We shall overcome

Washington
1962–1969
Am Dienstag, dem 16. Oktober 1962, wartete ich im Westflügel des Weißen Hauses, wo die Presseabteilung ihren Sitz hat, um meine Akkreditierung als White House Correspondent zu beantragen. Vier Jahre hatte ich als Redakteur und als Reisekorrespondent vom Kölner Mutterhaus aus gearbeitet. Nun meldete ich mich bei der Regierung in Washington an. Es war ein kurzer, eher formeller Vorstellungsbesuch, aber die Akkreditierung war wichtig, denn sie eröffnete nicht nur den Zugang zu den Pressekonferenzen und Arbeitsräumen am Sitz des US-Präsidenten, sondern erleichterte auch den Kontakt zu Politikern und Vertretern der Wirtschaft außerhalb des Regierungsviertels.
An diesem Tag war die Atmosphäre im Weißen Haus außergewöhnlich angespannt, ohne dass meine amerikanischen Kollegen sich und mir erklären konnten, was eigentlich in der Luft lag. Einige von ihnen, die ständig aus dem Verteidigungsministerium berichteten, hatten schon in der Nacht zuvor bemerkt, dass sich eine wichtige Nachricht ankündigte. Aber an diesem Vormittag gab es nicht viel mehr als Gerüchte, die wir zusammentrugen, austauschten und verglichen. Es habe offenbar etwas mit Chruschtschow zu tun, sagte mir der Reporter der New York Times und fragte mich als Deutschen und ehemaligen Moskau-Korrespondenten, ob sich etwa eine neue verschärfte Belagerung West-Berlins ankündige. Davon hatte ich nichts gehört. Es hatte auch Meldungen über sowjetische Soldaten und Raketenstellungen auf Kuba gegeben, aber Präsident Kennedy hatte sich von Chruschtschow mehrfach versichern lassen, dass es sich dabei lediglich um nichtatomare Verteidigungswaffen handele.
Niemand von uns wusste zu diesem Zeitpunkt, dass der Sicherheitsberater des Präsidenten an diesem Dienstag frühmorgens ins Schlafzimmer von John F. Kennedy gekommen war, um ihm Luftbilder eines Aufklärungsflugzeugs vorzulegen: Die Fotos waren über Kuba aufgenommen worden und zeigten sowjetisches Militär, das Stellungen für Atomraketen ausbaute. Damit begann die dreizehntägige Kubakrise – der Höhepunkt des Kalten Kriegs. Nie zuvor hatten die USA und die Sowjetunion so dicht vor einem Nuklearkrieg gestanden wie in diesen beiden Wochen im Herbst 1962. John F. Kennedy hatte zu Beginn seiner Amtszeit im Keller des Weißen Hauses Tonbandgeräte aufstellen und mit Mikrofonen in den wichtigsten Büro- und Sitzungsräumen verbinden lassen. Das wussten freilich nur seine engsten Mitarbeiter. Als die Tonaufnahmen Jahrzehnte später veröffentlicht wurden, ließ sich ein komplettes Bild von dem zusammensetzen, was in den Räumen des Präsidenten besprochen worden war und für welche Maßnahmen sich die militärischen und zivilen Experten eingesetzt hatten.
So rief Präsident Kennedy an jenem Dienstagvormittag seinen Bruder Robert, der als Justizminister im Kabinett saß, mit einigen Beratern aus dem Verteidigungs- und Außenministerium zu sich ins Weiße Haus. Sämtliche Experten sprachen sich für Bombenangriffe auf die sowjetischen Raketenstellungen aus. Nur der stellvertretende Außenminister George Ball warnte, ein amerikanischer Überraschungsangriff auf Kuba sei in seiner Bedeutung vergleichbar mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor, dem der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg gefolgt war. Andererseits sahen manche Experten in der Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba das Vorspiel für eine neue Berlin-Krise. Wenn Präsident Kennedy nicht scharf reagierte, könnten die Sowjets sich ermutigt fühlen, neue Maßnahmen gegen West-Berlin zu ergreifen. Heute weiß man, dass es auf beiden Seiten – in den USA wie in der Sowjetunion – Berater und Politiker gab, die in diesen Tagen bereit waren, das Risiko eines Atomkriegs zwischen den beiden mächtigsten Staaten der Welt einzugehen.
Weder Kennedy noch Chruschtschow konnte öffentlich nachgeben, denn jedes Zugeständnis wäre von der anderen Seite als Zeichen der Schwäche verstanden worden, und das wiederum hätte einen atomaren Konflikt wahrscheinlicher gemacht. Chruschtschow lenkte schließlich als Erster ein. Während die Weltöffentlichkeit noch von einer Verschärfung der Spannungen hörte, hatte er sich schon in einem geheimen Telegramm bereit erklärt, die sowjetischen Atomraketen abzuziehen, wenn Kennedy verspräche, Kuba nicht angreifen zu lassen. Im Weißen Haus glaubte man schon, dem Ende der Krise nahe zu sein, als ein zweites Telegramm eintraf: Die sowjetischen Raketen würden nur dann abgezogen, wenn das Gleiche auch mit den amerikanischen Nuklearraketen in der Türkei geschähe. Im US-Außenministerium fürchtete man die Reaktion der Verbündeten und der amerikanischen Wähler auf einen solchen Tauschhandel. Auf der Ebene normaler Verhandlungen aber kam man nicht mehr weiter. Kennedy schickte deshalb seinen Bruder Robert mit einem Vorschlag zum sowjetischen Botschafter: Die amerikanischen Raketen in der Türkei seien veraltet. Er werde sie ohnehin in einem halben Jahr abziehen. Falls aber die sowjetische Seite behaupten sollte, dies sei ein Tauschgeschäft, wie es Chruschtschow vorgeschlagen habe, werde man die Raketen dort belassen und die Krise werde sich weiter verschärfen. Die Öffentlichkeit erfuhr von alldem nichts. Chruschtschow und Kennedy hatten nahe am Rande eines atomaren Kriegs einen Ausweg gefunden, um die Katastrophe zu verhindern, und sich damit als klüger erwiesen als ihre Berater. Das mussten schließlich sowohl ihre Anhänger wie auch ihre Kritiker in Amerika und – allerdings erst sehr viel später – in Russland anerkennen.
Als der Wortlaut der Gespräche, die im Weißen Haus mitgeschnitten worden waren, nach vierzig Jahren in Buchform erschien, traf ich mich mit einem ehemaligen amerikanischen White-House-Korrespondenten. Wir verglichen, was wir an jenen kritischen, fast welterschütternden Tagen zu wissen geglaubt hatten und wie wenig am Ende davon stimmte. Auch die engsten Mitarbeiter im Stab des Weißen Hauses hatten nicht gewusst, auf welche Weise die Kennedy-Brüder einen Ausweg aus der Krise finden würden. Wir Journalisten hatten gedacht, aus den Informationen, an die wir oft mehr zufällig herankamen, die Umrisse einer Strategie zu erkennen. Doch am Ende hatten wir uns ein falsches Bild der Krise zusammengesetzt. Diese Erkenntnis machte uns nachdenklich, denn im Grunde hieß das doch auch: Je mehr die Journalisten im Verlauf der Kubakrise erfahren und in die Öffentlichkeit getragen hätten, desto schwerer wäre vermutlich eine friedliche Auflösung der Konfrontation gewesen. So hatte es damals natürlich auch Kennedys Pressesekretär Pierre Salinger gesehen, während wir Korrespondenten der Meinung waren, eine gut informierte Öffentlichkeit sei als Handlungsgrundlage der Politik unabdingbar.
Mit Kennedy war 1960 ein neuer Ton in die Politik gekommen: Er war jünger als seine Konkurrenten und stellte keine politischen Geschenke in Aussicht, sondern sprach stattdessen von einer neuen Grenze (»New Frontier«), die Amerika überwinden müsse, um den Weg in die Zukunft zu meistern. Er hatte brillante Redenschreiber, und ihm standen während des Wahlkampfs Berater zur Seite, die die Bedeutung des neuen Mediums Fernsehen verstanden. Das war schon in der ersten Fernsehdebatte zwischen ihm und seinem republikanischen Kontrahenten Richard Nixon zu sehen. Nixon humpelte wegen einer Beinverletzung zum Mikrofon, er hatte auf die Maske verzichtet, wirkte schlecht rasiert und schwitzte. Kennedy dagegen hatte sich von seinen Beratern überreden lassen, mit einem professionellen Make-up zu kommen. Er sprach lebhaft, wo Nixon schwerfällig und umständlich wirkte. Die Umfragen nach der Sendung waren aufschlussreich: Bei den Fernsehzuschauern hatte Kennedy einen Vorsprung, bei den Rundfunkhörern lag Nixon in den Umfragewerten vor seinem Rivalen oder gleichauf. Diese Debatten waren der Anfang des Fernsehzeitalters in der Politik.
Kennedy musste bei seinem Wahlkampf allerdings eine besondere Hürde überwinden: Er war Katholik. Zwar machten Katholiken ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung aus, aber in den meisten Staaten der USA schien es ausgeschlossen, dass entgegen aller englisch-protestantischen Tradition ein Katholik bei Präsidentschaftswahlen die Stimmenmehrheit gewinnen könnte. Im innerparteilichen Wettstreit um die Kandidatur hatte Kennedy es zunächst in den Vorwahlen mit dem erfahrenen und beliebten Senator Humphrey zu tun gehabt, der als sozialliberaler Protestant einen sicheren Vorsprung zu haben schien und ihn gegen den jüngeren, glanzvolleren Kontrahenten doch nicht halten konnte. West Virginia, einer der Staaten an der Grenze zwischen dem Norden und dem Süden der USA, war wegen der Zusammensetzung seiner Bevölkerung besonders schwierig: beinahe 95 Prozent Weiße, überwiegend Farmer und Bergarbeiter, fast ausschließlich Evangelikale oder Protestanten voller Misstrauen gegenüber Großstädtern von der Ostküste. »Wenn Kennedy hier gewinnen kann, kann er überall gewinnen«, sagten die Kollegen im Bus, der uns von Washington nach Charleston, der Hauptstadt von West Virginia, brachte. Für mich war diese Reise 1960 ein wichtiger Vorgriff auf meine spätere Korrespondentenarbeit, bekam ich doch erste Kontakte mit engen Mitarbeitern des zukünftigen Präsidenten. Der kleine Trupp von Kennedys Wahlkampfhelfern, den ich mit einigen Kollegen begleitete, sollte beobachten, ob in West Virginia alles glatt lief. Gerade weil John F. Kennedy in dem Bundesstaat nur eine winzige Chance zu haben schien, galt das Ergebnis als wichtiger Hinweis auf seine Aussichten, falls er für die Demokraten ins Rennen geschickt würde.
Den ganzen Tag über versuchten wir Journalisten ziemlich erfolglos, vor den Wahllokalen mit wortkargen Wählern aus den appalachischen Bergen ins Gespräch zu kommen. Abends saßen einige von uns in einem Hamburger-Imbiss zusammen, und auch ein paar Leute aus dem Kennedy-Team gesellten sich zu uns. Zuerst spekulierten wir ausführlich über das mögliche Ergebnis, aber unsere politische Fantasie, was das Wählerverhalten von hinterwäldlerischen Farmern anging, war bald erschöpft. Da die Auszählung erst sehr spät am Abend beendet sein würde, erkundigten wir uns, was es in Charleston an Abwechslung gebe. Das Angebot war jedoch dürftig: lediglich ein Art House, ein Kino, das nicht die üblichen Hollywood-Produktionen zeigte, sondern eher zahme Pornofilme. Wir hingen dort in unseren Sesseln, machten blöde Witze und verärgerten die wenigen einheimischen Zuschauer, die sich über die Arroganz von uns Großstädtern beschwerten. Schließlich kam eine Sekretärin mit dem Wahlergebnis und rief ins fast leere, dunkle Kino, Kennedy habe gewonnen. Noch ehe wir wieder auf der Straße waren, hatten alle ihre Meinung verkündet: Kennedy werde nun bestimmt Präsidentschaftskandidat und dann auch Präsident der USA. Ein Katholik, der in West Virginia eine Vorwahl gewann, konnte die Präsidentschaftswahl nicht verlieren. Diese Prognose sollte sich als zutreffend erweisen, auch wenn das Wahlergebnis im November 1960 am Ende denkbar knapp ausfiel: Kennedy 49,7 Prozent, Nixon 49,5 Prozent der Stimmen – der knappste Vorsprung, mit dem je ein Präsidentschaftskandidat gewonnen hatte.
Der winzige Unterschied von 0,2 Prozentpunkten sollte Amerika innerhalb weniger Monate verändern. Kennedys Vorgänger Dwight D. Eisenhower war Oberkommandierender der amerikanischen Truppen im Zweiten Weltkrieg gewesen, ein eher zurückhaltender Mann und mit 72 Jahren der bis dahin älteste Präsident in der Geschichte der USA. Kennedy war mit 43 Jahren der jüngste. Für die Hauptstadt Washington, die keine andere Tradition als die des Regierungssitzes hatte, brachte das tiefe Veränderungen mit sich: Die Mitarbeiter des Weißen Hauses und der wichtigen Ministerien, aber auch der ganze Anhang von Experten, Beratern, Journalisten und Lobbyisten stellte sich auf die Verjüngung der Politik ein. Washington war immer noch eine Provinzstadt, aber es wurde schick, dort zu wohnen, und die Restaurants schmückten sich neuerdings mit französischen Speisekarten. Ganze Stadtviertel wandelten sich: Der Stadtteil Georgetown, älter als die Hauptstadt Washington selbst, war fast ausschließlich von Schwarzen bewohnt gewesen, aber eine Reihe reicher, jüngerer Politiker hatte die Schönheit der heruntergekommenen Häuser aus dem 18. und 19. Jahrhundert entdeckt. Nun waren fast alle Schwarzen aus Georgetown in rein schwarze Viertel gezogen, und reiche Weiße hatten die alten Häuser für sich umgebaut. Auch John F. Kennedy und seine Frau Jacqueline hatten eines der restaurierten Gebäude bewohnt, ehe sie ins Weiße Haus wechselten.
Ich wollte einige Straßen von ihrer ehemaligen Adresse entfernt eines der älteren Häuser mieten, erschrak aber, als ich den Vertrag unterschreiben sollte. Darin stieß ich auf eine Klausel, wonach dieses Haus nicht an Schwarze, Juden oder Araber verkauft oder vermietet werden dürfe. Das könne ich nicht unterschreiben, sagte ich, schon gar nicht als Deutscher. Der amerikanische Makler konnte das nur schwer verstehen. Der »title«, das offizielle Besitzdokument, sei nur unter größten Schwierigkeiten abzuändern. Im Übrigen spiele dieser Vorbehalt so gut wie keine Rolle mehr und sei schon seit einiger Zeit nicht mehr gerichtlich durchsetzbar. Ich solle mir also keine Gedanken und ihm keine Umstände machen. Aber darauf wollte ich mich als Deutscher nicht einlassen. Ich fand unter meinen Bekannten einen jüdischen Rechtsanwalt, der mir half und einen Anhang zum Dokument durchsetzte, in dem diese rassistische Klausel für unwirksam erklärt wurde.
Das ARD-Studio lag an einer wenig attraktiven Geschäftsstraße. Im Keller gab es eine kleine private Kopierwerkstatt, wo unsere Filme schnell entwickelt werden konnten, im Erdgeschoss einen Friseurladen und ein Möbellager, und im ersten Stock hatten wir unsere Büros und Schneideräume für rund zehn Mitarbeiter. Nun öffnete just drei Häuser weiter das bald schickste französische Restaurant der Stadt, in das sich die Mitarbeiter von Senatoren und Abgeordneten und auch die Experten aus den Ministerien gerne einladen ließen. Für uns Ausländer war das sehr hilfreich, weil es oft schwierig war, in Amerikas Hauptstadt Gesprächs- und Interviewpartner zu finden. Selbst Senatoren, die große und durchdachte Reden zur Außenpolitik hielten, nahmen sich nur ungern die Zeit, Leuten aus Europa Interviews zu geben. »Wer wählt den Senator denn schon in Deutschland?«, fragte mich der Assistent von Senator Fulbright, als ich um ein Interview bat. Was er damit meinte, verstand ich, als ich Fulbright kurz darauf in seinem Wahlkreis in Arkansas beobachtete: Da ging es um Straßenbau, Schulspeisungen oder lokale Steuern. Keiner fragte den weltberühmten Vorsitzenden des Senatsausschusses für Außenpolitik nach etwas anderem als lokalen Angelegenheiten, und er antwortete ausführlich und mit großer Geduld. Dies waren seine Wähler, und sie erwarteten, dass er sich für ihre Belange einsetzte. Außenpolitik, sein Spezialgebiet, interessierte sie nicht.
In Washington waren wir europäische Korrespondenten Außenseiter. Gerade mal vier oder fünf Senatoren und Abgeordnete ließen sich gelegentlich herab, mit Journalisten von der anderen Seite des Atlantiks zu reden, und dann am ehesten mit Engländern, deren Zeitungen sie lesen konnten. Die Kennedys bildeten eine Ausnahme. Als John F. Präsident wurde, war sein jüngerer Bruder, der frisch gewählte Senator Edward Kennedy, gelegentlich bereit, sich für uns Europäer eine halbe Stunde Zeit zu nehmen. Manchmal kam ich so an weitere Informationen, etwa wenn ich einem deutschen Abgeordneten helfen konnte, sich mit Edward Kennedy zu unterhalten und fotografieren zu lassen. Trotzdem: Die nützlichsten Quellen für uns ausländische Journalisten waren nicht die Politiker oder die Presseabteilungen der Ministerien, sondern jene Experten von renommierten Universitäten, die zu Beratungen in die Hauptstadt gerufen wurden. Sie konnten zwar meist nicht wissen, wie eine Entscheidung am Ende ausfallen würde, aber von ihnen erfuhr man etwas über die jeweiligen Probleme und die Art, wie über sie diskutiert wurde. So erhielt man zumindest eine Vorstellung von den Hintergründen und den möglichen Auswirkungen einzelner Beschlüsse. Dementsprechend bemühten wir uns, diese Experten zu einem Drink oder Abendessen einzuladen, und manche von ihnen kamen sehr gern. Wer wie sie in New York oder Los Angeles wohnte, konnte sich mit den langen Abenden in den Hotels und der provinziellen Langeweile Washingtons nur schwer abfinden.
Die Empfänge im Weißen Haus, zu denen ich einige Male eingeladen wurde, waren elegant und interessant geworden, seit Jacqueline Kennedy die Rolle der Gastgeberin übernommen hatte. Bei den Eisenhowers war es noch steif und etwas spießig zugegangen, Jackie Kennedy dagegen wollte aus dem Weißen Haus eine Art Präsidentenpalast machen, mit Konzerten und französischer Eleganz. Sie und ihr Mann stammten aus schwerreichen katholischen Familien, und Jacqueline konnte mit dem alten kleinbürgerlichen Repräsentationsstil des amerikanischen Präsidentenamts nichts anfangen. Zusätzlich zu den Gästen aus Politik und Wirtschaft, die offiziell auf der Einladungsliste stehen mussten, lud sie deshalb Schriftsteller und Künstler ein, Schauspieler und Balletttänzerinnen, Unterhaltungskünstler, aber auch jüngere Leute aus den Ministerien und Kanzleien. Stil und Eleganz und die Tatsache, dass sie die Frau des ersten Mannes der USA war, hoben sie aus dem Leben des im Grunde kleinstädtischen Washington heraus. Zugleich galt sie als bescheiden, fast schüchtern, und die Öffentlichkeit sah sie vor allem als eine zurückhaltende junge Ehefrau und Mutter. Sie besaß aber auch eine scharfe Zunge und konnte fluchen wie ein Pferdeknecht, wenn sie mit ihrem Mann oder seinem Bruder Robert alleine war.
Robert Kennedy brachte eine gewisse Schärfe in alle politischen Auseinandersetzungen. Eine Zeitlang gehörte er dem Stab des fanatischen Kommunistenjägers Joseph McCarthy an, ehe er zum engsten Vertrauten seines Bruders wurde und sich unter hohem persönlichem Einsatz für dessen Anspruch auf die Präsidentschaft starkmachte. Sein besonderer Feind war dabei der starke Mann des amerikanischen Senats, der demokratische Senator Lyndon Johnson, der ebenfalls ins Weiße Haus wollte. So versuchte Robert Kennedy durch allerlei Schachzüge, ihm den Weg zu versperren. Sein Bruder aber war zu der Überzeugung gelangt, dass er den Texaner Lyndon Johnson als Kandidaten für die Vizepräsidentschaft brauchte, wenn er die Stimmen der südlichen Staaten gewinnen wollte. Dafür nahm er in Kauf, dass Robert mit dem Vizepräsidenten in giftigem Hass verbunden war. Im Grunde hätte es zwischen dem Präsidentenbruder aus der feinen Gesellschaft des Nordostens und dem Ellenbogenpolitiker, dem Sohn kleiner Farmer vom Rande der Südstaaten, eine nützliche Arbeitsteilung geben können. Doch die beiden Männer waren einfach zu unterschiedlich, zu sehr Machtpolitiker und zu tief verstrickt in ihre Feindschaft. Robert Kennedy lud mich einige Male zu einem Softball-Spiel, einer Art Schlagball, in seinen Garten ein. Lyndon Johnson hingegen traf ich am ehesten, wenn ich am Samstagvormittag in den Presse-Arbeitsraum des Weißen Hauses ging und mit amerikanischen Kollegen ein oder zwei Stunden wartete: Dann kam er, spazierte mit uns um den großen Rasen hinter dem Weißen Haus und ließ uns einen Whiskey einschenken.
Als deutscher Korrespondent beobachtete ich das gespannte Verhältnis der beiden mit besonderer Besorgnis, denn gerade in dieser Zeit war eine starke amerikanische Führung gefragt. In den knapp drei Jahren, die John F. Kennedy Präsident war, ging es zwischen Moskau und Washington darum, wer über die Zukunft des geteilten Berlin und des geteilten Deutschland bestimmen würde. Kennedy war knapp zwei Jahre nach dem Mauerbau demonstrativ zu einem offiziellen Besuch nach West-Berlin gekommen und hatte Amerikas Unterstützung für die Stadt bekräftigt. Zur anderen großen Belastung der amerikanischen Außenpolitik wurde der Krieg in Vietnam. Washingtons militärischer Beitrag zur Unterstützung der sich abwechselnden vietnamesischen Politiker und Generäle verdreifachte sich in Kennedys kurzer Amtszeit, doch bis zu seinem Tod war noch nicht klar, welche Richtung die amerikanische Vietnam-Politik auf Dauer einschlagen würde. Im Herbst 1963 konnte in Washington freilich niemand ahnen, wie schnell die Entscheidungen von Kennedy an Lyndon Johnson übergehen würden.
Am 22. November befand ich mich in einem Flugzeug auf dem Weg von Washington nach Mississippi. Ich saß schläfrig in meinem Flugzeugsessel, als sich der Pilot über die Lautsprecheranlage meldete und so nüchtern wie möglich eine brisante Meldung durchzugeben versuchte: Präsident Kennedy sei soeben in Dallas ermordet worden. Einige Reihen hinter mir sprangen zwei junge Männer auf und riefen »Yippee!« – ein Schrei, in dem sich aufgestauter Hass entlud. Aber die verstörten Blicke der anderen Passagiere zwangen die beiden schließlich in ihre Sitze zurück. Der Pilot gab von Zeit zu Zeit die neuesten Meldungen aus Atlanta an uns Passagiere weiter, und dann schwiegen alle. Ich wollte statt nach Mississippi natürlich so schnell wie möglich zurück nach Washington. Beim nächsten Stopp in Knoxville, Tennessee, stieg ich aus. Im Flughafengebäude traf ich zufällig einen weißen Prediger, den ich von früheren Begegnungen kannte. Er hatte sich jahrelang für die Rechte der Schwarzen eingesetzt, bis so oft auf ihn geschossen wurde, dass er seine kleine Kirche verlassen musste. Nun lud er mich ein, bis zum nächsten Flug nach Washington mit ihm in der Highlander Folk School zu übernachten, die ich, bevor sie von Monteagle nach Knoxville vertrieben worden war, 1950 bei meinem ersten Besuch kennengelernt hatte. Da saßen wir dann zusammen mit einigen Studenten und jungen Gewerkschaftlern und starrten auf den Bildschirm des Fernsehgeräts. Wir sahen Bilder von Präsident Kennedy und Jacqueline auf der großen Paradefahrt durch Dallas. Es gab noch keine Aufnahmen vom Attentat selbst, nur die Berichte der Reporter und schließlich jenen Augenblick, in dem einer von Kennedys Assistenten in Dallas vor die Tür des Krankenhauses trat und sagte, der Präsident sei tot.
Abends lief ich durch Knoxville, eine Stadt am nördlichen Rand der Südstaaten, wo die Leute Präsident Kennedy nicht geliebt, ja vielfach sogar gehasst hatten. An diesem Abend schlossen hier keine Bar und kein Kino, und im städtischen Sportstadion wurde weiter ein Eishockey-Match ausgetragen. Nur im ärmsten Teil der Stadt fand ich eine Kirche, in der viele Schwarze verstört für den toten Präsidenten beteten. Auch in den nächsten Tagen blieb die Reaktion auf den Mord in vielen Städten des Südens unter den Weißen erschreckend kühl. Die Stadtverwaltungen beschlossen, keine Trauertage einzulegen. Die Kneipen wurden beispielsweise nur zwei Stunden lang, während der Beisetzung selbst, geschlossen.
Wäre ich in dieser Nacht in Washington oder im nördlichen Teil der USA gewesen, hätte ich eine ganz andere Stimmung erlebt. Dort waren Schrecken und Erschütterung groß. Die Mehrheit der Amerikaner empfand die Todesnachricht als entsetzlichen Schock. Dass der Präsident ihres Landes ermordet werden konnte, war für viele schlicht unvorstellbar. Dieses Entsetzen überlagerte letztlich auch die Kritik, die sich in den vorangegangenen Monaten immer stärker gegen Kennedys Politik gerichtet hatte. Er war zu dieser Zeit nicht mehr der strahlende junge Präsident auf dem Weg zu »neuen Grenzen«, an den wir uns dann einige Jahre später erinnern würden. Politische Beobachter zweifelten damals daran, dass John F. Kennedy überhaupt noch einmal wiedergewählt werden könnte, weil er vielen Amerikanern zu linksliberal und zu »negerfreundlich« schien und weil ihnen seine Verhandlungen über eine internationale Kontrolle der atomaren Aufrüstung zu weich und nachgiebig waren.
Die fünfzehn oder zwanzig jungen Menschen, mit denen ich bis zum frühen Morgen in der Highlander Folk School zusammensaß, waren im Gegensatz dazu der Meinung, Kennedy habe seine liberale Politik nicht entschlossen genug durchgesetzt. Sie waren einerseits tief getroffen von dem Attentat, andererseits aber auch erregt angesichts der neuen Perspektiven, die sich aus ihrer Sicht für die amerikanische Politik ergaben: Von einem Präsidenten Johnson erwarteten sie, dass er Reformen des Wahlrechts und der Sozialpolitik umsetzen würde, die sein Vorgänger bei den Abgeordneten und Senatoren des Kongresses nicht durchzubringen vermocht hatte. Johnson sei ein Mann, der die demokratische Reformbewegung von Präsident Franklin D. Roosevelt mit Machtbewusstsein und Schlauheit wiederaufnehmen könne. Viele Abgeordnete, Senatoren und auch lokale Parteiführer hätten den starken Führer des amerikanischen Senats immer wieder zur Unterstützung für ihre Anliegen gebraucht. Johnson vergesse so etwas nie und werde sie vor knappen Abstimmungen an diese Schulden erinnern. Damit seien die Liberalen gewaltig gestärkt. Diese Perspektive überraschte mich, denn ich hatte, wie die meisten Amerikaner, Johnson eher für konservativer als Kennedy gehalten. Und da ich nicht leicht von dem zu überzeugen war, was die jungen Idealisten fern von Washington als ihre politische Hoffnung ansahen, gaben sie mir die Telefonnummer von Johnsons engstem Mitarbeiter, Bill Moyers, später einer der wichtigsten Journalisten des öffentlichen amerikanischen Fernsehens. Sie wollten mich bei ihm ankündigen, sobald ich wieder in der Hauptstadt sei. Moyers sei ein Unterstützer der Bürgerrechtsbewegung, ein ehemaliger Theologiestudent von etwa dreißig Jahren, der Johnsons Wahlkämpfe organisiert habe. Er entwickle auch Johnsons Reformprogramm, das zur sogenannten Großen Gesellschaft (»Great Society«) führen solle, und sei im Weißen Haus wohl der Einzige, der Johnson widersprechen könne.
Ich war froh, dass ich an diesem Abend die Highlander Folk School wiedergefunden hatte. Sie war nach Knoxville ausgewichen, nachdem der Ku-Klux-Klan sie in Brand gesetzt und die Stadtverwaltung von Monteagle sie nach mehreren Prozessen als »kommunistische Schule« geschlossen hatte. Ich erfuhr, welche wichtige Rolle die Schule in der Auseinandersetzung über das Wahlrecht der schwarzen Amerikaner gespielt hatte: Rosa Parks, die sich 1955 als erste Schwarze weigerte, ihren Platz in einem Autobus für Weiße freizumachen, hatte dort gewaltlosen Widerstand eingeübt, ebenso der Pastor Martin Luther King, der zum Führer der schwarzen Bürgerrechtsbewegung werden sollte, und dazu viele junge Leute, die später in der Studentenbewegung eine Rolle spielen würden.
Der nächste Tag war hektisch. Mit dem ersten Flug kehrte ich am Morgen nach Washington zurück. Ich wollte aus dem Archiv des ARD-Studios Filmmaterial heraussuchen, das ich für einen Hintergrundbericht über den Mord am Präsidenten und seine möglichen politischen Folgen brauchte. Da es noch keine ständige Satellitenverbindung nach Deutschland gab, packte ich die Filme in einen Koffer, um sie nach Köln mitzunehmen, wo ich sie bearbeiten und kommentieren konnte. Berichte und Bilder des US-Fernsehens und der internationalen Agenturen, die Amerika in seiner Trauer und seinem Entsetzen zeigten, würden längst vor mir in Deutschland angekommen sein. Deshalb wählte ich Material, dessen Schwerpunkt bei dem neuen Mann lag, dem künftigen Präsidenten Lyndon Johnson. Im Weißen Haus nahm sich dessen Assistent Bill Moyers tatsächlich nach einem Anruf von den Bürgerrechtlern der Highlander Folk School ein paar Minuten Zeit für mich, um mir neben Auszügen aus Reden Johnsons auch Hinweise auf dessen Kernüberzeugungen und Pläne zu geben. So hatte ich schließlich doch etwas Neues, das ich nach Deutschland mitbringen konnte.
Bevor ich noch am selben Tag nach Köln weiterflog, legte ich einen kurzen Zwischenstopp in New York ein, wo einer meiner ARD-Kollegen weitere Filme für mich besorgt hatte. Hinter uns im New Yorker ARD-Studio lief der Fernseher mit einer Liveübertragung. Wir hörten, dass der Mann, der als Mordverdächtiger verhaftet worden war, gerade im Gefängnis in einen Polizeiwagen gebracht werden sollte. Dann war ein Schuss zu hören und eine Stimme, die sagte: »Er ist tot. Lee Harvey Oswald ist erschossen.« Auf dem Bildschirm sahen wir einige Reporter, die einander beiseiteschubsten, dann den Körper von Oswald und ein wildes Gedränge von Menschen, die sich auf einen anderen Mann stürzten. Es war der Attentäter, der Oswald erschossen hatte. Er hieß Jack Ruby und betrieb einen Nachtclub in Dallas. Mehr wussten wir nicht, als ich weiter zum Flughafen fuhr und mich schließlich in die Maschine nach Deutschland setzte. Später habe ich mehrfach die Biografien der beiden Schützen durchforscht und wie viele andere vergeblich versucht, die Geschehnisse zu verstehen, die diese Tage zu den erschreckendsten und verwirrendsten der amerikanischen Geschichte machten.
Seine Wahl zum Präsidenten hatte John F. Kennedy nicht zuletzt seinen erfolgreichen Fernsehauftritten zu verdanken, die ihn für viele Amerikaner und Europäer zum Star gemacht hatten. Nun verdankte das Fernsehen dem toten Präsidenten die bis dahin zuschauerreichste und dramatischste Fernsehübertragung der Welt. 1,8 Milliarden Menschen verfolgten einen Trauerzug und eine Beisetzung, wie sie Amerika größer und bewegender noch nicht erlebt hatte – und nie wieder erleben sollte. Unzählige Kameras lieferten die Bilder dazu: den rührenden Augenblick, in dem John John, Kennedys Sohn, vor der Saint-Matthews-Kirche am Sarg seines Vaters militärisch salutierte; die Witwe Jacqueline, die würdig und gefasst und zugleich menschlich anrührend die ewige Flamme am Sarg entzündete; Robert Kennedy, von dem Reporter in ihren Kommentaren sagten, er bewege sich wie ein Schlafwandler durch die Bilder.
Die amerikanischen Fernsehstationen hatten gleich nach dem Attentat ihre Programme unterbrochen. Die bekanntesten Moderatoren erschienen innerhalb von Minuten auf dem Bildschirm. Walter Cronkite, der große alte Mann unter den Nachrichtenstars, lief ins Studio, unterbrach eine Soap Opera und sprach mitten in den Satz einer Schauspielerin hinein: »Bulletin. In Dallas wurden drei Schüsse auf Präsident Kennedy abgegeben. Nach ersten Berichten ist der Präsident ernsthaft verwundet. Er sackte zusammen und fiel in den Schoß von Mrs Kennedy. Sie rief ›Nein, oh nein‹ und der Wagen mit dem Präsidenten fuhr weiter. Die Verletzung kann tödlich sein.« An dieser Stelle schalteten die Techniker von CBS in das reguläre Programm zurück. Diese Sondersendungen hatten eine völlig neue Qualität. Hier belehrten keine Moderatoren in wohlgesetzten Worten. Auf allen Kanälen mussten die Sprecher vielmehr Vorgänge des Augenblicks schildern und etwas erklären, auf das sie nicht vorbereitet waren und dessen weiteren Verlauf sie nicht erahnen konnten.
Eine Woche nach Kennedys Tod zog der neue Präsident Lyndon Johnson ins Weiße Haus. Die Amerikaner waren nach dem Attentat bestürzt und verunsichert, aber Johnson zeigte ihnen, dass das Land trotz aller Erschütterung mit fester Hand und klaren Zielsetzungen geführt werden konnte. Er gab zu erkennen, dass er in vielen Bereichen Entscheidungen erzwingen könnte, die sein Vorgänger zwar auch ins Auge gefasst hatte, aber nicht umsetzen konnte: die Einführung der Krankenversicherung, eine bessere Finanzierung des Bildungswesens, der Kampf gegen Armut und Verbrechen, die Förderung der Stadterneuerung. Der neue Präsident brachte viele solcher Projekte durch den Kongress, dessen Mitglieder eigentlich von tiefstem Misstrauen gegen eine derartige sozialreformerische Politik erfüllt waren. Doch Johnson kannte nicht nur die Spielregeln, sondern auch die Tricks der parlamentarischen Politik. So gelang es ihm auch, die selbstbewussten Südstaatengouverneure auf seine Seite zu ziehen, indem er sie mit großen Geldgebern aus dem Norden zusammenführte, die dann für Investitionen im Rahmen seines Modernisierungsprogramms warben. Johnson brachte Gesetze ein, die die Gleichberechtigung der schwarzen Amerikaner und besonders ihr Wahlrecht absichern sollten. Er begann, den mörderischen Ku-Klux-Klan, der weiße wie schwarze Bürgerrechtler auf seiner Abschussliste hatte, mit neuen Gesetzen und mit Hilfe der Bundespolizei zu bekämpfen. Ein Dreivierteljahr nach Kennedys Tod paukte er ein Bürgerrechtsgesetz durch den Kongress, an dem sein Vorgänger noch gescheitert war. Nun setzte er all seine Macht und all seine politischen und wirtschaftlichen Beziehungen ein, um schließlich ein weiteres Gesetz durchzubringen, das jede Art von Einschränkung des Wahlrechts sowie jede Behinderung eines Wählers unter Strafe stellte.
In manchen Städten des Südens hielten die weißen Bürger diese Politik für eine Art Kriegserklärung. Die Stimmung wurde immer gereizter, bis die Auseinandersetzung 1965 ihren Höhepunkt erreichte: Am 7. März waren einige Hundert überwiegend schwarze Demonstranten im Bundesstaat Alabama zu einem neunzig Kilometer langen Protestmarsch von der Kleinstadt Selma in die Hauptstadt Montgomery aufgebrochen, um für ein gerechteres Wahlrechtsgesetz zu demonstrieren, wie es auch Präsident Johnson durchsetzen wollte. Sie kamen jedoch nicht weit – bereits an der Stadtgrenze von Selma, an der Brücke über den Alabama-Fluss, wurden sie gestoppt. Der Sheriff ließ ihnen dort durch seine Bereitschaftspolizisten den Weg verstellen. Sie schlugen die Demonstranten zusammen und traten auf die Verletzten ein, eine Wolke von Tränengas breitete sich aus, während Polizisten zu Pferde in die Menge hineinritten. Zwei Tage später, am 9. März, brachen die Demonstranten erneut auf, mussten jedoch wieder an der Brücke kehrtmachen. Drei weiße Geistliche aus Boston, die sich auf Bitten Martin Luther Kings dem Marsch angeschlossen hatten, um Gewalttätigkeit zu verhindern, wurden am Abend des 9. März von Polizisten verprügelt. Alle drei erlitten schwere Verletzungen, einer von ihnen starb zwei Tage später im Krankenhaus. Die ausführlichen Fernsehberichte über die Vorfälle von Selma sorgten in ganz Amerika für Empörung.
Ich wollte mir ein eigenes Bild von der Lage verschaffen und machte mich auf in den Süden. In Alabama fuhr ich durch die ärmlichen Siedlungen der schwarzen Landarbeiter, die zwischen den überwiegend weißen Städten und Städtchen lagen. An den Tankstellen trennten Schilder die Reisenden nach ihrer Hautfarbe: »Männer weiß«, stand da an einer Toilettentür, »Männer schwarz« auf der nächsten. Als ich in einem Restaurant ein Spiegelei aß, kam ein ziemlich grobschlächtiger Weißer herein: Dieses Restaurant sei nur für »Neger«. Er forderte mich auf, in ein anderes Restaurant zu gehen, besah sich dann argwöhnisch meinen Journalistenausweis für das Weiße Haus, ehe er schließlich, immer noch misstrauisch und böse, wieder abzog. Von da an bewegte ich mich sehr vorsichtig durch die kleine Stadt. Der schwarze Koch in dem Restaurant hatte mich gewarnt: Wenn ich auch nur mit einem Rad meines Wagens über den gelben Streifen des Überholverbots führe, würde mich der Ortspolizist anhalten, eine Anzeige schreiben und mir die höchstmögliche Kaution abverlangen. Wenn ich das Geld für die Kaution nicht bei mir hätte, würde man mich im Kreisgefängnis bis zum nächsten Gerichtstag festsetzen. Der Koch hatte einige Jahre in New York gearbeitet und war nun versuchsweise in seinen Heimatort zurückgekommen, aber er war sich gar nicht sicher, dass er dort bleiben konnte.
Beim Essen im Restaurant eines kleinen Hotels, zu dem wiederum nur Weiße Zutritt hatten, sprach mich ein älteres Ehepaar an und ermahnte mich, nur ja vorsichtig zu sein, besonders wenn ich mich an Orte der Auseinandersetzungen begäbe. Ich wolle doch sicher heil zurückkommen. Der Mann, ein Bauunternehmer aus Atlanta, der Hauptstadt des Nachbarstaats Georgia, erklärte mir die Lage, wie er sie sah: Die Unruhen und Zusammenstöße in einem Ort wie Selma seien nur hervorgerufen durch die Eitelkeit dieses Doktor Martin Luther King, der unbedingt berühmt werden wolle. Ohne ihn wäre dort alles ruhig geblieben. Das Wahlrechtsgesetz, das Präsident Johnson vorbereite, sei sehr gefährlich. Wenn die Bundesregierung den Einzelstaaten vorschreibe, wen sie als Wähler zu registrieren hätten, dann sei das der erste Schritt hin zur Diktatur. Das Ehepaar gehörte zu jenen, die man im Süden die »besserdenkenden Bürger« nannte – Leute, die keinen weißen Geistlichen mit Gewalt aus einer »Negerkirche« jagen würden. Aber, meinte der Bauunternehmer, unter den Geistlichen, die als Agitatoren in die Südstaaten kämen, seien ja auch viele Kommunisten, die die »Neger« aufhetzten.
An dem Tag, an dem unser Team abends in Selma eintraf, hatten wir drei weiße Geistliche als Mitreisende in unserem Wagen. Sie waren in einer größeren Gruppe mit dem Flugzeug aus Detroit gekommen. Um ihnen die Reise nach Selma zu ermöglichen, hatten ihre Gemeinden auf Protestversammlungen Geld gesammelt. Viele aus der Gruppe hatten keinen Mietwagen und kein Hotelzimmer mehr gefunden. Immerhin konnten wir drei von ihnen noch in unseren Wagen quetschen. In Selma war das Zentrum der Bürgerrechtsbewegung nicht schwer zu finden – immer an den Polizeiwagen und den Kolonnen bewaffneter Polizisten entlang, die im Dunkeln am Straßenrand standen. »Das ist wie die Mauer in Berlin«, sagte einer der geistlichen Mitfahrer. Hinter dem Polizeikordon standen kleine Gruppen weißer Bürger von Selma, die verbissen abwarteten, ob sich die »Neger« noch einmal trauen würden, in den weißen Teil der Stadt herüberzukommen. Auf der anderen Seite war die Straße voll von weißen und schwarzen Amerikanern, die diskutierend herumstanden, Cola tranken und auf die Versammlung in der Kirche warteten. Leute mit Schlafsäcken traten aus dem Pfarrhaus, und kleine schwarze Jungen führten sie zu den Wohnungen, in denen sie Unterkunft und Sandwiches finden konnten. Ich fragte einen der Schwarzen, der wie ein Student aussah, wo ich meinen Wagen parken könne, und er beruhigte mich. »Auf dieser Seite ist alles in Ordnung, hier kann dir nichts passieren«, sagte er und legte mir den Arm auf die Schulter. »Dahinten, wo du die Uniformen siehst, fängt es an, für dich gefährlich zu werden. Da sind die Whiteys.«
Es war der 15. März, acht Uhr abends. Im Radio wurde die Übertragung einer Rede Präsident Johnsons angekündigt. Ich drehte die Lautstärke meines Autoradios auf, und sofort war mein Wagen von jungen Leuten umgeben. Sie hingen an den Fenstern, saßen auf der Motorhaube oder dem Kofferraum und hörten aufmerksam zu. Der Präsident sprach an diesem Tag vor den Abgeordneten des US-Kongresses, aber es war keine Rede für Parlamentarier, sondern ein emotionaler politischer Aufruf an das ganze amerikanische Volk und vielleicht die beste Rede, die Johnson je gehalten hat. »Selbst wenn wir dieses Gesetz durchbringen, wird die Schlacht noch nicht vorbei sein«, sagte er. »Was sich in Selma vollzieht, ist Teil einer weit größeren Bewegung, die in jeden Bereich und jeden Staat Amerikas hineinreicht. Es ist der Wille amerikanischer Neger, sich die Teilnahme an allen Segnungen des amerikanischen Lebens zu sichern. Ihre Sache muss auch unsere Sache sein. Denn es sind nicht nur die Neger, sondern in Wahrheit sind es wir alle, die das lähmende Erbe der Bigotterie und Ungerechtigkeit überwinden müssen. Und wir werden es überwinden.«
»We shall overcome« – da war sie wieder, die Zeile aus dem altenglischen Kirchenlied, das ich 1950 an der Highlander Folk School zum ersten Mal gehört hatte und das mittlerweile zur Hymne des gewaltlosen Widerstands geworden war. Doch ich merkte, dass die jungen Schwarzen, die sich um mein Auto drängten, weder überzeugt noch begeistert auf die Rede des Präsidenten reagierten. Die Bürgerrechtsbewegung war über zehn Jahre lang unter der Führung schwarzer Geistlicher auf gewaltlosen Widerstand eingeschworen worden. Nun hatte ein Teil der jüngeren Generation offenbar die Geduld verloren. Es waren nicht mehr nur Leute aus dem schwarzen Mittelstand und den Kirchengemeinden, die für mehr Rechte eintraten, sondern eine neue Generation, die härter zuschlagen wollte.
Einer der Organisatoren der Demonstrationen von Selma kam zu mir ans Auto. Stokely Carmichael hatte ich schon einmal 1964 bei einem der ersten Sitzstreiks getroffen, mit dem er und zehn Freunde gegen den Besitzer eines Fried-Chicken-Restaurants protestierten, weil der keine Schwarzen bedienen wollte. Der Wirt hatte daraufhin seine weißen Gäste mit Axtstielen bewaffnet, und Polizisten hatten die Schwarzen auf die Straße gedrängt. Es war damals einer der ersten Proteste dieser Art gewesen. Carmichael hatte dann mit Freunden das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) gegründet, das Studentische Komitee für die Koordinierung des gewaltlosen Widerstands. Als ich ihn in Selma wiedersah, sagte ich zu ihm, dass die Bewegung nun endlich die notwendige Aufmerksamkeit bekomme. Der Tod des Bostoner Geistlichen habe schließlich ganz Amerika die rohen Methoden der Polizei vor Augen geführt. Carmichael winkte ab: »Natürlich soll das ganze Land erregt sein, wenn einer so umgebracht wird. Aber muss der Tote immer ein Weißer sein, damit das Land es zur Kenntnis nimmt?« Ich fragte ihn, wie es weitergehe, und er hob die Hände. »The Lord has not spoken yet« – »Der Herr hat noch nicht gesprochen«, sagte er und machte damit eines deutlich: Der Herr – Martin Luther King – setzte seiner Ansicht nach der Protestbewegung zu enge Grenzen, wenn er sie zu Gewaltlosigkeit verpflichtete.
Am 21. März 1965 unternahmen die Demonstranten von Selma einen dritten Versuch, nach Montgomery zu gelangen. Diesmal kamen sie nach vier Tagen bis zur Hauptstadt von Alabama durch und schlugen dort ein Protestlager auf. Vier Monate später unterzeichnete Präsident Johnson das neue Wahlrechtsgesetz. Es war ein großer Sieg für die Bürgerrechtsbewegung, denn eine ihrer Hauptforderungen war damit nach langen Jahren heftiger Auseinandersetzungen endlich erfüllt. Nun sollte allen, gleichgültig welcher Hautfarbe, der Zugang zur Wahlurne gesichert sein. Was mir allerdings bereits in Selma aufgefallen war, ließ sich nun immer häufiger in den schwarzen Vierteln anderer Städte beobachten: Unter den jüngeren Leuten wuchs der Abstand zu Martin Luther King, und die Stimmung begann umzuschlagen. Immer mehr junge Schwarze waren in einer Art Uniform zu sehen, manchmal mit Schusswaffen ausgerüstet. Sie schworen bewaffneten Widerstand und Rache. Auch das Studentische Komitee für die Koordinierung des gewaltlosen Widerstands änderte seinen Namen – das Adjektiv »gewaltlos« wurde gestrichen. Gerade in einer Zeit, in der für die Schwarzen eine Verbesserung ihrer Lage näher zu kommen schien, war der Glaube an den Willen der Weißen, die Rassenschranken niederzureißen, bei den meisten jüngeren Leuten geschwunden. Während Martin Luther King nach wie vor das Wort »Neger« benutzte, sprachen sie nunmehr von »Schwarzen« und immer häufiger von »Black Power«, von der Macht der Schwarzen, die sich gegen Politiker, Polizei und Gesetze der Weißen durchsetzen müssten. Die Gruppen waren relativ klein, aber die Anziehungskraft ihrer Parolen war groß. Schwarzer Nationalismus, schwarze Macht, das Recht, sich zu verteidigen – diese neuen Themen bestimmten nun die Diskussion und weckten die Bedenken auch solcher Weißer, die eigentlich für die Überwindung der Rassentrennung eintraten.
Seit Mitte der sechziger Jahre suchte Martin Luther King neue, praktische Ziele für seine Anhänger. Er legte inzwischen der sozialen Gleichstellung ebenso viel Bedeutung bei wie der Gleichberechtigung vor Wahlurne und Gesetz. Die letzten Monate seines Lebens waren von Auseinandersetzungen über die soziale Frage bestimmt. So reiste er Anfang April 1968 nach Memphis, um einen Streik gegen die dortige Stadtverwaltung zu unterstützen. Sechshundert schwarze Müllmänner protestierten dagegen, dass die weißen Angestellten der Müllabfuhr höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen als ihre schwarzen Kollegen bekamen. Martin Luther King hatte in Memphis mit einem Freund und Mitkämpfer ein Zimmer in einem Motel bezogen. Sie standen auf dem Balkon, als aus einer Pension gegenüber ein Schuss fiel. King war getroffen. Als man ihn ins Krankenhaus brachte, war er bereits bewusstlos, eine Stunde später war er tot. Es dauerte Stunden, ehe sich in Memphis herumsprach, dass Martin Luther King umgebracht worden war.
Im Armenviertel von Indianapolis, der Hauptstadt von Indiana, warteten zu dieser Stunde viele Schwarze auf eine Wahlkampfversammlung mit Robert Kennedy, der für seine Nominierung als Präsidentschaftskandidat werben wollte. Ich stand mit einem Kamerateam auf dem Dach eines Reisebusses, von wo aus wir die Ansprache filmen konnten. Kennedy hatte von einem Mitarbeiter die Nachricht vom Attentat auf Martin Luther King erhalten. Nun stand er vor der wartenden Menge, verwundert, weil alle so ruhig blieben. Er ließ den Mann vom Sicherheitsdienst fragen, ob die Menschen schon informiert seien. Der Polizeichef warnte ihn, er solle das Attentat auf keinen Fall erwähnen, weil das unberechenbare Wutausbrüche unter den Zuhörern auslösen könnte. Kennedy ignorierte jedoch die Warnung und verlas ein paar Zeilen, die er auf einem Zettel notiert hatte: King sei getötet worden, weil er sich für Liebe und Gerechtigkeit unter den Menschen eingesetzt habe. »Denjenigen von euch, die Schwarze sind und die nun von Hass und Misstrauen gegen die Ungerechtigkeit der Weißen, aller Weißen, erfüllt sind, will ich nur eines sagen: Ich kenne dieses Gefühl aus meinem eigenen Herzen. Ein Mitglied meiner Familie wurde getötet, aber auch ihn tötete ein weißer Mann.« Kennedys einfache und bewegende Rede erreichte seine schwarzen Zuhörer. Anders als der weiße Polizeichef befürchtet hatte, gab es keine zornigen Reaktionen, sondern nur Klagen und Trauer.
Wir nahmen am nächsten Morgen die erste Maschine nach Memphis. Dort hatten sich ein paar Hundert Menschen vor einem Beerdigungsinstitut im Viertel der Schwarzen versammelt. Die Trauerfeier sollte in Martin Luther Kings Heimatstadt Atlanta stattfinden, aber wenigstens den Sarg wollten die Schwarzen von Memphis sehen. In der Menge war kein einziger Weißer zu entdecken. Kein Bürgermeister, kein Stadtrat, kein Abgeordneter und kein Vertreter des Gouverneurs war erschienen. Dafür haben sich dann am Flughafen von Memphis weiße Polizisten postiert, ausgerüstet mit Gewehren, Maschinenpistolen, Schrotflinten, Schutzhelmen und Schlagstöcken. Manche hatten eine Zigarette im Mund, und man konnte ihnen ansehen, dass sie alles eher für einen politischen Unfall als für eine Tragödie hielten. Eine kleine Gruppe von Schwarzen, die sich durch die Polizeisperre gedrängt hatte, sang »We shall overcome«, als der Sarg zum Flugzeug gebracht wurde. Martin Luther Kings Frau Coretta blieb währenddessen in der Maschine, die Robert Kennedy am Abend zuvor für sie gechartert hatte und die schließlich sie und ihren toten Mann nach Atlanta brachte.
Am späten Nachmittag kamen wir wieder nach Washington, wo das Nachspiel der Tragödie begann. In der Hauptstadt, die von manchen Weißen bereits Chocolate City genannt wurde, waren zwei Drittel der Einwohner Schwarze – deutlich nach Stadtvierteln von den Weißen getrennt, ein Teil inzwischen vergleichsweise wohlhabend, aber insgesamt doch ärmer als die Weißen. Junge Schwarze, die nie recht an das Prinzip der Gewaltlosigkeit geglaubt hatten, gingen nun auf die Straße, schlugen Schaufenster ein und nahmen sich, was sie wollten. Polizeiposten an Straßenübergängen warnten uns Weiße, aber sie hinderten mich und mein Kamerateam nicht daran weiterzugehen. Zwei Straßenzüge vom Weißen Haus entfernt stießen wir bereits auf die ersten Gruppen Schwarzer, die sich in den Auslagen bedienten. Hier, unmittelbar am Rande des Regierungsviertels, durfte die Polizei nicht zulassen, dass sich die Plünderer zu großen Gruppen formierten und dass Bilder von ihnen vor dem Hintergrund des Weißen Hauses um die Welt gingen. Die Sicherheitskräfte griffen daher schnell und gründlich ein. Tränengas vertrieb die Randalierer.
Die Kräfte der Polizei waren allerdings zu schwach, um die Ordnung in der ganzen Stadt aufrechtzuerhalten. Ein paar Straßen weiter sah ich Häuser, die in Flammen standen, nachdem junge Schwarze Benzinflaschen mit brennender Lunte vom Auto aus in die Schaufenster geschleudert hatten. In dieser Nacht erblickte man in den Wohngebieten der Schwarzen den Himmel nicht mehr vor lauter Funkenflug und Qualm. Junge Leute rannten von Laden zu Laden und schlugen Scheiben ein. Währenddessen standen schwarze Familien auf der gegenüberliegenden Straßenseite und schauten zu. Die Weißen wiederum – oft Ladenbesitzer – blieben am Rande der Unruhezone, redeten halblaut miteinander und zogen schließlich resigniert ab. Ich versuchte mit dem Kamerateam, die Straße zu überqueren, doch wir wurden von jungen Schwarzen angehalten. Einer von ihnen hörte, wie der Kameramann und ich uns unterhielten. Ob wir Deutsche seien, wollte er nun wissen. Er sei als Besatzungssoldat in Deutschland gewesen, und wir sollten jetzt einmal laut und deutlich in unserer Muttersprache reden, damit er feststellen könne, ob wir nicht doch getarnte Amerikaner seien. Schließlich war er mit unserer Aussprache zufrieden und winkte uns durch. »Sagt allen, dass ihr Deutsche seid. Gesperrt ist hier für die amerikanische Presse.« Es schien, als gebe es eine Art Kommandoebene unter den Schwarzen, aber der Eindruck täuschte – bei den Leuten, die Geschäfte plünderten, war keinerlei Organisation zu erkennen. Ich stellte mich vor ein zerschlagenes Schaufenster und versuchte, vor laufender Kamera und mit dem Mikrofon in der Hand die Lage zu beschreiben. Plötzlich merkte ich, dass sich hinter mir etwas bewegte und dass die Kollegen und einige Neugierige gebannt in meine Richtung starrten. Erst redete ich weiter, doch dann spürte ich, dass unmittelbar hinter mir jemand stand: ein großer Schwarzer, betrunken und mit einer Schnapsflasche in der Hand. Er drehte sich zu mir, hob die freie Hand und tätschelte mir die Wange. »You are beautiful, baby«, sagte er, wendete sich ab und zog davon. Auf der anderen Straßenseite klatschten einige Passanten, anscheinend ebenso erleichtert wie meine Kollegen und ich.
Einige der schwarzen Zuschauer schimpften, die Brandstiftungen seien tödlicher Wahnsinn; wenn sich dann aber die Feuerwehrmänner einem der brennenden Häuser zu nähern versuchten, fanden sie keine freiwilligen Helfer. Siebzig Häuser brannten in dieser Nacht in Amerikas Hauptstadt. Am nächsten Morgen lag die Innenstadt noch immer unter schwarzem Rauch. Auch wenn es keine neuen Anschläge mehr gab, flackerte immer wieder Glut in den Ruinen auf oder ein benachbartes Gebäude wurde vom Feuer ergriffen. Am Ende rückte die 82. Luftlandedivision ein, Soldaten mit Kampferfahrung in Vietnam, die schon bei Unruhen in Amerikas Automobilstadt Detroit eingesetzt worden waren. Marineinfanterie ging vor den klassischen Säulen des amerikanischen Kongressgebäudes in Stellung. Weite Teile der schwarzen Wohnviertel blieben freilich weiterhin eine Art Niemandsland. Kleine Gruppen von Schuljungen liefen durch die Straßen, schmissen Ziegelsteine in Schaufenster und holten sich, was sie greifen konnten. Mit der Dunkelheit kamen die Erwachsenen und gingen systematischer zu Werke. Ganze Familien mit ihren Kindern kletterten in die Warenhäuser und begannen sich einzukleiden. Junge Männer schleppten Fernsehgeräte durch die Straßen, und aus geplünderten Waffengeschäften stammten die Gewehre, mit denen vereinzelt aus Fenstern auf Polizisten oder Feuerwehrleute geschossen wurde. In den Tagen nach der Ermordung Martin Luther Kings, des Predigers von Gewaltlosigkeit, Gleichberechtigung und Bruderschaft, erlebte die Hauptstadt des mächtigsten Landes der Welt, was Anarchie ist.
Doch nicht nur in Washington kochte die Wut der Schwarzen über. Zwischen Watts in Kalifornien und Newark in New Jersey kam es in schwarzen Wohnvierteln der USA zu über siebzig Gewaltausbrüchen mit Plünderungen, Brandstiftungen, Zusammenstößen und Straßenkämpfen. Ein Teil der schwarzen Bevölkerung schien überzeugt von seinem Recht, die seit der Sklavenzeit unbeglichenen Schulden mit Gewalt eintreiben zu dürfen. An die Wirksamkeit des gewaltlosen politischen Widerstands glaubten sie immer weniger. Auf einer Kundgebung in der Hauptstadt erklärte Stokely Carmichael: »Schämt euch nicht, wenn sich eure schwarzen Brüder mit der Polizei schlagen. Wir müssen dem weißen Mann sagen: Wenn wir unser Recht nicht kriegen, dann habt ihr bald kein Washington mehr.« Solche radikalen Rufe waren jetzt überall zu hören und machten deutlich, dass die Zeit der großen Demonstrationen von Schwarzen und Weißen, die gemeinsam für ein Amerika der Gleichberechtigung eintraten, zu Ende ging.
In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre nahm der Krieg in Vietnam eine immer größere Rolle in der inneramerikanischen Auseinandersetzung ein. Zu Beginn des Jahrzehnts schien es noch, als interessiere dieser Konflikt im fernen Ostasien nur die Experten im Pentagon und im State Department. Das Interesse der amerikanischen Öffentlichkeit an den Machtverhältnissen in Vietnam war gering. Kennedys Vorgänger General Eisenhower hatte den Wunsch der Franzosen, US-Truppen zur Unterstützung ihrer Kolonialarmee in Indochina einzusetzen, noch deutlich zurückgewiesen. Falls Amerika in einen Krieg dieser Art hineingezogen würde, so der Ex-General, könne das in einer großen Tragödie enden. Dann wurde die Auseinandersetzung in Vietnam immer mehr zu einem Teil des allgemeinen Ost-West-Konflikts. Der junge Präsident Kennedy fürchtete im ersten Jahr seiner Präsidentschaft, Amerikas Rolle in der Weltpolitik sei durch die Niederlage in Kubas Schweinebucht, den Bau der Berliner Mauer und die gescheiterten Verhandlungen mit Chruschtschow in Wien zum Niedergang verurteilt. Er wollte deshalb der Ausweitung des sowjetischen Einflusses eine klare Grenze setzen. Als der Präsident im Sommer 1961 von den Wiener Gesprächen mit Chruschtschow zurückkehrte, sagte er zu Journalisten in Washington: »Jetzt haben wir ein Problem. Wir müssen unsere Macht glaubwürdig machen, und Vietnam scheint dafür der richtige Ort.« Sein Vorgänger Eisenhower hatte es abgelehnt, mehr als 900 amerikanische Soldaten als Militärberater nach Vietnam zu entsenden. Am Ende seiner kurzen Präsidentschaft hatte Kennedy schon 16.000 Soldaten nach Südvietnam geschickt, und unter dem Einfluss der Experten wuchs ihre Zahl ständig. Sein Nachfolger Lyndon Johnson hielt den Krieg zunächst für eine zweitrangige, fast lokale Auseinandersetzung und versprach, Amerikas Verstrickung in den Vietnamkrieg schnell zu beenden. Dann jedoch erhöhte auch er Schritt für Schritt Amerikas Einsatz. Er war zwar ein erfahrener und schlauer Innenpolitiker, aber in der Außenpolitik war er auf die Minister und den Beraterstab von John F. Kennedy angewiesen, bekannte, hoch angesehene Fachleute für internationale Politik, die ihn beeindruckten und deren Rat er folgte.
Im Herbst 1967 waren bereits rund 400 000 US-Soldaten in Vietnam stationiert, gleichzeitig wuchsen in der amerikanischen Öffentlichkeit die Zweifel. Auch weil die Nordvietnamesen durch Waffenlieferungen aus der Sowjetunion und China gestützt wurden, war ein durchschlagender Erfolg bis dahin ausgeblieben. In dieser Situation besorgten wir für das Team unseres Washingtoner Studios eine Akkreditierung bei der amerikanischen Militärführung in Vietnam. Wir fuhren mit einer kleinen Mannschaft: mein langjähriger Kameramann, Dieter Perschke, sein Assistent, ein Tonmann und ich. Dazu kam noch ein vietnamesischer Dolmetscher und Redaktionsassistent, von dessen Ortskenntnis wir abhängig waren. Er hatte sehr präzis für englische Kollegen gearbeitet, und so riskierten auch wir es, uns auf ihn zu verlassen. Mit ihm suchten wir uns Fahrtrouten aus, auf denen wir uns von den Stützpunkten der US-Armee und ihrer Verbündeten in die Dörfer und Kleinstädte des Hinterlands durchschlagen konnten. Tagsüber blieb die Lage entspannt, der Kontakt zur ländlichen Bevölkerung schien ungefährlich. Unheimlich waren solche Ausflüge dennoch. Ortsvorsteher warnten uns davor, die Hauptstraßen zu verlassen: Im Sichtschutz der sumpfigen Reisfelder säßen versteckte Gruppen des Vietcong, die das Feuer auf uns eröffnen könnten. Nachts seien diese Straßen unpassierbar und die Dörfer unter der Kontrolle der kommunistischen Untergrundkämpfer. Immer wieder hörten wir von Ortsvorstehern und Verwaltungsbeamten, die über Nacht entführt oder erschossen worden seien. So setzten wir alles daran, abends möglichst wieder unser Hotel in Saigon zu erreichen.
In der Hauptstadt Südvietnams war die Lage gewöhnlich eher ruhig. Es gab vereinzelte Bombenattentate, aber meist in der Nähe des Stadtrands, seltener im Zentrum, wo das Hotel Continental lag, die Lieblingsunterkunft der ausländischen Journalisten. Die Lobby war ein großer Basar der Gerüchte, aber immerhin gab es hier eine Art Austausch, mit Hilfe dessen man sich vorsichtig orientieren konnte. Die Informationsabteilung der amerikanischen Armee dagegen war weniger zuverlässig. Präsident Johnson hatte eine »Politik der minimalen Offenheit« verkündet, aufgrund derer die Informationsoffiziere im Auftrag der politischen Führung Berichte »frisierten«. Tatsächlich entdeckte ich, dass ein ehemaliger Kollege, den ich schon aus Korea kannte, nicht nur Nachrichten vertuschte, sondern mich auch in Bezug auf die Ziele und das Ausmaß des Truppeneinsatzes eindeutig belog. Folglich gab es einigermaßen zutreffende Auskünfte nur, wenn man sie sich selbst besorgte und mit erfahrenen Kollegen austauschte.
In Saigon herrschte eine Art Waffenstillstand zwischen dem Vietcong und den ausländischen Journalisten und Diplomaten, soweit sie nicht Amerikaner waren. Jedenfalls war in der Stadt seit Jahren kein Europäer überfallen oder ermordet worden. Während der Neujahrstage, so erzählten mir die Kollegen, unternehme der Vietcong auch außerhalb der Stadt keine Attentate und Angriffe. Es waren die Tage im Jahr, an denen Ausländer sich ins Auto setzten und ans Meer fuhren. Tet, das bevorstehende chinesische Neujahrsfest, bedeutete auch so etwas wie Ferien vom Krieg, darüber waren sich alle einig. Also machten auch wir uns Ende Januar 1968 auf zu einer zweistündigen Autofahrt an einen ehemaligen Badeort an der Küste und legten uns im weißen Sand in die Sonne. Aber schon nach einer Stunde kam unser Dolmetscher mit besorgter Miene: Es gebe Gerüchte, dass die Lage unsicher sei. Eine Stunde später sprach er bereits von der Gefahr »militärischer Zusammenstöße«, ein Ausdruck, den er vorher nie benutzt hatte. Mit uns am Strand lag der französische Konsul aus Saigon. Obwohl er uns als langjähriger Indochina-Kenner versicherte, eine gewaltsame Störung des Tet-Festes sei ausgeschlossen, fuhren wir sofort ab. Der Diplomat blieb zurück – und konnte erst zwei Wochen später die Reise in die Hauptstadt antreten. Tatsächlich hatten an diesem 30. Januar die nordvietnamesische Armee und die Guerillatruppen des Vietcong auf breiter Front einen Überraschungsangriff gegen die Stellungen der Südvietnamesen und ihrer amerikanischen Verbündeten begonnen.
Die Innenstadt Saigons schien ruhig, als wir von der Küste zurückkamen. Dann jedoch bogen wir in eine Nebenstraße ein, die nach etwa fünfzig Metern gesperrt war. Schon während wir umzudrehen versuchten, fielen von vorn die ersten Schüsse. Gleich danach wurde auch aus der Richtung, aus der wir gerade gekommen waren, auf uns geschossen. Unser Dolmetscher, dem der Wagen gehörte, setzte das Auto nahe an eine Hauswand, wir krochen heraus und legten uns auf den Boden. Dieter Perschke war vorher ausgestiegen, um einen guten Drehort zu suchen. Nun konnte er nicht über die Straße zu seiner Kamera zurück. Sein Assistent lag halb unter dem Auto und filmte, was er konnte. Zehn Minuten lang ging der Beschuss weiter, dann fuhren wir so schnell wie möglich aus dem gefährlichen Engpass heraus. Alles war gut gegangen, wir hatten sogar Filmmaterial, auf dem die Schützen entfernt zu erkennen waren. Anschließend sorgten nur noch die vier Einschusslöcher in der Karosserie unseres Wagens für Schwierigkeiten. Die Verwaltungsleitung beim Westdeutschen Rundfunk hatte entschieden, dass der Schaden nicht Sache des Senders, sondern des Dolmetschers sei, in dessen Wagen wir mitgefahren waren. Er habe die Reparatur an seinem Auto selbst zu zahlen, hieß es. Das war ärgerlich, hatte aber auch sein Gutes: Als der Intendant in Köln auf meine Bitte hin entschied, dem Dolmetscher die Reparaturkosten zu ersetzen, revanchierte sich dieser bei mir durch freiwillige Einsätze. Er nahm mich in das buddhistische Kloster mit, das in Saigon das Zentrum des intellektuellen Widerstands nicht nur gegen die Amerikaner, sondern auch gegen die vietnamesischen Kommunisten und die eigene südvietnamesische Regierung war. Es war zugleich der stärkste Stützpunkt der Friedensbewegung, deren Anhänger – meist junge Leute und Professoren der Universität – Verhandlungen zwischen Nord- und Südvietnam forderten.
Mein Dolmetscher brachte mich auch in Kontakt mit kleinen Gruppen vietnamesischer Intellektueller, von denen die meisten in Frankreich studiert hatten. Sie erzählten mir von der Zeit des Zweiten Weltkriegs, als die französischen Kolonialtruppen, die der Kollaborationsregierung in Vichy unterstanden, gemeinsam mit japanischen Eroberern in Vietnam operierten. Aber dann hatten die Japaner ein unabhängiges Kaiserreich Vietnam ausgerufen und das französische Militär interniert. Es waren höchst komplizierte und verworrene Geschichten über Bündnisse, in denen Amerikaner und Chinesen den Aufstand der vietnamesischen Kommunisten gegen die Franzosen unterstützten, während diese über sechshundert Japaner zur Ausbildung ihrer Truppen anheuerten. Solche Zusammenhänge waren den Amerikanern und den Europäern kaum verständlich und bis dahin hinter den offiziellen Kriegsberichten verborgen geblieben. Die vietnamesischen Intellektuellen, mit denen ich sprach, waren besonders verbittert darüber, dass ihre linken Freunde in Westeuropa nicht zur Kenntnis nehmen wollten, auf welch brutale Weise die Kommunisten in Nordvietnam ihre Macht durchgesetzt hatten. Dort hatten in der letzten großen Säuberung nach der Art Stalins wohl eine halbe Million Menschen ihr Leben verloren. Fernsehbilder, auf denen junge Europäer mit dem Ruf »Ho, Ho, Ho Chi Minh« gegen den Krieg und die Amerikaner demonstrierten, waren meinen vietnamesischen Gesprächspartnern jedenfalls schwer verständlich.
Mein Team und ich bemühten uns, wenigstens einen kleinen Teil von dem, was man vom Krieg sehen konnte, mit der Kamera festzuhalten. Da gab es erschütternde Bilder, wenn amerikanische Hubschrauber unmittelbar über unseren Köpfen Raketen in eine südvietnamesische Vorstadtstraße jagten oder, noch erschreckender, als wenige Meter von uns entfernt ein südvietnamesischer General einen Gefangenen mit der Pistole erschoss, der Minuten vorher noch Südvietnamesen aus dem Fenster eines Hauses getötet hatte. Eines immerhin konnten wir deutlich machen: Die nordvietnamesische Tet-Offensive hatte Anfang 1968 für keine der beiden Seiten einen Sieg gebracht, nur die höchsten Verluste seit Beginn des Kriegs. Die fast achtzigtausend kommunistischen Kämpfer, die in mehr als hundert Städten und Ortschaften angetreten waren, hatten zwar keine größeren Orte erobern können, aber in den USA löste die Wucht ihrer Offensive doch einen Schock und höchst unterschiedliche Reaktionen aus: Die Militärs wollten die Schlagkraft der Truppen verstärken, während die meisten Wähler die Kämpfe als Beweis dafür verstanden, dass der Krieg immer größer und blutiger werden würde und am Ende nicht zu gewinnen sei.
Für Präsident Johnson wurde die Lage immer schwieriger, je tiefer sich die USA in diesen südostasiatischen Konflikt verwickelten. Gerade bei jenen, deren Unterstützung er für sein Programm einer sozialpolitisch veränderten Gesellschaft gebraucht hätte, rief die Erfolglosigkeit und Brutalität des Kriegs zunehmend Widerstand hervor. Die Zahl der Friedensmärsche und Protestdemonstrationen wuchs vor allem unter den jüngeren und liberalen Wählern, die eigentlich die natürlichen Verbündeten für seine Reformpolitik gewesen wären. Amerika hatte bereits im Frühjahr 1967 eine beispiellose Antikriegskundgebung erlebt, als sich im New Yorker Central Park 125.000 Menschen versammelten. Ich traf dort Bekannte und Freunde wieder, denen ich während der Bürgerrechtsbewegung begegnet war. Aber diesmal war das Ganze nicht mehr der Aufmarsch einer politischen Bewegung oder pazifistischer, sozialistischer und – wie etwa J. Edgar Hoover, der Chef des FBI, gewohnheitsmäßig erklärte – kommunistischer Gruppen, sondern vielmehr ein Treffen von Tausenden von Individualisten, die den Glauben an die Politik und die Wirksamkeit gesellschaftlicher Proteste und Bewegungen zu verlieren begannen. Sie erwarteten nichts mehr von einem Dialog mit Präsident Johnson und den Realpolitikern, aber auch wenig von jenen Senatoren, die ein Ende des Kriegs in Vietnam forderten.
Innerhalb der New Yorker Protestkundgebung wurde ein neuer Prozess der Entfremdung deutlich. Anfang der sechziger Jahre hatten die Professoren an Amerikas Universitäten noch darüber geklagt, dass sich die Studenten nicht für Politik interessierten. Im Laufe des Jahrzehnts war das anders geworden: Inzwischen klagten Professoren über eine allzu rebellische Ausrichtung ihrer Studenten. Die Taktik der direkten Aktion, der Sitzstreiks oder der zeitweisen Besetzung von Behörden oder Dienststellen, wie sie die Schwarzen in der Black-Power-Bewegung entwickelt hatten, wurde nun gegen die Verwaltungen der Universitäten eingesetzt und gegen ein System, das den Studenten auf unmoralische Weise konformistisch erschien. Einzelne Kadergruppen, die die öffentliche Auseinandersetzung in Bewegung halten wollten, demonstrierten zwar mit den Bildern Maos oder Ho Chi Minhs, doch die meisten jungen Leute, die ihnen folgten, wollten nicht den kommunistischen Umsturz, sondern protestierten vor allem gegen die Struktur und Moral der eigenen Gesellschaft. Sie waren abgestoßen von der Vietnampolitik und enttäuscht von dem Mangel an idealistischer Zielsetzung in der Innenpolitik. So gesellten sich in New York Tausende zu den Protestierenden, die solchen Versammlungen bisher eher fremd gegenübergestanden hatten: Sekretärinnen und Hausfrauen, die mit Sträußen von Forsythien oder Osterglocken gekommen waren und die Blumen freundlich an Mitmarschierer verteilten, junge Männer, die sich das Gesicht mit bunter Farbe bemalt hatten, im Kreis tanzten und den Krieg samt seiner politischen Maschinerie verspotteten. Hier machte sich eine allgemeine Unzufriedenheit mit der amerikanischen Gesellschaft Luft.
Lyndon Johnson spürte, dass seine Zeit als Präsident, der die amerikanische Gesellschaft grundsätzlich verändern konnte, nun vorbei war. Die »Große Gesellschaft« war ein amerikanischer Traum geblieben. Am 31. März 1968 beendete er eine Fernsehansprache mit einer überraschenden Botschaft: Er werde sich nicht mehr um eine Wiederwahl bemühen. Obwohl sich dadurch sein Ansehen in der Bevölkerung zunächst wieder verbesserte, blieb er bei seiner Entscheidung. Nun gab es unter den Demokraten drei Konkurrenten im Kampf um die Nachfolge: den Vizepräsidenten Hubert Humphrey, einen liberalen, aber eher farblosen Mann aus dem Parteiapparat, der die Politik Johnsons fortsetzen würde, dann Senator Eugene McCarthy, einen gebildeten, nachdenklichen Mann aus der Mitte der demokratischen Partei, dessen wichtigstes Thema die Forderung nach dem sofortigen Ende des Vietnamkriegs war, und schließlich Robert Kennedy, der erst spät, zwei Wochen vor Johnsons Rückzug, seine Kandidatur angekündigt hatte.
Vielen meiner amerikanischen Freunde fiel die Entscheidung außerordentlich schwer: Sowohl McCarthy wie Kennedy wollten den Krieg in Vietnam beenden. Für McCarthy sprach, dass er seine Kandidatur schon zu einem Zeitpunkt erklärt hatte, als Lyndon Johnson noch unbesiegbar schien; Kennedy dagegen brachte die Strahlkraft des großen Namens mit und obendrein ein Reformprogramm, mit dem er den republikanischen Kandidaten Richard Nixon schlagen wollte. Wenn wir ihren jeweiligen Wahlkampfteams hinterherfuhren, kamen wir mit Kennedy in die schwarzen Stadtteile und in die wohlhabenderen Vorstädte, während wir McCarthy in die Universitätsviertel folgten, zu Studenten, die sich für ihn als Kriegsgegner entschieden hatten, obwohl er keine Chance zu haben schien. Bei Kennedys Auftritten gab es – besonders unter den Schwarzen – mehr Jubel und Begeisterung, bei McCarthy so etwas wie Verehrung für einen Mann, der seine Karriere für den Frieden riskierte. Und immer wieder traf ich Leute, denen es ebenso ging wie mir: McCarthy erschien uns sympathischer und selbstloser, aber Robert Kennedy war derjenige, der gewinnen und Amerika verändern konnte.
Am 4. Juni 1968 folgten wir den beiden Kandidaten in die Wahllokale verschiedener Stadtteile von Los Angeles. Eine wichtige Entscheidung stand an. Wer die Vorwahl in Kalifornien gewann, würde einen großen Schritt in Richtung Kandidatur machen. Die meisten Journalisten und Kamerateams, darunter auch wir, begleiteten Kennedy, denn der galt als der Mann mit den besseren Chancen und dem höheren Nachrichtenwert. Wir erwarteten ihn im Ballsaal des Ambassador-Hotels, sahen, wie ihm Mitarbeiter einen Weg durch die wartende Menge freimachten. Als die Wahllokale schlossen, bedankte sich Kennedy bei seinen Anhängern mit einer Rede. Wir ließen nur unseren Kameraassistenten im Ballsaal zurück, der die Ansprache des Kandidaten aufnehmen sollte, wenn das Ergebnis vorlag. McCarthy, so schien uns, konnte nicht gewinnen, aber gerade deswegen wollten wir beobachten, wie seine jungen begeisterten Anhänger auf die Niederlage reagieren würden. Als wir in McCarthys Hauptquartier ankamen, herrschte im Saal noch Wahlkampfatmosphäre: Junge Leute sangen Spottlieder auf Kennedy und nannten ihn einen Opportunisten, der nicht aus Überzeugung antrete, sondern weil er den »Kennedy-Platz« im Weißen Haus besetzen wolle. Die Stimmung war gereizt. Plötzlich trat ein Mann sehr langsam und ernst ans Rednerpult. Er bat um Ruhe, und er tat dies so eindringlich, dass alle sofort verstummten. Und dann verkündete er: Auf Robert Kennedy sei wenige Minuten zuvor geschossen worden. Niemand sagte ein Wort. Eben noch waren sie seine kritischen Gegner gewesen, doch nun erkannten sie, dass trotz allem gerade sie große Hoffnungen in ihn gesetzt hatten.
Mein Team und ich rasten zum Ambassador-Hotel zurück, wo unser Kameraassistent die Geschehnisse drehte: Kennedys Mitarbeiter hatten den Kandidaten nach seiner Rede nicht noch einmal in die begeisterte Menge gehen lassen, sondern ihn nach hinten über die Bühne zu einer Pressekonferenz gebracht. Der Weg führte durch einen Korridor zum Kücheneingang. Ein einziger pensionierter Polizist sorgte für Kennedys Sicherheit und schob störende Anhänger aus dem Weg. Kennedy schüttelte die Hand eines Hotelpagen, als ein Mann hinter der Eismaschine hervortrat und mehrere Schüsse auf ihn abgab. Unser Kameraassistent hatte als Einziger gefilmt, wie Kennedy zu Boden stürzte und wie seine Begleiter den Schützen überwältigten, Sirhan Sirhan, einen vierundzwanzigjährigen Christen aus Palästina, wie wir später aus einer sehr kurzen Information für die Presse erfuhren. Nun sahen wir Robert Kennedys Frau Ethel am Gang vor der Küche. Wir filmten, wie sie zu ihrem Mann geführt wurde und neben ihm niederkniete. Er wandte ihr das Gesicht zu und schien sie zu erkennen, dann trug man ihn auf einer Bahre fort zum Krankenwagen.
Die vielen Menschen, die ihm kurz vorher noch zugejubelt hatten, blickten dem Krankenwagen schweigend nach, unsicher, was sie denken oder sagen sollten: John F. Kennedy war erschossen worden, Martin Luther King war erschossen worden, nun war auch auf Robert Kennedy ein Attentat verübt worden. Ein paar junge Frauen hielten sich an den Händen und begannen halblaut zu singen: »We shall overcome«. Es klang wie ein letztes Versprechen aus der Zeit großer Hoffnungen. Mich hatte dieses Lied fast zwei Jahrzehnte durch Amerika begleitet: An der Highlander Folk School hatte ich es zum ersten Mal gehört. Ich hörte es dann, als ich die junge Sängerin Joan Baez zu ihrem ersten Konzert in New York begleitete und als sie mich zum Newport Folk Festival mitnahm, wo es der junge Bob Dylan sang. Ich erinnerte mich an den Abend in Selma, als ich mit jungen Schwarzen zusammen die Radioübertragung jener Rede im Kongress hörte, in der Präsident Johnson zur Überraschung aller ein neues Amerika mit den Worten »We shall overcome« ankündigte. Nun blickte ich dem Krankenwagen nach, mit dem Robert Kennedy ins Krankenhaus gefahren wurde, wo er einen Tag später starb.