenen Stadt machen, dem alten Kaiserpalast,
der seit Jahren für alle Chinesen gesperrt war, und wir filmten die
schaulustigen Provinzler auf dem Tiananmen-Platz vor der Großen
Halle des Volkes. Zum Begrüßungsbankett war Gerhard Schröder noch
korrekt im schwarzen Anzug erschienen, beim Abschiedsessen in der
Großen Halle des Volkes trug er dann eine Art Mao-Hemd. Aus dem
antikommunistischen CDU-Konservativen, so schien uns, war ein
Verbündeter des antisowjetischen chinesischen Kommunismus
geworden.
Die aktuellen Besuchsberichte waren schnell in
kürzeren Beiträgen abgearbeitet. Darüber hinaus hatten wir aber
genügend Material gesammelt, aus dem sich nach unserer Rückkehr ein
lebendiger, ungewöhnlicher Dokumentarfilm zusammenschneiden ließ.
Die meisten unserer Filmrollen waren gefüllt mit Bildern aus dem
Alltagsleben in China, wie man sie im Westen noch nie gesehen
hatte. Der Film kam zwar nicht hautnah an das chinesische Leben
heran, konnte aber doch Zustand und Entwicklung des Landes von
unterschiedlichen Seiten zeigen. Leider war er statt fünfundvierzig
Minuten fast neunundvierzig Minuten lang geworden. Das war in jener
Zeit flexiblerer Fernsehprogramme normalerweise kein Problem. Aber
offenbar hatten sich die Vorgaben gerade geändert, und der
Programmdirektor der ARD
entschied, der Film müsse um fünf Minuten gekürzt werden. Dazu war
ich nicht bereit, woraufhin Programmdirektion und Chefredaktion die
Kürzung selbst übernahmen. Sie beschlossen, die ersten Minuten
herauszunehmen, die im Wesentlichen eine Vorbemerkung von mir
enthielten: Dies sei ein Reisefilm mit fast touristischen Bildern,
hatte ich da gesagt, nicht der Versuch, Chinas Kommunismus oder die
Veränderungen und Leiden durch Maos Kulturrevolution zu schildern
oder zu analysieren. Es sei einfach ein ungewöhnlich direktes Bild
des heutigen China. Diesen Aufsager, wie wir es damals nannten,
fanden die ARD-Kollegen unnötig
und zu lang. Gekürzt war der Film nun lebhafter und gefälliger,
aber auch ohne selbstkritische Einschränkung.
Das war ärgerlich, doch ironischerweise erwies
sich der Eingriff als eine Art Glücksfall. Am Tag nach der Sendung
begrüßte mich Herr Wang Shu, der Leiter des Büros der chinesischen
Presseagentur, besonders herzlich. Das sei ein sehr guter Film,
sagte er, und er wirkte so begeistert, wie ein zurückhaltender
chinesischer Funktionär überhaupt sein kann. Die Bilder meines
Reisefilms hatten ihm offenbar gefallen, und tatsächlich kam darin
ja die ausdrückliche Erwähnung der Zeiten blutiger und totaler
Diktatur nicht mehr vor. Am Ende des Gesprächs sagte er, wenn ich
wolle, könne ich sicherlich ein Dauervisum bekommen und regelmäßig
aus seinem Land berichten, allerdings nur für die Presse, nicht für
das Fernsehen oder den Rundfunk. Eine Visazusage hatte ich also.
Jetzt brauchte ich nur noch einen Korrespondentenposten in Peking,
und zwar bei einer Zeitung.
Ich fand ihn bei der Welt im Axel-Springer-Verlag. Ich hatte Springer
1958 unter eigenartigen Bedingungen in Moskau kennengelernt. Damals
wohnte er einige Tage inkognito im Hotel National, nur ein paar
Räume entfernt von der kleinen Suite, die für mich Büro und Wohnung
war. Er hoffte damals, den sowjetischen Parteichef Nikita
Chruschtschow für einen deutschlandpolitischen Plan zu gewinnen,
den er selbst ersonnen hatte und der einen Weg zur
Wiedervereinigung Deutschlands aufzeigen sollte. Aber Chruschtschow
hatte Springer mit seinem Plan abblitzen lassen. Seitdem setzte der
Verleger eher auf China, das er als Gegner der sowjetischen
Vorherrschaft verstand. Ich überlegte ein paar Tage, bevor ich mich
an den Springer-Verlag mit der Anfrage wandte, ob man einen
Korrespondentenplatz in Peking eröffnen wolle. Meine Bonner
Kollegen waren überrascht bis verärgert: Schließlich galt ich
vielen als linksliberaler Anhänger der Ostpolitik Willy Brandts,
und mit dem konservativen Springer-Verlag hatte ich zuletzt eher
Verständigungsschwierigkeiten gehabt. Manche hielten einen Wechsel
von der ARD zu Springer gar für
eine Art Fahnenflucht. Aber dann sagte mir Kanzleramtsminister
Ehmke, ich könnte diesen Schritt doch ruhig riskieren –
vorausgesetzt, Axel Springer nähme nicht zur Kenntnis, dass die
Chinesen Kommunisten seien, und die Chinesen nähmen nicht zur
Kenntnis, dass Springer ein großer Kapitalist und Antikommunist
sei. Das war ein Scherz, aber er überzeugte mich. Ich ginge ja
nicht zu einer Zeitung, um einen Eid auf ihre Leitartikel
abzulegen, sondern um vom neuen China zu berichten.
Als ich einigen Kollegen erzählte, Herbert
Wehner habe mich zu einem Gespräch gebeten, meinten sie mit
Genugtuung, er werde mir in seiner gefürchteten Bärbeißigkeit den
Kopf waschen. Das Gespräch, das dann folgte, hätte sie jedoch
überrascht. Wehner redete nur über China, die chinesische
Revolution, die inneren Machtkämpfe und den neuen Schrecken der
Kulturrevolution, die Mao in Gang gesetzt hatte. Er empfahl mir
einige Bücher, besonders das eines katholischen Missionars, der die
Machtergreifung der Kommunisten erlebt, erlitten und genau
geschildert hatte. Die revolutionären Veränderungen in China und
ihre Folgen hatten Wehner nach den Erfahrungen seiner Moskauer
Emigrationsjahre lange beschäftigt. Das Gespräch mit ihm war ebenso
überraschend wie faszinierend. Als ich mich verabschiedete, hatten
zwei Journalisten, die in seinem Vorzimmer warteten, zu meiner
Begrüßung schon Mitleidsmienen aufgesetzt. Dass uns beiden China so
wichtig erschien, war ihnen kaum verständlich. Und dass man dafür
einen guten Posten in Bonn freiwillig verlassen kann, verstanden
sie erst recht nicht. Mich hingegen faszinierte die Gelegenheit,
nach der Sowjetunion und den USA nun das dritte große Land
kennenzulernen, das – so dachte ich – auf der schwierigen Suche
nach seinem Platz in der Weltpolitik sein musste.