Freiheit, und was dann?
Menschenrechte und
Pressefreiheit
1959–1962
1959–1962
Das Fernsehen, das in der ersten Hälfte der
fünfziger Jahre mit Versuchssendungen begann, hatte sich während
meiner Zeit in der Sowjetunion in einer Weise verändert, wie ich es
mir nicht hatte vorstellen können. Es begann zum Massenmedium zu
werden. Ich kam zurück in eine Welt, in der ständig Experimente mit
den verschiedensten Sendeformen im In- und Ausland möglich und
sogar nötig waren. Das hieß für mich Redaktionsarbeit in aktuellen
und regionalen Sendungen, Sonderberichterstattung von den großen
internationalen Konferenzen, die Gründung und Entwicklung der heute
noch lebendigen Sendung Weltspiegel und die
Auslandsberichterstattung in größeren, kritischen Dokumentarfilmen.
In diesen Jahren sammelte ich Erfahrungen der verschiedensten Art,
nicht nur mit dem Medium selbst, sondern auch mit den Hindernissen,
auf die eine unvoreingenommene, kritische Berichterstattung
regelmäßig stieß.
In der Sowjetunion hatte ich kennengelernt, was
klassische, altmodische Zensur bedeutete. Ich wusste, dass mein
Buch über Boris Pasternak, das ich noch in Moskau begonnen hatte,
nie die Zensurabteilung im zentralen Telegrafenamt hätte passieren
können. Daher hatte ich das Manuskript einem deutschen
Geschäftsmann mitgegeben, der es in Deutschland beim Verlag
ablieferte. Nun war ich zurück in der Bundesrepublik, wo es keine
amtliche Zensur gab. Dennoch ging es auch hier nicht immer ohne
Schwierigkeiten ab: Einmal behaupteten zwei CDU-Hinterbänkler im Bundestag, ich hätte
Nikita Chruschtschow in einem biografischen Rundfunkporträt zu
positiv und propagandistisch dargestellt, und verlangten, die
Leitung des WDR solle mich
maßregeln. Häufiger kam es vor, dass Politiker in inoffiziellem
Kontakt mit Rundfunk- und Fernsehchefs kritische Journalisten
auszuschalten versuchten. Es gab Intendanten und
Programmdirektoren, die solche Hinweise aufnahmen, und andere, die
sich gegen solche Eingriffe entschieden zur Wehr setzten. In meinem
Fall half mir auch der stellvertretende Bundespressechef
Karl-Günther von Hase, als er sagte, das Chruschtschow-Porträt sei
wichtig für eine sachliche Einschätzung der Möglichkeiten deutscher
Außenpolitik.
Der Versuch, die Presse zum Instrument der
Regierungspropaganda zu machen, war in dieser Zeit bei unseren
französischen Nachbarn noch deutlicher zu erkennen als in der
jungen Demokratie der Bundesrepublik. Unter gaullistischen wie
sozialistischen Regierungen war die Pressezensur in Paris mehr oder
weniger offiziell zu einem Instrument der Meinungsbeeinflussung
geworden. Das bekam ich zu spüren, als das französische
Staatsfernsehen eine Delegation nach Köln schickte, um beim
WDR gegen meinen ersten
Dokumentarfilm »Freiheit, und was dann?« zu protestieren. Das Thema
des Films war die Entkolonisierung in Afrika. Am Beispiel von
Kamerun hatte ich gezeigt, wie die französischen Kolonialherren mit
Hilfe muslimischer Stammesführer den demokratischen Freiheitsdrang
der einheimischen Schwarzen zu ersticken versuchten. Die Delegation
drängte darauf, den Film aus dem Verkehr zu ziehen, aber so weit
ging das Entgegenkommen der deutschen Rundfunkanstalten dann doch
nicht.
Ich durfte also weiter Informationen und Bilder
sammeln, die ich für eine fünfundvierzigminütige Fernsehsendung
über den Zustand der französischen Politik benötigte. Zu dieser
Zeit, als die Auflösung ihrer Kolonialmacht die Franzosen
beunruhigte und damit auch das französisch-deutsche Verhältnis
belastete, befand sich Frankreich praktisch im Krieg mit der
algerischen Befreiungsbewegung. Wie in fast allen Kolonialkriegen
wurden die Gegner als Menschen zweiter Klasse behandelt. Die
Regierung hatte zur Charakterisierung dieser Auseinandersetzung
einen Begriff eingeführt, der im Grunde das Kriegsrecht der Genfer
Konvention außer Kraft setzte. Der Kolonialkrieg galt demnach als
»Maßnahme der öffentlichen Ordnung« gegen den Terrorismus der
algerischen Befreiungsfront, also als eine rein innenpolitische
Angelegenheit. Das schränkte auch die Arbeitsmöglichkeiten unserer
akkreditierten Kollegen im Pariser ARD-Studio ein, während ich als
Reisekorrespondent mehr Freiheiten hatte, die problematischen
Aspekte der französischen Politik darzustellen. Es gab zwar
offiziell keine Zensurbehörde, aber in einzelnen Redaktionen von
Presse, Hörfunk und Fernsehen arbeiteten staatlich eingesetzte
Kontrolleure, die durchaus zu unterschiedlichen Bewertungen kommen
konnten – eine Meldung oder ein Kommentar konnte von dem einen
Zensor gesperrt, von dem anderen jedoch genehmigt werden.
Grundsätzlich verboten waren Berichte über die Folterungen, die von
der Armeeführung nicht nur geduldet, sondern ausdrücklich
angeordnet wurden.
Fast alle französischen Kollegen, die ich
kannte, waren Gegner dieses mit äußerster Härte geführten
spätkolonialen Kriegs. Linksliberale, aber auch katholische
Konservative meldeten sich mit Protesten zu Wort. Frankreichs
staatliche Stellen ließen sich jedoch immer neue Schikanen gegen
jene kritischen Zeitungen und Zeitschriften einfallen, die den
Algerienkrieg und die Protestkundgebungen in Frankreich umfassend
darstellen wollten. So wurden beispielsweise einzelne Ausgaben am
Tag des Erscheinens von der Regierung beschlagnahmt. Wenn Tage
später ein Gericht entschied, sie habe nichts Verbotenes enthalten,
bekamen Verleger und Redakteure ihre Zeitungen zurück, aber durch
die Verzögerung waren sie unverkäuflich geworden. In Frankreich und
Algerien wurden angesehene Blätter – Le
Monde, L’Express, France Observateur – mit diesem Mittel der
zeitweiligen Beschlagnahmung unter Druck gesetzt.
Die Zeitungsverlage, ihre Redakteure und
Reporter lebten folglich ständig mit der Gefahr, dass ihr Blatt in
Konkurs geriet. Eine freie Berichterstattung wurde auf diese Weise
fast unmöglich gemacht. Manche französische Kollegen hätten eine
offene amtliche Zensur für erträglicher gehalten als eine derart
unberechenbare Verletzung der Pressefreiheit. Gelegentlich gingen
die Behörden noch weiter: Bei einem Polizeieinsatz gegen eine
Großdemonstration in Paris waren mehrere Menschen getötet worden,
unser Kameramann hatte einen Schlag auf den Kopf abbekommen. Das
Informationsministerium wies die Nachrichtenredakteure des
Staatsfernsehens an, eine Falschmeldung zu verkünden. Die
Demonstranten, so die Sprachregelung, hätten sich auf einer
U-Bahn-Treppe gegenseitig totgetreten. Die Fernsehredakteure
weigerten sich, diese Version zu verbreiten. Daraufhin sandte das
Informationsministerium einen Sprecher in das Nachrichtenstudio,
der die Meldung verlas. Natürlich war all dies nicht vergleichbar
mit der totalen Informationssteuerung, wie ich sie in der
Sowjetunion erlebt hatte. Dennoch schockierte es mich zu sehen,
welche Maßnahmen eine demokratische Regierung zur Vertuschung der
Wahrheit und zur Unterdrückung ihrer Gegner und Kritiker
einzusetzen bereit war.
Meine Sympathien lagen bei den französischen
Linksliberalen, aber auch bei den Führern des algerischen
Unabhängigkeitskampfes, und so konnte ich stets auf das Wohlwollen
einiger französischer Kollegen zählen. Gleichwohl war es schwierig,
Verbindungen aufzubauen, die mich nicht nur zu den
Ausbildungslagern der algerischen Nationalen Befreiungsfront im
Nachbarland Tunesien brachten, sondern auch zu den rechtsextremen
Untergrundkämpfern der Organisation de l’Armée Secrète
(OAS). Diese terroristische
Gruppierung wollte den Status Algeriens als französisches
Département, in Wirklichkeit als eine Kolonie mit allen Mitteln
verteidigen. Sie begann in Frankreich einen Untergrundkrieg zu
führen, der sich nicht nur gegen die algerischen Freiheitskämpfer
richtete, sondern mit fast noch größerer Brutalität auch gegen die
eigene Regierung, die nach Ansicht der OAS in Algerien nicht entschieden genug
eingriff. Während ich in Nordafrika und in Frankreich zuverlässige
Informationen suchte, bemerkte ich, dass ich zwischen den Netzen
verfeindeter Geheimdienste manövrierte.
Einer der hilfsbereiten Kollegen, die mich
zuweilen mit Informationen versorgten, war ein ehemaliger Offizier
der französischen Armee. Nun arbeitete er für eine konservative
Tageszeitung und war auch in deutschen Fernsehdiskussionen ein gern
gesehener Gast. In Paris überraschte er mich eines Nachmittags mit
einem Vorschlag: Ich solle mit einem Kamerateam abends um elf vor
meinem Hotel bereitstehen und mich von einem Lastwagen abholen
lassen. Wir würden an einen Ort gebracht, an dem wir in einem
Hauseingang unsere Kamera aufbauen könnten. Um Mitternacht würde
das Gebäude gegenüber in die Luft gehen, gesprengt von einem Trupp
der OAS. Bis dahin hatte ich
den Mann eher für den Mitarbeiter eines der staatlichen
französischen Geheimdienste gehalten. Nun fragte ich mich, ob er
vielleicht im Untergrund beides sei, Vertreter der Ordnungsmacht
und der extremen Rechten. Er schien enttäuscht, dass ich seine
Einladung nicht annehmen wollte, und hielt mich wohl für feige.
Oder das Ganze war der Versuch eines der Geheimdienste, uns zu
testen und in eine Falle zu locken. Vielleicht ging es aber auch
nur um einen Konkurrenzkampf zwischen verschiedenen französischen
Geheimorganen.
Spätnachts auf der Rückfahrt nach Deutschland
wurde unser Auto dann an einem kleinen, abgelegenen Kontrollpunkt
an der französisch-belgischen Grenze von einer Gruppe von Beamten
gestoppt. Der Wagen wurde bei der Durchsuchung förmlich
auseinandergenommen, aber wir hatten alles, was uns an Aufnahmen
wichtig war, schon auf anderen Wegen nach Deutschland geschickt. So
konnten wir uns nach zwei Stunden der Untersuchung von den Beamten
verabschieden und grübelten: Wer war es wohl, der uns hereinlegen,
verdächtig machen oder missbrauchen wollte? In dieser Zeit
misstraute jeder jedem.
Nachdem mein Film in der ARD gelaufen war, erhob das französische
Außenministerium beim Auswärtigen Amt in Bonn offiziell Protest.
Man warf mir vor, ich hätte sowohl für die algerische
Freiheitsbewegung wie auch für die Untergrundleute der OAS Propaganda betrieben – einfacher
gesagt, ich hätte mich nicht an die Linie des französischen
Informationsministeriums gehalten. In jener Zeit hätte das zu einem
großen Problem für mich werden können, wenn nicht angesehene
französische Kollegen wie Michel Gordey und Stéphane Roussel
nachdrücklich darauf verwiesen hätten, dass die Anschuldigungen
haltlos seien und einen Eingriff in die Freiheit der
Berichterstattung bedeuteten.
1960 stand ich schließlich vor einer
Aufgabe, wie sie mir in meiner journalistischen Karriere noch nicht
vorgekommen war: Ich sollte an dem bis dahin größten und
wichtigsten Dokumentarprojekt im deutschen Fernsehen mitarbeiten.
Die Intendanten des Süddeutschen und des Westdeutschen Rundfunks
hatten sich darauf geeinigt, in einer großen Serie die Geschichte
des Dritten Reichs darzustellen – in vierzehn Folgen mit insgesamt
siebenhundert Minuten Laufzeit. Die Ausstrahlung begann im Herbst
1960 und zog sich bis in das Frühjahr 1961. Eine vergleichbare
Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit hatte es im
deutschen Fernsehen und selbst bei den englischen und
amerikanischen Kollegen noch nicht gegeben. Damals war der
Öffentlichkeit nur wenig zuverlässige Literatur über die
NS-Zeit und noch weniger
Bildmaterial zugänglich. Die kritische Diskussion war in den
fünfziger Jahren beiseitegeschoben worden zugunsten der
Auseinandersetzung darüber, wie das geteilte Deutschland
wiederaufgebaut und in die Strukturen des neuen Europa
eingegliedert werden könne. Die Intendanten der zwei beteiligten
Sender stärkten einander, indem sie Das Dritte
Reich gemeinsam produzierten und gegen die Bedenken anderer
ARD-Intendanten und vieler
kritischer Stimmen in den Aufsichtsgremien und in der Politik
verteidigten.
Die Idee der Reihe war klar: So weit wie
möglich dokumentarisch zu belegen, was in der NS-Zeit geschehen war, und die deutschen
Zuschauer mit diesen Bildern zu konfrontieren, die viele mit
eigenen Augen gesehen hatten und an die sie sich doch nicht mehr
erinnern wollten. An der Realisierung der Serie war nur eine kleine
Gruppe von Personen beteiligt: der Redakteur Heinz Huber vom
Süddeutschen Rundfunk, der Politikwissenschaftler Waldemar Besson
und der freie Textautor Arthur Müller. Darüber hinaus hatte der
WDR mich mit der Aufgabe
betraut, nach Zeitzeugen und Opfern zu suchen und sie für die
Sendung zu interviewen. Die Recherche nach gedrucktem und
fotografischem Archivmaterial übernahm Hannes Hoff. Er suchte in
deutschen und ausländischen Archiven, aber das gestaltete sich
schwieriger als erwartet, weil es kaum offizielle
Materialsammlungen gab. Vieles lag außerdem in kleinen, manchmal
privaten Archiven, in denen nach Kriegsende einzelne Filmrollen auf
oft dubiose Weise gelandet waren. Oder es befand sich im Ausland,
zum Beispiel in Italien, wo Regierungsstellen alles Material
wegzuschließen versuchten, das Hitler und Mussolini gemeinsam
zeigte.
Auch in Deutschland gab es Widerstand gegen die
Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit. Das gängige Gegenargument
lautete: In der Bundesrepublik sei endlich eine demokratische
Konsolidierung erreicht worden, die durch eine weitere kritische
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nur gestört werden
könnte. Die Kritik kam nicht immer nur aus extrem rechten Kreisen,
sondern auch von Leuten, die besorgt darüber waren, dass zu viele
Anschuldigungen gegen das Dritte Reich das erst langsam erwachende
Selbstwertgefühl der Deutschen wieder ins Wanken bringen könnten.
Aber letztlich bekamen wir als Redaktion weniger Druck von außen,
als wir erwartet hatten. Außerdem arbeiteten wir an den einzelnen
Folgen oft bis kurz vor dem Sendetermin, so dass sich die
Aufsichtsgremien oder Bedenkenträger aus der Politik nicht mehr
einmischen konnten. Wir selbst führten lange Diskussionen darüber,
wie das vorhandene Material verwendet werden und welcher Kommentar
es jeweils erläutern sollte. Wir wussten, dass jeder sachliche
Fehler von Kritikern und Gegnern benutzt werden konnte, um das
gesamte Projekt zu diskreditieren.
Die wochenlange Arbeit mit Dokumenten und
Bildern der NS-Zeit war eine
enorme psychische Belastung für uns alle. Bilder, wie wir sie in
der Folge »Der SS-Staat«
zeigten, hatte es im Fernsehen oder im Film in dieser Intensität
vorher nicht gegeben. An meiner eigenen Reaktion merkte ich, dass
auch ich unbewusst manche Erinnerungen beiseitegeschoben hatte, um
ihrer Last zu entgehen. Insofern war uns klar, dass es schwer sein
würde, die Zuschauer zu erreichen und zu verhindern, dass sie im
doppelten Sinne abschalteten. Doch dann folgte die Überraschung:
Von der ersten bis zur letzten Sendung saßen jedes Mal sieben bis
acht Millionen Zuschauer vor den Fernsehgeräten. Ihre Reaktion war
seltsam gespalten: Viele Menschen lehnten die Reihe zunächst ab und
schalteten sie dann doch Folge um Folge ein. In einer
Meinungsumfrage erklärten schließlich fast zwei Drittel der
Zuschauer, die Sendungen seien wichtig und nützlich gewesen. Nur
wenige, etwas über fünf Prozent, sprachen sich komplett gegen die
Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich aus. Ein paar zynische
Kommentare gab es doch: »Vielen Dank für die schönen Sendungen. Sie
haben in mir viele liebe Erinnerungen geweckt.«
Bei etlichen Zuschauern löste die Reihe einen
Schock aus, der mitunter tief in das Leben der Familien
hineinwirkte. Wir hörten von Vätern, die sich weigerten, die
Sendung gemeinsam mit ihren Kindern anzusehen, und sich mit dem
Fernsehgerät im Wohnzimmer einschlossen. In der Familie eines
deutschen Botschafters, der kein Nazi gewesen war, aber als junger
Diplomat der Hitler-Regierung gedient hatte, kam es zu einer
Auseinandersetzung zwischen ihm und seinen beiden Töchtern. »Und
für dieses Schwein hast du gearbeitet!«, schrien sie ihren Vater
nach einer der Sendungen an, um dann kurz darauf aus der
elterlichen Wohnung auszuziehen. Es gab eine ganze Reihe solcher
Berichte. In ihnen kündigte sich bereits der Generationenkonflikt
an, der gegen Ende des Jahrzehnts in die große Protestbewegung der
Achtundsechziger münden sollte. Zugleich bemerkten wir eine
Reaktion bei jüngeren Leuten, die uns die Auswahl der Bilder
überdenken ließ. Je mehr von Hitler zu sehen war – besonders wenn
er eine Rede hielt –, umso unerklärlicher war sein Erfolg für
jüngere Zuschauer. Wie hatten ihre Eltern nur diesen hysterisch
schreienden Kerl zu ihrem Führer, zum Oberhaupt des deutschen
Staates wählen können? Auch uns hatte diese Frage bedrängt und
schließlich vor die schwierige Abwägung gestellt, wie viel Hitler
in einem Bericht über das Dritte Reich vorkommen konnte, ohne dass
alle Schuld am Ende einem wahnsinnigen Führer zugeschoben
würde.
Im Laufe der letzten Jahrzehnte ist die Kritik
an einer auf Bildmaterial und Ereignisabläufe gegründeten
Darstellung der Nazijahre und des Kriegsverlaufs gewachsen. Sie
habe es den Deutschen – und auch der jüngeren Generation –
ermöglicht, die ganze Breite der individuellen oder familiären
Verstrickungen in die Nazigräuel zu verdrängen und sich zu
entlasten. Zu Beginn der sechziger Jahre dagegen lautete der
Vorwurf, unsere Serie habe nicht deutlich genug gezeigt, aus
welchen Wurzeln Hitler und der Nationalsozialismus ihre Kraft
gezogen hätten: aus Not und Arbeitslosigkeit, aus der schrecklichen
Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre, aus dem einseitigen
Schuldspruch des Versailler Vertrags. Eine Mehrheit der Intendanten
entschied sich dafür, dass auch die Leiden der Deutschen im Rahmen
dieser Dokumentation gezeigt werden sollten. So kam es zu dem
fünfzehnten Teil der Serie. Aber daran war ich schon nicht mehr
beteiligt, denn inzwischen arbeitete ich wieder als Korrespondent
im Ausland.
Neben der Arbeit an der Fernsehserie
beobachtete ich in diesen Jahren aufmerksam die internationale
Entwicklung. Es war die Zeit der großen und explosiven Gegensätze
zwischen Ost und West – für mich begann hier aber auch eine
intensive Auseinandersetzung mit der Frage der politischen
Gefangenen, der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit. Die
Spannungen zwischen den USA und
der Sowjetunion hatten sich zugespitzt, nachdem die Sowjets am 1.
Mai 1960 ein amerikanisches Spionageflugzeug über ihrem Gebiet
abgeschossen hatten. Trotz eindeutiger Beweise gab Präsident
Eisenhower erst spät und widerwillig zu, dass er den Flug genehmigt
hatte. Eine Entschuldigung aber lehnte er ab, woraufhin
Chruschtschow wütend die Einladung für den geplanten Besuch
Eisenhowers in Moskau strich. Auch die Gipfelkonferenz, die Mitte
Mai in Paris stattfinden sollte, kam nicht zustande. In den Wochen
danach beobachtete ich die taktischen Manöver der vier Siegermächte
und versuchte, bei den Diplomaten beider Lager, den
Strategieplanern und Militärkorrespondenten, Informationen darüber
zu bekommen, wie nah diese Spannungen an eine kriegerische
Auseinandersetzung führen könnten. Chruschtschows unkontrollierte
Wutausbrüche hatten die Situation noch gefährlicher gemacht, und
trotzdem schienen sich beide Seiten zu bemühen, nicht noch tiefer
in die Gefahrenzone hineingezogen zu werden. Eine Gelegenheit, mehr
über die Risiken von geplanten oder ungeplanten Zusammenstößen und
über Chancen eines friedlichen Dialogs zu erfahren, bot sich mir
schließlich im Oktober 1960 auf der 15. UNO-Vollversammlung in New York. Die
Debatte sollte Fragen der Entkolonisierung behandeln, ein Thema,
bei dem prosowjetische und prowestliche Ansichten heftig
aufeinanderprallten.
Chruschtschow hatte sich in der Sitzung am 12.
Oktober mit einem philippinischen Delegierten angelegt, der die
Sowjetunion in einer Nebenbemerkung der Verletzung der
demokratischen Freiheitsrechte in Osteuropa beschuldigt hatte. Es
folgte ein legendärer Auftritt des sowjetischen Parteiführers, den
ich von der Pressetribüne aus beobachtete: Chruschtschow saß an
seinem Platz und schien sich unter sein Pult zu beugen und etwas
heraufzuholen. Einige Beobachter behaupteten, er habe seinen Schuh
ausgezogen und damit auf das Pult gehämmert. Andere berichteten, er
habe den Schuh in der einen Hand gehalten und mit der anderen
geklopft. So genau konnte ich das auch nicht sehen. Die Fotografen
hatten ihre Kameras auf Chruschtschow gerichtet, aber niemand
schoss ein Foto von der vielzitierten Szene. Es gibt nur ein Bild,
auf dem ein brauner Halbschuh auf Chruschtschows Pult in der
UNO steht, während er ruhig
dahintersitzt. Auf anderen Bildern sieht man ihn mit erhobenen
Händen gestikulieren, allerdings ohne Schuh. Auch wenn es das
berühmte Schuhklopfen womöglich nie gegeben hat, verstärkte sich in
der Welt doch die Meinung, Chruschtschow sei ein völlig
unberechenbarer Mann.
Darüber diskutierten wir unter Kollegen und
Experten, als wir nach der Sitzung in der Vorhalle des Plenarsaals
zusammenkamen. Ein englischer Beobachter, mit dem ich ins Gespräch
kam, fragte nachdenklich, ob es klug von dem philippinischen
Delegierten gewesen sei, die Verletzung der Freiheitsrechte in
Osteuropa in die Debatte hineinzuziehen. Grundsätzlich sei es ja
richtig, die Unterdrückung der Meinungsfreiheit im sowjetischen
Machtbereich nicht aus dem Blick zu verlieren, aber man habe in
dieser Situation kaum etwas anderes als eine grobe Antwort erwarten
können. Wir überlegten gemeinsam, wie man das Problem der
Meinungsfreiheit und der politischen Gefangenen überhaupt an
Chruschtschow und andere einflussreiche Staatsmänner herantragen
könnte. Mein englischer Gesprächspartner, ein Anwalt namens Peter
Benenson, sagte halb ernst und halb im Spaß zu mir, man müsse ganz
andere, unkonventionelle Einfälle haben, um an solche Politiker
heranzukommen. Im Falle Chruschtschows etwa könnte eine Gruppe von
fünf oder sechs alten Damen im Foyer seines Hotels warten. Sie
hätten die beste Chance, an den Leibwächtern vorbeizukommen, und
Chruschtschow wäre wahrscheinlich überrascht genug, um ihnen
zuzuhören und eine Petition entgegenzunehmen. Wir lachten bei der
Vorstellung eines von alten Damen umringten Chruschtschow. Aber
ganz absurd erschien mir der Gedanke nicht. Wir tauschten unsere
Adressen aus. Wenn ich einmal in London sei, wollten wir uns
treffen.
Das Thema der Menschenrechte beschäftigte mich
auch, als ich am Rande der UNO-Sitzung jenen Mann wiedertraf, der
unsere kleine Gruppe deutscher Journalisten zehn Jahre zuvor
betreut und auf Rundreisen durch die USA geschickt hatte. Mir war damals schon
aufgefallen, wie offen Clark Foreman die Rassendiskriminierung
angesprochen hatte. Nun hatte er eine kleine Vereinigung gegründet,
die sich Emergency Civil Liberties Committee nannte. Sie bemühte
sich, in Gerichtsverfahren gegen Schwarze, Linke und angebliche
Kommunisten schnell für juristischen Beistand zu sorgen. Zu den
Mitgliedern zählten einige bekannte Personen wie Eleanor Roosevelt,
die meisten aber waren Studenten, Professoren und Anwälte, die von
Fall zu Fall die Öffentlichkeit auf Rechtsverletzungen aufmerksam
machten.
Im Sommer 1961 erhielt ich einen Anruf von
einem Mann aus London, der mir Grüße von Peter Benenson bestellte.
Benenson selbst hatte kurz zuvor mit einem langen Zeitungsartikel
so eindrucksvoll auf die Situation der politischen Gefangenen
hingewiesen, dass eine Reihe englischer Juristen, Journalisten und
Studenten daraufhin eine Vereinigung namens »Appeal for Amnesty«
gründeten. Der Mann, der mich in Köln anrief, hieß Eric Baker und
wollte gerne Deutsche kennenlernen, die sich für die Fragen der
Menschenrechte interessierten.
So kam an einem Sommerabend in einer Wohnung in
Köln, die wir uns vom Kongress für die Freiheit der Kultur geliehen
hatten, eine kleine Gesellschaft von Menschen mit ganz
unterschiedlichen Erfahrungen zusammen. Als Eric Baker an der Tür
klingelte, saßen um die zwanzig Schauspieler, Schriftsteller und
junge Journalisten mit dem Weinglas in der Hand beisammen und
unterhielten sich über Literatur und Politik. Baker begann über die
neue englische Vereinigung zu erzählen. Sie werde für politische
Gefangene eintreten, die wegen ihrer Meinung oder ihres Glaubens
verfolgt würden. Nun wolle er auch in Deutschland Mitstreiter
finden. Es gab zu dem Zeitpunkt in der Bundesrepublik zwar bereits
Organisationen, die für politische Verfolgte eintraten – manche
unterstützten Gefangene in der DDR, andere inhaftierte Kommunisten in der
Bundesrepublik. Die politische Einseitigkeit dieser Gruppierungen
hatte mich und andere allerdings bis dahin von einem Engagement
abgehalten. Das Konzept, das Eric Baker uns vorstellte, sah nun
anders aus: In der neu gegründeten englischen Vereinigung setzten
sich die Mitglieder in kleinen Gruppen für jeweils drei Gefangene
ein, für einen aus dem Osten, einen aus dem Westen und einen aus
der Dritten Welt. Wenn man gleichzeitig verschiedene Gefangene mit
unterschiedlichem politischem Hintergrund unterstützte, so die
Idee, konnte man nicht von der einen oder anderen Seite vereinnahmt
oder missbraucht werden. Das klang glaubwürdig. Trotzdem schien es
uns ein gewagter Versuch zu sein, ausgerechnet Anfang der sechziger
Jahre, als der Kalte Krieg auf den Höhepunkt zusteuerte, für
Menschenrechte und Meinungsfreiheit auf beiden Seiten des Eisernen
Vorhangs einzutreten. In Moskau begannen zum ersten Mal seit
Stalins Tod wieder die Dissidentenverfolgungen. Mitten in
Deutschland wurde die Mauer hochgezogen. In Afrika und Asien
erhoben sich Menschen gegen ihre Kolonialherren oder deren
einheimische Nachfolger.
Noch am Abend von Bakers Besuch fand sich der
Kern der Gründer des Amnestie-Appells zusammen. Die Journalistin
und Lektorin Carola Stern hatte ihre Jugend im BDM erlebt und war nach dem Krieg Mitglied
der SED gewesen, ehe sie
schließlich mit vielen Erinnerungen an Disziplinierung und
Unterdrückung in den Westen kam. Mein Freund Wolfgang Leonhard, dem
ich zuerst in Belgrad begegnet war, war als Emigrantenkind in der
Sowjetunion aufgewachsen und hatte sich dem Druck der Partei durch
die Flucht aus der DDR nach
Jugoslawien und dann in die Bundesrepublik entzogen. Die
Journalistin Sabine Rühle war mit vielen Schriftstellern verbunden,
deren Meinungsfreiheit in der DDR immer stärker eingeschränkt wurde.
Felix Rexhausen war ein homosexueller Satiriker, der wusste, dass
der Paragraph 175 nicht nur unter den Nazis, sondern auch in der
Bundesrepublik Leben zerstören konnte. Ich selbst hatte als junger
Schüler die Studenten der Weißen Rose bewundert, ihre Hinrichtung
hatte mich erschüttert. Außerdem verehrte ich Gustav Heinemann, den
späteren Bundespräsidenten, der in der Nazizeit zur oppositionellen
Bekennenden Kirche gehört hatte und nun als Anwalt in politischen
Prozessen auch für die Meinungsfreiheit deutscher Kommunisten
eintrat.
In den nächsten Wochen staunten wir, wie viele
Leute das Prinzip der Dreiergruppen einleuchtend fanden und bereit
waren, uns zu unterstützen. Das Bedürfnis, sich für politische und
religiöse Meinungsfreiheit einzusetzen, schien weit verbreitet.
Darauf waren wir nicht vorbereitet gewesen, als wir den Verein
Amnestie-Appell e.V. gründeten. Überhaupt ging es in den ersten
Wochen einigermaßen chaotisch zu. Wir hatten keine Ahnung, wie die
juristischen und organisatorischen Grundlagen einer solchen
Vereinigung aussehen mussten. So glaubten wir, man bräuchte
mindestens siebzehn Mitglieder, um sich offiziell registrieren zu
lassen. Eine Woche später saßen wir mit zwanzig Leuten bei einem
Notar, obwohl sieben von uns ausgereicht hätten. Wir hatten kein
Büro und auch kein Konto. Ein jüdischer Professor aus Berlin, der
einst vor den Nazis geflohen war, schickte uns einen Scheck über
3000 D-Mark. Das war eine enorm hohe Summe für uns, doch wir
konnten das Geld wochenlang nicht annehmen und verbuchen. Felix
Rexhausen, unser erster Schatzmeister, hatte zwar Volkswirtschaft
studiert, aber im Umgang mit Geld besaß auch er wenig Erfahrung. Er
bekam sehr schnell viel zu tun, zunächst mit den kleineren
Beträgen, bald aber auch mit größeren Summen. Unsere Bitten um
finanzielle Unterstützung wurden in unerwartetem Maße erhört:
Berthold Beitz, Chef des Krupp-Konzerns, der im Zweiten Weltkrieg
in Polen vielen Juden das Leben gerettet hatte, spendete
10 000 D-Mark. Hans Matthöfer von der IG Metall steuerte
ebenfalls 10 000 D-Mark bei. Und auch der Kölner Kardinal
Frings war bereit, dieselbe hohe Summe für unser Startkapital zu
geben.
Mit den Geldern finanzierten wir die ersten
Informationsreisen der Londoner Zentrale. Ein katholischer
Kommunist aus Frankreich fuhr in die Tschechoslowakei, um für
gefangene Geistliche einzutreten. Ein indischer Gewerkschafter, der
auf Besuch in England war, reiste für uns in die DDR und setzte sich für einen dort
inhaftierten linken Gewerkschafter aus der Bundesrepublik ein. In
Bonn besuchte ein englischer Geistlicher den Bundesjustizminister
und erkundigte sich nach der Begründung für die Verhaftung des
Chefredakteurs eines DDR-Rundfunksenders. Der war auf einer
Reise im Ruhrgebiet verhaftet worden, weil sein Sender von der
DDR aus politische Programme
für die Bundesrepublik machte, was die bundesdeutsche Justiz als
eine Art Rädelsführerschaft zur Unterwanderung und Zerstörung des
Landes einstufte. Bald bildeten sich auch bei uns die ersten
Gruppen, deren Mitglieder sich gemeinsam in Briefen an ausländische
Regierungen für jeweils drei Häftlinge einsetzten. Nur in England
wuchs die Zahl solcher Gruppen so schnell wie in der
Bundesrepublik. Auch ohne fest etablierte Organisation im
Hintergrund waren unsere Freunde schon in den ersten Monaten sehr
handlungsfähig.
Im September 1961 lud die Londoner Zentrale
nach Luxemburg zur Gründungsversammlung einer übergreifenden
internationalen Organisation ein, die einen gemeinsamen Namen
tragen sollte. Die Bezeichnung Amnestie-Appell e.V. hatten wir in
Anlehnung an das englische Vorbild für Deutschland gewählt – wohl
wissend, dass Amnestie, also Straferlass, nicht das Hauptziel
unserer Bemühungen sein könnte, denn damit hätten wir indirekt die
Verurteilung der Gefangenen akzeptiert. Die Namensdiskussion schien
zwischen Engländern, Deutschen, Belgiern, Holländern und Franzosen
unlösbar, als Peter Benenson einen ganz einfachen Vorschlag machte:
Amnesty International. Das, so klagten die Franzosen, sei doch kein
Programm und eigentlich bedeutungsleer. Die pragmatischen Engländer
und Iren hielten jedoch dagegen: Man könne ihn sich leicht merken,
und wenn wir unsere Sache gut machten, dann würden sich die Leute
an jeden Namen gewöhnen. Das überzeugte schließlich alle.
Die AI-Gruppen sahen sich lange Zeit
unterschiedlichsten politischen Verdächtigungen ausgesetzt. Man
warf ihnen vor, kommunistische Mitläufer zu sein, womöglich vom
KGB oder von der Stasi
gesteuert, wenn sie etwa nach KPD-Verbotsprozessen gegen die Inhaftierung
von Kommunisten in der Bundesrepublik protestierten. In Hannover
gerieten AI-Mitglieder, die
eine Demonstration gegen Folter anmelden wollten, als politisch
verdächtig in die Akten des Verfassungsschutzes. Dagegen
bezichtigten die östlichen Geheimdienste unsere Mitglieder der
Agententätigkeit für die CIA
oder andere westliche Nachrichtendienste. In der DDR urteilte der Staatssicherheitsdienst,
Amnesty International sei eine »Organisation mit
nachrichtendienstlichem Charakter, die in den sozialistischen
Staaten die Tätigkeit imperialistischer und feindlicher
Organisationen« unterstütze.
Um solchen Beschuldigungen den Boden zu
entziehen, setzten wir auf unsere kleinen Dreiergruppen. In einer
Zeit wachsender Spannungen zwischen Ost und West fiel es manchen
von uns durchaus schwer, sich ebenso für einen kommunistischen
Häftling in Spanien einzusetzen wie für einen verfolgten
Geistlichen in Osteuropa. Doch letztlich überzeugte gerade die
Mischung der von uns unterstützten Gefangenen auch diejenigen, die
zuerst Sorge gehabt hatten, in einen politischen Propagandakrieg
hineingezogen zu werden. Außerdem half es uns, dass sich eine Reihe
bekannter deutscher Politiker und Professoren öffentlich für
Amnesty International engagierten – jüngere Leute, die später zum
Teil Regierungsämter übernahmen, wie etwa Hans Matthöfer oder die
Professoren Ulrich Klug und Horst Ehmke, oder ältere, wie Gustav
Heinemann und seine Frau Hilda. Ihre Namen und Netzwerke dienten
als eine Art Schutzschild und waren besonders wichtig für
AI-Mitglieder in kleinen
ländlichen Orten, wo sich immer noch jeder verdächtig machte, der
für einen ungerecht verfolgten Linken oder für einen schwarzen
Freiheitskämpfer eintrat.
Ein Jahr nach der Gründung von Amnesty
International bewies eine Polizeiaktion in Deutschland, wie
gefährdet die Pressefreiheit auch in demokratischen Staaten wie der
Bundesrepublik war. Am 26. Oktober 1962 stand abends um zehn Uhr
die Polizei vor dem Pressehaus in Hamburg. Sie hatte Haftbefehle
gegen den Herausgeber und Chefredakteur des Spiegel, Rudolf Augstein, den stellvertretenden
Chefredakteur Conrad Ahlers und andere Spiegel-Redakteure dabei. Conrad Ahlers hatte in
einem Artikel mit dem Titel »Bedingt abwehrbereit« die Schwächen
und Gefahren der Bonner Verteidigungspolitik dargestellt. Nun
lautete der Vorwurf, der Artikel habe militärische Maßnahmen der
Bundeswehr so offen beschrieben und kritisiert, dass dies einem
Landesverrat gleichkomme. Ich kannte Conny Ahlers seit 1947, als er
in seiner Jugendzeitschrift Benjamin meine
ersten Kommentare abgedruckt hatte, und ich wusste, dass bei dem
ehemaligen Fallschirmjäger der Vorwurf des Landesverrats völlig
abwegig war. Vielmehr hatten Verteidigungsminister Franz Josef
Strauß und Bundeskanzler Adenauer hier in erster Linie eine
Gelegenheit gesucht, die verhassten Kritiker des Spiegel auszuschalten.
Das Ganze war eine verdeckt vorbereitete
Aktion, die auch vor anderen zuständigen Regierungsmitgliedern wie
dem Justizminister geheim gehalten worden war. Ahlers wurde in
Spanien im Urlaub verhaftet und nach Deutschland ausgeliefert,
Augstein saß 106 Tage in Untersuchungshaft. Andere Mitarbeiter des
Spiegel wurden für kürzere Zeit verhaftet,
die Redaktionsräume wurden durchsucht, Akten und Unterlagen
beschlagnahmt. In der besetzten Redaktion war keine journalistische
Arbeit mehr möglich. Falls es gelang, das Erscheinen des Blattes
über mehrere Wochen zu verhindern, so offenbar das Kalkül, würde es
bald nicht mehr die finanziellen Reserven haben, um seine Arbeit
fortzusetzen. Hier kündigte sich der schwerste Eingriff in die
Pressefreiheit an, den die Bundesrepublik seit ihrer Gründung
erlebt hatte.
Je länger allerdings die Spiegel-Affäre andauerte, desto stärker wuchs der
Widerstand in der Öffentlichkeit. Es begann damit, dass andere
Redaktionen, die ebenfalls im Pressehaus ihren Sitz hatten, den
Spiegel-Mitarbeitern Räume zur Verfügung
stellten. Bemerkenswert war, dass sich alle großen Redaktionen im
Pressehaus beteiligten: Zeit, Stern, Morgenpost sowie
Redaktionen aus dem Springer-Verlag. Schon allein das hätte das
Bundeskanzleramt in Bonn warnen müssen. Und tatsächlich war der
Protest gegen die Polizeiaktion bald nicht mehr nur eine Sache
demonstrierender Studenten und der Opposition in Bonn, sondern er
erfasste immer mehr Bürger aus unterschiedlichen politischen
Lagern. Je mehr Adenauer und Strauß ihre Vorwürfe steigerten, desto
umfassender wurden die Proteste und Demonstrationen. Auf dem
Höhepunkt der Redeschlacht am 7. November im Bundestag hatte der
86-jährige Kanzler eine hocherregte Erklärung abgegeben: »Wir haben
einen Abgrund von Landesverrat im Lande. Wenn von einem Blatt, das
in einer Auflage von 500 000 Exemplaren erscheint,
systematisch um Geld zu verdienen, Landesverrat getrieben wird …
(Unterbrechung durch Zwischenrufe). Auf der einen Seite verdient
Augstein am Landesverrat und zweitens verdient er an allgemeiner
Hetze gegen die Koalition.« Solche Töne sorgten auch bei solchen
Journalisten und Politikern für Unruhe, die dem Spiegel grundsätzlich kritisch gegenüberstanden. Als
sich dann herausstellte, dass Strauß Anweisung gegeben hatte,
zuständige Stellen und Ministerien im Vorfeld der
Untersuchungsaktion zu umgehen, zerbrach die Regierungskoalition
und fand erst wieder zueinander, nachdem Strauß seinen Rücktritt
erklärt hatte. Der Versuch, ein kritisches Presseorgan wie den
Spiegel auszuschalten, war gescheitert. Im
Frühjahr 1965 entschied der Bundesgerichtshof schließlich, es
hätten keinerlei Beweise vorgelegen, die einen wissentlichen Verrat
von Staatsgeheimnissen belegen könnten. Damit war die Spiegel-Affäre offiziell beendet.
Die großen Proteste hatten in der
Bundesrepublik einen Stimmungsumschwung herbeigeführt, der sich in
den nächsten Jahren sowohl in einer größeren Zurückhaltung bei
Eingriffen in die Pressefreiheit als auch in der ständigen
Protestbereitschaft besonders der Studenten ausdrückte. Auch meine
Freunde und mich hatte die Sorge um die Pressefreiheit zu
Protestversammlungen getrieben. Ausländische Freunde von Amnesty
International hatten in Briefen an den deutschen Bundespräsidenten
und die Vorsitzenden der Rechtsausschüsse von Bundestag und
Bundesrat ihre Besorgnis zum Ausdruck gebracht. Doch es war nicht
ganz einfach, für Amnesty International eine Rolle in dieser
innerdeutschen Auseinandersetzung zu finden. Das Grundprinzip des
Eintretens für eine Dreiergruppe verschiedener Verfolgter war in
diesem Fall nicht anwendbar, eine völlige Zurückhaltung aber wäre
zutiefst unbefriedigend gewesen. So setzte die Spiegel-Affäre eine Diskussion in Gang, die
schließlich zu einer wesentlich erweiterten Aufgabenstellung für
AI nicht nur in Deutschland
führte. Im Herbst 1962 jedoch ging es nicht zuletzt darum, den
Eindruck zu vermeiden, unser Ziel sei eine Amnestie für die
Mitarbeiter des Spiegel. Das hätte ja
vorausgesetzt, dass wir mit einer Verurteilung rechneten, und wäre
auch sonst kein Beitrag zu der Kernfrage gewesen, wie Staatsschutz
und Pressefreiheit in einer demokratischen Gesellschaft zueinander
standen. So beschlossen wir, kurzfristig zu einer Konferenz mit
bekannten Juristen, Politikwissenschaftlern, Historikern, Militärs
und Journalisten aus der Bundesrepublik, England, Frankreich, der
Schweiz und den USA einzuladen,
auf der wir das schwierige Verhältnis zwischen der
Informationspflicht der Presse und der Pflicht des Staates,
lebenswichtige staatliche Geheimnisse zu schützen, untersuchen
wollten. Das Ergebnis war das Buch Landesverrat
und Pressefreiheit, das die Diskussionen auf der Konferenz
zusammenfasste. Wir wollten mit dieser Veröffentlichung sowohl für
die Teilnehmer bei den Demonstrationen als auch für spätere
gesetzgeberische und juristische Erörterungen sachliche Argumente
zur Bewahrung der Pressefreiheit liefern.
In dem halben Jahrhundert nach der
gescheiterten Polizeiaktion gegen den Spiegel hat sich eine ähnlich große Aktion gegen die
Pressefreiheit in der Bundesrepublik nicht wiederholt. Aber dass in
den meisten Ländern der Welt Presse- und Meinungsfreiheit und die
Menschenrechte noch immer nicht ausreichend gesichert und geschützt
sind, habe ich auf vielen Reisen, und nicht nur in
Entwicklungsländern, erlebt.

Vor dem Weißen Haus in Washington, 1964.
Quelle: Vor dem Weißen Haus: WDR