We shall overcome
Washington
1962–1969
1962–1969
Am Dienstag, dem 16. Oktober 1962, wartete
ich im Westflügel des Weißen Hauses, wo die Presseabteilung ihren
Sitz hat, um meine Akkreditierung als White House Correspondent zu
beantragen. Vier Jahre hatte ich als Redakteur und als
Reisekorrespondent vom Kölner Mutterhaus aus gearbeitet. Nun
meldete ich mich bei der Regierung in Washington an. Es war ein
kurzer, eher formeller Vorstellungsbesuch, aber die Akkreditierung
war wichtig, denn sie eröffnete nicht nur den Zugang zu den
Pressekonferenzen und Arbeitsräumen am Sitz des US-Präsidenten, sondern erleichterte auch
den Kontakt zu Politikern und Vertretern der Wirtschaft außerhalb
des Regierungsviertels.
An diesem Tag war die Atmosphäre im Weißen Haus
außergewöhnlich angespannt, ohne dass meine amerikanischen Kollegen
sich und mir erklären konnten, was eigentlich in der Luft lag.
Einige von ihnen, die ständig aus dem Verteidigungsministerium
berichteten, hatten schon in der Nacht zuvor bemerkt, dass sich
eine wichtige Nachricht ankündigte. Aber an diesem Vormittag gab es
nicht viel mehr als Gerüchte, die wir zusammentrugen, austauschten
und verglichen. Es habe offenbar etwas mit Chruschtschow zu tun,
sagte mir der Reporter der New York Times
und fragte mich als Deutschen und ehemaligen
Moskau-Korrespondenten, ob sich etwa eine neue verschärfte
Belagerung West-Berlins ankündige. Davon hatte ich nichts gehört.
Es hatte auch Meldungen über sowjetische Soldaten und
Raketenstellungen auf Kuba gegeben, aber Präsident Kennedy hatte
sich von Chruschtschow mehrfach versichern lassen, dass es sich
dabei lediglich um nichtatomare Verteidigungswaffen handele.
Niemand von uns wusste zu diesem Zeitpunkt,
dass der Sicherheitsberater des Präsidenten an diesem Dienstag
frühmorgens ins Schlafzimmer von John F. Kennedy gekommen war, um
ihm Luftbilder eines Aufklärungsflugzeugs vorzulegen: Die Fotos
waren über Kuba aufgenommen worden und zeigten sowjetisches
Militär, das Stellungen für Atomraketen ausbaute. Damit begann die
dreizehntägige Kubakrise – der Höhepunkt des Kalten Kriegs. Nie
zuvor hatten die USA und die
Sowjetunion so dicht vor einem Nuklearkrieg gestanden wie in diesen
beiden Wochen im Herbst 1962. John F. Kennedy hatte zu Beginn
seiner Amtszeit im Keller des Weißen Hauses Tonbandgeräte
aufstellen und mit Mikrofonen in den wichtigsten Büro- und
Sitzungsräumen verbinden lassen. Das wussten freilich nur seine
engsten Mitarbeiter. Als die Tonaufnahmen Jahrzehnte später
veröffentlicht wurden, ließ sich ein komplettes Bild von dem
zusammensetzen, was in den Räumen des Präsidenten besprochen worden
war und für welche Maßnahmen sich die militärischen und zivilen
Experten eingesetzt hatten.
So rief Präsident Kennedy an jenem
Dienstagvormittag seinen Bruder Robert, der als Justizminister im
Kabinett saß, mit einigen Beratern aus dem Verteidigungs- und
Außenministerium zu sich ins Weiße Haus. Sämtliche Experten
sprachen sich für Bombenangriffe auf die sowjetischen
Raketenstellungen aus. Nur der stellvertretende Außenminister
George Ball warnte, ein amerikanischer Überraschungsangriff auf
Kuba sei in seiner Bedeutung vergleichbar mit dem japanischen
Angriff auf Pearl Harbor, dem der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg gefolgt war.
Andererseits sahen manche Experten in der Stationierung
sowjetischer Raketen auf Kuba das Vorspiel für eine neue
Berlin-Krise. Wenn Präsident Kennedy nicht scharf reagierte,
könnten die Sowjets sich ermutigt fühlen, neue Maßnahmen gegen
West-Berlin zu ergreifen. Heute weiß man, dass es auf beiden Seiten
– in den USA wie in der
Sowjetunion – Berater und Politiker gab, die in diesen Tagen bereit
waren, das Risiko eines Atomkriegs zwischen den beiden mächtigsten
Staaten der Welt einzugehen.
Weder Kennedy noch Chruschtschow konnte
öffentlich nachgeben, denn jedes Zugeständnis wäre von der anderen
Seite als Zeichen der Schwäche verstanden worden, und das wiederum
hätte einen atomaren Konflikt wahrscheinlicher gemacht.
Chruschtschow lenkte schließlich als Erster ein. Während die
Weltöffentlichkeit noch von einer Verschärfung der Spannungen
hörte, hatte er sich schon in einem geheimen Telegramm bereit
erklärt, die sowjetischen Atomraketen abzuziehen, wenn Kennedy
verspräche, Kuba nicht angreifen zu lassen. Im Weißen Haus glaubte
man schon, dem Ende der Krise nahe zu sein, als ein zweites
Telegramm eintraf: Die sowjetischen Raketen würden nur dann
abgezogen, wenn das Gleiche auch mit den amerikanischen
Nuklearraketen in der Türkei geschähe. Im US-Außenministerium fürchtete man die
Reaktion der Verbündeten und der amerikanischen Wähler auf einen
solchen Tauschhandel. Auf der Ebene normaler Verhandlungen aber kam
man nicht mehr weiter. Kennedy schickte deshalb seinen Bruder
Robert mit einem Vorschlag zum sowjetischen Botschafter: Die
amerikanischen Raketen in der Türkei seien veraltet. Er werde sie
ohnehin in einem halben Jahr abziehen. Falls aber die sowjetische
Seite behaupten sollte, dies sei ein Tauschgeschäft, wie es
Chruschtschow vorgeschlagen habe, werde man die Raketen dort
belassen und die Krise werde sich weiter verschärfen. Die
Öffentlichkeit erfuhr von alldem nichts. Chruschtschow und Kennedy
hatten nahe am Rande eines atomaren Kriegs einen Ausweg gefunden,
um die Katastrophe zu verhindern, und sich damit als klüger
erwiesen als ihre Berater. Das mussten schließlich sowohl ihre
Anhänger wie auch ihre Kritiker in Amerika und – allerdings erst
sehr viel später – in Russland anerkennen.
Als der Wortlaut der Gespräche, die im Weißen
Haus mitgeschnitten worden waren, nach vierzig Jahren in Buchform
erschien, traf ich mich mit einem ehemaligen amerikanischen
White-House-Korrespondenten. Wir verglichen, was wir an jenen
kritischen, fast welterschütternden Tagen zu wissen geglaubt hatten
und wie wenig am Ende davon stimmte. Auch die engsten Mitarbeiter
im Stab des Weißen Hauses hatten nicht gewusst, auf welche Weise
die Kennedy-Brüder einen Ausweg aus der Krise finden würden. Wir
Journalisten hatten gedacht, aus den Informationen, an die wir oft
mehr zufällig herankamen, die Umrisse einer Strategie zu erkennen.
Doch am Ende hatten wir uns ein falsches Bild der Krise
zusammengesetzt. Diese Erkenntnis machte uns nachdenklich, denn im
Grunde hieß das doch auch: Je mehr die Journalisten im Verlauf der
Kubakrise erfahren und in die Öffentlichkeit getragen hätten, desto
schwerer wäre vermutlich eine friedliche Auflösung der
Konfrontation gewesen. So hatte es damals natürlich auch Kennedys
Pressesekretär Pierre Salinger gesehen, während wir Korrespondenten
der Meinung waren, eine gut informierte Öffentlichkeit sei als
Handlungsgrundlage der Politik unabdingbar.
Mit Kennedy war 1960 ein neuer Ton in
die Politik gekommen: Er war jünger als seine Konkurrenten und
stellte keine politischen Geschenke in Aussicht, sondern sprach
stattdessen von einer neuen Grenze (»New Frontier«), die Amerika
überwinden müsse, um den Weg in die Zukunft zu meistern. Er hatte
brillante Redenschreiber, und ihm standen während des Wahlkampfs
Berater zur Seite, die die Bedeutung des neuen Mediums Fernsehen
verstanden. Das war schon in der ersten Fernsehdebatte zwischen ihm
und seinem republikanischen Kontrahenten Richard Nixon zu sehen.
Nixon humpelte wegen einer Beinverletzung zum Mikrofon, er hatte
auf die Maske verzichtet, wirkte schlecht rasiert und schwitzte.
Kennedy dagegen hatte sich von seinen Beratern überreden lassen,
mit einem professionellen Make-up zu kommen. Er sprach lebhaft, wo
Nixon schwerfällig und umständlich wirkte. Die Umfragen nach der
Sendung waren aufschlussreich: Bei den Fernsehzuschauern hatte
Kennedy einen Vorsprung, bei den Rundfunkhörern lag Nixon in den
Umfragewerten vor seinem Rivalen oder gleichauf. Diese Debatten
waren der Anfang des Fernsehzeitalters in der Politik.
Kennedy musste bei seinem Wahlkampf allerdings
eine besondere Hürde überwinden: Er war Katholik. Zwar machten
Katholiken ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung aus, aber in
den meisten Staaten der USA
schien es ausgeschlossen, dass entgegen aller
englisch-protestantischen Tradition ein Katholik bei
Präsidentschaftswahlen die Stimmenmehrheit gewinnen könnte. Im
innerparteilichen Wettstreit um die Kandidatur hatte Kennedy es
zunächst in den Vorwahlen mit dem erfahrenen und beliebten Senator
Humphrey zu tun gehabt, der als sozialliberaler Protestant einen
sicheren Vorsprung zu haben schien und ihn gegen den jüngeren,
glanzvolleren Kontrahenten doch nicht halten konnte. West Virginia,
einer der Staaten an der Grenze zwischen dem Norden und dem Süden
der USA, war wegen der
Zusammensetzung seiner Bevölkerung besonders schwierig: beinahe 95
Prozent Weiße, überwiegend Farmer und Bergarbeiter, fast
ausschließlich Evangelikale oder Protestanten voller Misstrauen
gegenüber Großstädtern von der Ostküste. »Wenn Kennedy hier
gewinnen kann, kann er überall gewinnen«, sagten die Kollegen im
Bus, der uns von Washington nach Charleston, der Hauptstadt von
West Virginia, brachte. Für mich war diese Reise 1960 ein wichtiger
Vorgriff auf meine spätere Korrespondentenarbeit, bekam ich doch
erste Kontakte mit engen Mitarbeitern des zukünftigen Präsidenten.
Der kleine Trupp von Kennedys Wahlkampfhelfern, den ich mit einigen
Kollegen begleitete, sollte beobachten, ob in West Virginia alles
glatt lief. Gerade weil John F. Kennedy in dem Bundesstaat nur eine
winzige Chance zu haben schien, galt das Ergebnis als wichtiger
Hinweis auf seine Aussichten, falls er für die Demokraten ins
Rennen geschickt würde.
Den ganzen Tag über versuchten wir Journalisten
ziemlich erfolglos, vor den Wahllokalen mit wortkargen Wählern aus
den appalachischen Bergen ins Gespräch zu kommen. Abends saßen
einige von uns in einem Hamburger-Imbiss zusammen, und auch ein
paar Leute aus dem Kennedy-Team gesellten sich zu uns. Zuerst
spekulierten wir ausführlich über das mögliche Ergebnis, aber
unsere politische Fantasie, was das Wählerverhalten von
hinterwäldlerischen Farmern anging, war bald erschöpft. Da die
Auszählung erst sehr spät am Abend beendet sein würde, erkundigten
wir uns, was es in Charleston an Abwechslung gebe. Das Angebot war
jedoch dürftig: lediglich ein Art House, ein Kino, das nicht die
üblichen Hollywood-Produktionen zeigte, sondern eher zahme
Pornofilme. Wir hingen dort in unseren Sesseln, machten blöde Witze
und verärgerten die wenigen einheimischen Zuschauer, die sich über
die Arroganz von uns Großstädtern beschwerten. Schließlich kam eine
Sekretärin mit dem Wahlergebnis und rief ins fast leere, dunkle
Kino, Kennedy habe gewonnen. Noch ehe wir wieder auf der Straße
waren, hatten alle ihre Meinung verkündet: Kennedy werde nun
bestimmt Präsidentschaftskandidat und dann auch Präsident der
USA. Ein Katholik, der in West
Virginia eine Vorwahl gewann, konnte die Präsidentschaftswahl nicht
verlieren. Diese Prognose sollte sich als zutreffend erweisen, auch
wenn das Wahlergebnis im November 1960 am Ende denkbar knapp
ausfiel: Kennedy 49,7 Prozent, Nixon 49,5 Prozent der Stimmen – der
knappste Vorsprung, mit dem je ein Präsidentschaftskandidat
gewonnen hatte.
Der winzige Unterschied von 0,2
Prozentpunkten sollte Amerika innerhalb weniger Monate verändern.
Kennedys Vorgänger Dwight D. Eisenhower war Oberkommandierender der
amerikanischen Truppen im Zweiten Weltkrieg gewesen, ein eher
zurückhaltender Mann und mit 72 Jahren der bis dahin älteste
Präsident in der Geschichte der USA. Kennedy war mit 43 Jahren der jüngste.
Für die Hauptstadt Washington, die keine andere Tradition als die
des Regierungssitzes hatte, brachte das tiefe Veränderungen mit
sich: Die Mitarbeiter des Weißen Hauses und der wichtigen
Ministerien, aber auch der ganze Anhang von Experten, Beratern,
Journalisten und Lobbyisten stellte sich auf die Verjüngung der
Politik ein. Washington war immer noch eine Provinzstadt, aber es
wurde schick, dort zu wohnen, und die Restaurants schmückten sich
neuerdings mit französischen Speisekarten. Ganze Stadtviertel
wandelten sich: Der Stadtteil Georgetown, älter als die Hauptstadt
Washington selbst, war fast ausschließlich von Schwarzen bewohnt
gewesen, aber eine Reihe reicher, jüngerer Politiker hatte die
Schönheit der heruntergekommenen Häuser aus dem 18. und 19.
Jahrhundert entdeckt. Nun waren fast alle Schwarzen aus Georgetown
in rein schwarze Viertel gezogen, und reiche Weiße hatten die alten
Häuser für sich umgebaut. Auch John F. Kennedy und seine Frau
Jacqueline hatten eines der restaurierten Gebäude bewohnt, ehe sie
ins Weiße Haus wechselten.
Ich wollte einige Straßen von ihrer ehemaligen
Adresse entfernt eines der älteren Häuser mieten, erschrak aber,
als ich den Vertrag unterschreiben sollte. Darin stieß ich auf eine
Klausel, wonach dieses Haus nicht an Schwarze, Juden oder Araber
verkauft oder vermietet werden dürfe. Das könne ich nicht
unterschreiben, sagte ich, schon gar nicht als Deutscher. Der
amerikanische Makler konnte das nur schwer verstehen. Der »title«,
das offizielle Besitzdokument, sei nur unter größten
Schwierigkeiten abzuändern. Im Übrigen spiele dieser Vorbehalt so
gut wie keine Rolle mehr und sei schon seit einiger Zeit nicht mehr
gerichtlich durchsetzbar. Ich solle mir also keine Gedanken und ihm
keine Umstände machen. Aber darauf wollte ich mich als Deutscher
nicht einlassen. Ich fand unter meinen Bekannten einen jüdischen
Rechtsanwalt, der mir half und einen Anhang zum Dokument
durchsetzte, in dem diese rassistische Klausel für unwirksam
erklärt wurde.
Das ARD-Studio lag an einer wenig attraktiven
Geschäftsstraße. Im Keller gab es eine kleine private
Kopierwerkstatt, wo unsere Filme schnell entwickelt werden konnten,
im Erdgeschoss einen Friseurladen und ein Möbellager, und im ersten
Stock hatten wir unsere Büros und Schneideräume für rund zehn
Mitarbeiter. Nun öffnete just drei Häuser weiter das bald schickste
französische Restaurant der Stadt, in das sich die Mitarbeiter von
Senatoren und Abgeordneten und auch die Experten aus den
Ministerien gerne einladen ließen. Für uns Ausländer war das sehr
hilfreich, weil es oft schwierig war, in Amerikas Hauptstadt
Gesprächs- und Interviewpartner zu finden. Selbst Senatoren, die
große und durchdachte Reden zur Außenpolitik hielten, nahmen sich
nur ungern die Zeit, Leuten aus Europa Interviews zu geben. »Wer
wählt den Senator denn schon in Deutschland?«, fragte mich der
Assistent von Senator Fulbright, als ich um ein Interview bat. Was
er damit meinte, verstand ich, als ich Fulbright kurz darauf in
seinem Wahlkreis in Arkansas beobachtete: Da ging es um Straßenbau,
Schulspeisungen oder lokale Steuern. Keiner fragte den
weltberühmten Vorsitzenden des Senatsausschusses für Außenpolitik
nach etwas anderem als lokalen Angelegenheiten, und er antwortete
ausführlich und mit großer Geduld. Dies waren seine Wähler, und sie
erwarteten, dass er sich für ihre Belange einsetzte. Außenpolitik,
sein Spezialgebiet, interessierte sie nicht.
In Washington waren wir europäische
Korrespondenten Außenseiter. Gerade mal vier oder fünf Senatoren
und Abgeordnete ließen sich gelegentlich herab, mit Journalisten
von der anderen Seite des Atlantiks zu reden, und dann am ehesten
mit Engländern, deren Zeitungen sie lesen konnten. Die Kennedys
bildeten eine Ausnahme. Als John F. Präsident wurde, war sein
jüngerer Bruder, der frisch gewählte Senator Edward Kennedy,
gelegentlich bereit, sich für uns Europäer eine halbe Stunde Zeit
zu nehmen. Manchmal kam ich so an weitere Informationen, etwa wenn
ich einem deutschen Abgeordneten helfen konnte, sich mit Edward
Kennedy zu unterhalten und fotografieren zu lassen. Trotzdem: Die
nützlichsten Quellen für uns ausländische Journalisten waren nicht
die Politiker oder die Presseabteilungen der Ministerien, sondern
jene Experten von renommierten Universitäten, die zu Beratungen in
die Hauptstadt gerufen wurden. Sie konnten zwar meist nicht wissen,
wie eine Entscheidung am Ende ausfallen würde, aber von ihnen
erfuhr man etwas über die jeweiligen Probleme und die Art, wie über
sie diskutiert wurde. So erhielt man zumindest eine Vorstellung von
den Hintergründen und den möglichen Auswirkungen einzelner
Beschlüsse. Dementsprechend bemühten wir uns, diese Experten zu
einem Drink oder Abendessen einzuladen, und manche von ihnen kamen
sehr gern. Wer wie sie in New York oder Los Angeles wohnte, konnte
sich mit den langen Abenden in den Hotels und der provinziellen
Langeweile Washingtons nur schwer abfinden.
Die Empfänge im Weißen Haus, zu denen ich
einige Male eingeladen wurde, waren elegant und interessant
geworden, seit Jacqueline Kennedy die Rolle der Gastgeberin
übernommen hatte. Bei den Eisenhowers war es noch steif und etwas
spießig zugegangen, Jackie Kennedy dagegen wollte aus dem Weißen
Haus eine Art Präsidentenpalast machen, mit Konzerten und
französischer Eleganz. Sie und ihr Mann stammten aus schwerreichen
katholischen Familien, und Jacqueline konnte mit dem alten
kleinbürgerlichen Repräsentationsstil des amerikanischen
Präsidentenamts nichts anfangen. Zusätzlich zu den Gästen aus
Politik und Wirtschaft, die offiziell auf der Einladungsliste
stehen mussten, lud sie deshalb Schriftsteller und Künstler ein,
Schauspieler und Balletttänzerinnen, Unterhaltungskünstler, aber
auch jüngere Leute aus den Ministerien und Kanzleien. Stil und
Eleganz und die Tatsache, dass sie die Frau des ersten Mannes der
USA war, hoben sie aus dem
Leben des im Grunde kleinstädtischen Washington heraus. Zugleich
galt sie als bescheiden, fast schüchtern, und die Öffentlichkeit
sah sie vor allem als eine zurückhaltende junge Ehefrau und Mutter.
Sie besaß aber auch eine scharfe Zunge und konnte fluchen wie ein
Pferdeknecht, wenn sie mit ihrem Mann oder seinem Bruder Robert
alleine war.
Robert Kennedy brachte eine gewisse Schärfe in
alle politischen Auseinandersetzungen. Eine Zeitlang gehörte er dem
Stab des fanatischen Kommunistenjägers Joseph McCarthy an, ehe er
zum engsten Vertrauten seines Bruders wurde und sich unter hohem
persönlichem Einsatz für dessen Anspruch auf die Präsidentschaft
starkmachte. Sein besonderer Feind war dabei der starke Mann des
amerikanischen Senats, der demokratische Senator Lyndon Johnson,
der ebenfalls ins Weiße Haus wollte. So versuchte Robert Kennedy
durch allerlei Schachzüge, ihm den Weg zu versperren. Sein Bruder
aber war zu der Überzeugung gelangt, dass er den Texaner Lyndon
Johnson als Kandidaten für die Vizepräsidentschaft brauchte, wenn
er die Stimmen der südlichen Staaten gewinnen wollte. Dafür nahm er
in Kauf, dass Robert mit dem Vizepräsidenten in giftigem Hass
verbunden war. Im Grunde hätte es zwischen dem Präsidentenbruder
aus der feinen Gesellschaft des Nordostens und dem
Ellenbogenpolitiker, dem Sohn kleiner Farmer vom Rande der
Südstaaten, eine nützliche Arbeitsteilung geben können. Doch die
beiden Männer waren einfach zu unterschiedlich, zu sehr
Machtpolitiker und zu tief verstrickt in ihre Feindschaft. Robert
Kennedy lud mich einige Male zu einem Softball-Spiel, einer Art
Schlagball, in seinen Garten ein. Lyndon Johnson hingegen traf ich
am ehesten, wenn ich am Samstagvormittag in den Presse-Arbeitsraum
des Weißen Hauses ging und mit amerikanischen Kollegen ein oder
zwei Stunden wartete: Dann kam er, spazierte mit uns um den großen
Rasen hinter dem Weißen Haus und ließ uns einen Whiskey
einschenken.
Als deutscher Korrespondent beobachtete ich das
gespannte Verhältnis der beiden mit besonderer Besorgnis, denn
gerade in dieser Zeit war eine starke amerikanische Führung
gefragt. In den knapp drei Jahren, die John F. Kennedy Präsident
war, ging es zwischen Moskau und Washington darum, wer über die
Zukunft des geteilten Berlin und des geteilten Deutschland
bestimmen würde. Kennedy war knapp zwei Jahre nach dem Mauerbau
demonstrativ zu einem offiziellen Besuch nach West-Berlin gekommen
und hatte Amerikas Unterstützung für die Stadt bekräftigt. Zur
anderen großen Belastung der amerikanischen Außenpolitik wurde der
Krieg in Vietnam. Washingtons militärischer Beitrag zur
Unterstützung der sich abwechselnden vietnamesischen Politiker und
Generäle verdreifachte sich in Kennedys kurzer Amtszeit, doch bis
zu seinem Tod war noch nicht klar, welche Richtung die
amerikanische Vietnam-Politik auf Dauer einschlagen würde. Im
Herbst 1963 konnte in Washington freilich niemand ahnen, wie
schnell die Entscheidungen von Kennedy an Lyndon Johnson übergehen
würden.
Am 22. November befand ich mich in einem
Flugzeug auf dem Weg von Washington nach Mississippi. Ich saß
schläfrig in meinem Flugzeugsessel, als sich der Pilot über die
Lautsprecheranlage meldete und so nüchtern wie möglich eine
brisante Meldung durchzugeben versuchte: Präsident Kennedy sei
soeben in Dallas ermordet worden. Einige Reihen hinter mir sprangen
zwei junge Männer auf und riefen »Yippee!« – ein Schrei, in dem
sich aufgestauter Hass entlud. Aber die verstörten Blicke der
anderen Passagiere zwangen die beiden schließlich in ihre Sitze
zurück. Der Pilot gab von Zeit zu Zeit die neuesten Meldungen aus
Atlanta an uns Passagiere weiter, und dann schwiegen alle. Ich
wollte statt nach Mississippi natürlich so schnell wie möglich
zurück nach Washington. Beim nächsten Stopp in Knoxville,
Tennessee, stieg ich aus. Im Flughafengebäude traf ich zufällig
einen weißen Prediger, den ich von früheren Begegnungen kannte. Er
hatte sich jahrelang für die Rechte der Schwarzen eingesetzt, bis
so oft auf ihn geschossen wurde, dass er seine kleine Kirche
verlassen musste. Nun lud er mich ein, bis zum nächsten Flug nach
Washington mit ihm in der Highlander Folk School zu übernachten,
die ich, bevor sie von Monteagle nach Knoxville vertrieben worden
war, 1950 bei meinem ersten Besuch kennengelernt hatte. Da saßen
wir dann zusammen mit einigen Studenten und jungen Gewerkschaftlern
und starrten auf den Bildschirm des Fernsehgeräts. Wir sahen Bilder
von Präsident Kennedy und Jacqueline auf der großen Paradefahrt
durch Dallas. Es gab noch keine Aufnahmen vom Attentat selbst, nur
die Berichte der Reporter und schließlich jenen Augenblick, in dem
einer von Kennedys Assistenten in Dallas vor die Tür des
Krankenhauses trat und sagte, der Präsident sei tot.
Abends lief ich durch Knoxville, eine Stadt am
nördlichen Rand der Südstaaten, wo die Leute Präsident Kennedy
nicht geliebt, ja vielfach sogar gehasst hatten. An diesem Abend
schlossen hier keine Bar und kein Kino, und im städtischen
Sportstadion wurde weiter ein Eishockey-Match ausgetragen. Nur im
ärmsten Teil der Stadt fand ich eine Kirche, in der viele Schwarze
verstört für den toten Präsidenten beteten. Auch in den nächsten
Tagen blieb die Reaktion auf den Mord in vielen Städten des Südens
unter den Weißen erschreckend kühl. Die Stadtverwaltungen
beschlossen, keine Trauertage einzulegen. Die Kneipen wurden
beispielsweise nur zwei Stunden lang, während der Beisetzung
selbst, geschlossen.
Wäre ich in dieser Nacht in Washington oder im
nördlichen Teil der USA
gewesen, hätte ich eine ganz andere Stimmung erlebt. Dort waren
Schrecken und Erschütterung groß. Die Mehrheit der Amerikaner
empfand die Todesnachricht als entsetzlichen Schock. Dass der
Präsident ihres Landes ermordet werden konnte, war für viele
schlicht unvorstellbar. Dieses Entsetzen überlagerte letztlich auch
die Kritik, die sich in den vorangegangenen Monaten immer stärker
gegen Kennedys Politik gerichtet hatte. Er war zu dieser Zeit nicht
mehr der strahlende junge Präsident auf dem Weg zu »neuen Grenzen«,
an den wir uns dann einige Jahre später erinnern würden. Politische
Beobachter zweifelten damals daran, dass John F. Kennedy überhaupt
noch einmal wiedergewählt werden könnte, weil er vielen Amerikanern
zu linksliberal und zu »negerfreundlich« schien und weil ihnen
seine Verhandlungen über eine internationale Kontrolle der atomaren
Aufrüstung zu weich und nachgiebig waren.
Die fünfzehn oder zwanzig jungen Menschen, mit
denen ich bis zum frühen Morgen in der Highlander Folk School
zusammensaß, waren im Gegensatz dazu der Meinung, Kennedy habe
seine liberale Politik nicht entschlossen genug durchgesetzt. Sie
waren einerseits tief getroffen von dem Attentat, andererseits aber
auch erregt angesichts der neuen Perspektiven, die sich aus ihrer
Sicht für die amerikanische Politik ergaben: Von einem Präsidenten
Johnson erwarteten sie, dass er Reformen des Wahlrechts und der
Sozialpolitik umsetzen würde, die sein Vorgänger bei den
Abgeordneten und Senatoren des Kongresses nicht durchzubringen
vermocht hatte. Johnson sei ein Mann, der die demokratische
Reformbewegung von Präsident Franklin D. Roosevelt mit
Machtbewusstsein und Schlauheit wiederaufnehmen könne. Viele
Abgeordnete, Senatoren und auch lokale Parteiführer hätten den
starken Führer des amerikanischen Senats immer wieder zur
Unterstützung für ihre Anliegen gebraucht. Johnson vergesse so
etwas nie und werde sie vor knappen Abstimmungen an diese Schulden
erinnern. Damit seien die Liberalen gewaltig gestärkt. Diese
Perspektive überraschte mich, denn ich hatte, wie die meisten
Amerikaner, Johnson eher für konservativer als Kennedy gehalten.
Und da ich nicht leicht von dem zu überzeugen war, was die jungen
Idealisten fern von Washington als ihre politische Hoffnung
ansahen, gaben sie mir die Telefonnummer von Johnsons engstem
Mitarbeiter, Bill Moyers, später einer der wichtigsten Journalisten
des öffentlichen amerikanischen Fernsehens. Sie wollten mich bei
ihm ankündigen, sobald ich wieder in der Hauptstadt sei. Moyers sei
ein Unterstützer der Bürgerrechtsbewegung, ein ehemaliger
Theologiestudent von etwa dreißig Jahren, der Johnsons Wahlkämpfe
organisiert habe. Er entwickle auch Johnsons Reformprogramm, das
zur sogenannten Großen Gesellschaft (»Great Society«) führen solle,
und sei im Weißen Haus wohl der Einzige, der Johnson widersprechen
könne.
Ich war froh, dass ich an diesem Abend die
Highlander Folk School wiedergefunden hatte. Sie war nach Knoxville
ausgewichen, nachdem der Ku-Klux-Klan sie in Brand gesetzt und die
Stadtverwaltung von Monteagle sie nach mehreren Prozessen als
»kommunistische Schule« geschlossen hatte. Ich erfuhr, welche
wichtige Rolle die Schule in der Auseinandersetzung über das
Wahlrecht der schwarzen Amerikaner gespielt hatte: Rosa Parks, die
sich 1955 als erste Schwarze weigerte, ihren Platz in einem Autobus
für Weiße freizumachen, hatte dort gewaltlosen Widerstand eingeübt,
ebenso der Pastor Martin Luther King, der zum Führer der schwarzen
Bürgerrechtsbewegung werden sollte, und dazu viele junge Leute, die
später in der Studentenbewegung eine Rolle spielen würden.
Der nächste Tag war hektisch. Mit dem ersten
Flug kehrte ich am Morgen nach Washington zurück. Ich wollte aus
dem Archiv des ARD-Studios
Filmmaterial heraussuchen, das ich für einen Hintergrundbericht
über den Mord am Präsidenten und seine möglichen politischen Folgen
brauchte. Da es noch keine ständige Satellitenverbindung nach
Deutschland gab, packte ich die Filme in einen Koffer, um sie nach
Köln mitzunehmen, wo ich sie bearbeiten und kommentieren konnte.
Berichte und Bilder des US-Fernsehens und der internationalen
Agenturen, die Amerika in seiner Trauer und seinem Entsetzen
zeigten, würden längst vor mir in Deutschland angekommen sein.
Deshalb wählte ich Material, dessen Schwerpunkt bei dem neuen Mann
lag, dem künftigen Präsidenten Lyndon Johnson. Im Weißen Haus nahm
sich dessen Assistent Bill Moyers tatsächlich nach einem Anruf von
den Bürgerrechtlern der Highlander Folk School ein paar Minuten
Zeit für mich, um mir neben Auszügen aus Reden Johnsons auch
Hinweise auf dessen Kernüberzeugungen und Pläne zu geben. So hatte
ich schließlich doch etwas Neues, das ich nach Deutschland
mitbringen konnte.
Bevor ich noch am selben Tag nach Köln
weiterflog, legte ich einen kurzen Zwischenstopp in New York ein,
wo einer meiner ARD-Kollegen
weitere Filme für mich besorgt hatte. Hinter uns im New Yorker
ARD-Studio lief der Fernseher
mit einer Liveübertragung. Wir hörten, dass der Mann, der als
Mordverdächtiger verhaftet worden war, gerade im Gefängnis in einen
Polizeiwagen gebracht werden sollte. Dann war ein Schuss zu hören
und eine Stimme, die sagte: »Er ist tot. Lee Harvey Oswald ist
erschossen.« Auf dem Bildschirm sahen wir einige Reporter, die
einander beiseiteschubsten, dann den Körper von Oswald und ein
wildes Gedränge von Menschen, die sich auf einen anderen Mann
stürzten. Es war der Attentäter, der Oswald erschossen hatte. Er
hieß Jack Ruby und betrieb einen Nachtclub in Dallas. Mehr wussten
wir nicht, als ich weiter zum Flughafen fuhr und mich schließlich
in die Maschine nach Deutschland setzte. Später habe ich mehrfach
die Biografien der beiden Schützen durchforscht und wie viele
andere vergeblich versucht, die Geschehnisse zu verstehen, die
diese Tage zu den erschreckendsten und verwirrendsten der
amerikanischen Geschichte machten.
Seine Wahl zum Präsidenten hatte John F.
Kennedy nicht zuletzt seinen erfolgreichen Fernsehauftritten zu
verdanken, die ihn für viele Amerikaner und Europäer zum Star
gemacht hatten. Nun verdankte das Fernsehen dem toten Präsidenten
die bis dahin zuschauerreichste und dramatischste
Fernsehübertragung der Welt. 1,8 Milliarden Menschen verfolgten
einen Trauerzug und eine Beisetzung, wie sie Amerika größer und
bewegender noch nicht erlebt hatte – und nie wieder erleben sollte.
Unzählige Kameras lieferten die Bilder dazu: den rührenden
Augenblick, in dem John John, Kennedys Sohn, vor der
Saint-Matthews-Kirche am Sarg seines Vaters militärisch salutierte;
die Witwe Jacqueline, die würdig und gefasst und zugleich
menschlich anrührend die ewige Flamme am Sarg entzündete; Robert
Kennedy, von dem Reporter in ihren Kommentaren sagten, er bewege
sich wie ein Schlafwandler durch die Bilder.
Die amerikanischen Fernsehstationen hatten
gleich nach dem Attentat ihre Programme unterbrochen. Die
bekanntesten Moderatoren erschienen innerhalb von Minuten auf dem
Bildschirm. Walter Cronkite, der große alte Mann unter den
Nachrichtenstars, lief ins Studio, unterbrach eine Soap Opera und
sprach mitten in den Satz einer Schauspielerin hinein: »Bulletin.
In Dallas wurden drei Schüsse auf Präsident Kennedy abgegeben. Nach
ersten Berichten ist der Präsident ernsthaft verwundet. Er sackte
zusammen und fiel in den Schoß von Mrs Kennedy. Sie rief ›Nein, oh
nein‹ und der Wagen mit dem Präsidenten fuhr weiter. Die Verletzung
kann tödlich sein.« An dieser Stelle schalteten die Techniker von
CBS in das reguläre Programm
zurück. Diese Sondersendungen hatten eine völlig neue Qualität.
Hier belehrten keine Moderatoren in wohlgesetzten Worten. Auf allen
Kanälen mussten die Sprecher vielmehr Vorgänge des Augenblicks
schildern und etwas erklären, auf das sie nicht vorbereitet waren
und dessen weiteren Verlauf sie nicht erahnen konnten.
Eine Woche nach Kennedys Tod zog der
neue Präsident Lyndon Johnson ins Weiße Haus. Die Amerikaner waren
nach dem Attentat bestürzt und verunsichert, aber Johnson zeigte
ihnen, dass das Land trotz aller Erschütterung mit fester Hand und
klaren Zielsetzungen geführt werden konnte. Er gab zu erkennen,
dass er in vielen Bereichen Entscheidungen erzwingen könnte, die
sein Vorgänger zwar auch ins Auge gefasst hatte, aber nicht
umsetzen konnte: die Einführung der Krankenversicherung, eine
bessere Finanzierung des Bildungswesens, der Kampf gegen Armut und
Verbrechen, die Förderung der Stadterneuerung. Der neue Präsident
brachte viele solcher Projekte durch den Kongress, dessen
Mitglieder eigentlich von tiefstem Misstrauen gegen eine derartige
sozialreformerische Politik erfüllt waren. Doch Johnson kannte
nicht nur die Spielregeln, sondern auch die Tricks der
parlamentarischen Politik. So gelang es ihm auch, die
selbstbewussten Südstaatengouverneure auf seine Seite zu ziehen,
indem er sie mit großen Geldgebern aus dem Norden zusammenführte,
die dann für Investitionen im Rahmen seines
Modernisierungsprogramms warben. Johnson brachte Gesetze ein, die
die Gleichberechtigung der schwarzen Amerikaner und besonders ihr
Wahlrecht absichern sollten. Er begann, den mörderischen
Ku-Klux-Klan, der weiße wie schwarze Bürgerrechtler auf seiner
Abschussliste hatte, mit neuen Gesetzen und mit Hilfe der
Bundespolizei zu bekämpfen. Ein Dreivierteljahr nach Kennedys Tod
paukte er ein Bürgerrechtsgesetz durch den Kongress, an dem sein
Vorgänger noch gescheitert war. Nun setzte er all seine Macht und
all seine politischen und wirtschaftlichen Beziehungen ein, um
schließlich ein weiteres Gesetz durchzubringen, das jede Art von
Einschränkung des Wahlrechts sowie jede Behinderung eines Wählers
unter Strafe stellte.
In manchen Städten des Südens hielten die
weißen Bürger diese Politik für eine Art Kriegserklärung. Die
Stimmung wurde immer gereizter, bis die Auseinandersetzung 1965
ihren Höhepunkt erreichte: Am 7. März waren einige Hundert
überwiegend schwarze Demonstranten im Bundesstaat Alabama zu einem
neunzig Kilometer langen Protestmarsch von der Kleinstadt Selma in
die Hauptstadt Montgomery aufgebrochen, um für ein gerechteres
Wahlrechtsgesetz zu demonstrieren, wie es auch Präsident Johnson
durchsetzen wollte. Sie kamen jedoch nicht weit – bereits an der
Stadtgrenze von Selma, an der Brücke über den Alabama-Fluss, wurden
sie gestoppt. Der Sheriff ließ ihnen dort durch seine
Bereitschaftspolizisten den Weg verstellen. Sie schlugen die
Demonstranten zusammen und traten auf die Verletzten ein, eine
Wolke von Tränengas breitete sich aus, während Polizisten zu Pferde
in die Menge hineinritten. Zwei Tage später, am 9. März, brachen
die Demonstranten erneut auf, mussten jedoch wieder an der Brücke
kehrtmachen. Drei weiße Geistliche aus Boston, die sich auf Bitten
Martin Luther Kings dem Marsch angeschlossen hatten, um
Gewalttätigkeit zu verhindern, wurden am Abend des 9. März von
Polizisten verprügelt. Alle drei erlitten schwere Verletzungen,
einer von ihnen starb zwei Tage später im Krankenhaus. Die
ausführlichen Fernsehberichte über die Vorfälle von Selma sorgten
in ganz Amerika für Empörung.
Ich wollte mir ein eigenes Bild von der Lage
verschaffen und machte mich auf in den Süden. In Alabama fuhr ich
durch die ärmlichen Siedlungen der schwarzen Landarbeiter, die
zwischen den überwiegend weißen Städten und Städtchen lagen. An den
Tankstellen trennten Schilder die Reisenden nach ihrer Hautfarbe:
»Männer weiß«, stand da an einer Toilettentür, »Männer schwarz« auf
der nächsten. Als ich in einem Restaurant ein Spiegelei aß, kam ein
ziemlich grobschlächtiger Weißer herein: Dieses Restaurant sei nur
für »Neger«. Er forderte mich auf, in ein anderes Restaurant zu
gehen, besah sich dann argwöhnisch meinen Journalistenausweis für
das Weiße Haus, ehe er schließlich, immer noch misstrauisch und
böse, wieder abzog. Von da an bewegte ich mich sehr vorsichtig
durch die kleine Stadt. Der schwarze Koch in dem Restaurant hatte
mich gewarnt: Wenn ich auch nur mit einem Rad meines Wagens über
den gelben Streifen des Überholverbots führe, würde mich der
Ortspolizist anhalten, eine Anzeige schreiben und mir die
höchstmögliche Kaution abverlangen. Wenn ich das Geld für die
Kaution nicht bei mir hätte, würde man mich im Kreisgefängnis bis
zum nächsten Gerichtstag festsetzen. Der Koch hatte einige Jahre in
New York gearbeitet und war nun versuchsweise in seinen Heimatort
zurückgekommen, aber er war sich gar nicht sicher, dass er dort
bleiben konnte.
Beim Essen im Restaurant eines kleinen Hotels,
zu dem wiederum nur Weiße Zutritt hatten, sprach mich ein älteres
Ehepaar an und ermahnte mich, nur ja vorsichtig zu sein, besonders
wenn ich mich an Orte der Auseinandersetzungen begäbe. Ich wolle
doch sicher heil zurückkommen. Der Mann, ein Bauunternehmer aus
Atlanta, der Hauptstadt des Nachbarstaats Georgia, erklärte mir die
Lage, wie er sie sah: Die Unruhen und Zusammenstöße in einem Ort
wie Selma seien nur hervorgerufen durch die Eitelkeit dieses Doktor
Martin Luther King, der unbedingt berühmt werden wolle. Ohne ihn
wäre dort alles ruhig geblieben. Das Wahlrechtsgesetz, das
Präsident Johnson vorbereite, sei sehr gefährlich. Wenn die
Bundesregierung den Einzelstaaten vorschreibe, wen sie als Wähler
zu registrieren hätten, dann sei das der erste Schritt hin zur
Diktatur. Das Ehepaar gehörte zu jenen, die man im Süden die
»besserdenkenden Bürger« nannte – Leute, die keinen weißen
Geistlichen mit Gewalt aus einer »Negerkirche« jagen würden. Aber,
meinte der Bauunternehmer, unter den Geistlichen, die als
Agitatoren in die Südstaaten kämen, seien ja auch viele
Kommunisten, die die »Neger« aufhetzten.
An dem Tag, an dem unser Team abends in Selma
eintraf, hatten wir drei weiße Geistliche als Mitreisende in
unserem Wagen. Sie waren in einer größeren Gruppe mit dem Flugzeug
aus Detroit gekommen. Um ihnen die Reise nach Selma zu ermöglichen,
hatten ihre Gemeinden auf Protestversammlungen Geld gesammelt.
Viele aus der Gruppe hatten keinen Mietwagen und kein Hotelzimmer
mehr gefunden. Immerhin konnten wir drei von ihnen noch in unseren
Wagen quetschen. In Selma war das Zentrum der Bürgerrechtsbewegung
nicht schwer zu finden – immer an den Polizeiwagen und den Kolonnen
bewaffneter Polizisten entlang, die im Dunkeln am Straßenrand
standen. »Das ist wie die Mauer in Berlin«, sagte einer der
geistlichen Mitfahrer. Hinter dem Polizeikordon standen kleine
Gruppen weißer Bürger von Selma, die verbissen abwarteten, ob sich
die »Neger« noch einmal trauen würden, in den weißen Teil der Stadt
herüberzukommen. Auf der anderen Seite war die Straße voll von
weißen und schwarzen Amerikanern, die diskutierend herumstanden,
Cola tranken und auf die Versammlung in der Kirche warteten. Leute
mit Schlafsäcken traten aus dem Pfarrhaus, und kleine schwarze
Jungen führten sie zu den Wohnungen, in denen sie Unterkunft und
Sandwiches finden konnten. Ich fragte einen der Schwarzen, der wie
ein Student aussah, wo ich meinen Wagen parken könne, und er
beruhigte mich. »Auf dieser Seite ist alles in Ordnung, hier kann
dir nichts passieren«, sagte er und legte mir den Arm auf die
Schulter. »Dahinten, wo du die Uniformen siehst, fängt es an, für
dich gefährlich zu werden. Da sind die Whiteys.«
Es war der 15. März, acht Uhr abends. Im Radio
wurde die Übertragung einer Rede Präsident Johnsons angekündigt.
Ich drehte die Lautstärke meines Autoradios auf, und sofort war
mein Wagen von jungen Leuten umgeben. Sie hingen an den Fenstern,
saßen auf der Motorhaube oder dem Kofferraum und hörten aufmerksam
zu. Der Präsident sprach an diesem Tag vor den Abgeordneten des
US-Kongresses, aber es war
keine Rede für Parlamentarier, sondern ein emotionaler politischer
Aufruf an das ganze amerikanische Volk und vielleicht die beste
Rede, die Johnson je gehalten hat. »Selbst wenn wir dieses Gesetz
durchbringen, wird die Schlacht noch nicht vorbei sein«, sagte er.
»Was sich in Selma vollzieht, ist Teil einer weit größeren
Bewegung, die in jeden Bereich und jeden Staat Amerikas
hineinreicht. Es ist der Wille amerikanischer Neger, sich die
Teilnahme an allen Segnungen des amerikanischen Lebens zu sichern.
Ihre Sache muss auch unsere Sache sein. Denn es sind nicht nur die
Neger, sondern in Wahrheit sind es wir alle, die das lähmende Erbe
der Bigotterie und Ungerechtigkeit überwinden müssen. Und wir
werden es überwinden.«
»We shall overcome« – da war sie wieder, die
Zeile aus dem altenglischen Kirchenlied, das ich 1950 an der
Highlander Folk School zum ersten Mal gehört hatte und das
mittlerweile zur Hymne des gewaltlosen Widerstands geworden war.
Doch ich merkte, dass die jungen Schwarzen, die sich um mein Auto
drängten, weder überzeugt noch begeistert auf die Rede des
Präsidenten reagierten. Die Bürgerrechtsbewegung war über zehn
Jahre lang unter der Führung schwarzer Geistlicher auf gewaltlosen
Widerstand eingeschworen worden. Nun hatte ein Teil der jüngeren
Generation offenbar die Geduld verloren. Es waren nicht mehr nur
Leute aus dem schwarzen Mittelstand und den Kirchengemeinden, die
für mehr Rechte eintraten, sondern eine neue Generation, die härter
zuschlagen wollte.
Einer der Organisatoren der Demonstrationen von
Selma kam zu mir ans Auto. Stokely Carmichael hatte ich schon
einmal 1964 bei einem der ersten Sitzstreiks getroffen, mit dem er
und zehn Freunde gegen den Besitzer eines Fried-Chicken-Restaurants
protestierten, weil der keine Schwarzen bedienen wollte. Der Wirt
hatte daraufhin seine weißen Gäste mit Axtstielen bewaffnet, und
Polizisten hatten die Schwarzen auf die Straße gedrängt. Es war
damals einer der ersten Proteste dieser Art gewesen. Carmichael
hatte dann mit Freunden das Student Nonviolent Coordinating
Committee (SNCC) gegründet, das
Studentische Komitee für die Koordinierung des gewaltlosen
Widerstands. Als ich ihn in Selma wiedersah, sagte ich zu ihm, dass
die Bewegung nun endlich die notwendige Aufmerksamkeit bekomme. Der
Tod des Bostoner Geistlichen habe schließlich ganz Amerika die
rohen Methoden der Polizei vor Augen geführt. Carmichael winkte ab:
»Natürlich soll das ganze Land erregt sein, wenn einer so
umgebracht wird. Aber muss der Tote immer ein Weißer sein, damit
das Land es zur Kenntnis nimmt?« Ich fragte ihn, wie es weitergehe,
und er hob die Hände. »The Lord has not spoken yet« – »Der Herr hat
noch nicht gesprochen«, sagte er und machte damit eines deutlich:
Der Herr – Martin Luther King – setzte seiner Ansicht nach der
Protestbewegung zu enge Grenzen, wenn er sie zu Gewaltlosigkeit
verpflichtete.
Am 21. März 1965 unternahmen die Demonstranten
von Selma einen dritten Versuch, nach Montgomery zu gelangen.
Diesmal kamen sie nach vier Tagen bis zur Hauptstadt von Alabama
durch und schlugen dort ein Protestlager auf. Vier Monate später
unterzeichnete Präsident Johnson das neue Wahlrechtsgesetz. Es war
ein großer Sieg für die Bürgerrechtsbewegung, denn eine ihrer
Hauptforderungen war damit nach langen Jahren heftiger
Auseinandersetzungen endlich erfüllt. Nun sollte allen,
gleichgültig welcher Hautfarbe, der Zugang zur Wahlurne gesichert
sein. Was mir allerdings bereits in Selma aufgefallen war, ließ
sich nun immer häufiger in den schwarzen Vierteln anderer Städte
beobachten: Unter den jüngeren Leuten wuchs der Abstand zu Martin
Luther King, und die Stimmung begann umzuschlagen. Immer mehr junge
Schwarze waren in einer Art Uniform zu sehen, manchmal mit
Schusswaffen ausgerüstet. Sie schworen bewaffneten Widerstand und
Rache. Auch das Studentische Komitee für die Koordinierung des
gewaltlosen Widerstands änderte seinen Namen – das Adjektiv
»gewaltlos« wurde gestrichen. Gerade in einer Zeit, in der für die
Schwarzen eine Verbesserung ihrer Lage näher zu kommen schien, war
der Glaube an den Willen der Weißen, die Rassenschranken
niederzureißen, bei den meisten jüngeren Leuten geschwunden.
Während Martin Luther King nach wie vor das Wort »Neger« benutzte,
sprachen sie nunmehr von »Schwarzen« und immer häufiger von »Black
Power«, von der Macht der Schwarzen, die sich gegen Politiker,
Polizei und Gesetze der Weißen durchsetzen müssten. Die Gruppen
waren relativ klein, aber die Anziehungskraft ihrer Parolen war
groß. Schwarzer Nationalismus, schwarze Macht, das Recht, sich zu
verteidigen – diese neuen Themen bestimmten nun die Diskussion und
weckten die Bedenken auch solcher Weißer, die eigentlich für die
Überwindung der Rassentrennung eintraten.
Seit Mitte der sechziger Jahre suchte
Martin Luther King neue, praktische Ziele für seine Anhänger. Er
legte inzwischen der sozialen Gleichstellung ebenso viel Bedeutung
bei wie der Gleichberechtigung vor Wahlurne und Gesetz. Die letzten
Monate seines Lebens waren von Auseinandersetzungen über die
soziale Frage bestimmt. So reiste er Anfang April 1968 nach
Memphis, um einen Streik gegen die dortige Stadtverwaltung zu
unterstützen. Sechshundert schwarze Müllmänner protestierten
dagegen, dass die weißen Angestellten der Müllabfuhr höhere Löhne
und bessere Arbeitsbedingungen als ihre schwarzen Kollegen bekamen.
Martin Luther King hatte in Memphis mit einem Freund und Mitkämpfer
ein Zimmer in einem Motel bezogen. Sie standen auf dem Balkon, als
aus einer Pension gegenüber ein Schuss fiel. King war getroffen.
Als man ihn ins Krankenhaus brachte, war er bereits bewusstlos,
eine Stunde später war er tot. Es dauerte Stunden, ehe sich in
Memphis herumsprach, dass Martin Luther King umgebracht worden
war.
Im Armenviertel von Indianapolis, der
Hauptstadt von Indiana, warteten zu dieser Stunde viele Schwarze
auf eine Wahlkampfversammlung mit Robert Kennedy, der für seine
Nominierung als Präsidentschaftskandidat werben wollte. Ich stand
mit einem Kamerateam auf dem Dach eines Reisebusses, von wo aus wir
die Ansprache filmen konnten. Kennedy hatte von einem Mitarbeiter
die Nachricht vom Attentat auf Martin Luther King erhalten. Nun
stand er vor der wartenden Menge, verwundert, weil alle so ruhig
blieben. Er ließ den Mann vom Sicherheitsdienst fragen, ob die
Menschen schon informiert seien. Der Polizeichef warnte ihn, er
solle das Attentat auf keinen Fall erwähnen, weil das
unberechenbare Wutausbrüche unter den Zuhörern auslösen könnte.
Kennedy ignorierte jedoch die Warnung und verlas ein paar Zeilen,
die er auf einem Zettel notiert hatte: King sei getötet worden,
weil er sich für Liebe und Gerechtigkeit unter den Menschen
eingesetzt habe. »Denjenigen von euch, die Schwarze sind und die
nun von Hass und Misstrauen gegen die Ungerechtigkeit der Weißen,
aller Weißen, erfüllt sind, will ich nur eines sagen: Ich kenne
dieses Gefühl aus meinem eigenen Herzen. Ein Mitglied meiner
Familie wurde getötet, aber auch ihn tötete ein weißer Mann.«
Kennedys einfache und bewegende Rede erreichte seine schwarzen
Zuhörer. Anders als der weiße Polizeichef befürchtet hatte, gab es
keine zornigen Reaktionen, sondern nur Klagen und Trauer.
Wir nahmen am nächsten Morgen die erste
Maschine nach Memphis. Dort hatten sich ein paar Hundert Menschen
vor einem Beerdigungsinstitut im Viertel der Schwarzen versammelt.
Die Trauerfeier sollte in Martin Luther Kings Heimatstadt Atlanta
stattfinden, aber wenigstens den Sarg wollten die Schwarzen von
Memphis sehen. In der Menge war kein einziger Weißer zu entdecken.
Kein Bürgermeister, kein Stadtrat, kein Abgeordneter und kein
Vertreter des Gouverneurs war erschienen. Dafür haben sich dann am
Flughafen von Memphis weiße Polizisten postiert, ausgerüstet mit
Gewehren, Maschinenpistolen, Schrotflinten, Schutzhelmen und
Schlagstöcken. Manche hatten eine Zigarette im Mund, und man konnte
ihnen ansehen, dass sie alles eher für einen politischen Unfall als
für eine Tragödie hielten. Eine kleine Gruppe von Schwarzen, die
sich durch die Polizeisperre gedrängt hatte, sang »We shall
overcome«, als der Sarg zum Flugzeug gebracht wurde. Martin Luther
Kings Frau Coretta blieb währenddessen in der Maschine, die Robert
Kennedy am Abend zuvor für sie gechartert hatte und die schließlich
sie und ihren toten Mann nach Atlanta brachte.
Am späten Nachmittag kamen wir wieder nach
Washington, wo das Nachspiel der Tragödie begann. In der
Hauptstadt, die von manchen Weißen bereits Chocolate City genannt
wurde, waren zwei Drittel der Einwohner Schwarze – deutlich nach
Stadtvierteln von den Weißen getrennt, ein Teil inzwischen
vergleichsweise wohlhabend, aber insgesamt doch ärmer als die
Weißen. Junge Schwarze, die nie recht an das Prinzip der
Gewaltlosigkeit geglaubt hatten, gingen nun auf die Straße,
schlugen Schaufenster ein und nahmen sich, was sie wollten.
Polizeiposten an Straßenübergängen warnten uns Weiße, aber sie
hinderten mich und mein Kamerateam nicht daran weiterzugehen. Zwei
Straßenzüge vom Weißen Haus entfernt stießen wir bereits auf die
ersten Gruppen Schwarzer, die sich in den Auslagen bedienten. Hier,
unmittelbar am Rande des Regierungsviertels, durfte die Polizei
nicht zulassen, dass sich die Plünderer zu großen Gruppen
formierten und dass Bilder von ihnen vor dem Hintergrund des Weißen
Hauses um die Welt gingen. Die Sicherheitskräfte griffen daher
schnell und gründlich ein. Tränengas vertrieb die
Randalierer.
Die Kräfte der Polizei waren allerdings zu
schwach, um die Ordnung in der ganzen Stadt aufrechtzuerhalten. Ein
paar Straßen weiter sah ich Häuser, die in Flammen standen, nachdem
junge Schwarze Benzinflaschen mit brennender Lunte vom Auto aus in
die Schaufenster geschleudert hatten. In dieser Nacht erblickte man
in den Wohngebieten der Schwarzen den Himmel nicht mehr vor lauter
Funkenflug und Qualm. Junge Leute rannten von Laden zu Laden und
schlugen Scheiben ein. Währenddessen standen schwarze Familien auf
der gegenüberliegenden Straßenseite und schauten zu. Die Weißen
wiederum – oft Ladenbesitzer – blieben am Rande der Unruhezone,
redeten halblaut miteinander und zogen schließlich resigniert ab.
Ich versuchte mit dem Kamerateam, die Straße zu überqueren, doch
wir wurden von jungen Schwarzen angehalten. Einer von ihnen hörte,
wie der Kameramann und ich uns unterhielten. Ob wir Deutsche seien,
wollte er nun wissen. Er sei als Besatzungssoldat in Deutschland
gewesen, und wir sollten jetzt einmal laut und deutlich in unserer
Muttersprache reden, damit er feststellen könne, ob wir nicht doch
getarnte Amerikaner seien. Schließlich war er mit unserer
Aussprache zufrieden und winkte uns durch. »Sagt allen, dass ihr
Deutsche seid. Gesperrt ist hier für die amerikanische Presse.« Es
schien, als gebe es eine Art Kommandoebene unter den Schwarzen,
aber der Eindruck täuschte – bei den Leuten, die Geschäfte
plünderten, war keinerlei Organisation zu erkennen. Ich stellte
mich vor ein zerschlagenes Schaufenster und versuchte, vor
laufender Kamera und mit dem Mikrofon in der Hand die Lage zu
beschreiben. Plötzlich merkte ich, dass sich hinter mir etwas
bewegte und dass die Kollegen und einige Neugierige gebannt in
meine Richtung starrten. Erst redete ich weiter, doch dann spürte
ich, dass unmittelbar hinter mir jemand stand: ein großer
Schwarzer, betrunken und mit einer Schnapsflasche in der Hand. Er
drehte sich zu mir, hob die freie Hand und tätschelte mir die
Wange. »You are beautiful, baby«, sagte er, wendete sich ab und zog
davon. Auf der anderen Straßenseite klatschten einige Passanten,
anscheinend ebenso erleichtert wie meine Kollegen und ich.
Einige der schwarzen Zuschauer schimpften, die
Brandstiftungen seien tödlicher Wahnsinn; wenn sich dann aber die
Feuerwehrmänner einem der brennenden Häuser zu nähern versuchten,
fanden sie keine freiwilligen Helfer. Siebzig Häuser brannten in
dieser Nacht in Amerikas Hauptstadt. Am nächsten Morgen lag die
Innenstadt noch immer unter schwarzem Rauch. Auch wenn es keine
neuen Anschläge mehr gab, flackerte immer wieder Glut in den Ruinen
auf oder ein benachbartes Gebäude wurde vom Feuer ergriffen. Am
Ende rückte die 82. Luftlandedivision ein, Soldaten mit
Kampferfahrung in Vietnam, die schon bei Unruhen in Amerikas
Automobilstadt Detroit eingesetzt worden waren. Marineinfanterie
ging vor den klassischen Säulen des amerikanischen Kongressgebäudes
in Stellung. Weite Teile der schwarzen Wohnviertel blieben freilich
weiterhin eine Art Niemandsland. Kleine Gruppen von Schuljungen
liefen durch die Straßen, schmissen Ziegelsteine in Schaufenster
und holten sich, was sie greifen konnten. Mit der Dunkelheit kamen
die Erwachsenen und gingen systematischer zu Werke. Ganze Familien
mit ihren Kindern kletterten in die Warenhäuser und begannen sich
einzukleiden. Junge Männer schleppten Fernsehgeräte durch die
Straßen, und aus geplünderten Waffengeschäften stammten die
Gewehre, mit denen vereinzelt aus Fenstern auf Polizisten oder
Feuerwehrleute geschossen wurde. In den Tagen nach der Ermordung
Martin Luther Kings, des Predigers von Gewaltlosigkeit,
Gleichberechtigung und Bruderschaft, erlebte die Hauptstadt des
mächtigsten Landes der Welt, was Anarchie ist.
Doch nicht nur in Washington kochte die Wut der
Schwarzen über. Zwischen Watts in Kalifornien und Newark in New
Jersey kam es in schwarzen Wohnvierteln der USA zu über siebzig Gewaltausbrüchen mit
Plünderungen, Brandstiftungen, Zusammenstößen und Straßenkämpfen.
Ein Teil der schwarzen Bevölkerung schien überzeugt von seinem
Recht, die seit der Sklavenzeit unbeglichenen Schulden mit Gewalt
eintreiben zu dürfen. An die Wirksamkeit des gewaltlosen
politischen Widerstands glaubten sie immer weniger. Auf einer
Kundgebung in der Hauptstadt erklärte Stokely Carmichael: »Schämt
euch nicht, wenn sich eure schwarzen Brüder mit der Polizei
schlagen. Wir müssen dem weißen Mann sagen: Wenn wir unser Recht
nicht kriegen, dann habt ihr bald kein Washington mehr.« Solche
radikalen Rufe waren jetzt überall zu hören und machten deutlich,
dass die Zeit der großen Demonstrationen von Schwarzen und Weißen,
die gemeinsam für ein Amerika der Gleichberechtigung eintraten, zu
Ende ging.
In der zweiten Hälfte der sechziger
Jahre nahm der Krieg in Vietnam eine immer größere Rolle in der
inneramerikanischen Auseinandersetzung ein. Zu Beginn des
Jahrzehnts schien es noch, als interessiere dieser Konflikt im
fernen Ostasien nur die Experten im Pentagon und im State
Department. Das Interesse der amerikanischen Öffentlichkeit an den
Machtverhältnissen in Vietnam war gering. Kennedys Vorgänger
General Eisenhower hatte den Wunsch der Franzosen, US-Truppen zur Unterstützung ihrer
Kolonialarmee in Indochina einzusetzen, noch deutlich
zurückgewiesen. Falls Amerika in einen Krieg dieser Art
hineingezogen würde, so der Ex-General, könne das in einer großen
Tragödie enden. Dann wurde die Auseinandersetzung in Vietnam immer
mehr zu einem Teil des allgemeinen Ost-West-Konflikts. Der junge
Präsident Kennedy fürchtete im ersten Jahr seiner Präsidentschaft,
Amerikas Rolle in der Weltpolitik sei durch die Niederlage in Kubas
Schweinebucht, den Bau der Berliner Mauer und die gescheiterten
Verhandlungen mit Chruschtschow in Wien zum Niedergang verurteilt.
Er wollte deshalb der Ausweitung des sowjetischen Einflusses eine
klare Grenze setzen. Als der Präsident im Sommer 1961 von den
Wiener Gesprächen mit Chruschtschow zurückkehrte, sagte er zu
Journalisten in Washington: »Jetzt haben wir ein Problem. Wir
müssen unsere Macht glaubwürdig machen, und Vietnam scheint dafür
der richtige Ort.« Sein Vorgänger Eisenhower hatte es abgelehnt,
mehr als 900 amerikanische Soldaten als Militärberater nach Vietnam
zu entsenden. Am Ende seiner kurzen Präsidentschaft hatte Kennedy
schon 16.000 Soldaten nach Südvietnam geschickt, und unter dem
Einfluss der Experten wuchs ihre Zahl ständig. Sein Nachfolger
Lyndon Johnson hielt den Krieg zunächst für eine zweitrangige, fast
lokale Auseinandersetzung und versprach, Amerikas Verstrickung in
den Vietnamkrieg schnell zu beenden. Dann jedoch erhöhte auch er
Schritt für Schritt Amerikas Einsatz. Er war zwar ein erfahrener
und schlauer Innenpolitiker, aber in der Außenpolitik war er auf
die Minister und den Beraterstab von John F. Kennedy angewiesen,
bekannte, hoch angesehene Fachleute für internationale Politik, die
ihn beeindruckten und deren Rat er folgte.
Im Herbst 1967 waren bereits rund 400 000
US-Soldaten in Vietnam
stationiert, gleichzeitig wuchsen in der amerikanischen
Öffentlichkeit die Zweifel. Auch weil die Nordvietnamesen durch
Waffenlieferungen aus der Sowjetunion und China gestützt wurden,
war ein durchschlagender Erfolg bis dahin ausgeblieben. In dieser
Situation besorgten wir für das Team unseres Washingtoner Studios
eine Akkreditierung bei der amerikanischen Militärführung in
Vietnam. Wir fuhren mit einer kleinen Mannschaft: mein langjähriger
Kameramann, Dieter Perschke, sein Assistent, ein Tonmann und ich.
Dazu kam noch ein vietnamesischer Dolmetscher und
Redaktionsassistent, von dessen Ortskenntnis wir abhängig waren. Er
hatte sehr präzis für englische Kollegen gearbeitet, und so
riskierten auch wir es, uns auf ihn zu verlassen. Mit ihm suchten
wir uns Fahrtrouten aus, auf denen wir uns von den Stützpunkten der
US-Armee und ihrer Verbündeten
in die Dörfer und Kleinstädte des Hinterlands durchschlagen
konnten. Tagsüber blieb die Lage entspannt, der Kontakt zur
ländlichen Bevölkerung schien ungefährlich. Unheimlich waren solche
Ausflüge dennoch. Ortsvorsteher warnten uns davor, die Hauptstraßen
zu verlassen: Im Sichtschutz der sumpfigen Reisfelder säßen
versteckte Gruppen des Vietcong, die das Feuer auf uns eröffnen
könnten. Nachts seien diese Straßen unpassierbar und die Dörfer
unter der Kontrolle der kommunistischen Untergrundkämpfer. Immer
wieder hörten wir von Ortsvorstehern und Verwaltungsbeamten, die
über Nacht entführt oder erschossen worden seien. So setzten wir
alles daran, abends möglichst wieder unser Hotel in Saigon zu
erreichen.
In der Hauptstadt Südvietnams war die Lage
gewöhnlich eher ruhig. Es gab vereinzelte Bombenattentate, aber
meist in der Nähe des Stadtrands, seltener im Zentrum, wo das Hotel
Continental lag, die Lieblingsunterkunft der ausländischen
Journalisten. Die Lobby war ein großer Basar der Gerüchte, aber
immerhin gab es hier eine Art Austausch, mit Hilfe dessen man sich
vorsichtig orientieren konnte. Die Informationsabteilung der
amerikanischen Armee dagegen war weniger zuverlässig. Präsident
Johnson hatte eine »Politik der minimalen Offenheit« verkündet,
aufgrund derer die Informationsoffiziere im Auftrag der politischen
Führung Berichte »frisierten«. Tatsächlich entdeckte ich, dass ein
ehemaliger Kollege, den ich schon aus Korea kannte, nicht nur
Nachrichten vertuschte, sondern mich auch in Bezug auf die Ziele
und das Ausmaß des Truppeneinsatzes eindeutig belog. Folglich gab
es einigermaßen zutreffende Auskünfte nur, wenn man sie sich selbst
besorgte und mit erfahrenen Kollegen austauschte.
In Saigon herrschte eine Art Waffenstillstand
zwischen dem Vietcong und den ausländischen Journalisten und
Diplomaten, soweit sie nicht Amerikaner waren. Jedenfalls war in
der Stadt seit Jahren kein Europäer überfallen oder ermordet
worden. Während der Neujahrstage, so erzählten mir die Kollegen,
unternehme der Vietcong auch außerhalb der Stadt keine Attentate
und Angriffe. Es waren die Tage im Jahr, an denen Ausländer sich
ins Auto setzten und ans Meer fuhren. Tet, das bevorstehende
chinesische Neujahrsfest, bedeutete auch so etwas wie Ferien vom
Krieg, darüber waren sich alle einig. Also machten auch wir uns
Ende Januar 1968 auf zu einer zweistündigen Autofahrt an einen
ehemaligen Badeort an der Küste und legten uns im weißen Sand in
die Sonne. Aber schon nach einer Stunde kam unser Dolmetscher mit
besorgter Miene: Es gebe Gerüchte, dass die Lage unsicher sei. Eine
Stunde später sprach er bereits von der Gefahr »militärischer
Zusammenstöße«, ein Ausdruck, den er vorher nie benutzt hatte. Mit
uns am Strand lag der französische Konsul aus Saigon. Obwohl er uns
als langjähriger Indochina-Kenner versicherte, eine gewaltsame
Störung des Tet-Festes sei ausgeschlossen, fuhren wir sofort ab.
Der Diplomat blieb zurück – und konnte erst zwei Wochen später die
Reise in die Hauptstadt antreten. Tatsächlich hatten an diesem 30.
Januar die nordvietnamesische Armee und die Guerillatruppen des
Vietcong auf breiter Front einen Überraschungsangriff gegen die
Stellungen der Südvietnamesen und ihrer amerikanischen Verbündeten
begonnen.
Die Innenstadt Saigons schien ruhig, als wir
von der Küste zurückkamen. Dann jedoch bogen wir in eine
Nebenstraße ein, die nach etwa fünfzig Metern gesperrt war. Schon
während wir umzudrehen versuchten, fielen von vorn die ersten
Schüsse. Gleich danach wurde auch aus der Richtung, aus der wir
gerade gekommen waren, auf uns geschossen. Unser Dolmetscher, dem
der Wagen gehörte, setzte das Auto nahe an eine Hauswand, wir
krochen heraus und legten uns auf den Boden. Dieter Perschke war
vorher ausgestiegen, um einen guten Drehort zu suchen. Nun konnte
er nicht über die Straße zu seiner Kamera zurück. Sein Assistent
lag halb unter dem Auto und filmte, was er konnte. Zehn Minuten
lang ging der Beschuss weiter, dann fuhren wir so schnell wie
möglich aus dem gefährlichen Engpass heraus. Alles war gut
gegangen, wir hatten sogar Filmmaterial, auf dem die Schützen
entfernt zu erkennen waren. Anschließend sorgten nur noch die vier
Einschusslöcher in der Karosserie unseres Wagens für
Schwierigkeiten. Die Verwaltungsleitung beim Westdeutschen Rundfunk
hatte entschieden, dass der Schaden nicht Sache des Senders,
sondern des Dolmetschers sei, in dessen Wagen wir mitgefahren
waren. Er habe die Reparatur an seinem Auto selbst zu zahlen, hieß
es. Das war ärgerlich, hatte aber auch sein Gutes: Als der
Intendant in Köln auf meine Bitte hin entschied, dem Dolmetscher
die Reparaturkosten zu ersetzen, revanchierte sich dieser bei mir
durch freiwillige Einsätze. Er nahm mich in das buddhistische
Kloster mit, das in Saigon das Zentrum des intellektuellen
Widerstands nicht nur gegen die Amerikaner, sondern auch gegen die
vietnamesischen Kommunisten und die eigene südvietnamesische
Regierung war. Es war zugleich der stärkste Stützpunkt der
Friedensbewegung, deren Anhänger – meist junge Leute und
Professoren der Universität – Verhandlungen zwischen Nord- und
Südvietnam forderten.
Mein Dolmetscher brachte mich auch in Kontakt
mit kleinen Gruppen vietnamesischer Intellektueller, von denen die
meisten in Frankreich studiert hatten. Sie erzählten mir von der
Zeit des Zweiten Weltkriegs, als die französischen Kolonialtruppen,
die der Kollaborationsregierung in Vichy unterstanden, gemeinsam
mit japanischen Eroberern in Vietnam operierten. Aber dann hatten
die Japaner ein unabhängiges Kaiserreich Vietnam ausgerufen und das
französische Militär interniert. Es waren höchst komplizierte und
verworrene Geschichten über Bündnisse, in denen Amerikaner und
Chinesen den Aufstand der vietnamesischen Kommunisten gegen die
Franzosen unterstützten, während diese über sechshundert Japaner
zur Ausbildung ihrer Truppen anheuerten. Solche Zusammenhänge waren
den Amerikanern und den Europäern kaum verständlich und bis dahin
hinter den offiziellen Kriegsberichten verborgen geblieben. Die
vietnamesischen Intellektuellen, mit denen ich sprach, waren
besonders verbittert darüber, dass ihre linken Freunde in
Westeuropa nicht zur Kenntnis nehmen wollten, auf welch brutale
Weise die Kommunisten in Nordvietnam ihre Macht durchgesetzt
hatten. Dort hatten in der letzten großen Säuberung nach der Art
Stalins wohl eine halbe Million Menschen ihr Leben verloren.
Fernsehbilder, auf denen junge Europäer mit dem Ruf »Ho, Ho, Ho Chi
Minh« gegen den Krieg und die Amerikaner demonstrierten, waren
meinen vietnamesischen Gesprächspartnern jedenfalls schwer
verständlich.
Mein Team und ich bemühten uns, wenigstens
einen kleinen Teil von dem, was man vom Krieg sehen konnte, mit der
Kamera festzuhalten. Da gab es erschütternde Bilder, wenn
amerikanische Hubschrauber unmittelbar über unseren Köpfen Raketen
in eine südvietnamesische Vorstadtstraße jagten oder, noch
erschreckender, als wenige Meter von uns entfernt ein
südvietnamesischer General einen Gefangenen mit der Pistole
erschoss, der Minuten vorher noch Südvietnamesen aus dem Fenster
eines Hauses getötet hatte. Eines immerhin konnten wir deutlich
machen: Die nordvietnamesische Tet-Offensive hatte Anfang 1968 für
keine der beiden Seiten einen Sieg gebracht, nur die höchsten
Verluste seit Beginn des Kriegs. Die fast achtzigtausend
kommunistischen Kämpfer, die in mehr als hundert Städten und
Ortschaften angetreten waren, hatten zwar keine größeren Orte
erobern können, aber in den USA
löste die Wucht ihrer Offensive doch einen Schock und höchst
unterschiedliche Reaktionen aus: Die Militärs wollten die
Schlagkraft der Truppen verstärken, während die meisten Wähler die
Kämpfe als Beweis dafür verstanden, dass der Krieg immer größer und
blutiger werden würde und am Ende nicht zu gewinnen sei.
Für Präsident Johnson wurde die Lage
immer schwieriger, je tiefer sich die USA in diesen südostasiatischen Konflikt
verwickelten. Gerade bei jenen, deren Unterstützung er für sein
Programm einer sozialpolitisch veränderten Gesellschaft gebraucht
hätte, rief die Erfolglosigkeit und Brutalität des Kriegs zunehmend
Widerstand hervor. Die Zahl der Friedensmärsche und
Protestdemonstrationen wuchs vor allem unter den jüngeren und
liberalen Wählern, die eigentlich die natürlichen Verbündeten für
seine Reformpolitik gewesen wären. Amerika hatte bereits im
Frühjahr 1967 eine beispiellose Antikriegskundgebung erlebt, als
sich im New Yorker Central Park 125.000 Menschen versammelten. Ich
traf dort Bekannte und Freunde wieder, denen ich während der
Bürgerrechtsbewegung begegnet war. Aber diesmal war das Ganze nicht
mehr der Aufmarsch einer politischen Bewegung oder pazifistischer,
sozialistischer und – wie etwa J. Edgar Hoover, der Chef des
FBI, gewohnheitsmäßig erklärte
– kommunistischer Gruppen, sondern vielmehr ein Treffen von
Tausenden von Individualisten, die den Glauben an die Politik und
die Wirksamkeit gesellschaftlicher Proteste und Bewegungen zu
verlieren begannen. Sie erwarteten nichts mehr von einem Dialog mit
Präsident Johnson und den Realpolitikern, aber auch wenig von jenen
Senatoren, die ein Ende des Kriegs in Vietnam forderten.
Innerhalb der New Yorker Protestkundgebung
wurde ein neuer Prozess der Entfremdung deutlich. Anfang der
sechziger Jahre hatten die Professoren an Amerikas Universitäten
noch darüber geklagt, dass sich die Studenten nicht für Politik
interessierten. Im Laufe des Jahrzehnts war das anders geworden:
Inzwischen klagten Professoren über eine allzu rebellische
Ausrichtung ihrer Studenten. Die Taktik der direkten Aktion, der
Sitzstreiks oder der zeitweisen Besetzung von Behörden oder
Dienststellen, wie sie die Schwarzen in der Black-Power-Bewegung
entwickelt hatten, wurde nun gegen die Verwaltungen der
Universitäten eingesetzt und gegen ein System, das den Studenten
auf unmoralische Weise konformistisch erschien. Einzelne
Kadergruppen, die die öffentliche Auseinandersetzung in Bewegung
halten wollten, demonstrierten zwar mit den Bildern Maos oder Ho
Chi Minhs, doch die meisten jungen Leute, die ihnen folgten,
wollten nicht den kommunistischen Umsturz, sondern protestierten
vor allem gegen die Struktur und Moral der eigenen Gesellschaft.
Sie waren abgestoßen von der Vietnampolitik und enttäuscht von dem
Mangel an idealistischer Zielsetzung in der Innenpolitik. So
gesellten sich in New York Tausende zu den Protestierenden, die
solchen Versammlungen bisher eher fremd gegenübergestanden hatten:
Sekretärinnen und Hausfrauen, die mit Sträußen von Forsythien oder
Osterglocken gekommen waren und die Blumen freundlich an
Mitmarschierer verteilten, junge Männer, die sich das Gesicht mit
bunter Farbe bemalt hatten, im Kreis tanzten und den Krieg samt
seiner politischen Maschinerie verspotteten. Hier machte sich eine
allgemeine Unzufriedenheit mit der amerikanischen Gesellschaft
Luft.
Lyndon Johnson spürte, dass seine Zeit als
Präsident, der die amerikanische Gesellschaft grundsätzlich
verändern konnte, nun vorbei war. Die »Große Gesellschaft« war ein
amerikanischer Traum geblieben. Am 31. März 1968 beendete er eine
Fernsehansprache mit einer überraschenden Botschaft: Er werde sich
nicht mehr um eine Wiederwahl bemühen. Obwohl sich dadurch sein
Ansehen in der Bevölkerung zunächst wieder verbesserte, blieb er
bei seiner Entscheidung. Nun gab es unter den Demokraten drei
Konkurrenten im Kampf um die Nachfolge: den Vizepräsidenten Hubert
Humphrey, einen liberalen, aber eher farblosen Mann aus dem
Parteiapparat, der die Politik Johnsons fortsetzen würde, dann
Senator Eugene McCarthy, einen gebildeten, nachdenklichen Mann aus
der Mitte der demokratischen Partei, dessen wichtigstes Thema die
Forderung nach dem sofortigen Ende des Vietnamkriegs war, und
schließlich Robert Kennedy, der erst spät, zwei Wochen vor Johnsons
Rückzug, seine Kandidatur angekündigt hatte.
Vielen meiner amerikanischen Freunde fiel die
Entscheidung außerordentlich schwer: Sowohl McCarthy wie Kennedy
wollten den Krieg in Vietnam beenden. Für McCarthy sprach, dass er
seine Kandidatur schon zu einem Zeitpunkt erklärt hatte, als Lyndon
Johnson noch unbesiegbar schien; Kennedy dagegen brachte die
Strahlkraft des großen Namens mit und obendrein ein Reformprogramm,
mit dem er den republikanischen Kandidaten Richard Nixon schlagen
wollte. Wenn wir ihren jeweiligen Wahlkampfteams hinterherfuhren,
kamen wir mit Kennedy in die schwarzen Stadtteile und in die
wohlhabenderen Vorstädte, während wir McCarthy in die
Universitätsviertel folgten, zu Studenten, die sich für ihn als
Kriegsgegner entschieden hatten, obwohl er keine Chance zu haben
schien. Bei Kennedys Auftritten gab es – besonders unter den
Schwarzen – mehr Jubel und Begeisterung, bei McCarthy so etwas wie
Verehrung für einen Mann, der seine Karriere für den Frieden
riskierte. Und immer wieder traf ich Leute, denen es ebenso ging
wie mir: McCarthy erschien uns sympathischer und selbstloser, aber
Robert Kennedy war derjenige, der gewinnen und Amerika verändern
konnte.
Am 4. Juni 1968 folgten wir den beiden
Kandidaten in die Wahllokale verschiedener Stadtteile von Los
Angeles. Eine wichtige Entscheidung stand an. Wer die Vorwahl in
Kalifornien gewann, würde einen großen Schritt in Richtung
Kandidatur machen. Die meisten Journalisten und Kamerateams,
darunter auch wir, begleiteten Kennedy, denn der galt als der Mann
mit den besseren Chancen und dem höheren Nachrichtenwert. Wir
erwarteten ihn im Ballsaal des Ambassador-Hotels, sahen, wie ihm
Mitarbeiter einen Weg durch die wartende Menge freimachten. Als die
Wahllokale schlossen, bedankte sich Kennedy bei seinen Anhängern
mit einer Rede. Wir ließen nur unseren Kameraassistenten im
Ballsaal zurück, der die Ansprache des Kandidaten aufnehmen sollte,
wenn das Ergebnis vorlag. McCarthy, so schien uns, konnte nicht
gewinnen, aber gerade deswegen wollten wir beobachten, wie seine
jungen begeisterten Anhänger auf die Niederlage reagieren würden.
Als wir in McCarthys Hauptquartier ankamen, herrschte im Saal noch
Wahlkampfatmosphäre: Junge Leute sangen Spottlieder auf Kennedy und
nannten ihn einen Opportunisten, der nicht aus Überzeugung antrete,
sondern weil er den »Kennedy-Platz« im Weißen Haus besetzen wolle.
Die Stimmung war gereizt. Plötzlich trat ein Mann sehr langsam und
ernst ans Rednerpult. Er bat um Ruhe, und er tat dies so
eindringlich, dass alle sofort verstummten. Und dann verkündete er:
Auf Robert Kennedy sei wenige Minuten zuvor geschossen worden.
Niemand sagte ein Wort. Eben noch waren sie seine kritischen Gegner
gewesen, doch nun erkannten sie, dass trotz allem gerade sie große
Hoffnungen in ihn gesetzt hatten.
Mein Team und ich rasten zum Ambassador-Hotel
zurück, wo unser Kameraassistent die Geschehnisse drehte: Kennedys
Mitarbeiter hatten den Kandidaten nach seiner Rede nicht noch
einmal in die begeisterte Menge gehen lassen, sondern ihn nach
hinten über die Bühne zu einer Pressekonferenz gebracht. Der Weg
führte durch einen Korridor zum Kücheneingang. Ein einziger
pensionierter Polizist sorgte für Kennedys Sicherheit und schob
störende Anhänger aus dem Weg. Kennedy schüttelte die Hand eines
Hotelpagen, als ein Mann hinter der Eismaschine hervortrat und
mehrere Schüsse auf ihn abgab. Unser Kameraassistent hatte als
Einziger gefilmt, wie Kennedy zu Boden stürzte und wie seine
Begleiter den Schützen überwältigten, Sirhan Sirhan, einen
vierundzwanzigjährigen Christen aus Palästina, wie wir später aus
einer sehr kurzen Information für die Presse erfuhren. Nun sahen
wir Robert Kennedys Frau Ethel am Gang vor der Küche. Wir filmten,
wie sie zu ihrem Mann geführt wurde und neben ihm niederkniete. Er
wandte ihr das Gesicht zu und schien sie zu erkennen, dann trug man
ihn auf einer Bahre fort zum Krankenwagen.
Die vielen Menschen, die ihm kurz vorher noch
zugejubelt hatten, blickten dem Krankenwagen schweigend nach,
unsicher, was sie denken oder sagen sollten: John F. Kennedy war
erschossen worden, Martin Luther King war erschossen worden, nun
war auch auf Robert Kennedy ein Attentat verübt worden. Ein paar
junge Frauen hielten sich an den Händen und begannen halblaut zu
singen: »We shall overcome«. Es klang wie ein letztes Versprechen
aus der Zeit großer Hoffnungen. Mich hatte dieses Lied fast zwei
Jahrzehnte durch Amerika begleitet: An der Highlander Folk School
hatte ich es zum ersten Mal gehört. Ich hörte es dann, als ich die
junge Sängerin Joan Baez zu ihrem ersten Konzert in New York
begleitete und als sie mich zum Newport Folk Festival mitnahm, wo
es der junge Bob Dylan sang. Ich erinnerte mich an den Abend in
Selma, als ich mit jungen Schwarzen zusammen die Radioübertragung
jener Rede im Kongress hörte, in der Präsident Johnson zur
Überraschung aller ein neues Amerika mit den Worten »We shall
overcome« ankündigte. Nun blickte ich dem Krankenwagen nach, mit
dem Robert Kennedy ins Krankenhaus gefahren wurde, wo er einen Tag
später starb.