Wenn es aufklart
Moskau
1956–1958
1956–1958
Eine direkte Flugverbindung zwischen der
Bundesrepublik und der Sowjetunion bestand 1956 nicht. Aber das sei
kein Problem, hatte mir ein Konsularmitarbeiter der sowjetischen
Botschaft in Bonn gesagt. Ich könne ganz einfach von Ost-Berlin
nach Moskau fliegen. Tatsächlich war es nicht schwierig, einen
Platz in der Maschine der »Deutschen Lufthansa der DDR«, der späteren Interflug, zu buchen. Es
gab da jedoch einige Umstände, die sich aus der besonderen
Situation der geteilten Viermächtestadt Berlin und den
komplizierten Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten
ergaben. Zusammen mit mehreren Geschäftsleuten stieg ich in
West-Berlin in einen Bus zum Flughafen Schönefeld. Wir fuhren
zunächst durch den Ostteil der Stadt, aber kurz vor dem Ziel warnte
uns ein uniformierter Volkspolizist, der neben dem Fahrer gesessen
hatte, der Bus erreiche nun das Territorium der DDR, unter keinen Umständen dürfe einer der
Insassen das Fahrzeug verlassen. Der Volkspolizist setzte sich
demonstrativ neben die Tür, bis der Bus am Flughafen Schönefeld in
einen kleinen, von einer hohen Mauer umgebenen Hof einbog. Hinter
uns schloss sich das Einfahrtstor, vor uns lag das Gebäude mit der
Pass- und Visakontrolle. Nun saßen wir abgetrennt von den
Mitfliegenden aus der DDR in
einem kleinen Raum und warteten geduldig und auch etwas
eingeschüchtert auf den Abflug, der sich immer mehr verspätete.
Lange nach der geplanten Startzeit erfuhren wir, dass die Maschine
erst am nächsten Tag abheben würde. Für die Übernachtung würde man
uns mit dem Bus in ein Hotel auf DDR-Territorium bringen, wo wir uns bis zum
Morgen in unserem Zimmer aufhalten sollten. Mir und einem jüngeren
Mitreisenden passte das nicht, und wir weigerten uns, den Flughafen
zu verlassen. Nach einer Stunde kam der Bescheid: Wir könnten im
Warteraum übernachten, allerdings werde die Tür abgeschlossen, und
wenn wir auf die Toilette müssten, sollten wir kräftig klopfen. Am
nächsten Morgen begleitete man uns schließlich ins Flugzeug und zu
unseren Sitzen.
In Moskau verlief die Ankunft wesentlich
zivilisierter. Mitarbeiter der staatlichen Reiseorganisation
Intourist holten uns westliche Passagiere ab und brachten uns durch
den Zoll direkt zu den Autos. Auf mich wartete eine große schwarze
SIL-Limousine, ein Wagen, wie
ihn auch Regierungsmitglieder benutzten. Wie schon während des
Adenauer-Besuchs sollte ich im Hotel National wohnen. Dieses Mal
aber erschrak ich beinahe, als man mich in mein Quartier führte: Es
war eine Suite mit drei Räumen, alles Plüsch vom Feinsten, mit
Landschaftsgemälden berühmter Maler des 19. Jahrhunderts und einem
die Wand beherrschenden Lenin-Porträt. Ich habe nie herausbekommen,
warum man mich ausgerechnet in diesen Räumen unterbrachte, in denen
einmal der große Revolutionär selbst gewohnt hatte und die seither
als Lenin-Suite geführt wurden. Es war mir jedenfalls ein bisschen
unheimlich. Aber ich wusste auch, dass ich hier nicht lange wohnen
konnte, denn meine Intourist-Gutscheine reichten nur für drei
Wochen. In der Zeit, so hatte es sich der WDR überlegt, würde ich eine Wohnung finden
können.
Doch ganz so einfach war die Suche nicht, und
als ich nach vierzehn Tagen noch immer in der Lenin-Suite saß,
wurde das auch dem Hoteldirektor suspekt. Er bat mich in sein Büro.
»Sie wohnen jetzt schon zwei Wochen hier«, sagte er. »Bleiben Sie
denn länger in Moskau?« Er war demnach keineswegs so gut
informiert, wie ich das vom Apparat des sowjetischen Geheimdienstes
erwartet hatte. Ich antwortete ihm, dass ich ein unbefristetes
Visum hätte und vielleicht ein paar Jahre in der Sowjetunion
verbringen würde. Der Direktor war sichtlich erschrocken. Es sei
völlig unmöglich, dass ich als Dauergast in seinem Hotel bliebe.
Mir war das ganz recht, denn ich hoffte, in ihm einen Verbündeten
bei meiner Wohnungssuche zu finden.
Von meinen englischen Kollegen hatte ich
erfahren, dass kurz vorher ein amerikanischer Korrespondent
abgereist war und dass sein Apartment noch leer stand. Es lag
allerdings ein gutes Stück außerhalb der Innenstadt, und man
brauchte einen Wagen und einen russischen Führerschein, wenn man
dort leben und arbeiten wollte. Tatsächlich schlug der
Hoteldirektor den Umzug in diese Unterkunft vor – er hatte deswegen
bereits mit dem UPDK, der
Dienststelle für die Unterbringung und Versorgung des
diplomatischen Korps, verhandelt. Ich hatte allerdings etwas
anderes im Auge, das Hotel Metropol. Kollegen aus Frankreich und
Italien hatten dort im Obergeschoss ihre Büros und Wohnräume, die
Zimmer waren zwar nicht so nobel, dafür aber praktisch. Der
Direktor meines Hotels war erleichtert, als ich ihm davon erzählte.
Ich hatte richtig vermutet: Von Direktor zu Direktor konnte er
erfolgreich verhandeln, ich zog ins Metropol, und ihm stand seine
Edelsuite wieder zur Verfügung. Etwas später bewohnte sie der erste
deutsche Botschafter in Moskau, Wilhelm Haas, während er auf
Residenz und Bürogebäude wartete. So sah ich sie noch ein zweites
Mal: Auf Büttenpapier hatte mir der Botschafter eine Einladung zu
einem Abend der kleinen westdeutschen Kolonie in Moskau geschickt,
und so saßen wir dann zu zweit unter Lenins Porträt und aßen Kaviar
und Bœuf Stroganoff aus der Hotelküche.
Ich versuchte mich in der schwer
durchschaubaren sowjetischen Welt zu orientieren. Von meinen
Kollegen wusste ich, dass es strenge Verbotsregeln gab und eine
Überwachung, die zwar lückenlos schien, aber gleichzeitig
unberechenbar war. Kam ich nach dem Abendessen in meine Räume
zurück, klingelte nach wenigen Minuten das Telefon. Nahm ich den
Hörer ab, meldete sich niemand. Das kannte ich ja schon von der
Reise mit Adenauer. Irgendjemand – und das konnte nur der
KGB sein – wollte prüfen, ob
ich wirklich in mein Zimmer gegangen war. Vor dem Hoteleingang
warteten auch stets wieder Männer in Ledermänteln, und häufig
folgte mir einer von ihnen, wenn ich auf die Straße ging. Er hielt
Abstand, trat zurück, wenn ich umkehrte und ihm entgegenging, und
drehte sich weg, wenn ich den Fotoapparat hob. Die Männer waren
kamerascheu. Einmal suchten zwei von ihnen Deckung im Gemüseladen
nebenan, sie spähten minutenlang durch das Ladenfenster und
warteten darauf, dass ich endlich weiterging.
Und auf meiner Etage saß auch diesmal eine Frau
am Pult, die uns die Zimmerschlüssel gab und notierte, wann man kam
und ging. Die meisten dieser Deschurnajas, der »Diensthabenden«,
wirkten gleichgültig und mürrisch, aber einmal kam ich mit einer
von ihnen ins Gespräch. Sie war besser angezogen als die anderen
und weniger bärbeißig. Sie wusste, dass ich Journalist war, und
erwähnte, dass ihr Mann als Redakteur bei der satirischen
Zeitschrift Krokodil arbeitete, die wegen
ihrer witzigen Aufarbeitung des sowjetischen Alltagslebens beliebt
war. Von da an war die Frau immer freundlich zu mir und gab mir
manchmal einen Tipp: »Heute ist wieder ein heißer Abend«, warnte
sie etwa, wenn in der Hotelhalle oder vor dem Eingang besonders
viele Bewacher warteten. Als ich die Treppe hinabging, hörte ich
dann, wie sie halblaut ins Telefon sprach – wahrscheinlich, um mich
bei den Bewachern anzukündigen.
Als ich mein Visum bei der Sowjetbotschaft in
Bonn abgeholt hatte, hatte ich mich vorsichtig nach den
Zensurbestimmungen in Moskau erkundigt. »Zensur?«, sagte der
Presseattaché. »In der Sowjetunion gibt es keine Zensur.« In Moskau
erfuhr ich dann aber von dem Dutzend westlicher Korrespondenten,
dass keine Meldung und kein Bericht unzensiert übermittelt werden
konnte. Schon der Versuch, die Redaktionskollegen in Köln anzurufen
und mit ihnen über einen langweiligen Leitartikel der Prawda zu sprechen, endete nach wenigen Sekunden.
Die Leitung war tot. Westliche Kollegen erklärten mir schließlich
die Spielregeln: Alle Artikel waren maschinengeschrieben an einem
Schalter im zentralen Telegrafenamt einzureichen. Den Text durfte
man erst dann telefonisch durchgeben – und das auch nur vom
Telegrafenamt aus –, wenn man ihn mit dem Stempelaufdruck »Glawlit«
zurückbekommen hatte, der Abkürzung für »Hauptverwaltung für
Literatur«. Ohne die Genehmigung von »Glawlit« durfte in der
Sowjetunion kein Zeitungsartikel, kein Gedicht, kein Lehrbuch
erscheinen und auch keine Meldung eines Korrespondenten ins Ausland
übermittelt werden. Manchmal waren unsere Berichte mit Bleistift
zusammengestrichen. Gelegentlich erhielt man sein Manuskript erst
nach Stunden oder Tagen zurück; zehn bis zwanzig Minuten für einen
Routinebericht waren normal. Als ich ein paar Monate später in
Deutschland auf Urlaub war, machte ich den schon erwähnten
Presseattaché höflich darauf aufmerksam, dass seine Kenntnis der
Regeln für ausländische Berichterstatter nicht ganz vollständig
sei. »Ach, das war es, was Sie meinten«, sagte er daraufhin. »Das
ist keine Zensur, das ist eine Hilfe, damit durch Missverständnisse
und Irrtümer keine Fehlinformationen veröffentlicht werden.«
Wirklich persönliche und private Gespräche mit
Sowjetbürgern blieben die Ausnahme. Die Moskauer lebten in einem
schwierigen Spannungsfeld. Drei Jahre nach Stalins Tod lag sein
Schatten noch immer über dem Land. Die Zeit der großen
Massenverhaftungen und Hinrichtungen war zwar vorbei, aber selbst
jetzt noch konnte der kleinste Kontakt mit Ausländern Verdacht
erregen oder gar zur Verhaftung führen. Wenn wir ausländischen
Journalisten im zentralen Telegrafenamt saßen und auf die Rückgabe
unserer Manuskripte warteten, beobachteten uns Russen, die hier ein
Auslandsgespräch angemeldet hatten. Wir redeten zu laut und zu
viel, machten Witze, wenn uns die Langeweile packte, versuchten mit
den Telegrafenbeamtinnen hinter den Schaltern über das Wetter und
die Gesundheit zu schwatzen. Die anderen im Raum sprachen nicht
miteinander und schon gar nicht mit uns Ausländern. Mit
verschlossenen Mienen warteten sie darauf, aufgerufen zu
werden.
Gelegenheit für ausführlichere Unterhaltungen
gab es nur aus dienstlichem Anlass: bei offiziellen Interviews,
Fabrikbesichtigungen, Begegnungen auf Empfängen von
Regierungsstellen und Botschaften. Mitunter luden sowjetische
Journalisten zu einem Gespräch ein. Da ging es dann in der Regel
darum, uns ausländische Korrespondenten mit Informationen zu
versorgen, die in keinem sowjetischen Organ veröffentlicht worden
waren, von denen der KGB aber
meinte, wir sollten sie in unseren Heimatländern verbreiten.
Meistens drehte es sich um Fragen der Außenbeziehungen und um
Versuche, im Ausland eine ungünstige Wahrnehmung von sowjetischen
Maßnahmen zu korrigieren. Wir nannten die russischen Kollegen, die
uns solche Informationen zukommen ließen, die »Halbleiter«. Einige
von ihnen waren angenehme Gesprächspartner, neugierig darauf, wie
Journalisten aus dem Westen die Welt betrachteten. Wir redeten mit
ihnen nicht nur über die Themen, für die sie auf uns angesetzt
waren, sondern tauschten uns auch über Film, Theater und Literatur
aus und sprachen ein bisschen über unser Leben und über Ereignisse,
die nicht gerade hochpolitisch waren. Es waren vernünftige Leute
darunter, nicht bloß flache Propagandisten, und mit einem Kollegen,
dem Historiker Lew Besymenski, blieb ich fast fünfzig Jahre lang
bis zu seinem Tod befreundet. Eine gewisse Distanz zwischen uns
blieb dennoch bestehen, und erst nach dem Ende der Sowjetunion
erzählte er mir, dass er zu den Wenigen gehört habe, die den toten
Hitler im Führerbunker gesehen hätten.
Freilich blieb immer die Frage, ob ein
Gesprächspartner, so freundlich er sein mochte, nicht jede unserer
Äußerungen dem KGB meldete.
Sekretärinnen, Fahrer und Hausangestellte mussten angeblich einmal
in der Woche zusammenfassend Bericht erstatten, üblicherweise, so
sagte man, am Mittwochnachmittag. Und letztlich wurde auch uns
Ausländern durch das sowjetische System ein tiefes Misstrauen
eingeimpft. Als mir das UPDK
eines Tages eine Sekretärin und Dolmetscherin schickte, warnten
mich einige Kollegen davor, in ihrer Anwesenheit über Politik zu
sprechen. Aber gerade deshalb verstand ich nicht, warum man Ljubow
Golowanowa ausgesucht hatte. Sie war alles andere als eine gut
organisierte Geheimdienstagentin. Ich merkte sehr bald, dass sie
von politischen Dingen so gut wie keine Ahnung hatte. Die Lektüre
der großen Zeitungen langweilte sie, und die Leitartikel verstand
sie bestenfalls ungefähr. Wenn sie für mich vormittags die
Provinzzeitungen durchging, machte sie mich vorzugsweise auf
Skandalgeschichten aufmerksam: Meldungen über Halbstarken-Krawalle,
unmoralische Mädchen, Betrügereien in der Landwirtschaft. Sie
meinte offenbar, ausländische Journalisten suchten für ihre
Zeitungen Skandale aus der Sowjetunion, und außerdem kam es wohl
ihren eigenen Interessen entgegen.
Ljubow Golowanowas große Liebe aber war die
Bühne. Sie konnte stundenlang über Schauspieler und
Schauspielerinnen erzählen und tat nichts lieber, als Karten für
uns beide zu organisieren. Immerhin kam ich auf diese Weise zu
einigen ungewöhnlichen Theaterbesuchen. Als die berühmte Galina
Ulanowa im Ballett Romeo und Julia auftrat,
führte mich Frau Golowanowa zu einem Nebeneingang des
Bolschoi-Theaters. Ein älterer Herr empfing uns mit tiefer
Verbeugung und führte uns in die Intendantenloge. Ich habe nie
erfahren, als wen sie mich ausgegeben hat.
Eines Tages bat sie mich um Hilfe bei einer
Übersetzung aus dem Deutschen. Für den Verlag des
Komponistenverbandes sollte sie Mozarts Briefe an seine Cousine ins
Russische übertragen. Sie kam mit der verspielten Sprache nicht
zurecht, und eigentlich fand sie manche von Mozarts Scherzen auch
etwas unanständig. Ich konnte ihr nicht wirklich helfen, und die
Übersetzung ist am Ende wohl nie erschienen. Aber dass so ein
Projekt überhaupt versucht wurde, fand ich bemerkenswert, und ein
wenig veränderte es auch mein Bild vom kollektiv vorgestanzten
russischen Intellektuellen.
Ljubow Golowanowa hatte ihre eigene
Skandalgeschichte, die sie mir nach einiger Zeit erzählte. Am
Schwarzen Meer hatte sie im Urlaub einen Mann kennengelernt, war
mit ihm tanzen gegangen und traf ihn dann in Moskau wieder. Nun
hatte sie herausgefunden, dass er nicht bloß verheiratet, sondern
obendrein ein stellvertretender Unionsminister war. In Moskau
konnte er sich nicht mit ihr zeigen. Er wollte sie auf seine
Datscha mitnehmen, aber das schien ihr zu unmoralisch. Manchmal
ließ er sich bei zugezogenen Gardinen in seinem Dienstwagen mit ihr
durch die Stadt chauffieren. Einige Wochen lang erzählte sie mir
fast täglich davon, dann versickerte die Romanze irgendwie. Für
mich blieb die Frage, wie sie die verschiedenen Elemente von Liebe
und Überwachung in ein sowjetisches Frauenleben zusammenfügen
konnte, und natürlich auch, was sie wohl dem KGB über mich berichtet hat.
Die seltsam verspannte Atmosphäre in
Moskau führte dazu, dass wir die lebhaftesten Unterhaltungen dort
hatten, wo man sie am wenigsten erwartete: im Kreml und auf
Botschaftsempfängen. Wenn eine ausländische Regierungsdelegation zu
Besuch war, gab es in der Regel einen großen Empfang im russischen
Regierungssitz und einen Gegenempfang der ausländischen Gäste in
den Botschaften ihrer Länder. Bei diesen Gelegenheiten durften wir
Korrespondenten auf ein Zusammentreffen mit Nikita Chruschtschow
hoffen, der gegenüber Ausländern nicht vor lauten und deutlichen
Worten zurückschreckte. Wenn er mit uns zusammenkam, redete sich
der Parteiführer der KPdSU den
Ärger des Tages von der Seele, mit einer Offenheit, die es sonst in
der Sowjetunion nirgends gab.
Zu den Empfängen im Georgssaal des Kreml waren
üblicherweise rund vierhundert Gäste geladen, die durch die rote
Kordel, an der ich schon während des Adenauer-Besuchs gestanden
hatte, von den ausländischen Ehrengästen, den Parteiführern und
Ministern getrennt wurden. An langen Tischen gab es Stör, Kaviar,
Pilzragout, Spanferkel und allerlei Aufschnitt, dazu Flaschen mit
Champagner, Wodka und Mineralwasser. In diesem Teil des Saals
konnten wir Ausländer mit Leuten ins Gespräch kommen, zu denen wir
sonst nie Zugang hatten: Generäle, Offiziere der Raketentruppen,
Vertreter des staatlichen Planungskomitees, Universitätsrektoren.
Je ranghöher die Gesprächspartner, desto ungezwungener schien die
Unterhaltung, aber sie blieb natürlich konventionell. Immerhin
konnte man führende Leute aus der Nähe betrachten, Schauspieler und
Schriftsteller persönlich kennenlernen, die Gesichter von Ministern
und ZK-Sekretären studieren –
und auch einmal mit dem über siebzigjährigen Marschall Budjonny
über die längst vergangenen Reiterattacken seiner Kosaken reden.
Die meisten im Georgssaal waren jedoch von ihrer Fabrik oder ihrer
Dienststelle entsandt worden, das »Gästeproletariat«, wie wir sie
nannten. Sie aßen schweigend und waren verwundert darüber, dass sie
das große Los einer Kreml-Einladung gezogen hatten. Im Laufe der
ersten Stunde arbeiteten wir Korrespondenten uns dann an die rote
Kordel heran. Chruschtschow hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die
protokollarisch vorgeschriebenen Trinksprüche und die zugehörigen
Wodkas hinter sich und war gelangweilt von den abgezirkelten
Phrasen der Diplomatie. Das war der Augenblick, in dem wir uns
bemerkbar machten, um ihn herüberzulocken. Manchmal kam er, um
gleich Streit anzufangen. »Ist hier ein Engländer?«, fragte er kurz
nach der Suezkrise im Herbst 1956 und setzte dem
Reuters-Korrespondenten den Finger auf die Brust: »Dem britischen
Löwen haben wir den Schwanz abgekniffen.«
Andere Male schien es, als wolle sich
Chruschtschow von dem Ärger befreien, den er aus internen
Gesprächen mitgebracht hatte. Er wetterte dann darüber, dass fast
ausschließlich Kinder von Funktionären an den Universitäten
studierten und nicht einmal zehn Prozent der Studenten aus Bauern-
und Arbeiterfamilien stammten. Oder er schimpfte, dass es viel zu
viele Juristen gebe, die keine nützliche Arbeit täten. Nun wolle
auch noch seine Tochter Julia Jura studieren, dabei seien viele
Jurastudenten doch Juden, die nicht arbeiten, sondern nur eine
höhere Bildung erwerben wollten. Auch über die Trägheit der
Kolchosvorsitzenden und Bauern, über niedrige Ernteerträge und
verrostende Maschinen ließ er sich aus.
Wir ahnten, dass er in einem harten Kampf um
Veränderungen von Politik und Staat steckte, aber er war meist zu
verärgert oder verbittert, als dass er zu langen Diskussionen
bereit gewesen wäre. Stellte einer von uns eine Frage, die ihm
missfiel, dann sah er einen bloß mit seinen eiskalten Schweinsaugen
an. Oft war es schwer für uns, seine Worte zu bewerten. Wollte er
ein Signal an den Westen senden, wenn er sagte, Kommunismus bedeute
nicht Revolution und Umsturz des Kapitalismus, oder räsonierte,
auch Parlamente könnten echte Organe der Arbeiterklasse sein? Es
gebe verschiedene Wege zum Sozialismus, meinte er einmal, und die
Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten sei für Kommunisten nicht nur
möglich, sondern notwendig. Für solche Bemerkungen waren vor ihm
noch Leute nach Sibirien geschickt oder erschossen worden. Später
fanden wir mitunter ähnliche Gedanken, vorsichtiger formuliert, in
offiziellen Dokumenten und Reden wieder.
Ende 1956 lud der chinesische Ministerpräsident
Zhou Enlai am Ende einer Osteuropareise zu einem Empfang in die
chinesische Botschaft. Chruschtschow war ebenfalls anwesend und
erweckte den Eindruck, als seien nun, nach dem Ungarnaufstand und
der Unruhe in Osteuropa, die Krisen und Spannungen, die seine
Entstalinisierung heraufbeschworen hatte, überwunden. Die Gäste im
Saal wirkten lebhafter als sonst. Vielleicht hatten die erfahrenen
Wodkatrinker aber auch nur den hochprozentigen Hirseschnaps Maotai
unterschätzt. Die offiziellen Reden waren vorbei, als Chruschtschow
hinter dem Banketttisch der Ehrengäste noch einmal sein Glas erhob.
»Trinken Sie auf den Sieg des Kommunismus. Dieser Sieg kommt«, rief
er den westlichen Botschaftern zu. »Es ist historisch sicher, dass
wir Sie begraben werden. Ob Sie es wollen oder nicht, der
Kommunismus wird kommen. Das ist, wie wenn eine Frau schwanger wird
und ein Kind gebiert, dann kann man das Kind auch nicht …«
Politbüromitglied Anastas Mikojan, ein nüchterner Armenier, zog
Chruschtschow am Arm. »Nikita Sergejewitsch, wir haben schon
verstanden.« Aber Chruschtschow ließ sich nicht unterbrechen. »Wenn
eine Frau ein Kind kriegt, dann kann das kein Arzt in die Mutter
zurückdrücken. Das kann keiner. Der Kommunismus siegt.« Gastgeber
und Ehrengäste wirkten erleichtert, als Chruschtschow nun mit der
Floskel vom Rad der Geschichte fortfuhr. Die Chinesen blickten
unbewegt vor sich hin, einige westliche Diplomaten tranken
Chruschtschows Toast auf den Sieg des Kommunismus mit, andere
stellten die Gläser weg.
Wir Journalisten wussten oft nicht recht, wie
wir derlei Ausbrüche bewerten sollten, und es blieb immer die
Frage, wie weit der Wodka aus Chruschtschow gesprochen hatte.
Immerhin aber verdanke ich einem solchen Moment mit dem
sowjetischen Parteiführer eine Reise, die mich 1958 nach Sibirien
führen sollte, in den fernen Osten der Sowjetunion. Auf einem
Empfang in der italienischen Botschaft hatte sich Chruschtschow mal
wieder mit uns Korrespondenten angelegt. Wir verstünden nichts von
Russland und den Russen. »Ihr müsst viel mehr mit den einfachen
Menschen reden«, sagte er. »Die einfachen Menschen reden nicht gern
mit uns«, antworteten wir. »Dann müsst ihr sie zu euch einladen«,
gab er zurück. »Die kommen nicht zu uns«, sagte ein Kollege, »vor
jedem unserer Häuser steht ein Polizist, und der lässt sie nicht
herein.« Einer der Leibwächter drängte sich zwischen uns und
erklärte, die Polizisten seien nicht dazu da, die Ausländer zu
isolieren, sondern um sie zu schützen: »Was würden Sie sagen, wenn
ein Mann in Ihr Haus kommt und Sie ermordet?« Chruschtschow schob
den Leibwächter beiseite und empfahl uns, möglichst oft aus Moskau
aufs Land zu reisen, wo die Menschen offen und gastfreundlich seien
– am besten ins weite Sibirien.
Am nächsten Morgen schickte ich einen
Reiseantrag an die Presseabteilung des Außenministeriums: Der Erste
Sekretär der KPDSU, Nikita
Sergejewitsch Chruschtschow, habe mich bei einer Begegnung in der
italienischen Botschaft aufgefordert, über die Menschen in Sibirien
zu berichten. Im Außenministerium begann eine schwierige Beratung,
wie ich viele Jahre später erfuhr: Hatte Chruschtschow seine
Aufforderung ernst gemeint? Wollte er wirklich, dass ein Journalist
aus Westdeutschland nach Sibirien reiste? Man hätte ihn fragen
können, aber niemand war erpicht darauf, beim großen reizbaren Chef
nachzuhaken. Da schien es einfacher, mich reisen zu lassen. Nach
einer Woche kam eine Rückfrage: Wohin ich in Sibirien fahren wolle?
Das war nun nicht so leicht zu beantworten. Die wenigen größeren
Städte im Süden Sibiriens interessierten mich nicht besonders. Im
Norden dagegen war seit dem Zweiten Weltkrieg, als dort
amerikanische Hilfslieferungen auf dem Seeweg angekommen waren,
kein westlicher Ausländer mehr gewesen. Auf gut Glück nannte ich
einen Namen, der mir aus dem Erdkundeunterricht in Erinnerung war:
Werchojansk, in Lexika verzeichnet als kältester Ort der Erde mit
einer Minustemperatur von 67,8 Grad. Und dann suchte ich im Atlas
ein paar weitere Städte, größere und kleine Orte. Tatsächlich bekam
ich daraufhin einen Reiseplan vorgelegt, der mich bis fast an den
Pazifik führen sollte.
Vierzig Stunden samt Zwischenstopps und
Verspätungen brauchte die zweimotorige Maschine, um über den Ural,
über eine Mondlandschaft abgeernteter riesiger Getreidefelder, über
die Sümpfe der Tundra und dünn bewaldetes Bergland ins breite
Stromtal des Lena-Flusses zu gelangen. Bei nächtlichen
Zwischenlandungen auf kleinen Flughäfen kam man sich vor wie im
Flüchtlingslager; die einstöckigen hölzernen Hotels mit ihren
Sechsbettzimmern waren zu klein und die Zahl der Reisenden zu groß.
Manche lagen auf dem Fußboden, hockten auf Fensterbrettern und
Balustraden oder schliefen mit ihrem Koffer als Kissen; einige
Familien teilten sich mit Gepäckstücken und Holzbänken kleine Ecken
des Raumes ab, die Frauen gaben ihren Babys die Brust, die Männer
holten sich Wodka und Bier, aber niemand klagte, niemand schien
unzufrieden. In Jakutsk, der Hauptstadt der sibirischen Republik
Jakutien, wartete ich einen Tag und eine Nacht lang auf die nächste
Maschine. Dann wurden wir endlich aufgerufen: Eine LI-15 stand bereit, ein Flugzeug mit Platz
für zwölf bis fünfzehn Personen. Die Maschine flog auf Sicht –
einmal lag eine menschliche Siedlung, ein Rentier-Kolchos, unter
uns, dann wieder Bergtaiga mit dünnen Wäldern und moosbedeckten
Ebenen.
Schließlich flog die LI-15 ganz tief über eine Hügelkette und
bog in ein breites Tal ein. Da standen ein flaches Holzhaus und ein
Mast mit einem Windsack. Die Wiese unter uns war der Flugplatz.
Nach der Landung ging ich etwas unentschlossen zu dem kleinen Haus,
aber da kam schon ein hochgewachsener Ukrainer in der blauen
Uniform von Aeroflot auf mich zu. Er war der Chef des Flughafens
und fragte, ob ich angemeldet sei, was ich vorhätte und wie lange
ich bleiben wolle. Er wirkte nicht sonderlich überrascht von dem
ausländischen Besucher. Dann schlug er vor, mich in den Ort zu
begleiten, ein Fußweg von fünf Minuten.
Die ersten Gebäude von Werchojansk wirkten
nicht gerade einladend: flache Blockhäuser, umgeben von einem
meterhohen Erdwall, mit flachen Dächern, die mit einer Erdschicht
bedeckt waren. Die ärmsten Häuser des Orts, sagte der
Flughafenchef, aber ich bemerkte, dass es viele von dieser Art gab.
Der Sitz des Ortssowjets war ein einstöckiger Holzbau, besaß jedoch
ein richtiges Dach, war mit Lehm verkleidet und weiß gekalkt. Im
Hof weidete eine Kuh. In der großen halbdunklen Diele summte ein
Wasserkessel, wie in einem Bauernhaus. Dann betrat man das Büro und
war wieder in der Sowjetunion: ein Raum mit dem typischen langen,
grün überzogenen Konferenztisch, an dem Funktionäre überall im
Lande ihre Sitzungen abhielten. Der Ukrainer von Aeroflot stellte
mich zwei Männern vor, dem Vorsitzenden des Ortssowjets und seinem
Stellvertreter, beides Jakuten, die mit Ausländern hier noch nie zu
tun gehabt hatten.
»Kalt heute, nicht wahr?«, fragte mich der
stellvertretende Vorsitzende. »Bald wird es Winter, dann ist es
hier richtig kalt. Das macht uns nichts aus. Wir leben hier ganz
gut, nicht gerade reich, aber auch nicht arm.« Eigentlich sei ich
zu früh gekommen, meinten beide, denn noch gebe es nur milde
Nachtfröste. Im Dezember oder Januar würde es für einen Touristen
richtig interessant. Und dann erzählte der Vorsitzende, dass er im
Krieg bis Wien gekommen sei. Dort sei das Klima ja sehr angenehm.
In Wien gebe es das ganze Jahr Gemüse zu essen. Hier in Werchojansk
lebe eine Frau, die habe sogar Kartoffeln gepflanzt und könne sie
jetzt ernten. Das solle ich mir mal ansehen. Während der
Vorsitzende einen Lehrer anrief, der als Leiter der Kulturabteilung
von Werchojansk arbeitete, fragte mich sein Stellvertreter über
Deutschland aus. Ob die Teilung noch lange dauern werde, ob man von
einem Teil in den anderen reisen könne. Ich erklärte ihm die
Verhältnisse, woraufhin der Vorsitzende, der inzwischen sein
Telefonat beendet hatte, sich wieder ins Gespräch einmischte: »So
was kann man sich gar nicht vorstellen«, sagte er kopfschüttelnd.
»Jakutien geteilt – in Ostjakutien und Westjakutien –, und die
Leute können nicht mehr über den Lena-Fluss zusammenkommen.« Er
verabschiedete sich, stieg auf sein Rad und fuhr zum Angeln.
Der Stellvertreter zeigte mir meinen
Schlafplatz. Auf der anderen Seite der großen Diele befand sich ein
Raum mit drei eisernen Bettgestellen. Bettzeug und Wolldecken lagen
auf der Matratze. Es gab einen kleinen, mit Lehm ummauerten Ofen,
drei Stühle und einen Tisch, auf dem eine Karaffe mit kaltem Tee
stand. »Tee«, meinte mein Gastgeber, »Tee muss sein, damit man
sieht, dass das Wasser wirklich abgekocht ist.« Auf zwei
Marmeladengläsern standen Kerzen. Daneben lag eine Schachtel
Streichhölzer. Auf einem Bett schlief ein Mann bereits, auf dem
anderen saß ein junger Jakute, den ich schon im Flugzeug gesehen
hatte. Dann machte mich der stellvertretende Vorsitzende des
Ortssowjets mit dem Lehrer Innokenti Roschin bekannt, einem kleinen
mageren Mann und reinblütigen Jakuten, wie er dabei ausdrücklich
betonte. Roschin sagte sofort, er sei in Werchojansk geboren und
aufgewachsen. Als er hörte, dass ich während meines kurzen
Aufenthalts in Jakutsk die Universität besichtigt hatte, wollte er
wissen, ob der Direktor ein Russe oder ein Jakute sei. Die Frage
der Nationalität war ihm offenkundig wichtig. Er schlug nun vor,
erst einmal mit mir in der Ortskantine essen zu gehen:
Kartoffelsuppe, Schweinegulasch mit Reis, Rote Grütze und Kakao.
Bezahlen durfte ich nicht. »Ich weiß den Gast zu ehren. Bei uns
braucht der Gast nicht zu bezahlen. Er ist Gast.« Nach dem Essen
nahm mich der Lehrer mit zu sich nach Hause. Wir gingen die
Hauptstraße von Werchojansk entlang, die damals immer noch
Stalinstraße hieß – die Entstalinisierung war offenbar noch nicht
bis hierher vorgedrungen. Auf halbem Weg lag ein kleiner
eingezäunter Platz mit einer Holztribüne. An Feiertagen winkte hier
der Vorsitzende des Ortssowjets dem Volk zu, den 1500 Menschen aus
dem Dorf und von den Rentier-Kolchosen der Umgebung. Die Straße
selbst ging irgendwann in einen schmalen Weg über, der sich in den
graubraunen Hügeln verlor.
Eines der Zweifamiliengebäude, die neben der
Schule lagen, war das Lehrerhaus. Roschins Arbeitszimmer wirkte
trostlos und kahl, ein roher Holztisch mit einem Stuhl und ein
überladenes Bücherregal. Auf dem Fußboden stapelten sich neben
Lehrbüchern und Schulheften Werke von Marx, Engels, Lenin, Stalin –
sogar ein Band mit Gedichten von Heinrich Heine war dabei. Von der
Decke hing eine nackte Glühbirne. Ob man in Deutschland auch Marx,
Engels, Kautsky und Lenin studiere, fragte Roschin, und ob es bei
uns auch viele Bilder von Lenin, Marx und Engels gebe. Meine
Antwort überraschte ihn nicht. Er war politisch geschult und
wusste, dass die Bundesrepublik Deutschland kein fortschrittliches
Land war. Unsere Unterhaltung blieb zäh: Auf seiner Seite bestand
sie fast nur aus Phrasen.
Später am Nachmittag luden mich meine beiden
Zimmernachbarn ein, mit ihnen einen Film zu sehen. Ein Kino besaß
Werchojansk zwar nicht, aber im Kulturhaus gab es ein Zimmer mit
dreißig Stühlen und einem Projektor. Wir warteten gespannt, was man
uns zeigen würde, und zu meiner Überraschung war es schließlich ein
französischer Film, Lohn der Angst mit Yves
Montand. Im Westen galt das als ein spannendes sozialkritisches
Stück, in Werchojansk faszinierte der Film, weil er ein Land
zeigte, in dem ständig die Sonne schien und die Opfer des
Kapitalismus Whiskey tranken. Dazu erklang flotte südamerikanische
Musik. So nahm die soziale Anklage im Kulturhaus von Werchojansk
fast märchenhafte Züge an. Der düstere Schluss konnte daran nichts
ändern, denn wir bekamen ihn nicht zu sehen: Die Vorführung brach
mittendrin ab, und es hieß, der zweite Teil solle in einigen Wochen
gezeigt werden. Ich konnte freilich bei meinen jakutischen
Zimmergenossen dadurch punkten, dass ich ihnen das Ende erzählte.
Sie waren unterwegs zu ihren Rentierherden und hätten ohne mich
wohl nie erfahren, wie die Geschichte ausgegangen ist.
Als ich Werchojansk zwanzig Jahre später in der
Breschnew-Zeit erneut besuchte, hatte sich der kleine Ort nur wenig
verändert. Im Gegensatz zum Lehrer Innokenti Roschin, der jetzt
neue Fragen stellte: Ob die deutsche Industrie wirklich so gut
funktioniere und ob sie dazu beitragen könne, Sibirien zu
erschließen. Er sprach inzwischen auch mehr von jakutischen
Traditionen als vom Marxismus. 1992, bei unserer dritten Begegnung, war
Roschin dann Abgeordneter des jakutischen Parlaments. Nun ging es
ihm darum, die Bodenschätze Jakutiens gegen die Ausbeuter aus
Moskau zu verteidigen. Mittlerweile war die zweistöckige Schule
fertig geworden, und gemeinsam mit dem Ortsvorsitzenden erzählte er
mir davon, wie man künftig Jagdfreunde aus dem Westen als Touristen
nach Werchojansk holen werde. Daraus war allerdings nichts
geworden, als ich 1997 zum vierten Mal Werchojansk anflog – der
einzige Westeuropäer, der sich viermal in seinem Leben für den
kleinen Ort interessiert habe, meinte der Ortsvorsitzende. Roschin
war nunmehr der Direktor der Schule, die einige Jahre zuvor zur
besten ländlichen Schule Russlands gewählt worden war. Als ich ihn
zu Hause aufsuchen wollte, war er nicht da. Er war zu einer
medizinischen Behandlung in der Hauptstadt Jakutsk, wie mir seine
Frau Swetlana erzählte. Sie zeigte mir ihr Treibhaus: zwei Meter
hoch, verglast, fast hundert Quadratmeter groß, mit einem Holzofen
in der Mitte. So etwas habe es früher nicht gegeben, sagte sie und
präsentierte mir Tomaten und Gurken, Kürbisse und Paprikaschoten.
Zum Schluss gab sie mir die Telefonnummer der Wohnung, in der ihr
Mann auf die Untersuchung im Krankenhaus von Jakutsk wartete. Er
war nicht sonderlich überrascht von meinem Anruf. Wir sähen uns
eigentlich alle zehn Jahre, meinte er, und diesmal seien eben nur
fünf vergangen.
Am Sonntagnachmittag trafen wir uns im Park
hinter dem Sportstadion von Jakutsk. Dort kam er mit alten Freunden
zusammen, gemeinsam tanzten sie jakutische Volkstänze, und der
Vorsänger improvisierte Lobgesänge auf die Natur und die Menschen,
die in ihr leben. Irgendwann nahm Roschin mich an der Hand und
reihte sich mit mir in den Reigen ein. Es waren lauter ältere
Leute, pensionierte Lehrerinnen und Schuldirektoren, Frauen aus der
Bezirksverwaltung, Leiterinnen kleinerer Krankenhäuser, Partei- und
Staatsfunktionäre, eine weißhaarige Frau war sogar Abgeordnete des
Obersten Sowjet in Moskau. Roschin und ich setzten uns anschließend
auf eine Parkbank und dachten über die vergangenen fast vierzig
Jahre nach. Er selber habe sich verändert und sein Leben auch,
sagte er. »Als ich jung war, wollte ich an die Hochschule, um die
Wahrheit zu lernen und für sie zu kämpfen. In dieser Hinsicht haben
sich meine Prinzipien nicht gewandelt. Aber als Student und junger
Lehrer habe ich alles vom Standpunkt der kommunistischen Ideologie
aus gesehen. Das ganze Leben lag unter dieser Kuppel, und ich will
diese Lehre auch heute nicht völlig wegwerfen. Da war ja auch die
Idee der Gleichberechtigung von Menschen und Völkern. In diesem
Sinne bin ich auch heute nicht gegen die marxistisch-leninistische
Lehre, aber diese Doktrin war eben ganz einseitig, und dann wurde
sie auch noch durch Stalin entstellt. Also bin ich dafür, dass sich
unsere Gesellschaft in Richtung Demokratisierung bewegt, trotz all
der Schwierigkeiten, die wir heute haben. Früher sollte es nur den
Sowjetmenschen geben. Aber die Menschen sind doch verschieden, mit
unterschiedlichen Interessen und Begabungen, ganz abgesehen von
ihrer nationalen Herkunft. Bei uns steht nun auch die jakutische
Kultur auf dem Lehrplan. Man muss doch seine Muttersprache sprechen
können.« Auf unserem kleinen Planeten seien es die Unterschiede der
Kulturen, die das Leben reich und vielfältig machten, meinte der
alte Schuldirektor. Andrej Sacharow, der Atomwissenschaftler und
Friedensnobelpreisträger, habe solche Prinzipien vertreten. Sein
früher Tod habe ihm wehgetan, sagte der Schuldirektor zu mir.
»Vieles ändert sich, das muss so sein. Wir beide werden uns nicht
mehr entwickeln. Wir sind ja gleich alt und halten uns aufrecht.
Sie arbeiten, ich arbeite, das ist das Beste dabei.« Es war unser
letztes Gespräch, und bis heute ist für mich eine Frage offen: War
der junge Innokenti mit seinem Sermon kommunistischer Theorie bei
unserer ersten Begegnung fünf Jahre nach Stalins Tod bloß
vorsichtig gewesen oder hatte sich sein Weltbild im Laufe der Jahre
tatsächlich so stark gewandelt? Auffällig jedenfalls war, dass
Roschin mit mir nie über das Leben unter Stalin gesprochen hat.
Immerhin lag das kleine Werchojansk in dem riesigen Gebiet der
Arbeits- und Todeslager.
Als ich mich 1958 von Werchojansk zum ersten
Mal verabschiedete, hatte ich den Reiseplan der Moskauer Behörden
in der Tasche, auf dem fast nur noch große Städte standen: Irkutsk,
Tschita und Chabarowsk im fernen Osten. Doch was in Moskau geplant
worden war, ließ sich nicht so einfach realisieren. Ein Abschnitt
der Reise wurde am Abend vor der Weiterfahrt von Jakutsk ersatzlos
gestrichen: Die Polizei teilte mir mit, die vorgesehene Strecke sei
für Ausländer gesperrt. Daraufhin musste ich in einen kleinen Ort
an der mittleren Lena fliegen – »sozusagen ins Nichts«, wie die
junge Frau bei Intourist sagte, die meine Reise umbuchte. Mir tat
es nicht leid, denn je kleiner und abgelegener die Orte waren,
desto mehr interessierten sie mich. Nach drei Tagen in Olekminsk
bekam ich einen Anschlussflug nach Süden in die Großstadt Irkutsk
und dann weiter Richtung Osten. Diesmal blieb ich ungeplant in
Birobidschan, einer Kleinstadt im äußersten Südosten der
Sowjetunion. Fünfunddreißig Jahre zuvor war sie als
Siedlungszentrum für die Juden Russlands ausersehen worden, dann
aber war ihre Entwicklung bald steckengeblieben. Für mich wurde
Birobidschan zum Endpunkt meiner Sibirienreise. Ein Mann von der
Stadtverwaltung hatte ein Telegramm aus Moskau erhalten: Das
eigentlich vorgesehene Ziel, die große Industriestadt Chabarowsk,
sei für Ausländer gesperrt worden.
Eine andere Rückreiseroute stand jedoch nicht
auf meinem Plan. Ich versuchte meine Sekretärin in Moskau
anzurufen, doch erst zwei Tage nach der Anmeldung gab es eine
Verbindung. Ich wisse nicht, wie ich nach Moskau kommen solle,
sagte ich, in Birobidschan gebe es keinen Flugplatz. Sie möge mit
den Ausländerbehörden klären, welche Route ich benutzen solle.
Anderthalb Tage später kam die telegrafische Antwort: »Abwarten bis
ein Platz frei.« Ich hatte Deutsch mit meiner Sekretärin gesprochen
– das war ein Fehler gewesen. Sie hatte verstanden, es gebe keinen
Platz im nächsten Flug nach Moskau, und so hatte sie es auch der
Ausländerbehörde mitgeteilt. Und selbst beim KGB wusste man offenbar nicht, dass in
Birobidschan kein Flughafen existierte. Bis Chabarowsk waren es
bloß noch 170 Kilometer, aber ich traute mich nicht, durch diese
offenbar neu eingerichtete Sperrzone zu fahren.
In Birobidschan hatte ich inzwischen alle
Sehenswürdigkeiten besucht, die kleine Synagoge und die Bibliothek
mit Büchern in Russisch und Jiddisch, erschienen in einem jüdischen
Verlag, der zehn Jahre zuvor geschlossen worden war. Nun half mir
der Ortsvorsitzende. Ich merkte, dass er mich loswerden wollte, und
tatsächlich brachte er mich zum Bahnhof, kurz bevor ein Zug der
Transsibirischen Eisenbahn in Richtung Moskau fahren sollte. Er
half mir, ein Billett zu kaufen – allerdings nur bis Tschita, zwei
Tage Bahnfahrt entfernt und immer noch weit weg von Moskau. In
Tschita wiederum hatte ich auf der Hinfahrt die Chefin des
Intourist-Büros kennengelernt, die mir nun ein Flugticket nach
Irkutsk besorgte. Als ich dort landete, war gerade auch eine große
Düsenmaschine aus Peking angekommen. Mit dem Koffer in der Hand
begab ich mich zum Schalter von Intourist. Gegen fünfzig Rubel
Zuschlag durfte ich schließlich in die Maschine umsteigen, die nach
Moskau weiterfliegen sollte. Irgendwie gefiel mir der Gedanke, dass
die Behörden in Moskau, die doch jeden Schritt eines Ausländers
beobachten wollten, noch weniger als ich wussten, wo ich mich
eigentlich aufhielt. Und so war ich bereits wieder in meinem Hotel
am Roten Platz, während mich der KGB noch am anderen Ende des Landes
vermutete.
Mittlerweile wohnte ich wieder im
National, und dort war es auch, dass ich eines Abends, als ich mit
dem Fahrstuhl in mein Zimmer fuhr, so etwas wie Jazzmusik hörte, es
klang nach Cool Jazz, damals das Neueste aus Amerika. Die Musik kam
aus dem Restaurant. Der Speisesaal war überfüllt, bevölkert von
jungen Leuten, die aussahen, als lebten sie in Saint Germain des
Prés oder Schwabing, Männern mit Existenzialistenbart und Frauen,
die ihr langes Haar à la Juliette Gréco frisiert hatten. An einem
runden Tisch saßen Komponisten, Musiker und Musikkritiker, wie sich
später herausstellte, und klatschten mit großem Vergnügen. An einem
anderen Tisch lauschten Offiziere in Uniform mit ihren Mädchen
misstrauisch den ungewohnten Klängen, und dann waren da auch recht
gut angezogene Männer mit ein paar jungen Frauen, so schick
gekleidet, wie man sie in Moskauer Restaurants selten sah. Ein paar
ältere Leute, offenbar Hotelgäste, hatten sich auf der Suche nach
einem Abendessen in diesen Saal verirrt. Sie ertrugen die Musik und
aßen, ohne zu protestieren.
Zwei der jungen Musiker, den Pianisten und den
Schlagzeuger, hatte ich schon einmal kurz getroffen – im
Gorki-Institut für Weltliteratur. Da hatten sie den Auftritt von
einigen blutjungen Dichtern begleiten wollen, doch das hatte die
Leitung nicht genehmigt. Die beiden studierten am Konservatorium,
andere wollten Ingenieure und Ärzte werden, und es gab an den
Moskauer Universitäten und Instituten noch sehr viel mehr Jazzfans.
Während der Weltjugendfestspiele 1957 in Moskau, bei denen die
Sowjetführung Modernität demonstrieren wollte, hatte diese Band
sogar den zweiten Preis gewonnen. Nun jazzten sie im feinen
National, durch dessen große Fenster man auf die Kremltürme mit den
leuchtenden roten Sternen blickte. Der Direktor des Hotels hatte
überlegt, wie er in den Wochen des Jahres, wenn kaum ausländische
Touristen kamen, Gäste in sein Restaurant locken könnte. Da hatte
man ihn auf die Amateurband aufmerksam gemacht, die während der
Weltjugendfestspiele mit Rücksicht auf die Ausländer gewissermaßen
behördlich anerkannt worden war. Und nun waren in dem langweiligen
Restaurant alle Tische besetzt.
So gab es einige Monate Jazz gegenüber vom
Kreml. Dann allerdings meinten die jungen Musiker, dass sie nicht
nur als geduldete Amateure auftreten, sondern ganz professionell
ihren Anteil von den Einnahmen bekommen sollten – doch dem
Hoteldirektor war es ohnehin schon mulmig bei dem Gedanken an die
Kritik, die früher oder später von der Partei und vom
kommunistischen Jugendverband kommen würde. Als die jungen Jazzfans
ein paar Tage nicht mehr auftreten wollten, heuerte er kurzerhand
eine Kapelle von Berufsmusikern an, und nun erklangen im spießig
eingerichteten Speisesaal wieder der Amur-Wellen-Walzer, die
Donkey-Serenade und ab und zu ein eingängiges Stück von Gershwin.
Zwar wurde der Saal nicht mehr voll, aber dafür schob sich nun ein
gemischtes mittelaltes Publikum über das Parkett, an dem selbst der
Jungkommunistenverband nichts auszusetzen hatte.
Ich war über zehntausend Kilometer durch
Sibirien gereist, aber jetzt saß ich wieder in Moskau mit extremer
Reisebeschränkung: Vom Roten Platz aus, auf den ich von meinem
Hotelzimmer blicken konnte, durfte ich mich nur in einer Zone mit
einem Radius von dreißig Kilometern frei bewegen. Und selbst
dreißig Prozent von dieser Zone waren Sperrgebiete. Interviews und
Besichtigungen wurden von unbekannten Dienststellen organisiert und
waren meist kaum mehr als Pressekonferenzen mit vorbereiteten
Erklärungen. Bitten um Begegnungen mit sowjetischen Intellektuellen
und Professoren blieben meist unbeantwortet. Aber es gab auch
Ausnahmen. So hatte es seit Ende 1957 im Fall des Dichters Boris
Pasternak eine Entwicklung gegeben, die es den sowjetischen Stellen
nützlich erscheinen ließ, ausländischen Korrespondenten ein Treffen
mit dem berühmten Schriftsteller zu vermitteln.
Boris Pasternak war einer der großen Lyriker
zur Anfangszeit der Sowjetunion gewesen, gemeinsam mit Majakowski
und Jessenin gefeiert als einer der Dichter des sogenannten
Dreigestirns. Die beiden anderen hatten später unter dem Druck der
stalinistischen Diktatur Selbstmord begangen; Pasternak dagegen war
es gelungen, als Übersetzer bedeutender Werke der Weltliteratur,
von Goethe und Shakespeare, die Jahre der Unterdrückung zu
überstehen. Seit langer Zeit hatte er an dem Roman Doktor Schiwago gearbeitet, einem Buch über das
Schicksal russischer Menschen in den Aufbaujahren der Sowjetunion –
kein antisowjetisches Pamphlet, sondern eine tief empfundene,
nachdenkliche Auseinandersetzung mit dem schwierigen Leben als
Intellektueller unter Stalin. Jahrelang schien es, als habe der
Roman keine Chance auf Veröffentlichung. Doch mit Stalins Tod im
März 1953 begann eine Zeit, für die der Autor Ilja Ehrenburg in
einer gleichnamigen Novelle die Bezeichnung »Tauwetter« fand.
Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler
fingen an, sich wieder vorsichtig mit der Wirklichkeit des Lebens
auseinanderzusetzen. Sie wagten es zwar nicht, die
Ungerechtigkeiten des Sowjetsystems offen zu benennen, aber sie
wollten, dass die Fehler und Härten der Vergangenheit beseitigt
würden. Viele erinnerten sich jetzt auch wieder an Boris Pasternak.
Alte Bekannte meldeten sich, Schriftsteller, Musiker und
Schauspieler trafen sich in seinem Haus, und immer häufiger standen
junge Frauen mit den Gedichtbänden der zwanziger und dreißiger
Jahre vor seiner Tür und erbaten ein Autogramm. Ein Jahr nach
Stalins Tod druckte eine Moskauer Literaturzeitung zum ersten Mal
wieder zehn Gedichte von ihm ab: »Verse aus dem Roman in Prosa
›Doktor Schiwago‹«. Das Parteiorgan Prawda
indes reagierte schnell und attackierte den Dichter als
Dekadenzler, Symbolisten und subjektivistischen Individualisten. Im
Westen, wo man mittlerweile auch nach Pasternaks Schicksal und dem
neuen Roman fragte, verkündete der Leiter der Auslandsabteilung des
sowjetischen Schriftstellerverbands, Pasternak habe seinen Roman
nicht beendet, weil er durch seine Arbeit als Übersetzer reich und
träge geworden sei. Zwei Jahre vergingen, ohne dass eine Zeile von
ihm in der Sowjetunion gedruckt werden konnte. 1955 wurde Pasternak
schließlich zu einer offiziellen Veranstaltung nach Moskau
eingeladen: Der deutsche Dichter Bertolt Brecht, der den
Stalin-Preis erhalten sollte, hatte explizit darum gebeten. Doch
der russische Dichter sagte ab und arbeitete lieber in aller Stille
weiter. Ende 1955 war Doktor Schiwago
vollendet.
Das Manuskript wurde nun in Redaktionen
begutachtet und von Parteiorganen überprüft. Mehrfach wurde
verlautet, Doktor Schiwago werde in wenigen
Wochen oder Monaten erscheinen. Ein junger Redakteur in Moskau, so
hieß es, solle noch einige notwendige Kürzungen vornehmen.
Pasternak war mit solchen Eingriffen in seinen Text durchaus
einverstanden. Er gehörte zwar nicht zu jenen Autoren, die ihre
Bücher nach den Parteirichtlinien umschrieben, aber es war ihm
recht, wenn eine gekürzte Ausgabe in der Sowjetunion herauskam.
Tolstois Auferstehung sei in erster Ausgabe
auch nur in einer von der Zensur gekürzten Fassung gedruckt worden,
sagte er zu seinen Freunden. Es vergingen Monate, in denen eine
Stelle der anderen die Verantwortung zuschob. Die Entscheidung
zögerte sich immer weiter hinaus – am Ende sollte es noch drei
Jahrzehnte dauern, bis Doktor Schiwago
offiziell in der Sowjetunion erscheinen durfte. Allerdings lag das
Manuskript mittlerweile in Mailand auf dem Schreibtisch des
kommunistischen Verlegers Giangiacomo Feltrinelli. Ein
italienischer Kommunist, der beim Schriftstellerverband in Moskau
als Lektor arbeitete, hatte Feltrinelli eine Kopie des Manuskripts
geschickt, als die Veröffentlichung in der Sowjetunion noch kurz
bevorzustehen schien. Um nun eine italienische Ausgabe zu
verhindern, wurde der erste Sekretär des sowjetischen
Schriftstellerverbands, Alexej Surkow, nach Mailand in Marsch
gesetzt. Nichts in seiner Karriere hatte Surkow auf
feinfühlig-diplomatische Gespräche mit italienischen
Intellektuellen vorbereitet. Er drohte ihnen mit dem Ausschluss aus
der kommunistischen Partei, falls sie die Veröffentlichung von
Doktor Schiwago unterstützten. Feltrinelli
trat daraufhin aus der kommunistischen Partei aus, viele seiner
Mitstreiter waren über die versuchte Einflussnahme verärgert und
verstört, und die Geschichte erregte am Ende internationales
Aufsehen. Ausländische Beobachter nahmen sie zum Anlass, an das
Schicksal sowjetischer Dichter und Schriftsteller und an die große
Zahl der Verhaftungen und Selbstmorde unter Stalin zu erinnern.
Nachdem dann der Roman 1957 in Italien erschienen war, kam
schließlich auch das Gerücht auf, Pasternak sei der nächste
Kandidat für den Literaturnobelpreis. In dieser Situation beschloss
das sowjetische Staatskomitee für kulturelle Beziehungen mit dem
Ausland, uns westliche Korrespondenten zu einem Besuch der
Schriftstellerkolonie Peredelkino einzuladen. Wir sollten einmal
mit eigenen Augen sehen, dass Pasternak doch ganz gut lebte.
Ich wusste, dass Boris Pasternak, der
Übersetzer von Faust I und Faust
II, gut Deutsch können musste,
und bat darum, ihn allein und nicht zusammen mit den englischen und
amerikanischen Kollegen besuchen zu dürfen. Der Bitte wurde
entsprochen, und so fuhr mich ein Chauffeur Ende 1957 in einem
großen schwarzen Mietwagen nach Peredelkino, über die
Dreißig-Kilometer-Zone hinaus, an der meine Reisefreiheit
normalerweise endete. In der Schriftstellerkolonie, die Stalin in
den dreißiger Jahren hatte erbauen lassen, bewohnte Pasternak eine
zweistöckige Datscha am Waldrand. Hier stand nun ein großer Mann
lachend auf der Treppe und winkte mir zu – ein ungewöhnlicher
Empfang in der Sowjetunion mit ihrer von Vorsicht und Misstrauen
geprägten Atmosphäre. Die Notizen von dieser ersten Begegnung habe
ich bis heute aufbewahrt.
Aus der scharfen Winterkälte trat ich durch
eine schmale Tür in die warme Küche. Boris Pasternak schüttelte mir
beide Hände, als ich mich auf Russisch vorstellte. »Sie sind also
der angekündigte Korrespondent aus Westdeutschland«, sagte er auf
Russisch, um dann auf Deutsch fortzufahren: »So jung und schon so
verdorben.« Das war ein Witz, den er noch aus seiner Studentenzeit
in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg kannte. Es war eine
unerwartet herzliche und stürmische Begrüßung, ehe seine Frau uns
in einen hellen Raum mit großen Fenstern im ersten Stock
hinaufführte. Ein Schreibtisch stand darin, dazu ein
Kleiderschrank, neben dem ein paar Koffer lagen, einige Holzstühle
und ein schmales, dunkel gebeiztes Bücherregal. Da gab es ein
großes englisch-russisches Wörterbuch neben einer alten russischen
Bibel, und da standen die Werke Franz Kafkas in einer deutschen
Ausgabe neben Marcel Proust auf Französisch. »Ich habe Kafka noch
nicht gelesen, gerade erst bekommen«, meinte Pasternak. »Ich lese
eben Proust. Sehr, sehr schön zuweilen, aber etwas fehlt mir dabei.
Aber darüber sprechen wir später.« Und dann begann fast ohne
Übergang ein turbulentes Selbstgespräch, der Versuch des Dichters,
sein Werk und sein Schaffen zu definieren und abzugrenzen. Die
Namen Rilke, Thomas Mann, T.S.
Eliot, James Joyce erschienen und verschwanden im Strudel der
Vergleiche. »Die Kraft von Thomas Mann und Rilke in einer Person
vereint – das wäre ein Kunstwerk.« Thomas Mann, das sei zu viel
Experimentalstudio, auch zu viel Essay für literarische
Zeitschriften. Aber seine Kunst verbunden mit der Feinfühligkeit
und Tiefe, mit dem Sinn jenes Rilke, der den Malte Laurids Brigge schrieb, das wäre etwas! Und
was für ein Roman wäre der Ulysses von
James Joyce geworden, wenn darin die Klarheit der Erzählung von den
Dubliners bewahrt geblieben wäre! Erregt
und begeistert sprach Pasternak über die westliche Literatur der
zwanziger Jahre, wie er sie selbst erlebt hatte und über die er
seit fast drei Jahrzehnten in seinem Heimatland nicht mehr
öffentlich reden durfte.
Er sei ein moderner Mensch, so Pasternak, und
wenn er auch ein großes Stehpult habe, das an Goethe erinnere, so
sei es nur wegen seines Beinleidens aufgestellt. Er müsse in der
Formenwelt der Gegenwart schaffen. In Goethes Werk hätten sich alle
Strömungen seiner Zeit wiedergefunden, überindividualistisch,
überaktuell, nicht nur als persönliches Bekenntnis. Und dann
sprachen wir plötzlich von Doktor Schiwago.
Er sagte: »Ich bedaure nicht, dass mein Roman im Westen erscheint,
aber ich bedaure den Lärm, der darum gemacht wird. Wer hat das Buch
eigentlich gelesen? Sie zitieren immer die gleichen drei Seiten aus
einem Buch von siebenhundert Seiten.« Pasternak verwahrte sich
dagegen, dass man sein Buch wie ein politisches Pamphlet
behandelte; in seinen Augen war es mehr als nur eine Anklageschrift
gegen die Gesellschaft, in der er lebte.
Im Erdgeschoss neben der Küche saßen inzwischen
einige Freunde an der langen weißgedeckten Esszimmertafel. Immer
wieder kam der Schriftsteller bei den Trinksprüchen auf die Liebe
zu seinem Land zurück. Er wolle nun einen patriotischen Toast
ausbringen, sagte Pasternak, und erhob das Wodkaglas: Er müsse
seiner Epoche und seinem Land dankbar sein, denn sein Werk und
seine Kraft seien von dieser Epoche und diesem Land geformt worden.
Er selbst sei ein esoterischer, in Fantasien und Impressionen
verlorener Dichter gewesen. Deshalb sei er dem Sowjetstaat dankbar
für dessen literarische Erziehungsarbeit. »Ich bin kein
sozialistischer Realist geworden«, meinte er. »Nein, ein
sozialistischer Realist bin ich nun doch nicht, aber ein Realist
bin ich geworden, und dafür bin ich dankbar.« Pasternak lud mich
beim Abschied ein, am folgenden Sonntag zum Mittagessen mit seinen
Freunden wiederzukommen, aber das war nicht so einfach, wie er es
sich vorstellte. Nichts sprach dafür, dass man mir die Sperrzone
noch einmal öffnen würde.
Zu meinem Glück hatte ich eine andere
Verabredung mit einem Schriftsteller, der ebenso intellektuell wie
lebensklug war, Ilja Ehrenburg, der Autor von Tauwetter. Er hatte lange Jahre in Frankreich
gelebt, kannte Deutschland und Osteuropa gut und war kurz vor
Beginn des Zweiten Weltkriegs aus der Emigration in die Sowjetunion
zurückgekehrt. Ich hatte ganz offiziell ein Interview mit ihm
beantragt und genehmigt bekommen. Wir sprachen über die deutsche
Literatur der Weimarer Republik, auch über Camus und Hemingway,
überhaupt über die Literatur seiner Generation. Er zählte eine
ganze Reihe guter russischer Romane auf, und ich wusste, dass es
durchweg Werke von Autoren waren, die von den offiziellen
Parteiorganen scharf kritisiert wurden. Auf dem Bücherbord
entdeckte ich die deutsche Übersetzung seines Romans Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito. Es
stand da auch in Englisch, Französisch, Spanisch und anderen
Sprachen. Im übrigen Europa war das Buch ein großer Erfolg gewesen,
in der Sowjetunion durfte es nicht erscheinen. Es gefalle mir am
besten von all seinen Romanen, sagte ich. Ehrenburg lächelte,
Julio Jurenito sei ihm auch sehr lieb. Das
Buch sei ein bisschen boshaft, aber sehr amüsant. Es ist die
Geschichte eines seltsamen Heiligen, der in Westeuropa
Friedfertigkeit, Gerechtigkeit und Demokratie predigt, bis all
seine Anhänger im Ersten Weltkrieg in nationalen Überschwang und
mörderische Kriegslust verfallen. Tief enttäuscht emigriert Julio
Jurenito daraufhin in die junge Sowjetunion. Hier hat er nur noch
Lob für die kommunistischen Führer, weil sie die Welt richtig
behandeln: So wie die Menschen nun einmal seien, verdienten sie
strenge Strafen und gewaltsame Unterdrückung. Aber das wollen die
neuen Herrscher der Sowjetunion nicht hören, und Julio Jurenito ist
nun endgültig desillusioniert. Er kratzt sein letztes Geld
zusammen, kauft sich ein Paar neue Winterstiefel, geht bei Einbruch
der Dunkelheit auf den großen Boulevard und wird dort am nächsten
Morgen tot und ohne Stiefel aufgefunden. Andere Schriftsteller
wären mit einem solchen Text in größte Schwierigkeiten geraten.
Ehrenburg aber wusste, wie man sich taktisch geschickt verhielt.
Als auf einem Schriftstellerkongress eine heftige Debatte über ein
anderes seiner Bücher ausbrach, erhob er sich zu einer kurzen
Antwort. Das Buch sei seiner Ansicht nach klug und richtig, das
habe ihm ein Leser gerade am Abend vorher telefonisch bestätigt.
»Aber«, so Ehrenburg, »der Genosse Stalin kann sich vielleicht auch
einmal irren.« Es waren solche Tricks, mit denen er sich immer
wieder aus der Schusslinie brachte. Manche Kollegen im
Schriftstellerverband hassten ihn dafür, andere, besonders unter
den Jüngeren, empfanden so etwas wie Bewunderung.
Als wir über Doktor
Schiwago sprachen, fand Ilja Ehrenburg nur lobende Worte.
»Pasternak ist einer der größten lebenden Dichter der Welt, auch
seine Prosa ist immer Poesie, immer eine Handbreit über der Erde,
aber es ist stets große Prosa. Ich habe Doktor
Schiwago gelesen, die Beschreibung jener Zeit ist
ausgezeichnet. Wir sind Altersgenossen, und ich kann das
beurteilen.« Und dann, als er merkte, wie sehr mich sein offenes,
positives Urteil über ein schon fast verbotenes Buch überraschte,
fügte er hinzu: »Ich habe den Roman gelesen, das Manuskript. Ich
bin allerdings noch nicht am Ende, bin gerade bis zur
Revolutionsepoche gekommen. Bis dahin, das muss ich wiederholen,
ist die Beschreibung jener Zeit ganz ausgezeichnet.« Ehrenburg
hatte sich wieder einmal geschickt aus der Affäre gezogen.
Vielleicht konnte ich ja von ihm einen Rat bekommen: Pasternak habe
mich eingeladen, aber ich glaubte nicht, dass man mir ein zweites
Mal einen Besuch genehmigen würde. Ob er es für möglich halte, dass
der Schriftstellerverband mich dabei unterstützte? Ehrenburg
überlegte. »Wozu brauchen Sie eine neue Genehmigung? Da stand doch
nichts von zeitlicher Begrenzung drin, also sollte man annehmen,
dass Sie auch ein zweites oder drittes Mal zu Pasternak fahren
können.«
Genau das habe ich dann auch riskiert und bin
weiter nach Peredelkino gefahren, allerdings nicht mehr mit einer
Mietkarosse von Intourist. Ich fuhr vom Hotel zunächst ein paar
Stationen mit der Metro, dann nahm ich ein Taxi zum Weißrussischen
Bahnhof und von dort einen Vorortzug zum Stadtrand, um schließlich
eine Viertelstunde über Felder und zwischen Kleingärten zu
Pasternaks Haus zu wandern. Niemand hielt mich auf, und ich
glaubte, niemand habe mich gesehen. Fünfundzwanzig Jahre später
nahm mich der Sohn eines KGB-Generals auf einer Cocktailparty zur
Seite und überreichte mir einen Umschlag mit einem Foto. Man
brauche das nicht mehr, sagte er, und mir würde es vielleicht
Freude machen. Das Bild zeigte Pasternak und mich auf einem
Waldspaziergang, steil von oben von einem Hochstand oder Baum aus
fotografiert. Ich war also keineswegs unbeobachtet und unerkannt
geblieben, aber warum ich damals nicht verwarnt wurde, hat mir
niemand erklären können.
Wenn Pasternak und ich allein hinter seinem
Haus unter den großen Kiefern spazierengingen, schien es manchmal,
als ob ihn Traurigkeit und Selbstzweifel überkämen. Dann erzählte
er von der Angst in den Jahren der großen Säuberungen, als Dichter
verschwanden oder Kulturfunktionäre unangepassten Schriftstellern
Papiere zur Unterschrift vorlegten, die für Kritiker Stalins die
Todesstrafe forderten. Ich weiß nicht, ob auch er solche
Forderungen unterschrieben hat, aber manchmal schien es ihn zu
plagen, dass er sich nicht mutig genug für andere eingesetzt hatte.
Einmal habe spätabends das Telefon bei ihm geklingelt. Als er den
Hörer abnahm, war er mit Stalin persönlich verbunden. Erst habe er
an einen schlechten Scherz geglaubt, aber dann doch verstanden,
dass es sich tatsächlich so verhielt. Stalin fragte ihn nach einem
anderen Dichter, Ossip Mandelstam, der für seine Lyrik als
Abweichler kritisiert worden war. Ob Mandelstam ein großer Dichter
sei, habe Stalin wissen wollen. Pasternak erzählte mir, damals sei
er nicht für Mandelstam eingetreten. Er habe nur gesagt, man dürfe
eine schöne Frau nie nach einer anderen schönen Frau fragen. Nun,
viele Jahre später, machte er sich seine Zurückhaltung zum Vorwurf
– vielleicht hätte eine entschiedenere Antwort Mandelstam vor dem
Tod im Lager bewahrt. Von Pasternaks Frau und seinen Freunden hörte
ich zwar, er habe getan, was er konnte. Aber er litt darunter, dass
es offenbar nicht genug gewesen war.
Als mein Gepäck kurze Zeit darauf nach einem
Deutschlandbesuch bei der Wiedereinreise am Moskauer Flughafen von
Zollbeamten durchsucht wurde, fanden sie in einem Koffer
zusammengeheftete Seiten mit auf der Maschine geschriebenen
russischen Gedichten von Pasternak. Eine Dreiviertelstunde ließen
sie mich stehen und diskutierten aufgeregt in einem Nebenzimmer
über ihren Fund. Schließlich kamen zwei der Offiziere und gaben mir
die Texte zurück. Da unter jedem Gedicht eine Fußnote mit Datum und
dem Namen einer sowjetischen Literaturzeitschrift stand, waren sie
zu dem Ergebnis gekommen, dass die Gedichte bereits veröffentlicht
worden seien und somit die sowjetische Zensur schon passiert
hätten. Weder die Zollbeamten noch ich wussten, dass nur sieben der
dreiunddreißig Gedichte tatsächlich 1956 in der literarischen
Zeitschrift Snamja gedruckt worden, die
übrigen Angaben in den Fußnoten jedoch freie Erfindungen waren.
Verehrer von Pasternak, mit ziemlicher Sicherheit russische
Emigranten, hatten die neuen Texte in den Westen geschmuggelt,
vervielfältigt und mir nach Moskau mitgegeben, damit Pasternak sie
noch einmal korrigieren könne: Ehe sie im Ausland gedruckt würden,
wollte er sie unbedingt noch einmal kritisch ansehen. (In
Deutschland, wo sie 1960 im S. Fischer Verlag erschienen, hat sie
der Slawist Rolf-Dietrich Keil einfühlsam übersetzt, der als
Adenauers Dolmetscher an der Kanzlerreise nach Moskau teilgenommen
hatte.) Es waren keine politischen Bekenntnisse oder Aufrufe,
sondern lyrische Naturskizzen und Erinnerungen an die Liebe
zwischen Menschen, getragen von dem großen Aufatmen nach Stalins
Tod. Der Titel des Gedichtbands klang hoffnungsvoll: Wenn es aufklart. Immer mehr Zollbeamte und, wie mir
schien, vor allem Zollbeamtinnen hatten die Texte einander gezeigt.
So hatte ich langsam und unbemerkt meinen zweiten Koffer mit dem
Fuß am Schalter vorbeischieben können. Eingepackt in Hemden und
Pullover lagen darin die ersten sechs gebundenen Exemplare von
Doktor Schiwago in englischer
Sprache.
Je mehr sich die Gerüchte über einen Nobelpreis
für Pasternak verdichteten, desto häufiger trafen Briefe
französischer und englischer Schriftsteller bei ihm ein, die ihm im
Voraus gratulierten. Auf Veranstaltungen, die der kommunistische
Jugendverband Komsomol in der Universität organisierte, fragten
Studenten immer drängender danach, was denn Doktor Schiwago für ein Roman sei und warum man ihn
im Ausland eher lesen könne als in Russland. Die Antworten fielen
immer gleich aus: Gegen Pasternak selbst habe man nichts, er sei
ein großer Lyriker, der einen solchen Preis für seine Gedichte
verdient hätte. Sein Roman Doktor Schiwago
aber sei wertlos und verleumderisch. Von ausländischen
Korrespondenten befragt, sagte Kulturminister Michailow, der Roman
sei schwach, aber Pasternak sei ein guter Lyriker und großer
Übersetzer. Am 23. Oktober 1958 kamen Nachbarn zu Pasternak und
berichteten ihm von einer Meldung der BBC: Er sei der aussichtsreichste Kandidat
für den Literaturnobelpreis, und die Bekanntgabe werde wohl am
Nachmittag erfolgen. Pasternak zog sich seinen Mantel an, setzte
die alte Schirmmütze auf und ging hinaus in den strömenden Regen.
Uns Korrespondenten, die wir ihm später zur Verkündigung
gratulieren wollten, hatte er nicht viel zu sagen. An seinem Haus
versammelten sich Nachbarn und Freunde, um diesen Tag mit ihm zu
feiern. Glückwunschtelegramme ausländischer Dichter und
Schriftsteller trafen ein, und schließlich überbrachte ein Bote vom
Telegrafenamt die offizielle Benachrichtigung, dass ihm der
Nobelpreis verliehen worden war. Es schien ein gutes Zeichen zu
sein, dass die sowjetische Post nicht den Auftrag hatte, die
Telegramme zurückzuhalten.
Unterdessen bereitete man sich jedoch in den
Redaktionen, insbesondere bei den Organen des
Schriftstellerverbandes, schon auf den Gegenschlag vor. Pasternaks
Roman sei eine übelriechende Schmähschrift und die Verleihung des
Nobelpreises ein sorgfältig geplanter Akt ideologischer Wühlarbeit,
so hieß es in einer offiziellen Erklärung des Verbandes. »Der
innere Emigrant Schiwago, von kleinmütiger und niederträchtiger
Spießernatur, ist den Sowjetmenschen ebenso fremd wie der gehässige
literarische Snob Pasternak. Man muss entweder mit jenen gehen, die
den Kommunismus aufbauen, oder mit denen, die seinen Vormarsch
aufhalten wollen. Pasternak hat den Weg der Schande und
Ehrlosigkeit gewählt.« Die Pressekampagne steigerte sich von Tag zu
Tag. Auf einer Massenversammlung von Jungkommunisten, an der Nikita
Chruschtschow teilnahm, nannte der Komsomol-Chef Pasternak »ein
Schwein, das in den eigenen Futtertrog scheißt«, und forderte seine
Ausweisung aus der Sowjetunion. Die Moskauer Mitglieder des
Schriftstellerverbands stimmten schließlich über den Ausschluss
Pasternaks ab: Die einzige Gegenstimme kam vom jüngsten Mitglied,
dem sechsundzwanzigjährigen Dichter Jewgeni Jewtuschenko. Ilja
Ehrenburg blieb der Versammlung mit der Begründung fern, er sei
erkältet.
Der Druck hielt gleichwohl unvermindert an. Tag
und Nacht versammelten sich Demonstranten vor Pasternaks Haus, die
ihn beschimpften und verfluchten. Ein Polizeiposten wurde zu seinem
Schutz eingerichtet, ein Bereitschaftsarzt war ständig im Haus. Die
Parteibürokraten fürchteten, der Schriftsteller könne in den
Selbstmord getrieben werden, wie vor ihm schon die beiden anderen
Dichter des großen Dreigestirns der zwanziger Jahre. Das immerhin
wollte die Partei vermeiden. An die Schwedische Akademie, die ihm
den Nobelpreis für Literatur zugesprochen hatte, sandte Pasternak
schließlich ein Telegramm: »In Anbetracht der Bedeutung, die die
Gesellschaft, an der ich teilhabe, dieser Auszeichnung unterstellt,
muss ich den unverdienten Preis zurückweisen, der mir zuerkannt
wurde. Seien Sie durch meine freiwillige Ablehnung nicht
verletzt.«
An Nikita Chruschtschow schrieb Pasternak: »Ich
wende mich an Sie persönlich und an das Zentralkomitee der
KPDSU und an die sowjetische
Regierung. Für mich ist es unmöglich, die Sowjetunion zu verlassen.
Ich bin durch meine Geburt, mein Leben und meine Arbeit mit
Russland verbunden. Was immer meine Fehler und Irrtümer gewesen
sein mögen, so habe ich mir doch nicht vorstellen können, dass ich
in den Mittelpunkt einer politischen Kampagne geraten würde, die
man im Westen um meinen Namen entfacht hat. Nachdem mir das klar
wurde, habe ich die Schwedische Akademie davon in Kenntnis gesetzt,
dass ich freiwillig auf den Nobelpreis verzichte. Das Verlassen
meines Landes wäre für mich gleichbedeutend mit dem Tode, und
deshalb bitte ich Sie, nicht gegen mich die äußerste Maßnahme zu
ergreifen. Mit der Hand auf dem Herzen kann ich sagen, dass ich
etwas für die sowjetische Literatur getan habe und ihr noch
nützlich sein kann. B. Pasternak.«
Weder Chruschtschow noch eine andere
sowjetische Instanz beantworteten je diesen Brief, und die Drohung
der Ausweisung hing damit immer noch in der Luft. Doch im Laufe der
Zeit ließen die Hassdemonstrationen vor Pasternaks Haus nach, und
auch die bösartigen Zeitungsartikel blieben schließlich aus.
Solange Pasternak lebte, gab es gegen ihn keine
Verleumdungskampagnen und Strafmaßnahmen mehr. Aber der Druck und
die Angst begleiteten ihn weiter. Er mache sich weniger Sorgen um
seine Familie, denn sie würden nach seinem Tod in der
Schriftstellersiedlung Peredelkino weiterleben können. Umso mehr
beunruhigte ihn jedoch das Schicksal seiner langjährigen Geliebten
Olga Iwinskaja. Im Sommer 1958,
also noch vor der Verleihung des Nobelpreises, hatte er mich einmal
gebeten, seine Freundin zu besuchen. Er wollte, dass jemand im
Ausland von ihr wusste, falls sie nach seinem Tod verfolgt würde.
Schon 1949 war sie unter einem Vorwand zu langer Haft verurteilt
worden, um dadurch Pasternak zu bestrafen. Nun fragte er sich, was
man Olga Iwinskaja antun könnte, sobald der Schutz seines Namens
fehlte. Ich fuhr also zu ihrer Wohnung, wo sie mit Tochter und Sohn
aus erster Ehe auf mich wartete – eine blonde, etwas füllige, aber
immer noch schöne Frau. Anfangs sprachen wir über Pasternaks
Arbeit, denn sie hielt mich zunächst für einen deutschen
Wissenschaftler, der sich mit dessen Goethe-Übersetzungen
beschäftigte. Wir tranken Tee, und ich versuchte zu verstehen, was
sich Pasternak von diesem Besuch versprach – schließlich war diese
Begegnung mit einem Ausländer nicht ungefährlich für Olga
Iwinskaja. Schon seit langem und trotz ihrer Haftstrafe hatte sie
sich beim Schriftstellerverband und bei Parteidienststellen für
Pasternak eingesetzt und war dabei über Grenzen gegangen, die ein
Sowjetbürger in dieser Zeit nur unter großer Gefahr überschreiten
konnte.
Pasternak fürchtete, dass Olga Iwinskaja völlig
mittellos zurückbleiben würde. Deshalb bat er mich, ihr eine
möglichst große Summe Geld zu überlassen, ehe ich wieder in den
Westen fuhr. Das war für uns alle drei riskant. Mit großer Vorsicht
hielt ich daraufhin mit Olgas Tochter Irina Kontakt, indem ich
gelegentlich von Münzfernsprechern in Theatern oder Restaurants
anrief. Zugleich versuchte ich, eine möglichst große Summe in Rubel
zusammenzubringen. Von meinem Konto bei der Außenhandelsbank hob
ich mehr Geld ab, als ich benötigte. Im Warteraum des
bundesdeutschen Konsulats sprach ich vorsichtig russlanddeutsche
Aussiedler an, die ihre Rubel nicht mit nach Deutschland nehmen
durften. Sie überließen sie mir gegen das Versprechen, ihnen später
in Deutschland den entsprechenden Betrag in D-Mark zurückzugeben.
Das schien mir eine vertretbare Umgehung der Devisenbestimmungen,
ebenso wie Pasternaks Vorschlag, mir mein Geld eines Tages aus
seinen westlichen Honoraren zurückzuüberweisen. Bevor ich
schließlich im Herbst 1958 nach Deutschland zurückkehrte,
verabredete ich mich mit Irina Iwinskaja in der Metro-Station
Majakowskiplatz. In der Menschenmenge des Berufsverkehrs übergab
ich ihr im Vorübergehen das Bündel der gesammelten Rubelscheine, in
die Parteizeitung Prawda eingeschlagen.
Offenbar waren wir vorsichtig genug gewesen, denn in dem
Gerichtsverfahren, bei dem ihre Mutter 1960, wenige Monate nach Pasternaks Tod, erneut
zu langer Lagerhaft verurteilt wurde, spielte unsere Geldübergabe
keine Rolle. Andere Besucher aus dem Ausland hatten offenkundig mit
weniger Vorsicht geholfen.
Meine Freundschaft mit Pasternak hatte die
Behörden schon lange nach Maßnahmen gegen mich suchen lassen. Ende
Oktober 1958 lief meine Akkreditierung als Korrespondent in der
Sowjetunion ab, und normalerweise hätte ich automatisch eine
Verlängerung bekommen. Diesmal jedoch teilte mir ein junger
Diplomat im Außenministerium mit freundlichem Bedauern mit, mein
Visum könne nur noch um drei Wochen verlängert werden. »Man« habe
die Presseabteilung des Ministeriums davon in Kenntnis gesetzt,
dass ich von nun an nur noch ein Besuchervisum hätte. Ich ging in
mein Hotelzimmer, packte meine Koffer und landete zwei Tage später
wieder in Deutschland.
Sowjetische Schriftsteller, gleichgültig, ob
sie nun für oder gegen Pasternak gewesen waren, zeigten sich immer
weniger bereit, den »Fall Pasternak« und seine Folgen zu
kommentieren und den Dichter zu verurteilen. Sie zogen es
sicherheitshalber vor, ihn gar nicht zu erwähnen. Auch sie konnten
nicht wirklich verstehen, warum der Nobelpreis im Herbst 1958 in
Parteikreisen einen so heftigen Wutausbruch ausgelöst hatte. Ihnen
allen aber war klar, was es bedeutete, dass auf dem Friedhof
Peredelkino am Grabe Pasternaks stets mehr Sträuße, Kränze und
Briefe von Verehrerinnen lagen als auf allen Gräbern des Friedhofs
zusammen.