Mit den Kollegen überlegte ich in den nächsten Tagen, was uns nach der wilden Autofahrt geschehen könnte. Aber wir hörten nichts von der Polizei und auch nichts von der Presseabteilung des Außenministeriums, obwohl wir doch eindeutig die Verkehrsvorschriften und vermutlich noch einige andere Regeln verletzt hatten. Tatsächlich wurde es immer schwieriger, die Reaktion der Behörden bei kleineren Verstößen vorauszusehen.
Wenige Tage nach unserer stürmischen Jagd durch die Moskauer Innenstadt lud mich ein Mann nach Hause zum Abendessen ein, der sich als Kollege von der Nachrichtenagentur TASS vorgestellt hatte, von dem ich aber ziemlich sicher wusste, dass er zum KGB gehörte. Aber weshalb er mit mir sprechen wollte, fand ich nicht heraus. Er bat mich, mein Auto nicht vor seinem Haus, sondern etwa zweihundert Meter entfernt in einer Nebenstraße abzustellen. Bei einem Dissidenten würde ich natürlich nicht vor der Haustür parken, scherzte ich dann bei meiner Ankunft, aber er würde doch gewiss keine Schwierigkeiten bekommen. »Natürlich nicht«, sagte der KGB-Mann, »aber Sie haben doch die alte Frau im Erdgeschoss gesehen, die Deschurnaja. Wenn die im Haus einen Ausländer sieht, meldet sie das sofort den zuständigen Dienststellen und spricht darüber mit der ganzen Hausgemeinschaft. Da wird mir zwar nichts passieren, aber das Gerede im Haus – so etwas kostet nur Zeit und würde meiner Frau auf die Nerven gehen, und mir auch.« Anscheinend war die Sicherheitsüberwachung inzwischen schon den Überwachern lästig. Es war eine Zeit, in der selbst hohe Funktionäre und Geheimpolizisten meist nicht genau wussten, was erlaubt und was verboten war. Die Observation der Sowjetbürger und der Ausländer schien beinahe nur um ihrer selbst willen zu existieren.
Es war also nicht immer ganz klar, wie weit man gehen konnte – man musste es ausprobieren. Ich wollte beispielsweise gerne wieder Reitstunden nehmen, aber das war für Ausländer nicht genehmigt. Allerdings war der Mann einer unserer Sekretärinnen ein begeisterter Reiter, und er wollte helfen. Ein paar Tage später parkte ich meinen Wagen einige Straßenzüge von der vorzüglichen Reithalle entfernt, in der auch die Nationalmannschaft trainierte. Ich hatte drei Flaschen Whiskey für den Trainer dabei und übergab sie ihm gleich am Eingang, wo er auf mich wartete. Ich saß jedoch noch keine zehn Minuten auf dem Pferd, als er mich schnell auf die Zuschauertribüne lotste: Der Direktor war unerwartet noch einmal zurückgekommen. Er entdeckte den Fremden auf der Tribüne, hatte eine leichte Wodkafahne und wollte unbedingt wissen, was ich in seiner Reithalle machte. Nichts Besonderes, erklärte ich, ich sei nur ein Zuschauer, würde in den nächsten Tagen aber gern bei ihm nach einer Genehmigung zum Reiten nachsuchen. Das lehnte er sogleich entschieden ab. Für Ausländer sei in seiner Reithalle kein Platz. Also ging ich und machte am Ausgang mit dem Trainer einen neuen Termin aus, den er mir als sicher empfahl. Von nun an verlief alles reibungslos, da auch die anderen Trainer uns warnten, wenn der Direktor nach Feierabend noch einmal auftauchte. Dann gab es allerdings eine ganz unerwartete Schwierigkeit. Ich hatte mich zu leichten Sprüngen über Trainingshindernisse überreden lassen, war prompt vom Pferd gefallen und hatte mir die Schulter verrenkt. Ich ahnte, dass die russischen Mitarbeiter aus dem ARD-Studio nachfragen würden, und legte mir eine Geschichte zurecht. Ich sei bei einem dänischen Kollegen zu Gast gewesen, wir hätten etwas zu viel Aquavit getrunken, und dann sei ich auf der Treppe ausgerutscht. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Studiomitarbeiter regelmäßig Bericht erstatten mussten, und wollte vermeiden, dass sich unsere KGB-Überwacher die Mühe einer genaueren Untersuchung machten. Zwei Wochen später trat auf einem Empfang ein mir unbekannter Mann auf mich zu und sagte nach ein paar allgemeinen Sätzen: »Herr Ruge, Herr Ruge, Sie sollten nicht so viel Aquavit trinken.« Ich hatte die Geschichte schon vergessen und fragte ihn, was er damit meinte. »Herr Ruge, Herr Ruge«, sagte er noch einmal, »Sie sollten nicht so viel Aquavit mit Ihrem dänischen Kollegen trinken. Sie sehen, wir wissen alles über Sie.« Mit dieser Auskunft war ich sehr zufrieden. Ich fühlte mich sicherer als zuvor, denn offensichtlich wussten die Männer vom KGB nicht über alles Bescheid. Und gleichzeitig stand nun fest, dass jemand aus unserem Studio über unsere Gespräche berichtete.
Man konnte die Überwacher hin und wieder austricksen, dennoch musste ich immer mit einrechnen, dass der KGB meine Schritte genau verfolgte. Russische Bekannte berichteten beispielsweise vorsichtig davon, dass sie nach unseren Treffen manchmal Hausbesuch bekamen und ein bis zwei Stunden über unser Gespräch ausgefragt wurden. Andere waren am Ausgang des Gebäudes, in dem die Ausländerwohnungen lagen, angehalten und in einen Kellerraum gebracht worden, wo man sie nach ihrem Besuch bei mir befragte. Wenn sie nur von harmlosen, unpolitischen Bemerkungen erzählten, konnte es passieren, dass man ihnen einen Mitschnitt der ganzen Unterhaltung vom Tonband vorspielte. Einigen wurde eine Bestrafung angedroht, falls sie zum Beispiel noch einmal einem Ausländer etwas über die Lebensbedingungen in der Provinzstadt, in der ihre Eltern wohnten, mitteilten.
Manche meiner Bekannten hielten solche Drohungen trotzdem nicht davon ab, ziemlich waghalsige und freche Dinge zu probieren. Etwa als ein russischer Pianist mich zur Geburtstagsfeier der Tochter des Parteivorsitzenden mitnahm. Galina Breschnewa wohnte vier Häuser von unseren Ausländerwohnungen entfernt. Es war natürlich riskant, so nahe an Breschnews Familie heranzukommen. Aber mein Freund meinte, bei Galina Breschnewa seien meist eher unernste Leute eingeladen, die keine Fragen nach meiner Herkunft stellen würden. Ihr Vater komme nicht zu den Partys seiner Tochter. Er sei unzufrieden mit ihr, weil sie zuerst einen Tigerdompteur und dann einen hohen Parteifunktionär aus dem Innenministerium geheiratet habe. Seit sie nun mit einem Sänger liiert sei, den alle »Pjotr, den Zigeuner« nannten, meide er ihre Einladungen. Aber diesmal war es anders. Ich war keine zehn Minuten unter den fünfzig oder sechzig Gästen, die sich mit dem Glas in der Hand in Galinas Wohnung drängten, als mein Bekannter mich am Arm in die Küche zog: Zwei Sicherheitsbeamte hätten angekündigt, Leonid Breschnew werde den Geburtstag seiner Tochter mitfeiern. Kaum war der erste Mann des Staates im Wohnzimmer, holten mich einige der russischen Gäste aus der Küche zur Wohnungstür und gingen mit mir in der Mitte schnell die Treppe hinunter, um mich auf der Straße abzusetzen. Am nächsten Tag hörte ich, was ich verpasst hatte: Der Schauspieler und Liedermacher Wladimir Wyssozki, wie häufig schon ziemlich betrunken, hatte Breschnew etwas von einem »Scheißland« erzählt, in dem alles immer nur schlechter werde und nichts funktioniere, und dem waren noch einige kräftige Bemerkungen über den Kommunismus gefolgt, ehe seine Freunde ihn in die Küche schoben.
In den Jahren der Chruschtschow-Ära hatte die Sowjetunion einen Prozess der Öffnung erlebt. Die sogenannte Tauwetterperiode, die schon bald nach Stalins Tod und dem Ende seiner Schreckensherrschaft eingesetzt hatte, war eine Zeit größerer Freiheiten und neuer Experimente gewesen, vor allem auf kulturellem Gebiet. So hatten die jüngeren Moskauer zu Beginn der sechziger Jahre eine neue Generation von Dichtern entdeckt: etwa Bella Achmadulina, die zarte und zähe Lyrikerin, Andrej Wosnessenski, der expressionistische Gedichte schrieb, wie sie seit Stalins Aufstieg verboten gewesen waren, oder Jewgeni Jewtuschenko, der eine sowjetrussische Welt ohne Stalin zu beschwören schien. Wenn die Dichter, zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren alt, gemeinsam auf öffentlichen Plätzen in Moskau auftraten, zogen sie mit ihrer Lyrik bis zu fünfzehntausend junge Zuhörer an. »Wir sind die Beatles von Moskau«, sagte Andrej Wosnessenski nach einer Dichterlesung auf dem Manegeplatz, bei der die Polizei die Kontrolle völlig zu verlieren schien. 1963 verwarnte ihn Nikita Chruschtschow am Rande einer Kunstausstellung: Wenn er so weitermache, müsse er Russland verlassen. Wosnessenski antwortete: »Ich bin ein russischer Dichter und ich gehe nirgendwo anders hin.« Der Dichter überlebte den Politiker, der allerdings am Ende seines Lebens, nachdem ihn seine Nachfolger Mitte der sechziger Jahre entmachtet hatten, die neuen Lyriker, die jungen Maler und Bildhauer noch für sich entdeckte. Die Porträtbüste für sein Grab ließ sich Chruschtschow von dem verfemten Bildhauer Ernst Neiswestny schaffen. Da war die Zeit des Tauwetters schon seit einigen Jahren wieder vorbei.
Dann aber, als auch Breschnew seinem Lebensende entgegenging, fanden sich wieder Freiräume für eine Kunst, die nichts mit propagandistischer Begeisterung zu tun hatte. Einmal stand ich auf der Bühne der Leichtathletikhalle Luschniki, der größten von Moskau, neben Bella Achmadulina. Boris Messerer, ihr Ehemann und Bühnenbildner des Bolschoi-Theaters, hatte mich an der Einlasskontrolle vorbeigeschmuggelt, weil die Karten längst ausverkauft waren. Der Saal war überfüllt. Plötzlich sahen wir einen älteren, bürokratisch aussehenden Mann, der zum Vorhang ging und vorsichtig durch einen Spalt auf das Publikum blickte. Es war der Direktor der Sporthalle. Er atmete tief durch und sagte dann zu Messerer: »Schrecklich. Alles Andersdenkende.« Das war ein Ausdruck für die wachsende Zahl von Menschen, die sich von den Vorstellungen der Partei lösten, ohne ihnen eindeutig Widerstand entgegenzustellen.
Diese »Andersdenkenden« liebten die Dichter, die zu Beginn der sechziger Jahre ihre großen Erfolge gefeiert hatten. Tatsächlich fanden sich auch immer wieder kleinere Verlage in der Provinz, die Gedichte von ihnen veröffentlichten – nicht zuletzt, weil sie sich auch in Moskau verkaufen ließen, wo die größeren Verlagshäuser sie nicht drucken durften. In den achtziger Jahren beschloss der sowjetische Schriftstellerverband, erstmals einen Lyrikband von Bella Achmadulina herauszugeben, aber dann fand der KGB heraus, dass sie ein Gedicht über Andrej Sacharow geschrieben hatte. Daraufhin mussten die bereits gedruckten Bücher eingestampft werden. Offizielle Begründung: Tendenz zum Erotizismus. Das war nicht nur eine entsetzliche und lange nachwirkende Enttäuschung für die Dichterin, sondern auch eine harte Warnung an alle anderen Schriftsteller. Trotzdem riskierten es einige immer wieder, sich gegen die politische Steuerung des literarischen Lebens der Hauptstadt zu wehren.
Wladimir Wyssozki war in diesen letzten Jahren der Breschnew-Ära ein als Hamlet gefeierter Bühnenstar und zugleich ein Untergrundsänger, der auf Partys mit rauer Stimme Ganovenlieder vortrug und wilde lyrische Songs, die er selbst geschrieben hatte. Die Russen nannten Wyssozki einen Barden, ein Wort, das sich gerade für Liedermacher wie ihn einbürgerte. Er war mit der französischen Schauspielerin Marina Vlady verheiratet und durfte deshalb einige Male nach Paris fahren und dort ein Dutzend Lieder aufnehmen. Diese Aufnahmen gab es gelegentlich zu kaufen, entweder auf Schallplatten, die aus Frankreich importiert waren und nur unter der Theke gehandelt wurden, oder auf selbst kopierten Tonbändern, die zu hohen Preisen an allen Ecken der Sowjetunion schwarz angeboten wurden.
Wyssozki starb im Juli 1980, an dem fatalen Zusammenwirken von Wodka und starken Medikamenten. Als seine Leiche im Taganka-Theater aufgebahrt lag, standen seine Bewunderer fast einen Kilometer lang in Sechserreihen vom Theatereingang bis zum Ufer der Moskwa. Abends wurde im Theater eine Gedenkstunde abgehalten, draußen versammelten sich die Menschen in kleinen Gruppen mit ihren Kassettenrekordern und hörten Wyssozkis Lieder. Als sie zu singen begannen, schlugen Polizisten und KGB-Leute in Trainingsanzügen auf sie ein und schoben Einzelne in vergitterte Gefangenenwagen. Im Theater saß währenddessen die Moskauer Intelligenz bei der Trauerfeier, ohne zu wissen, was draußen vorging. Die Dichterin Bella Achmadulina sollte im Saal die Gedenkworte sprechen. Uns draußen schien es, man müsse ihr zumindest mitteilen, wie brutal die Miliz gegen die jungen Leute auf der Straße vorging. So versuchten zwei Kollegen und ich – ein wenig durch Wodka ermutigt, das schien uns am Tag der Beisetzung Wyssozkis doch angebracht –, durch die Reihen der KGB-Leute zum Theatereingang zu kommen. Irgendwie gelangte ich in das Foyer, doch ein paar Polizeioffiziere hielten mich fest, und der Verwaltungsdirektor des Theaters schob mich durch eine Seitentür wieder auf die Straße. Andere Korrespondenten hatten diese Rangelei mit den KGB-Leuten beobachtet. Sie gingen fest davon aus, dass wir am nächsten Morgen ins Außenministerium zitiert und getadelt, wenn nicht gar ausgewiesen würden. Doch nichts dergleichen geschah. Als ich am nächsten Morgen meine Wohnung verließ und über den Hof zum Studio gehen wollte, winkte mich ein Polizeiposten heran. »Sie haben doch diesen Barden, diesen Wyssozki, gekannt«, sagte er. »Haben Sie Platten von ihm? Können Sie uns die für ein paar Tage leihen?« Ich holte ihm zwei Schallplatten aus meiner Wohnung, und er war sehr zufrieden. Wahrscheinlich hat er sie auf Tonband kopiert und seinem Vorgesetzten verehrt, meinte später ein russischer Kollege.
1979 reiste der Intendant des WDR zu einem offiziellen Besuch beim sowjetischen Fernsehen nach Moskau, und wir vom ARD-Studio wollten den Anlass nutzen, um möglichst viele Vertreter des Außenministeriums, der Künstlerverbände, der Stadtverwaltung und auch der Überwachungsorgane zu einem Empfang einzuladen. Es war eine Gelegenheit, mit der offiziellen Sowjetunion einen Kontakt herzustellen. Im Hotel Metropol hatte ich bei einem Vorbereitungsgespräch festgestellt, dass wegen unseres Empfangs die Vorstellung einer neuen Zeitschrift, die eigentlich in dem Saal hätte stattfinden sollen, abgesagt worden war. Eine Gruppe bekannter Schriftsteller hatte die Literaturzeitschrift Metropol in eigener Redaktion und ohne Vorlage bei der Zensurbehörde veröffentlichen wollen – nicht geheim oder im Ausland, sondern als eine Publikation der Moskauer Intelligenz, die sich damit ausdrücklich nicht verstecken wollte. Nun diente der Empfang des deutschen Fernsehens offensichtlich als Vorwand, die Gründungsparty zu verhindern. Tatsächlich aber stand schon fest, dass Metropol verboten werden würde. Das fand ich ärgerlich, und so luden wir die Herausgeber und wichtigsten Autoren der Zeitschrift zu unserer Veranstaltung ein. Die optimale Gästemischung war das natürlich nicht. Die Schriftsteller schienen in der einen Ecke eine Art Konferenz abzuhalten, während die offiziellen Gäste die kleine Gruppe umkreisten und neugierig beäugten. Auch wenn sie das Zeitschriftenprojekt selbst ablehnten – was nicht bei allen der Fall war –, so befanden sich unter den Autoren doch einige Berühmtheiten, und manche Funktionäre wollten wenigstens bei ihren Frauen zu Hause mit den Namen der Dichter ein wenig angeben.
Der Schriftstellerverband, der auch als Zensurbehörde fungierte, warnte, er werde alle Herausgeber und Autoren ausschließen, die sich an einer öffentlichen Diskussion über die Zeitschrift Metropol beteiligten. Außerdem werde die Mitgliedschaft der beiden jüngsten Redaktionsmitglieder, Viktor Jerofejew und Jewgeni Popow, aufgehoben, da sie erst im laufenden Jahr aufgenommen worden seien und sich also noch in der Probezeit befänden. Das war eine deutliche Warnung an die anderen, die als Verbandsmitglieder eine Reihe von Privilegien genossen: Wohnungen, Sanatoriumsaufenthalte am Schwarzen Meer, manchmal sogar Auslandsreisen. Eigentlich hatten die Schriftsteller aus dem Metropol-Kreis verabredet, gemeinsam aus dem Verband auszutreten, sobald einzelne ausgeschlossen würden. Doch fast keiner von ihnen machte die Drohung wahr. Konsequent waren nur drei Autoren: der populäre Erzähler Wassili Axjonow, der dann die Chance nutzte, nach Amerika auszuwandern, und auch die beiden ältesten Mitglieder, der Dichter und Übersetzer Semjon Lipkin, der einst ein enger Freund Maxim Gorkis gewesen war, und seine Frau, die Lyrikerin Inna Lisnjanskaja.
Für Lipkin und Lisnjanskaja hatte dieser Schritt weitreichende Folgen. Der Schriftstellerverband ließ unverzüglich Lipkins Bücher aus allen Buchhandlungen und Bibliotheken entfernen und einstampfen. Zu seinen Werken gehörten berühmte Übersetzungen der Nationalepen turksprachiger Völker, die der Verband jetzt neu übersetzen ließ. Lipkin hatte auch einen Roman über die Schlacht um Stalingrad geschrieben, an der er als Soldat teilgenommen hatte, aber der sollte nun nicht mehr veröffentlicht werden. Unter Kollegen war Semjon Lipkin ein berühmter und verehrter Mann, dessen ungedruckte Gedichte sie unter der Hand weitergaben. Seine Frau Inna Lisnjanskaja war Lyrikerin, und auch ihre Manuskripte kursierten zumeist in handgeschriebenen Kopien. Als die beiden ihren Austritt erklärten, warnte sie einer der Funktionäre, in Zukunft würden sie ein schlechtes Leben führen. Inna Lisnjanskaja antwortete: »Ich lebe gerne gut, aber ich kann auch ganz gut schlecht leben.« Tatsächlich stellte die Krankenkasse, in die der siebzigjährige Schriftsteller fünfzig Jahre lang einen Teil seiner Tantiemen eingezahlt hatte, alle Zahlungen ein. Die Klinik des Schriftstellerverbandes durfte der schwerkranke alte Mann nicht mehr betreten. Ihm und seiner Frau blieben vierzig Rubel im Monat, seine kleine Invalidenrente aus dem Krieg, aus dem er mit der Tapferkeitsmedaille zurückgekehrt war. Bis zum Ende der Sowjetunion lebten die beiden von Arbeiten, die sie unter falschem Namen veröffentlichten, und unterstützt von einigen Kollegen, die im Schriftstellerverband reich geworden waren. Einer von ihnen, der Jahrzehnte vorher die Stalin-Hymne geschrieben hatte und ihren Text später einmal für Wladimir Putin in die neue russische Nationalhymne umarbeiten sollte, half immer wieder großzügig aus. Es war eine seltsame Zeit, in der viele, die vom System profitierten, gleichzeitig ein schlechtes Gewissen hatten.
Mit einigem Glück konnte ich immer wieder kleine Einblicke in eine uns Ausländern verschlossene sowjetische Welt bekommen. Einmal rief die amerikanische Sängerin Joan Baez, die ich in den sechziger Jahren in den USA kennengelernt hatte, bei mir an. Sie war auf Konzerttournee in die Sowjetunion gekommen. Die Karten waren innerhalb weniger Stunden ausverkauft, doch dann waren ihre Konzerte ohne Begründung kurz vor dem ersten Auftritt in Leningrad abgesagt worden. Sie hatte eine Menge Fans unter meinen Moskauer Bekannten, die sich nicht erklären konnten, warum Joan Baez plötzlich nicht mehr auftreten durfte. Sie sei ja nun alles andere als eine Propagandistin von Kapitalismus und Imperialismus, meinten sie. Einer von ihnen entschloss sich, ihr wenigstens den einen Abend in Moskau unvergesslich zu machen. Das war der Sänger und Dichter Bulat Okudschawa, den Zehntausende schon seit den Jahren der Entstalinisierung liebten. Die Zensurbehörden betrachteten ihn kritisch und verhinderten über Monate seine Auftritte, aber die Organisatoren von Konzerten und Filmen holten ihn immer wieder ins Rampenlicht zurück. Ich erzählte ihm, dass Joan Baez in der Stadt sei, woraufhin er uns sofort zu sich einlud.
Als wir am späten Nachmittag in seiner Wohnung eintrafen, hatte er schon ein paar Freunde angerufen, und die wiederum hatten ihre Bekannten informiert. Bulats komfortable, aber kleine Wohnung war schnell überfüllt. Da meldeten sich unerwartet zwei georgische Künstler, die gerade in Moskau eingetroffen waren. Der eine hatte kurz zuvor für ein monumentales Mosaik den Staatspreis erhalten und wollte nun das Preisgeld in eine Party für Joan Baez stecken. Er telefonierte mit Leitern der Moskauer Restaurantverwaltung und schaffte es, innerhalb von einer halben Stunde einen Saal in einem Restaurant am Rande von Moskau zu mieten. Ich hatte dieses Restaurant gelegentlich beim Vorbeifahren gesehen, einen weißen Bau, der ein wenig wie eine Autobahnraststätte aussah. Es war ein Treffpunkt junger Leute aus den besten Datschenvierteln, vierzig Kilometer von Moskau entfernt, wo die führenden Leute des Partei-, Staats- und Kulturapparats ihre Sommerhäuser besaßen. In diesem Restaurant, in dem man ohne Anmeldung keinen Platz bekam und ohne Beziehungen keine Anmeldung, hatten die beiden georgischen Künstler einen Saal für hundertfünfzig Gäste bereitstellen lassen. Wodka, Sekt, Cognac, Kaviar, kalter Fisch, Aufschnitt, Radieschen, eingelegter Knoblauch und Bündel von Kräutern standen auf den Tischen. All das hatte der georgische Bildhauer in kaukasischer Großzügigkeit mit seinem Staatspreis bezahlt. Bulat Okudschawa begann mit leiser, brüchiger Stimme seine Lieder zu singen. Joan Baez trug ihre amerikanischen Folksongs vor, die die meisten der Gäste gut genug kannten, um einige Zeilen mitzusingen. Die Begeisterung war groß, aber dann fand Joan Baez, sie möchte doch einmal in Russland vor einem normalen Publikum singen und nicht bloß vor ausgewählten Künstlern und Intellektuellen. Also gingen wir zum eigentlichen Restaurant hinunter, wo natürlich auch kein normales Publikum saß, sondern die Kinder der neu entstehenden Oberschicht Wange an Wange tanzten. Dabei ließen sie sich zuerst nur ungern unterbrechen, aber nachdem Joan Baez und Bulat Okudschawa begonnen hatten, rührten sie sich fast zwei Stunden lang nicht von ihren Plätzen und konnten ihre Begeisterung auch lange danach kaum zügeln.
Es gab andere Gelegenheiten, die Liebe junger Moskauer zu westlicher Kultur und amerikanischer Musik kennenzulernen. Alexej Bataschow war ein Physiker an der Akademie der Wissenschaften und privat ein großer Jazzfan und Konzertorganisator. Er kannte sämtliche Jazzmusiker von Sibirien bis Litauen, die von keiner Konzertagentur vermittelt wurden, aber durch ihn immer wieder einmal einen Aufführungsort für ein Konzert fanden. Bataschow hatte gehört, dass im »Zentralinstitut der Blinden der Sowjetunion« ein sehr großer Saal fast immer ungenutzt war, und besorgte sich die Erlaubnis, dort eine Vortragsreihe über die Musik der unterdrückten und ausgebeuteten Schwarzen Amerikas zu veranstalten. Tatsächlich dauerten die Vorträge selten länger als fünf Minuten, dann kamen schon die Musiker auf die Bühne, um ein paar Beispiele vorzuführen, und schließlich ging das Ganze in ein Konzert mit Free Jazz, Cool Jazz und witzigen Experimenten über. Solange das Thema des Abends nur ideologisch einwandfrei und antiamerikanisch klang, vertrieb sie niemand aus dem Blindeninstitut.
Andere Musikfreunde fanden ähnliche Auswege. Das kleine Ensemble von Dmitri Pokrowski sang Lieder, die viel älter als die Sowjetunion waren und in abgelegenen Dörfern überlebt hatten: traurig, frech, unanständig und, wie er sagte, »unlackiert«, also anders als die »Konservatoriumsfolklore« der großen, auch im Ausland bewunderten staatlichen Chöre. Die Konzertsäle waren ihnen versperrt, aber oft wurden sie in Institute der Akademie der Wissenschaften eingeladen, etwa zu den Atomphysikern, die sich allerlei Freiheiten herausnehmen konnten. Es war als Ausländer nicht leicht, in diese Konzerte zu gelangen, aber mit Hilfe jüngerer Professoren schaffte ich es manchmal an der Einlasskontrolle vorbei. Dort sah ich an den Wänden dann auch abstrakte oder expressionistische Gemälde junger russischer Maler, die unter dem Patronat bedeutender Wissenschaftler als inoffizielle Ausstellung aufgehängt worden waren und denen man sonst nirgends in Moskau begegnete.
Noch schwieriger war es mit Kontakten zu jungen, avantgardistischen Komponisten. Die Aufführungen ihrer Werke hätten nur der Komponistenverband und staatliche Konzertagenturen ermöglichen können, doch gerade die lehnten die Musik der Avantgarde ab. Die Komponisten hatten daher kaum eine Chance, ihre Werke zu präsentieren, allenfalls, wenn das Mosfilm-Studio einen Science-Fiction-Film vertonen wollte. Als der Westdeutsche Rundfunk in einem Kammermusikkonzert in Köln Werke von sieben jungen sowjetischen Komponisten mit großem Erfolg vorstellte – natürlich ohne dass die Künstler selbst in Deutschland dabei sein durften –, überschlug sich die sowjetische Presse in der Verurteilung dieser Musik. Der Chef des Komponistenverbands, der dreißig Jahre zuvor sogar Dmitri Schostakowitsch als einen unbegabten Abweichler von der sowjetischen Kunst getadelt hatte, beschimpfte die sieben Musiker als landesverräterische Formalisten.
Manchmal jedoch konnten die jungen Komponisten und ihre Freunde die Kulturfunktionäre überlisten. 1980, im Jahr der Olympischen Sommerspiele in Moskau, brachten sie eine Sinfonie des jungen Wjatscheslaw Artjomow zu einer offiziellen Freiluftaufführung. Das Stück hieß »Der Weg zum Olymp« und passierte die Kontrolle, weil die Behörde den Titel als einen willkommenen Hinweis auf die Olympiade deutete. Den ausländischen Gästen würde das Eindruck machen, meinten die Funktionäre wohl, mir schien aber, sie überschätzten das Interesse ausländischer Sportsfreunde an avantgardistischer Musik. Das Kulturministerium zahlte Artjomow ein Honorar von 44 Rubeln – wenig genug, aber doch ziemlich viel für einen Mann, der in seinem Zimmer wochenlang hauptsächlich von Kartoffeln, Karotten und Heringen lebte.
Immer wieder kam es in dieser Zeit, Anfang der achtziger Jahre, zu Begegnungen, die ich in den Jahren zuvor, in denen fast nur offizielle Kontakte möglich gewesen waren, für undenkbar und frei erfunden gehalten hätte. Da hatte es etwa ein Mann aus der städtischen Restaurantverwaltung, den ich gelegentlich in einem seiner Lokale getroffen hatte, durch Beziehungen geschafft, eine Wunderheilerin aus Georgien in die Hauptstadt zu holen. Sie sollte seiner krebskranken Mutter die letzten Lebensjahre erleichtern. Djuna Dawitaschwili war eine Mittdreißigerin, sehr attraktiv und ein bisschen hochmütig, mit schwarzen Haaren und dunklem Teint, aus dem kleinen Volksstamm der Assyrer, die verstreut am Rande des Kaukasus und im Nahen Osten lebten. Manche ihrer Freunde nannten sie eine babylonische Hexe. In Moskau ging das Gerücht um, sie sei in die Hauptstadt gekommen, um den Staats- und Parteichef Leonid Breschnew zu behandeln. Als sich das unter den ausländischen Journalisten herumsprach, meldete sich eines Tages der Herausgeber eines bekannten deutschen Nachrichtenmagazins bei seinem Korrespondenten in Moskau: Er wolle in die sowjetische Hauptstadt reisen, um sich von der Wunderheilerin behandeln zu lassen. Ich wusste, wie misstrauisch die sowjetischen Behörden reagieren würden, wenn eine Wunderheilerin, der man eine Nähe zu Breschnew nachsagte, einen bekannten ausländischen Journalisten empfing, und gab ihr einige Ratschläge, welche Stellen der sowjetischen Informationsorgane sie vorher auf halboffiziellem Weg kontaktieren müsste.
Von da an sprach sich bei einigen Mitarbeitern des Außenministeriums und des KGB herum, dass ich mit dieser Djuna bekannt sei. Und da Wunderheilungen mindestens so begehrt waren wie ausländische Medikamente, bemühten sich auch jene um eine Einladung bei mir, die üblicherweise den Kontakt zu Ausländern mieden. Sie alle hatten entweder selbst Krankheiten oder aber kranke Verwandte, die Djuna behandeln sollte, und hofften, sie bei mir zu treffen. Ich wusste inzwischen, dass sie Breschnew selbst nicht behandelte, aber das Gerücht, dass Mitglieder der höchsten Führungsspitze zu ihr gingen, war nicht ganz falsch: Als ich sie zum ersten Mal in ihrem Moskauer Sechs-Zimmer-Apartment besuchte, trank ich im Wartezimmer meinen türkischen Kaffee mit einem Patienten aus dem Transkaukasus – Eduard Schewardnadse war der Erste Parteisekretär von Georgien und später Gorbatschows Außenminister. Auch den Minister für Wirtschaftsentwicklung und Fünfjahresplan lernte ich dort kennen, andere Patienten waren ebenfalls hohe Funktionäre. Es war eine der seltenen Chancen, sie aus der Nähe zu sehen und zu studieren.
Nach dem Ende der Sowjetunion konnte Djuna Dawitaschwili ihre berühmte Wunderpraxis frei und öffentlich führen, doch auch schon in den Jahren zuvor, in der Zeit des wissenschaftlichen Sozialismus, war der Glaube an Wunderheilungen und geheime Kräfte weit verbreitet. Einmal erzählte ich dem Parteisekretär einer Moskauer Fabrik von meinen vielen russischen Bekannten, die darüber klagten, dass sie nur mit kleinen oder größeren Bestechungen im Krankenhaus eine gute medizinische Behandlung erhalten könnten. Das war für ihn allerdings nicht so bedenklich, da es doch wirksamere Behandlungsmethoden gebe. Er versuchte mir mit Hilfe eines Pendels zu beweisen, dass er aus jedem Foto die Krankheiten der abgebildeten Person herauslesen könne. Ich fragte erstaunt, ob die Führung der kommunistischen Partei ihm, einem Parteisekretär, solche Heilmethoden in seiner Fabrik gestatte. »Auch dies ist eindeutig Wissenschaft, wenngleich noch nicht gänzlich erforscht«, antwortete er. »Ich habe allerdings manchmal Schwierigkeiten, weil die Genossen nicht glauben wollen, dass ich mit Toten reden kann.«
Mit großen politischen Ereignissen und bewegenden oder sensationellen Nachrichten war in diesen Jahren in Moskau nicht zu rechnen. Sogar sowjetische Kollegen versuchten mich ab und zu damit zu trösten, dass der Tod des über siebzigjährigen Breschnew schließlich bevorstehe und dann eine bewegte, unruhige Zeit folgen würde. Aber Breschnew starb nicht und blieb im Amt, wenn auch manchmal mit stockenden Reden, weil er sich im Manuskript verirrte. Also holte mich der Westdeutsche Rundfunk 1981 zurück nach Köln – zuerst als Sonderkorrespondenten der ARD, dann als Leiter der politischen Magazine Monitor und Weltspiegel, schließlich als Chefredakteur des Fernsehens beim WDR.
Die Sowjetunion verlor ich allerdings nicht aus dem Blick. Breschnew starb 1982. Juri Andropow, ein früherer KGB-Chef, hielt als sein Nachfolger ein Jahr durch, ehe auch er von einem riesigen Trauerzug an die Mauer des Roten Platzes geleitet wurde. Ihn beerbte Konstantin Tschernenko, ein alter schwerfälliger Funktionär, der wiederum nach dreizehn Monaten im Amt starb. Und dann wählte das Politbüro der alten Männer 1985 sein jüngstes Mitglied zum Generalsekretär: Michail Gorbatschow. Mir fiel die Bemerkung des Wissenschaftlers ein, der einige Jahre zuvor von diesem ungewöhnlichen Funktionär erzählt hatte – das machte mich wieder neugierig.
Und so ging ich 1987 zurück nach Moskau, diesmal als Fernsehkorrespondent. Im Westen gab es viele Diskussionen über das, was man die »neue Sowjetunion« nannte, ohne genau zu wissen, was sich an dem System und seinen Zielen wirklich veränderte. In den Jahren zuvor hatte ich gelegentlich alte Bekannte aus den fünfziger Jahren getroffen, die damals noch Studenten gewesen waren und vorsichtig über einen demokratischeren Sozialismus philosophiert hatten. Später tauchten sie dann in ihren Berufsalltag ab, jetzt aber waren sie wieder da: Musiker, Schriftsteller und Dichter aus der Chruschtschow-Zeit, deren Veröffentlichungen zeigten, dass sie noch einmal auf einen Wandel im System hofften. Das Klima in Moskau veränderte sich tatsächlich. Bei Diskussionen über Wirtschaft und Außenpolitik, die es in beschränkter Form wieder geben durfte, wurden keine parteiamtlichen Erklärungen mehr vorgetragen, sondern die Teilnehmer stritten miteinander über die Ursachen von Krisen und Spannungen. Bei Ost-West-Debatten schien es manchmal, als argumentierten die amerikanischen Teilnehmer in dieser Zeit starrer und dogmatischer als ihre sowjetischen Gesprächspartner, die sich gerade von ihren Propagandaschablonen zu befreien versuchten.
War da tatsächlich ein »neues Denken« eingezogen? Und wer war dieser im Apparat aufgestiegene Provinzfunktionär namens Gorbatschow? Ich nutzte jede Gelegenheit, um immer wieder darauf hinzuweisen, dass man den Sowjetbürgern und dem Ausland diesen Mann endlich einmal als Menschen und Politiker vorstellen müsse. Zunächst hatte ich mit einem amerikanischen Kollegen versucht, die Genehmigung zu einem biografischen Gorbatschow-Film zu bekommen, aber unsere Anträge bei verschiedenen sowjetischen Botschaften und bei Gorbatschow selbst waren ohne Antwort geblieben. Der US-Kollege war schließlich pensioniert worden, und ich hatte das Projekt schon fast aufgegeben, als mir im Frühjahr 1989 ein guter Bekannter aus dem sowjetischen Außenministerium den Rat gab, es doch noch einmal zu versuchen. Der Zeitpunkt sei günstig, da ein Besuch des Generalsekretärs in Bonn geplant sei. Er riet mir, wie und an wen ich meinen Antrag schreiben sollte. Zugleich wandte ich mich an den stellvertretenden Vorsitzenden des sowjetischen Fernsehens, einen Bauernsohn mit ähnlicher Herkunft wie Gorbatschow. Aus früheren Gesprächen wusste er, dass ich an einer ernsthaften Reportage und nicht an Sensationen aus Gorbatschows Privatleben interessiert war und dass ein Fernsehbericht vor dem Bonn-Besuch im Juni 1989 für beide Seiten nützlich sein könnte.
Einige Wochen vor der Reise meldete sich dann ein Mann aus der Auslandsabteilung des Zentralkomitees bei mir. Er rief aus einer Telefonzelle des Moskauer Flughafens an und war auf dem Weg nach Peking, um Gorbatschows Staatsbesuch in China, der Mitte Mai stattfinden sollte, vorzubereiten. »Die Sache mit dem Fernsehporträt ist okay«, erklärte er, aber was genau wir drehen dürften, könne er auch nicht sagen. Vielleicht Aufnahmen von Gorbatschow im Gespräch mit seinen Beratern während des China-Besuchs oder mit anderen Mitarbeitern vor der Kulisse russisch-chinesischer Gespräche. Ein paar Tage später saß ich in der Journalisten-Maschine, die Gorbatschow auf seinem Flug begleitete, und erzählte dem Pressesprecher des Außenministeriums, mein Team und ich dürften ganz nah an Gorbatschow dranbleiben. Aber das hielt er für völlig ausgeschlossen. Auch der Sprecher des ZK wusste von nichts und hatte nur einen Trost: »Bei uns gibt es verschiedene Computer, und die sind nicht kompatibel. Vielleicht ist ihre Erlaubnis auf einem, den ich nicht kenne.«
Als wir in Peking ankamen, überschlugen sich dort die Ereignisse – jedenfalls war es nicht der richtige Moment, um mit Vertretern der sowjetischen Delegation über ein Gorbatschow-Interview zu sprechen. Tausende von Studenten hatten sich seit Tagen auf dem Tiananmen-Platz versammelt. Es waren Bilder, wie ich sie dreizehn Jahre zuvor bei den großen Demonstrationen nach dem Tode Zhou Enlais gesehen hatte. Aber diesmal war die Zahl der protestierenden Studenten um vieles größer. Sie waren besser organisiert und formulierten ihre Forderungen nach Presse- und Redefreiheit und die Proteste gegen Korruption und hohe Lebenshaltungskosten von Anfang an präzise und eindrücklich. Gorbatschow und seine engsten Mitarbeiter waren bei den Verhandlungen von der Außenwelt vollkommen abgeschlossen, so dass sie gar nicht richtig begriffen, was auf dem Tiananmen-Platz vor sich ging. Alexander Jakowlew, Gorbatschows engster Berater, hatte auf dem Weg zur nächsten Besprechung für ein paar Minuten den Anschluss an die Delegation verloren und fragte uns Journalisten, warum so viele junge Leute die sowjetischen Gäste begrüßen wollten. So hatte er zumindest die Erklärung seiner chinesischen Gastgeber verstanden. Höchst erstaunt hörte er von uns, dass dies keine begeisterte Begrüßung, sondern eine riesige Protestaktion gegen die Regierung war.
Mein Kamerateam und ich waren sehr schnell von der Masse der jungen Leute auf dem Platz eingeschlossen, und wir bemerkten, dass sie wiederum keine Ahnung hatten, was für eine ausländische Delegation da durch ihre Demonstrationsversammlung geleitet wurde. Sehr viel mehr als sie wussten wir Korrespondenten über den Verlauf der Verhandlungen in der Großen Halle des Volkes allerdings auch nicht. Erst einige Jahre später wurde klar, dass eine Übereinkunft von weltpolitischer Bedeutung getroffen worden war. Sowjets und Chinesen erkannten den Verlauf der fünftausend Kilometer langen chinesisch-sowjetischen Grenze an, und der zwanzigjährige Streit, den Mao Tsetung mit seinem Anspruch auf riesige Gebiete Sibiriens entfesselt hatte, wurde beigelegt. Dieser Schritt zur Entspannung an Chinas und Russlands Grenze war ein wichtiger außenpolitischer Erfolg Gorbatschows, aber er ging unter in den Nachrichten von den großen Zusammenstößen. Zwei Wochen nach dem Besuch des sowjetischen Staatschefs setzte die chinesische Führung in Peking und mehreren Hundert Städten die Armee ein, um die Demonstrationsbewegung der Studenten zu zerschlagen. Zum zweiten Mal hatte ich auf dem Tiananmen-Platz den Protest einer jungen Generation erlebt und dann erfahren, wie brutal sich die konservativen Machtpolitiker gegen die politischen Reformer durchsetzten. Bis heute ist unbekannt geblieben, wie viele der protestierenden Studenten ihr Leben verloren – Hunderte oder Tausende. Es gibt noch immer keine offizielle Zahl, sondern nur sich widersprechende Berichte aus verschiedenen Quellen, die unüberprüfbar geblieben sind.
Unser Team flog nach Moskau zurück, immer noch ohne Bilder für ein Gorbatschow-Porträt. Obwohl es weder eine mündliche noch eine schriftliche Zusage gab, begann ich gemeinsam mit einem russischen Kollegen aus dem ARD-Studio herumzutelefonieren, unterstützt von Lena Korenewskaja, einer alten russischen Bekannten aus den fünfziger Jahren, einer couragierten Person, die sich nun wieder traute, mir zu helfen. Sie hatte eine ganze Liste von Leuten, die Gorbatschow gut gekannt haben sollten. Nun musste man sie finden und zu Interviews überreden. Mit den ersten Aufnahmen hatten wir Glück: In Stawropol, am Rande des Kaukasus, erwartete uns der Leiter des dortigen Fernsehstudios, ein unbürokratischer Kosake, bauernschlau und selbstbewusst. Er fand, dass es in Gorbatschows Heimatdorf Priwolnoje nichts zu verbergen gebe. Er kannte einige der Bauern im Dorf und auch den Leiter des Kolchos, der nicht nur ein üppiges rustikales Essen für uns vorbereitet hatte, sondern auch den üblichen Vortrag über die Erfolge der Landwirtschaftspolitik der Partei. Ich fürchtete schon, wir würden wieder einmal routinemäßig abgespeist, da ging es plötzlich weiter. Wir liefen zur kleinen Schule, wo uns Gorbatschows erste Lehrerin in Empfang nahm. Später dann trafen wir ein paar ältere Männer, die in ihren Sonntagsanzügen auf uns warteten: Freunde aus seiner Jugend. Sie erzählten von dem anstrengenden Leben der Jungs in einem Bauerndorf.
Wir durften auch das Haus von Gorbatschows Mutter filmen, aber nur aus einiger Entfernung. Die Mutter blieb unsichtbar. Maria Pantelejewna Gorbatschowa hatte nur einmal einem russischen Kollegen ein Interview gegeben, das in der Sowjetunion nie gesendet wurde. Ich war dennoch an einen kurzen Ausschnitt aus dem Material herangekommen, nicht länger als eine Minute. In ihm erzählte sie mit schwerem ukrainischem Akzent von den Kriegsjahren: »Da schrieb mir mein Mann von der Front: ›Du musst um jeden Preis etwas besorgen, damit Mischa zur Schule gehen kann.‹ Das Leben war hart geworden. Er hatte nichts anzuziehen und musste ein Vierteljahr zu Hause bleiben. Da habe ich die Schafe genommen und bin mit ihnen nach Salsk gefahren und habe sie verkauft. Mit dem Geld – anderthalbtausend Rubel waren das damals – habe ich Militärstiefel gekauft. Dann ging ich zum Direktor der Schule, Gitalo hieß er, und der Direktor sagte: ›Maria Pantelejewna, ein Vierteljahr ist schon vorbei‹, aber ich habe gesagt: ›Mischa sagt, er wird alles nachholen.‹« Das war alles, was wir bekamen. Vielleicht fanden die zuständigen Funktionäre die alte Frau mit ihrem bäuerlichen Dialekt zu einfach für eine Mutter des Parteichefs.
Schließlich trafen wir noch einige seiner Lehrerinnen. Sie schilderten einen jungen Mann, der gleichzeitig Landarbeit und Schule bewältigen musste, der ein gutes Gedächtnis hatte, gut reden konnte und den sie auch ein wenig bewunderten. Er sei nichts Besonderes gewesen, ein Junge wie alle anderen, sagten die Leute im Dorf immer wieder. Aber immerhin war er der Einzige, der es auf die Mittelschule des Nachbarorts und später nach Moskau auf die Universität schaffte. Dort war er erneut ein Außenseiter und musste nach Abschluss des Studiums sein Fortkommen zunächst wieder in seiner Heimatregion suchen.
In Moskau war es leichter für uns, mit einigen von Gorbatschows Freunden aus der Studentenzeit ins Gespräch zu kommen: Professoren, einem Chefredakteur, einem Staatsanwalt. Insgesamt hatten wir kaum drei Wochen Zeit, um den Bericht zusammenzustellen. Als das Porträt dann zu Beginn des Staatsbesuchs im Juni 1989 von der ARD ausgestrahlt wurde, konnten auch die russischen Kollegen, die mit Gorbatschow nach Bonn gereist waren, zum ersten Mal etwas von seiner privaten Lebensgeschichte sehen. Einiges gaben sie in Berichten über unseren Film weiter. Das sowjetische Fernsehen allerdings fand, es sei noch zu früh, einen Dokumentarfilm über den Generalsekretär im eigenen Land zu zeigen. Immerhin nahm einer seiner Begleiter eine Videokassette mit, und Gorbatschow schaute sie sich spätabends am zweiten Tag des Bonn-Besuchs an. Sie hat ihm wohl nicht missfallen. Mehrere seiner Sicherheitsleute wollten sich am nächsten Tag mit mir unbedingt händeschüttelnd fotografieren lassen. Aber das blieb die einzige Reaktion aus seinem engeren Umfeld.
Die sowjetische Delegation war zuerst verwirrt, dann erfreut und einige der Jüngeren sogar begeistert über den Empfang in der Bundesrepublik. Tausende von Menschen überall, die Gorbatschow Beifall klatschten und unübersehbar ihre Sympathie ausdrückten. So etwas hatte es im deutsch-sowjetischen Verhältnis noch nicht gegeben – auch nicht in der DDR, wo der Staatschef zwar von vielen Menschen geschätzt wurde, die strenge staatliche Überwachung jede spontane Sympathiebekundung jedoch unmöglich machte. Die Freundschaftsbezeugungen in der Bundesrepublik dagegen, die alle alten Vorbehalte zu überlagern schienen, kamen für die Russen vollkommen unerwartet und waren doch ein hoffnungsvolles Zeichen. In den konservativen Führungskreisen der KPDSU allerdings blieb die Stimmung der Bundesrepublik gegenüber so stark von Argwohn geprägt, dass Gorbatschow aus seinem Publikumserfolg in Westdeutschland keinen Gewinn ziehen konnte. Im Gegenteil, viele seiner Kollegen in der Parteispitze schienen ihm nun ein verstärktes Misstrauen entgegenzubringen.
Es war in Moskau immer schwer gewesen, an Informationen über politische Entscheidungsträger heranzukommen. Wie die Lebensläufe der Funktionäre in den höheren Ebenen von Zentralkomitee und Politbüro aussahen und wie diese ihre Politik machten, war für Ausländer kaum zu ergründen. Sowjetbürger wagten es lange nicht, darüber zu sprechen. Doch im Laufe des Jahres 1989 wurde der Austausch spürbar offener, wenn ich mich mit Freunden und Mitarbeitern über Gorbatschow unterhielt. Manche aus seiner Umgebung, deren Reformprojekte abgelehnt wurden, äußerten sich durchaus enttäuscht über ihn. Die von ihm propagierte Glasnost war in ihren Augen zu eingeschränkt, sie forderten noch größere Offenheit und Meinungsfreiheit. Andere klagten darüber, dass er zu viele Kompromisse mit den Funktionären aus dem Partei- und Militärapparat gemacht und sich dadurch seinen konservativen Gegnern ausgeliefert habe. Anders als zur Zeit seiner Vorgänger, so mein Eindruck, schien sich Gorbatschow jedoch im Rahmen der innenpolitischen Möglichkeiten ernsthaft darum zu bemühen, eine Rückwendung zum alten verknöcherten System zu verhindern. Er sei, wie er viele Jahre später selbst sagte, kein Revolutionär gewesen, der das Land in einen von oben kontrollierten Prozess der Umgestaltung zwingen wollte, wozu es Jahre oder Jahrzehnte strenger Disziplinierung gebraucht hätte. Unter dem Schlagwort Perestroika – Umbau – versuchte Gorbatschow, Schritt für Schritt die alte Führungsschicht von Partei, Armee und Wirtschaft auszuwechseln, das Leben in der Sowjetunion moderner, erträglicher und auf lange Sicht demokratischer zu machen. Eine schnelle und durchgreifende Veränderung der Innenpolitik, eine sogenannte Sozialdemokratisierung, schien ihm dagegen gefährlich.
Ein Jahr nach Gorbatschows Besuch in Bonn war Deutschland auf dem Weg zur Wiedervereinigung. Im November 1989 war die Mauer in Berlin gefallen, ein halbes Jahr später, im Mai 1990, hatten die Zwei-plus-Vier-Gespräche begonnen, in denen die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs mit den beiden deutschen Staaten über die außenpolitischen Voraussetzungen einer Wiedervereinigung verhandelten. Während sich die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion jahrelang in einer Grauzone bewegt hatten, bemühte man sich in dieser unerwarteten Umbruchsituation um Annäherung und Interessenausgleich. Die Bundesrepublik hatte begonnen, die Sowjetunion durch die Lieferung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und durch einen Kredit von über fünf Milliarden D-Mark zu unterstützen. Für Mitte Juli war ein Besuch des deutschen Bundeskanzlers in der Sowjetunion geplant, bei dem zentrale gegenseitige Bedingungen für eine deutsche Wiedervereinigung ausgehandelt werden sollten. Im Vorfeld zeigten sich Gorbatschows Berater etwas verwundert, dass Bonn sein Interesse an der Frage einer nahen Wiedervereinigung so wenig offen äußerte und stets mehr von der Stabilisierung in Mittel- und Osteuropa und einer Absicherung des Status quo sprach. Dass Helmut Kohl die Frage der deutschen Einheit mit Geduld zurückzustellen schien, wirkte auf meine sowjetischen Gesprächspartner letztlich jedoch eher beruhigend. Dabei war man in Moskau längst weiter: Gorbatschow und seine engeren außenpolitischen Mitarbeiter erhofften sich, durch deutsche Wirtschaftshilfen und engere Beziehungen zu einem größeren vereinten Deutschland den Verlust des sowjetischen Einflusses in Mitteleuropa zu kompensieren. Der westdeutsche Botschafter bis 1989 in Moskau, Andreas Meyer-Landrut, hatte schon während seiner Amtszeit nach Bonn gemeldet: Nach seinen Informationen werde Gorbatschow die Vereinigungsfrage sehr bald auf die Tagesordnung setzen. In Washington hatte Präsident Bush Anfang Juni im Gespräch mit Gorbatschow weitere Schritte zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten empfohlen. Der Boden war also weitgehend bereitet, als Bundeskanzler Kohl am 14. Juli 1990 in die sowjetische Hauptstadt reiste.
Am nächsten Tag genügten tatsächlich wenige Verhandlungsstunden, um in zentralen Fragen Übereinkünfte zu erzielen. Dass die sowjetische Seite dem vereinten Deutschland den Verbleib in der NATO und die volle Souveränität zugestand, war die entscheidende Nachricht für die deutsche Delegation. Gorbatschow hatte ihnen damit eine große Hürde auf dem Weg zur Wiedervereinigung beiseitegeräumt. Die weiteren Bilder vom Besuch erweckten dann auch nicht zufällig den Eindruck eines außerordentlich harmonischen Familientreffens. Noch am 15. Juli reiste Gorbatschow mit Kohl per Hubschrauber in sein Heimatdorf in den Kaukasus, um dann mit ihm zu seiner Datscha weiterzufliegen, die er sich ein Jahr zuvor hatte bauen lassen. Ich war mit unserem Team mitgereist, wusste aber nicht, wo dieses Sommerhaus lag. Doch ich hatte Glück und bekam einen Tipp von einem sowjetischen Kollegen, dem Leiter des Regionalfernsehens von Stawropol. Ich kannte ihn von Wanderungen und Abenden am Lagerfeuer und fragte, ob er wisse, wo Gorbatschow und Kohl hinführen. Zunächst wich er aus, sagte dann aber einen Augenblick später: »Ach, was hatten wir für eine schöne Zeit hier oben. Du würdest sicher auch gern zurückkommen. Weißt du noch, wo das war?« – »Bei Archys«, sagte ich, und er antwortete: »Ja, in Archys. Da treffen wir uns mal wieder. Also merk dir den Namen Archys.«
So fuhren wir die hundert Kilometer Strecke durch die Ausläufer des Kaukasus in den Gebirgsurlaubsort Archys. Wir parkten an einer Wiese, die wie ein kleiner Landeplatz hergerichtet war, und hatten unsere Kameras gerade aufgebaut, als die Hubschrauber mit Kohl und Gorbatschow, den Außenministern Genscher und Schewardnadse und ihrem Gefolge von Experten und Sicherheitsleuten aufsetzten. Damit waren wir von Anfang an dabei, als sich der deutsche Bundeskanzler und der sowjetische Präsident zwischen dem Haus und einem Flüsschen leger in Strickjacke und Pullover gekleidet auf einer Sitzgruppe aus Baumstümpfen niederließen. Außenminister Genscher saß neben ihnen, die große Gruppe ihrer Begleitung stand um sie herum. Auch Raissa Gorbatschowa kam dazu und horchte im Stehen, was die großen Männer zueinander sagten. Um Politik ging es nicht mehr, vielmehr um den Austausch unverbindlicher, freundlicher Bemerkungen. Die anderen Gäste gingen am Fluss spazieren oder stießen auf die Freundschaft an. Raissa Gorbatschowa belehrte die vier Journalisten, Deutsche und Russen, wie man im Wald um die Regierungsdatscha herum die verschiedensten Sorten Pilze, und nicht bloß Pfifferlinge, sammeln könne. Es war ein ruhiger, entspannter Abend. Stärker noch als die Verhandlungsergebnisse prägte sich den Fernsehzuschauern das Bild der gemütlichen, fast familiären Gespräche ein, und die Zeitungen etikettierten das ungewöhnliche deutsch-sowjetische Zusammentreffen im Kaukasus, das so sinnfällig das Ende des Ost-West-Konflikts zu besiegeln schien, als die Konferenz der Strickjacken-Politik.
Die konservativen Sowjetfunktionäre in Partei und Armee beurteilten Gorbatschows Politik indes äußerst kritisch. Er war in ihren Augen zu weich, vertrat die politischen und militärischen Interessen der Sowjetunion nach außen nicht entschieden genug und schwächte im Inneren die Führungskraft der Partei. Gorbatschow aber schien den wachsenden Widerstand dieser Gruppierung nicht zu bemerken. Stattdessen hielt er schon seit langem Boris Jelzin für seinen gefährlichsten Gegner. Jelzin, der ebenso alt war wie Gorbatschow und aus dem Ural stammte, war 1985 als neuer Parteisekretär von Moskau in den Kreis der Reformer um Gorbatschow geholt worden und hatte sich zunächst für dessen Perestroika und gegen die alte Garde der Parteifunktionäre eingesetzt. Doch anders als Gorbatschow wollte Jelzin die Veränderung der Partei und der Sowjetunion sehr viel radikaler und grundsätzlicher erzwingen. Seine Popularität in der Hauptstadt wuchs ständig, während er Gorbatschows Reformkurs immer weniger folgte. Einige Jahre später steckte mir ein Mann, der sich als freier Journalist aus Swerdlowsk, dem früheren Parteibezirk Jelzins, ausgab und ganz offenbar zum KGB gehörte, ein älteres, nicht näher gekennzeichnetes Videoband zu: Da saß Jelzin nach der Rückkehr von einem ZK-Plenum offensichtlich betrunken an seinem Schreibtisch und redete über die Situation in Moskau. »Die Partei ist ein einziger Misthaufen der Korruption«, schimpfte er. »Du schaufelst einen Haufen Dreck weg, und kaum drehst du dich um, ist der Dreck schon wieder da.« Die Aufzeichnung, so sagte der Mann, beweise deutlich, dass Jelzin ein Alkoholiker sei. Er wollte ihn offenkundig diskreditieren. Aber sie zeigte mir auch, dass Jelzin sich innerlich schon früh von der Partei gelöst hatte.
So wurde aus dem einstigen Verbündeten ein äußerst schwieriger Gegner für Gorbatschow. Vor dem Zentralkomitee, dessen Mehrheit Gorbatschow gerade auf seine Seite zu ziehen versuchte, ging Jelzin im Herbst 1987 die Konservativen direkt an: Hohe Parteifunktionäre seien keine Wundertäter, mit der Perestroika werde es nicht vorangehen, solange die Armee von Schreiberseelen und Bürokraten in der Partei nicht zerschlagen sei. Mit den Futterkrippen der Funktionäre müsse Schluss gemacht werden, solange sich die Versorgung der Bevölkerung nicht verbessert habe. Dann dehnte er seine Generalabrechnung auch auf Gorbatschows Frau Raissa aus: Sie mische sich mit Telefonanrufen und Belehrungen in seine Arbeit ein und verlange Unterstützung für ihre Kulturprojekte. Solche Eingriffe verbitte er sich. Die Zuhörer im Saal verfolgten fasziniert, wie sich der Konflikt zuspitzte. Michail Gorbatschows ungewöhnlich enges Verhältnis zu seiner Frau war bekannt – mit einer scharfen Reaktion musste man daher rechnen. Nun traten vierundzwanzig ZK-Mitglieder, darunter neun aus dem Politbüro, dem höchsten Führungsgremium des Landes, als Kritiker gegen Jelzin an. Gorbatschow selbst hielt sich zuerst zurück, warf dann aber seinem Gegner vor, er stelle seinen Ehrgeiz über das Interesse der Partei. Das Politbüro schloss Jelzin einstimmig aus, und der ging demonstrativ erhobenen Hauptes und mit großen Schritten durch den Mittelgang aus dem Saal. Gorbatschow, so erzählten Teilnehmer später, habe ihm nachgerufen: »Dich lasse ich in die Partei nie wieder rein!«
Gorbatschow war Sieger geblieben. Für Jelzin blieb zunächst einmal nur das Amt eines stellvertretenden Leiters der Baubehörde. Ein russischer Kollege gab mir einen Rat: Mit Politikern müsse man ein Interview suchen, wenn sie einen Job verloren und noch keinen neuen gefunden hätten. Solange er ZK-Sekretär gewesen war, hatte Jelzin Ausländern keine Interviews gegeben. Nun rief ihn mein Kollege an und beschaffte mir ein privates Gespräch in dem tristen Betonbau, in dem Jelzin mit seiner Familie wohnte. Er kam eine halbe Stunde zu spät, setzte sich zu mir an den Küchentisch, wischte mit dem Ärmel die Wachstuchdecke ab und redete sich seinen Ärger vom Leib. Er schimpfte über das Versagen der Partei, über die Selbstsucht, Faulheit und Bestechlichkeit der Funktionäre. Naina Jelzina, seine Frau, korrigierte einige seiner Bemerkungen, doch er ging darüber hinweg. »Du weißt nicht, wie die Funktionäre sind«, sagte er. Aber das nahm seine Frau nicht hin. »Ich weiß, wie sie sind. Ich war ja selbst mit einem Bonzen verheiratet.« Von da an wusste ich, dass ich mich auf ihren gesunden Menschenverstand verlassen konnte, wenn sie gelegentlich im ARD-Studio vorbeikam und Spenden für eine Kinderhilfsorganisation sammelte.
Gorbatschow wurde im März 1990 von den Volksdeputierten zum Präsidenten der Sowjetunion gewählt. Aber das war mehr ein Titel als eine Machtposition. Jelzin dagegen baute seine Macht kontinuierlich aus und formulierte seinen Führungsanspruch immer nachdrücklicher. Im März 1990 war er mit 72 Prozent der Stimmen als Abgeordneter für Swerdlowsk in den russischen Kongress der Volksdeputierten eingezogen, im Mai 1990 wurde er zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Russischen Föderationsrepublik gewählt. Ein Jahr später, im Juni 1991, gewann er die Wahl zum Präsidenten der Republik Russland. Er regierte damit den weitaus größten Teilstaat der Union, dessen Souveränität er mittlerweile anstrebte. Alles schien auf einen großen Konflikt zwischen Michail Gorbatschow und Boris Jelzin hinzuführen. Doch die wirkliche Gefahr kam am Ende aus einer Richtung, mit der Gorbatschow nicht gerechnet hatte.
Am 19. August 1991 wurde im Fernsehen um sechs Uhr morgens Moskauer Zeit eine wichtige Nachricht durchgegeben: »Im Zusammenhang mit der krankheitsbedingten Amtsunfähigkeit von Michail Sergejewitsch Gorbatschow gehen gemäß Artikel 127(7) der Verfassung der UdSSR die Vollmachten des Präsidenten auf den Vizepräsidenten der UdSSR, Gennadi Iwanowitsch Janajew, über. Unterzeichnet: G. Janajew, W. Pawlow, O. Baklanow.« Ich war spät in der Nacht von einem kurzen Urlaub aus dem Kaukasus nach Moskau zurückgekommen und schlief noch, als im Fernsehen diese Meldung kam. Eine Kollegin aus dem ARD-Büro rief mich um halb sieben an und machte mich auf die seltsame, ihr unverständliche Durchsage aufmerksam.
Es war klar, dass sich hier etwas Wichtiges ereignete, und ich machte mich sofort ins Studio auf. Im Zentrum der Stadt hatten die meisten Menschen die Meldung noch nicht gehört oder wussten nicht, was sie bedeuten sollte. Sie hatten auch die langen Kolonnen von Panzern und Mannschaftstransportern noch nicht gesehen, die von Westen und Südwesten auf die Stadt zurollten. Noch floss der Berufsverkehr, und die Militärfahrzeuge mussten sich durch ihn hindurchquälen. Auf dem Kutusowski Prospekt, direkt unter den Fenstern unseres Studios, fuhren die Panzer der Gardedivision Tamanskaja auf die Moskwa-Brücke zu, überquerten sie und bogen zum Weißen Haus ab, dem Sitz des russischen Präsidenten und des Parlaments. Sie stellten sich an den Zufahrten zum Gebäude auf, und ein Panzer postierte sich unmittelbar vor dem breiten Treppenaufgang. Mittlerweile waren die ersten Moskauer gekommen. Junge Männer, die in der Armee gedient hatten, kletterten auf den Panzer und zogen einen jungen Soldaten aus der Luke. Dann ließen sie ihn laufen und in der Menge verschwinden.
Die meisten Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit gegenüber vom Weißen Haus stehenblieben, konnten sich nicht erklären, was da gerade geschah. Meinen Fragen wichen sie aus. Eine Frau sagte, es sei schlecht, dass Gorbatschow nicht mehr Präsident sei. Der Mann neben ihr staunte: »Was, Gorbatschow soll nicht mehr Präsident sein? Janajew ist doch nur Vizepräsident.« Die Entscheidung müsse vom Obersten Sowjet kommen, wenn es überhaupt einen Rücktritt Gorbatschows geben solle. Neben einem Lastwagen, dessen Motor streikte, standen Soldaten und winkten den Zuschauern zu. Ich fragte den Major neben der Kolonne, ob er wisse, dass Gorbatschow nicht mehr Präsident sei. »Wieso?«, fragte er zurück, »Gorbatschow ist auf Urlaub.« Und wer regiert? »Gorbatschow. Der ist und bleibt Präsident und kommt bald aus dem Urlaub zurück.« Ich wusste nicht, ob der Major wirklich nicht verstanden hatte, dass ein Notstandskomitee Gorbatschow abgesetzt hatte, oder ob er mich, einen Ausländer, täuschen wollte. Kinder auf dem Weg zur Schule fragten, was los sei, und hörten von mir, dass Gorbatschow gestürzt sei. »Gut, dass er weg ist«, sagte ein Junge. »Er hat die Perestroika angefangen, und jetzt ist alles durcheinander.« Eine Frau, die danebenstand, meinte: »Ich bin sehr froh. So, wie er unser Land geführt hat, gab es nichts mehr zu kaufen. Das hat bloß Aufstände und Unruhe gebracht.«
Um zehn Uhr fädelte sich eine Autokolonne durch den Stau aus Militärfahrzeugen, Omnibussen und Pkws. Boris Jelzin fuhr am Weißen Haus vor, im großen Regierungswagen, ganz offiziell mit Wimpel in den neuen weißblauroten russischen Farben. »Sollen sie doch versuchen, auf den rechtmäßig gewählten Präsidenten zu schießen«, sagte er zu seinen Begleitern, als ihn die Eskorte bis zu seinem Regierungssitz brachte. Und damit kletterte er auf einen der Panzer, ohne dass ihn die Soldaten zu stoppen versuchten. Sie hatten Befehl, das Weiße Haus zu umstellen, und konnten sich sicher nicht vorstellen, dass sie den Präsidenten Russlands vom Deck eines ihrer Panzer schießen sollten. Noch ehe sich die Führer des Putsches in Rundfunk oder Fernsehen zu Wort gemeldet hatten, rief Jelzin die Leute vor dem Weißen Haus zum Widerstand auf. Er verlangte, Gorbatschow, der von den Putschisten in seinem Urlaubsort auf der Krim festgehalten werde, unverzüglich nach Moskau zu bringen und vor dem Volk sprechen zu lassen. »Trotz aller Schwierigkeiten und der schweren Heimsuchungen, die das Volk erlebt, nimmt der demokratische Prozess im Lande weiter seinen Aufschwung und gewinnt unumkehrbaren Charakter. Die Völker Russlands werden die Herren ihres eigenen Schicksals«, rief er.
Während die staatlichen Rundfunk- und Fernsehsender immer noch die Erklärung des Putschkomitees übertrugen, wurden gleichzeitig viele Abertausende von illegalen Rundfunksendern informiert, und einige Zeitungen ließen Aufrufe zum Widerstand drucken, ehe die Soldaten ihre Gebäude umstellen konnten. Zwar hatten manche Redaktionen in den Monaten zuvor Gorbatschow vorgeworfen, er wolle die Pressefreiheit einschränken und das Tempo der Reformen drosseln, aber dass die konservativen Funktionäre aus dem alten Apparat ihn absetzten, wollten sie erst recht nicht hinnehmen. In einer Seitenstraße hinter dem Moskauer Rathaus traf ich einen Freund: Anatoli Pankow, mit dem ich auf Sibiriens Flüssen im Kanu unterwegs gewesen war. Nun war er Chefredakteur der Moskauer Stadtzeitung Kuranty geworden. Er zeigte mir in seinem Büro die Notstands-Sonderausgabe Nummer 1. »Der Faschismus kommt nicht durch«, lautete die Bildunterschrift unter einem Foto, auf dem Moskauer Bürger vor Soldaten und Panzern zu sehen waren. Ganz oben auf der Seite stand ein kurzer, schnell hingeworfener Text: »Trotz unseres kritischen Verhältnisses zu Michail Gorbatschow, zu einigen seiner Handlungen und zur Form seiner Wahl – nicht durch das Volk, sondern durch die alten Volksdeputierten – haben wir ihn doch als Präsidenten der UDSSR akzeptiert. Was heißt nun, seine Vollmachten gehen an den Vizepräsidenten über, im Zusammenhang mit einer krankheitsbedingten Amtsunfähigkeit? Ist er erkältet? Nicht bei Sinnen? Warum gibt es keine offizielle Erklärung von ihm? Es ist klar, dass diese Bolschewiki alles auf eine Karte gesetzt und im Lande einen Staatsstreich unternommen haben. Aber man kann das Volk nicht in die Knie zwingen. Dies ist eine Verschwörung von Menschen, die schon verurteilt sind.«
Ein paar Stunden später waren zwischen Rotem Platz und Weißem Haus lange Panzerkolonnen stationiert. Die Soldaten saßen auf ihren Fahrzeugen und warteten auf Befehle. Immer mehr Zivilisten standen um sie herum, Abgeordnete des russischen Parlaments kamen heran und begannen mit ihnen zu sprechen. Die Offiziere blieben abweisend, die jungen Soldaten dagegen zeigten sich offener. Sie wussten nicht genau, wie sie sich verhalten sollten, wenn Gruppen von Frauen ihnen etwas zu essen und zu trinken brachten und manchmal fürsorglich, manchmal streng auf sie einredeten. »Weiß deine Mutter eigentlich, was du hier machst?«, fragte eine ältere Frau, die neben mir vor der Panzerkolonne mit ihrem Regenschirm herumfuchtelte. »Weiß deine Mutter, dass du auf deine eigenen Leute schießen sollst?« Und eine andere tadelte den Panzerkommandanten: »Schämen Sie sich, Genosse Oberleutnant. Warum sind Sie hier? Warum schützen Sie die Privilegien der Bonzen?« Er halte sich an seinen Soldateneid und führe nur Befehle aus, antwortete der Offizier. Da fielen die Frauen erst recht über ihn her. Was das für ein Eid sei, der Soldaten verpflichte, das eigene Volk zu bekämpfen und den Präsidenten zu verhaften. Der Offizier drehte sich um und ging. Einer der jungen Soldaten stand nun auf seinem Panzer. »Ich werde nicht« – er brach ab, schaute sich zu den Offizieren um und sagte dann: »Ich werde nicht … Ich werde nicht auf das Volk schießen.« – »Bravo!«, riefen die Frauen. »Ihr seid prima Kerle.« Die Offiziere taten, als hörten sie nichts.
Keiner wusste, wie es weitergehen würde. Verlässliche Informationen gab es nicht. Das zentrale Fernsehen sendete abwechselnd die Verkündigung des Putschkomitees und neutrale klassische Opernaufführungen. (Er habe Schwanensee übertragen lassen, sagte der stellvertretende Fernsehdirektor später zu mir, keine Märsche und Militärmusik, um zu zeigen, dass das Fernsehen keinen Putsch unterstütze.) Am späten Nachmittag schmuggelte ein Reporter einen aktuellen Bericht über die Menschen vor dem Weißen Haus ins Programm: Man sah die vielen Zivilisten, die dem Militär gegenüberstanden, und dann Boris Jelzin, wie er auf den Panzer stieg. Der Ton seiner Ansprache fehlte. Der kurze Filmbericht war schon über den Sender gegangen, ehe die Kontrolloffiziere vom KGB eingreifen konnten.
Nachmittags um fünf lud das Notstandskomitee, das in der Abgeschlossenheit des Kreml tagte, zu seiner ersten Pressekonferenz ein. Da saßen nun sechs der Männer, die den Präsidenten Gorbatschow für abgesetzt erklärt hatten. Als Erster sprach Gennadi Janajew, den Gorbatschow gegen großen Widerstand im Parlament als seinen Vizepräsidenten durchgesetzt hatte. Er verlas noch einmal den Aufruf des Komitees an das sowjetische Volk. Doch er trug den Text mit unsicherer Stimme vor, und seine Hände zitterten wie bei einem schweren Kater. Der Fernsehredakteur brachte diese zitternden Hände in Großaufnahme auf die Bildschirme des ganzen Landes. Dann wiederholte Janajew Vorwürfe, die unzufriedene Bürger schon lange gegen Gorbatschows Politik hervorgebracht hatten: Die Ordnung im Staat breche zusammen, der chaotische Übergang zur Marktwirtschaft habe den Lebensstandard gedrückt, die Zahl der Verbrechen nehme rapide zu, die Versorgungs- und Wohnungsprobleme müssten gelöst werden, und die Industrieproduktion müsse steigen. Doch die meisten Menschen, die über Gorbatschow geklagt hatten, wollten keineswegs zu solchen Vertretern des alten bürokratischen Systems zurück, zu Männern ohne Ausstrahlung und Autorität. Die Journalisten im Saal der Pressekonferenz wagten etwas, das es in Moskau so noch nicht gegeben hatte: Der berühmte Alexander Bovin stellte ironische Fragen, und seine Kollegen lachten zustimmend. Immerhin saßen ihnen der Vorsitzende des Verteidigungsrats der Sowjetunion, der Chef des KGB und der Innenminister gegenüber. Zwei andere wichtige Männer, der Ministerpräsident und der Verteidigungsminister, waren zu der Pressekonferenz gar nicht erst erschienen.
Das Notstandskomitee hatte geglaubt, Gorbatschow kontrollieren und dirigieren zu können, weil es sich auf alle Machtinstrumente des Landes stützen konnte. Die Führung der Armee, der Einsatztruppen des Innenministeriums und der Polizei, der Antiterrorgruppen und des Geheimdienstes der Armee – sie alle hatten den Putschisten ihre Unterstützung zugesagt. Dass Boris Jelzin als Präsident Russlands ihren Plänen gefährlich werden könnte, lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Wenn sich der Präsident der Sowjetunion so leicht entmachten ließ, würde man mit dem Präsidenten Russlands, dem keine Soldaten unterstanden, erst recht leichtes Spiel haben, dachten sie.
Bezeichnenderweise fehlte in all ihren Erklärungen jeder Hinweis auf die kommunistische Partei. Die Führer des Staatsstreichs kamen aus Spitzenpositionen der KPDSU, aber sie wagten nicht, sich zu ihr zu bekennen. Die Partei war inzwischen so weit diskreditiert, dass jeder Bezug auf sie als Belastung empfunden wurde. Die Parteisekretäre waren am Vormittag zusammengekommen. Einige von ihnen hatten das Notstandskomitee unterstützt, andere hatten geschwiegen, die übrigen schoben Krankheiten vor und verschwanden, ohne zu Gorbatschows Schicksal Stellung zu nehmen. Auch die Regierung hatte in ihrer Kabinettssitzung nur einen kleinlichen Kompetenzstreit zwischen Ministern ausgetragen, ehe sich der Ministerpräsident schwer verkatert auf seine Datscha zurückzog. Als wir Journalisten nach der Pressekonferenz zusammenstanden und über die nächste Entwicklung rätselten, fasste Alexander Bovin die Lage zusammen: »Heute hat sich die kommunistische Partei der Sowjetunion von der Macht abgemeldet, ohne es zu bemerken.«
Aus Deutschland kamen die Anfragen an uns: Wird die neue Regierung den Kurs ihrer Deutschlandpolitik ändern? Ist die Sowjetarmee wirklich in Leningrad einmarschiert? Der Putsch schien erfolgreich verlaufen, wenn man die aufregenden Bilder von Panzerkolonnen im Fernsehen sah, und die Kollegen zu Hause waren nie ganz zufrieden, wenn ich antwortete, dass es noch gar keine neue Regierung gebe, dass das sogenannte Notstandskomitee hauptsächlich Schwächen zeige und die neue Machtverteilung noch ganz undurchsichtig sei. (Einige Wochen später kam der Chef einer großen russischen Außenhandelsgesellschaft, der zur Zeit des Putsches in Berlin war, auf dem Flughafen auf mich zu und bedankte sich: Ich hätte ihm seinen Job gerettet. Er hatte aufgrund vieler Fernseh- und Zeitungsberichte am zweiten Tag des Putsches schon ein Schreiben an das Notstandskomitee aufgesetzt, das er nun ironisch seine »Ergebenheitsadresse« nannte. Als er dann aber meine Berichte sah, habe er den Brief erst beiseitegelegt und später weggeworfen.)
Es war für uns natürlich schwer, hinter dem scheinbar machtvollen Aufmarsch der Truppen in Moskau die Schwächen der Putschisten aufzuzeigen, und es gehörte allerlei Erfahrung und Dickköpfigkeit dazu.
Die Panzer hatten mittlerweile von allen Seiten ihre Kanonen auf das Weiße Haus gerichtet. Soldaten und Offiziere beobachteten, wie um sie herum Barrikaden aufgebaut wurden, wie Studenten Balken und Eisenträger heranschleppten und Gruppen von Bauarbeitern mit Lastwagen und einigen Kränen schwere Betonteile auf die Straßenkreuzungen legten. Immer mehr Menschen bildeten einen lebenden Schutzwall um den Sitz des Präsidenten und des Parlaments. Den meisten war klar, dass die Armee das Weiße Haus dennoch stürmen konnte, wenn sie wollte. Da tauchte plötzlich auf einem Panzer die weißblaurote Fahne des neuen Russland auf. Zwei junge Männer in Zivil hielten sie hoch, und der Panzerkommandant hinderte sie nicht daran. Ganz langsam schob sich das Fahrzeug auf die Menschenmauer zu. Die Leute wichen zurück und bildeten eine Gasse, durch die der Panzer ans Weiße Haus heranfuhr, um dort zu wenden. Nun zeigte seine Kanone nicht mehr auf Jelzins Amtssitz. Vier andere Panzer mit weißblauroten Fahnen wechselten ebenfalls ihre Position und folgten ihm. Die Menschenmenge begleitete sie mit dem Ruf »Russland, Russland, Russland!«. Der Stellungswechsel war das erste Zeichen dafür, dass die Armee nicht geschlossen hinter dem Notstandskomitee stand.
Als gegen Mitternacht ein Hauptmann der Luftlandetruppen mit einer Gruppe Soldaten durch die Menge kam, wurden die Zivilisten unruhig. Sie umdrängten ihn und fragten, was denn Auftrag und Aufgabe der Soldaten sei. »Ich stehe auf keiner Seite«, antwortete er schließlich. »Das Volk soll mit politischen Mitteln entscheiden. Unsere Aufgabe ist es, Blutvergießen zu verhindern und das Gebäude des Obersten Sowjet der Russischen Republik zu schützen.« Die jungen Männer, die um die Panzer standen, wollten wissen, wer ihm diesen Befehl gegeben habe. »Jelzin persönlich«, sagte der Hauptmann, und diese Nachricht riefen die Menschen einander zu, bis hin in die letzten Reihen, wo sich Frauen an einem Feuerchen wärmten. Es gab also Fallschirmjäger, die Jelzin gehorchten.
Aber es waren weder die Militärs noch die Politiker, die über den Ausgang der Kraftprobe entschieden. Es waren die zehntausend Menschen, die die Nacht vor dem Weißen Haus an kleinen Holzfeuern, auf Mänteln und Decken verbrachten. Manche lagen auf der Straße, um noch im Schlaf die Panzer aufhalten zu können. Auf der Kutusow-Brücke hatten einige Fahrer der städtischen Verkehrsbetriebe ihre Busse quer gestellt und die Luft aus den Reifen gelassen. Andere Busfahrer schlossen sich ihnen an, und die Passagiere, die auf dem Weg nach Hause waren, stiegen ohne Murren aus und gingen zu Fuß weiter. Manche kamen mit etwas zu essen zurück, entschlossen, die Nacht in den Bussen zu verbringen. Aber der Angriff, den sie erwartet hatten, blieb aus. Stattdessen kamen Moskauerinnen mit Thermoskannen, Brot und Konserven, um die Verteidiger des Weißen Hauses zu verpflegen, und nicht nur sie: Die armen Jungen in den Panzern wurden von den Frauen natürlich auch versorgt.
Am nächsten Morgen rollten die russischen Kameraleute und Tonassistenten bei uns im ARD-Studio ihre Schlafsäcke zusammen. Sie hatten auf dem Boden und unter den Schreibtischen geschlafen, nachdem sie fast vierundzwanzig Stunden lang ununterbrochen mit uns drei deutschen Korrespondenten, Thomas Roth, Hans-Josef Dreckmann und mir, unterwegs gewesen waren. Im Studio waren alle Mitarbeiter, vom Researcher bis zur Putzfrau, zu unbegrenzten Überstunden bereit. Ein deutscher Student brachte uns selbstgedrehtes Filmmaterial. Eine Studentin aus Deutschland, die heutige Moskau-Korrespondentin der ARD, Ina Ruck, klingelte an der Studiotür und bot an, zu helfen, wo sie konnte. Das sowjetische Fernsehen hatte seinen normalen Sendebetrieb eingestellt, worauf russische Kollegen uns fragten, ob sie uns helfen könnten. Auch Abgeordnete, die sonst kaum mit uns Kontakt hatten, waren bereit, sich mit Lagebeurteilungen und Stellungnahmen filmen zu lassen. Tatjana Mitkowa, die einige Wochen zuvor ihren Job als Moderatorin des täglichen Nachrichtenmagazins wegen allzu unabhängiger Kommentare verloren hatte, kam in unser Studio, um uns bei der Berichterstattung zu unterstützen. So gelangte die ARD auch an das einzige Interview, das Boris Jelzin in diesen Tagen gab. Tatjana Mitkowa hatte mich ins Weiße Haus mitgenommen, und die Wachposten hatten für sie hochachtungsvoll den Weg zum Präsidenten freigemacht.
Unter dem Fenster unseres Studios strömten immer mehr Menschen vorbei in Richtung Weißes Haus. Es kamen Väter mit Kindern auf den Schultern, alte Ehepaare, Schüler und Schülerinnen, die ihre Gitarren mitgebracht hatten. Russische Journalisten hatten in Untergrundsendern zur Demonstration aufgerufen, und so waren es gegen Mittag an die zweihunderttausend Menschen, die sich um das Weiße Haus versammelten. Sie riefen nach Boris Jelzin und schwenkten selbstgenähte russische Fahnen. An verschiedenen Punkten der Stadt standen nach wie vor Militärkolonnen, aber das Notstandskomitee hatte nicht die kleinste Demonstration zu seiner Unterstützung auf die Straße gebracht.
Mit Einbruch der Dunkelheit kehrte die Angst in die Stadt zurück. Noch immer standen die Panzer und Soldaten in Bereitschaft, nur wenige aus dem Militär hatten sich ausdrücklich zu Jelzin und gegen die Putschisten bekannt. Noch hatten die Führer des Staatsstreichs ihre Chance nicht völlig verspielt, noch war die Gefahr eines Bürgerkriegs nicht gebannt. Um Jelzins Weißes Haus standen die Menschen in disziplinierten, aber unbewaffneten Formationen unter der Anleitung ehemaliger Soldaten und Offiziere. In den Korridoren und Büros des Weißen Hauses gab es Abgeordnete, die Gasmasken und Maschinenpistolen austeilten, aber da waren auch viele Schriftsteller und Musiker, die mit ihrem Namen für die Demokratie eintreten wollten. Mstislaw Rostropowitsch, der weltberühmte Cellist, war nach den ersten Nachrichten vom Putsch aus Paris nach Moskau geflogen. Nun saß er im Vorzimmer des Präsidenten mit einer Kalaschnikow im Arm, neben ihm schlief ein Leibwächter aus Jelzins Bereitschaftspolizei.
Gegen Mitternacht schreckten uns Schüsse auf. Zum ersten Mal seit dem Beginn des Putschversuchs wurde geschossen. Aus dem Fenster unseres Büros konnten wir die Menge sehen, die sich zur Verteidigung des Weißen Hauses versammelt hatte. Dort wartete auch mein Kollege Thomas Roth mit unserem Kamerateam. Die Menschen auf dem Platz schienen die Schießerei nicht wahrzunehmen, also mussten wir den Ort des Zusammenstoßes in der nächtlichen Stadt suchen. Slawa Makarow, ein russischer Tontechniker aus Leningrad, hatte gebeten, bei uns übernachten zu dürfen, und schlief auf dem Boden des Studios. Als er hörte, dass irgendwo geschossen wurde, war er sofort bereit, eine unserer Reservekameras zu nehmen und mit uns zu dem Ort der Schießerei zu fahren. Ich nahm dafür sein Tonaufnahmegerät. Meine Frau Irma trug Akkus und Kassetten. Slawa setzte sich ans Steuer unseres Dienstwagens, eines kleinen Ladas, in der Hoffnung, dass er damit nicht besonders auffallen würde. Wir fuhren durch die Nebenstraßen in Richtung Stadtzentrum, stritten uns mit den Polizisten, die uns nicht durchfahren lassen wollten, und suchten nach Straßen, die noch nicht gesperrt waren. Und plötzlich hatten wir viele Helfer: Taxifahrer leiteten uns bis auf hundert Meter an die Stelle, an der nach ihrer Kenntnis geschossen wurde. Als uns wieder ein Polizeikordon aufhalten wollte, bildeten zwanzig oder dreißig junge Männer, die unsere Kamera gesehen hatten, einen dichten Ring um uns. Wir liefen mit ihnen, so schnell wir konnten, an den Polizisten vorbei, die keine Kraftprobe mit unseren Beschützern riskieren wollten.
Schließlich standen wir auf dem Gartenring am Fuß einer Brücke, mehrere Hundert Meter vom Weißen Haus entfernt. Vor uns junge Männer, viele von ihnen mit selbstgemachten Molotow-Cocktails in der Hand. Sie waren aufgeregt und wütend und umstanden ein Auto, in dem der erste Tote dieser Putschtage lag. Slawa Makarow drängte sich durch die Menge unmittelbar an den Wagen heran, um Großaufnahmen von dem Toten zu machen. (Später haben wir die Aufnahmen des entstellten, blutigen Gesichts nicht gezeigt.) Das Opfer und zwei andere Männer waren ums Leben gekommen, als sie die Panzerkolonne stoppten, die nun immer noch unter der Brücke stand. Sobald einer der Panzer herausfahren wollte, sprangen weitere junge Leute auf und warfen Wolldecken über die Sehschlitze, um den Fahrern die Sicht zu versperren. Molotow-Cocktails flogen durch die Luft. Ein junger Soldat kletterte aus seinem brennenden Panzer und schoss mit der Kalaschnikow wild in die Gegend. »Mörder, Mörder!«, riefen die Menschen auf der Straße nun den Panzerfahrern zu, die stundenlang unter der Brücke eingeschlossen waren. Schließlich kam ein russischer Geistlicher mit einer Handvoll Studenten. Sie riskierten es, auf einen der Panzer zu steigen, um von dort zwischen den Soldaten und ihren jungen Gegnern zu vermitteln. Kurz darauf schaffte es ein einziger Panzer, die Sperre aus Autobussen zu durchbrechen, aber er versuchte nicht mehr, zum Weißen Haus vorzudringen. Man sah ihn nur auf der Ringstraße in Richtung Stadtrand verschwinden. Die Zehntausende, die sich als lebender Schutzwall um Jelzin und das Weiße Haus versammelt hatten, gerieten nie ins Schussfeld der Kanonen.
Am dritten Tag, dem 21. August, feierte Moskau Boris Jelzin und sich selbst in Massenversammlungen. Auf dem Platz vor der Zentrale des KGB, des allmächtigen Geheimdiensts, sammelten sich am Morgen viele Hundert Menschen. Diesmal waren es die Leute von der Geheimpolizei, die Angst hatten und hinter verschlossenen Türen auf einen Angriff warteten. Aber der kam nicht. Jelzins Mitarbeiter hatten erfahrene Soldaten zu dem Gebäude geschickt, um die Demonstranten von unberechenbaren Schritten zurückzuhalten. Stattdessen tanzte die Menschenmenge auf dem Platz vor der Geheimdienstzentrale und ihren Gefängnissen zur Ziehharmonika. Junge Arbeiter erkletterten das Denkmal von Felix Dserschinski, dem Gründer der berüchtigten Tscheka, der Geheimpolizei aus den Anfangsjahren der Sowjetunion. Sie legten der Statue eine Stahltrosse um den Hals, warteten, bis eine Fernsehkamera aufgestellt war, und rissen das riesige Denkmal von seinem Sockel herunter.
Fünfhundert Meter von der Geheimdienstzentrale entfernt lag der Gebäudekomplex des Zentralkomitees der Partei. Dort war es bisher ruhig geblieben. Nun aber, nachdem selbst der KGB seinen Schrecken verloren hatte, war auch das ZK nicht mehr sicher vor der protestierenden Menge. Ein Funktionär, mit dem ich häufig Informationen über die deutsch-sowjetische Politik ausgetauscht hatte, rief mich in meinem Büro an. Jelzins Leute hätten das ZK umstellt, wollten ihn gefangen nehmen und verlangten die Herausgabe seiner ganzen Akten und Aufzeichnungen. »Kannst du schnell herkommen und mich abholen?«, fragte er. Ich war in all den Jahren nie in den ZK-Komplex eingelassen worden, aber nun fuhr ich sofort los, gespannt auf das, was sich dort Ungewöhnliches tat. Der Haupteingang war mit einem weißen Plakat verschlossen, auf dem »Versiegelt« stand. Daneben klebte ein kleineres Blatt mit der Aufschrift »KP nach Nürnberg«. Einige Hundert Leute standen vor dem Gebäude und riefen begeistert »Russland, Russland!«, als die riesige rote Fahne auf dem Dach des ZK eingeholt und die neue, weißblaurote Fahne Russlands am Mast aufgezogen wurde. Die Mitglieder und Mitarbeiter des Zentralkomitees mussten sich in einer Art Spießrutenlauf in Sicherheit bringen: durch die Gittertüren des Hinterausgangs hindurch, vorbei an höchstens einhundert oder zweihundert Menschen, die das Gebäude besetzen wollten und die Funktionäre verhöhnten, ohne gewalttätig zu werden. Auch mein Bekannter war auf diesem Weg bereits aus dem ZK herausgekommen, vermutlich ohne seine Akten. Als ich dort ankam, standen am Hinterausgang schon Vertreter des russischen Präsidenten, die die ZK-Mitarbeiter schützten und zugleich dafür sorgten, dass sie weder Papiere noch Wertgegenstände mitnahmen.
Es war das Ende der kommunistischen Partei. Aber Gorbatschow, ihr Generalsekretär, konnte das nicht wissen. Er hatte die letzten Tage, von aller Welt abgeriegelt, mit seiner Frau und seiner Enkelin in der großen Datscha am Schwarzen Meer verbracht. Die Putschisten hielten ihn dort fest. Nicht einmal eine Telefonverbindung in die Hauptstadt war ihm geblieben, ehe ihn eine Maschine aus Moskau auf Jelzins Anweisung abholte. Am 22. August um ein Uhr nachts stiegen die Gorbatschows auf dem Flughafen Wnukowo bei Moskau aus dem Flugzeug. Sie wirkten wie unter Schock, und Gorbatschows erste Worte, die er noch auf der Flugzeugtreppe sagte, ließen erkennen, dass er nicht begriffen hatte, was geschehen war. Er habe die Lage unter Kontrolle, ließ er – müde, aber doch ganz Präsident – die Wartenden wissen. Am nächsten Tag werde er seine Amtsgeschäfte in vollem Umfang wieder aufnehmen. Es klang so, als käme er von einigen Urlaubstagen auf der Krim zurück. Gorbatschow wollte oder konnte nicht verstehen, dass ihn die Männer, denen er in Partei, Parlament und Regierung vertraut hatte, verraten und entmachtet hatten. Immer noch verstand er sich als Generalsekretär der kommunistischen Partei und als Präsident der Sowjetunion.
Am vierten Tag nach dem Putsch fuhr Gorbatschow zum russischen Parlament. Er kam, um Jelzin für seine Unterstützung zu danken, aber auch, um als heimgekehrter Präsident der Sowjetunion seine Pläne für eine Erneuerung des Landes durch eine geläuterte Partei unter seiner Führung zu entwickeln. Für die Leute, die den Staatsstreich organisiert und unterstützt hatten, fand er allerdings keine harten Worte. Da legte Jelzin das Protokoll der Kabinettssitzung vom ersten Tag des Putsches auf den Tisch. »Sie lesen das jetzt!«, sagte er, und ein verwirrter Gorbatschow musste dem Parlament vorlesen, was er bis zu dieser Stunde nicht hatte glauben wollen: dass die meisten Kabinettsmitglieder und ZK-Sekretäre sich für seine Absetzung ausgesprochen hatten. Die Abgeordneten klatschten Beifall, aber sie klatschten nur für Jelzin. Bevor er den nächsten Redner aufrief, sagte Jelzin: »Genossen, gestatten Sie mir, dass ich zur allgemeinen Entspannung einen Erlass über die Einstellung aller Aktivitäten der Russischen Kommunistischen Partei unterschreibe.« In dem stürmischen Beifall versuchte Gorbatschow noch einmal vergeblich zu Wort zu kommen. Dann setzte er sich auf den Stuhl neben Jelzin. Abends im Fernsehen sah das ganze Land, wer der erste Mann im neuen Russland war.
Vier Monate noch blieb Gorbatschow als Präsident ohne Macht im Kreml. In den Jahrzehnten zuvor hatten ausländische Korrespondenten keinen Zutritt zu den Arbeitsräumen der sowjetischen Staatschefs gehabt. Nun konnte ich mit meinem Kamerateam den Schlussakt der Geschichte der Sowjetunion filmen: Gorbatschow kam ganz allein die breite, dunkle Treppe im Kreml herauf, auf der ihm einige Minuten später Boris Jelzin und Leonid Krawtschuk, der Präsident der Ukraine, folgten. Sie waren gekommen, um ihm mitzuteilen, dass das Amt des Präsidenten der UdSSR am Ende des Jahres erlöschen werde. Zum 31. Dezember werde die Sowjetunion aufgelöst, verkündeten die beiden als Vertreter der fünfzehn Einzelrepubliken.
Für die letzten Tage des Jahres blieben noch einige zeremonielle Termine, zu denen der sowjetische Präsident in sein altes Arbeitszimmer im Kreml kam. Kurz vor Weihnachten empfing er eine größere deutsche Delegation von Wirtschaftsführern, Politikern und Journalisten, die dem notleidenden Land mit großzügigen Spenden weiterhelfen wollte. Er dankte ihnen. Die deutschen Besucher wussten natürlich, dass es mit Gorbatschows Macht zu Ende war, aber sie schienen es doch nicht recht glauben zu wollen. Die Begegnung mit dem von ihnen bewunderten sowjetischen Staatschef wuchs sich zu einem Gespräch über die wirtschaftliche und politische Entwicklung Russlands aus. Er antwortete höflich, wenn auch mit müder Stimme. Dann kam eine ganz lange Frage zu Details der wirtschaftlichen Entwicklungsplanung. Gorbatschow zögerte lange, dann guckte er mich an: »Gerd, kannst du das den Gästen erklären?« Ich war ihm zwar einige Male begegnet, aber geduzt hatte er mich nie. Er muss sich an diesem Nachmittag sehr verlassen gefühlt haben.