Wenn es aufklart

Moskau
1956–1958
Eine direkte Flugverbindung zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion bestand 1956 nicht. Aber das sei kein Problem, hatte mir ein Konsularmitarbeiter der sowjetischen Botschaft in Bonn gesagt. Ich könne ganz einfach von Ost-Berlin nach Moskau fliegen. Tatsächlich war es nicht schwierig, einen Platz in der Maschine der »Deutschen Lufthansa der DDR«, der späteren Interflug, zu buchen. Es gab da jedoch einige Umstände, die sich aus der besonderen Situation der geteilten Viermächtestadt Berlin und den komplizierten Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten ergaben. Zusammen mit mehreren Geschäftsleuten stieg ich in West-Berlin in einen Bus zum Flughafen Schönefeld. Wir fuhren zunächst durch den Ostteil der Stadt, aber kurz vor dem Ziel warnte uns ein uniformierter Volkspolizist, der neben dem Fahrer gesessen hatte, der Bus erreiche nun das Territorium der DDR, unter keinen Umständen dürfe einer der Insassen das Fahrzeug verlassen. Der Volkspolizist setzte sich demonstrativ neben die Tür, bis der Bus am Flughafen Schönefeld in einen kleinen, von einer hohen Mauer umgebenen Hof einbog. Hinter uns schloss sich das Einfahrtstor, vor uns lag das Gebäude mit der Pass- und Visakontrolle. Nun saßen wir abgetrennt von den Mitfliegenden aus der DDR in einem kleinen Raum und warteten geduldig und auch etwas eingeschüchtert auf den Abflug, der sich immer mehr verspätete. Lange nach der geplanten Startzeit erfuhren wir, dass die Maschine erst am nächsten Tag abheben würde. Für die Übernachtung würde man uns mit dem Bus in ein Hotel auf DDR-Territorium bringen, wo wir uns bis zum Morgen in unserem Zimmer aufhalten sollten. Mir und einem jüngeren Mitreisenden passte das nicht, und wir weigerten uns, den Flughafen zu verlassen. Nach einer Stunde kam der Bescheid: Wir könnten im Warteraum übernachten, allerdings werde die Tür abgeschlossen, und wenn wir auf die Toilette müssten, sollten wir kräftig klopfen. Am nächsten Morgen begleitete man uns schließlich ins Flugzeug und zu unseren Sitzen.
In Moskau verlief die Ankunft wesentlich zivilisierter. Mitarbeiter der staatlichen Reiseorganisation Intourist holten uns westliche Passagiere ab und brachten uns durch den Zoll direkt zu den Autos. Auf mich wartete eine große schwarze SIL-Limousine, ein Wagen, wie ihn auch Regierungsmitglieder benutzten. Wie schon während des Adenauer-Besuchs sollte ich im Hotel National wohnen. Dieses Mal aber erschrak ich beinahe, als man mich in mein Quartier führte: Es war eine Suite mit drei Räumen, alles Plüsch vom Feinsten, mit Landschaftsgemälden berühmter Maler des 19. Jahrhunderts und einem die Wand beherrschenden Lenin-Porträt. Ich habe nie herausbekommen, warum man mich ausgerechnet in diesen Räumen unterbrachte, in denen einmal der große Revolutionär selbst gewohnt hatte und die seither als Lenin-Suite geführt wurden. Es war mir jedenfalls ein bisschen unheimlich. Aber ich wusste auch, dass ich hier nicht lange wohnen konnte, denn meine Intourist-Gutscheine reichten nur für drei Wochen. In der Zeit, so hatte es sich der WDR überlegt, würde ich eine Wohnung finden können.
Doch ganz so einfach war die Suche nicht, und als ich nach vierzehn Tagen noch immer in der Lenin-Suite saß, wurde das auch dem Hoteldirektor suspekt. Er bat mich in sein Büro. »Sie wohnen jetzt schon zwei Wochen hier«, sagte er. »Bleiben Sie denn länger in Moskau?« Er war demnach keineswegs so gut informiert, wie ich das vom Apparat des sowjetischen Geheimdienstes erwartet hatte. Ich antwortete ihm, dass ich ein unbefristetes Visum hätte und vielleicht ein paar Jahre in der Sowjetunion verbringen würde. Der Direktor war sichtlich erschrocken. Es sei völlig unmöglich, dass ich als Dauergast in seinem Hotel bliebe. Mir war das ganz recht, denn ich hoffte, in ihm einen Verbündeten bei meiner Wohnungssuche zu finden.
Von meinen englischen Kollegen hatte ich erfahren, dass kurz vorher ein amerikanischer Korrespondent abgereist war und dass sein Apartment noch leer stand. Es lag allerdings ein gutes Stück außerhalb der Innenstadt, und man brauchte einen Wagen und einen russischen Führerschein, wenn man dort leben und arbeiten wollte. Tatsächlich schlug der Hoteldirektor den Umzug in diese Unterkunft vor – er hatte deswegen bereits mit dem UPDK, der Dienststelle für die Unterbringung und Versorgung des diplomatischen Korps, verhandelt. Ich hatte allerdings etwas anderes im Auge, das Hotel Metropol. Kollegen aus Frankreich und Italien hatten dort im Obergeschoss ihre Büros und Wohnräume, die Zimmer waren zwar nicht so nobel, dafür aber praktisch. Der Direktor meines Hotels war erleichtert, als ich ihm davon erzählte. Ich hatte richtig vermutet: Von Direktor zu Direktor konnte er erfolgreich verhandeln, ich zog ins Metropol, und ihm stand seine Edelsuite wieder zur Verfügung. Etwas später bewohnte sie der erste deutsche Botschafter in Moskau, Wilhelm Haas, während er auf Residenz und Bürogebäude wartete. So sah ich sie noch ein zweites Mal: Auf Büttenpapier hatte mir der Botschafter eine Einladung zu einem Abend der kleinen westdeutschen Kolonie in Moskau geschickt, und so saßen wir dann zu zweit unter Lenins Porträt und aßen Kaviar und Bœuf Stroganoff aus der Hotelküche.
Ich versuchte mich in der schwer durchschaubaren sowjetischen Welt zu orientieren. Von meinen Kollegen wusste ich, dass es strenge Verbotsregeln gab und eine Überwachung, die zwar lückenlos schien, aber gleichzeitig unberechenbar war. Kam ich nach dem Abendessen in meine Räume zurück, klingelte nach wenigen Minuten das Telefon. Nahm ich den Hörer ab, meldete sich niemand. Das kannte ich ja schon von der Reise mit Adenauer. Irgendjemand – und das konnte nur der KGB sein – wollte prüfen, ob ich wirklich in mein Zimmer gegangen war. Vor dem Hoteleingang warteten auch stets wieder Männer in Ledermänteln, und häufig folgte mir einer von ihnen, wenn ich auf die Straße ging. Er hielt Abstand, trat zurück, wenn ich umkehrte und ihm entgegenging, und drehte sich weg, wenn ich den Fotoapparat hob. Die Männer waren kamerascheu. Einmal suchten zwei von ihnen Deckung im Gemüseladen nebenan, sie spähten minutenlang durch das Ladenfenster und warteten darauf, dass ich endlich weiterging.
Und auf meiner Etage saß auch diesmal eine Frau am Pult, die uns die Zimmerschlüssel gab und notierte, wann man kam und ging. Die meisten dieser Deschurnajas, der »Diensthabenden«, wirkten gleichgültig und mürrisch, aber einmal kam ich mit einer von ihnen ins Gespräch. Sie war besser angezogen als die anderen und weniger bärbeißig. Sie wusste, dass ich Journalist war, und erwähnte, dass ihr Mann als Redakteur bei der satirischen Zeitschrift Krokodil arbeitete, die wegen ihrer witzigen Aufarbeitung des sowjetischen Alltagslebens beliebt war. Von da an war die Frau immer freundlich zu mir und gab mir manchmal einen Tipp: »Heute ist wieder ein heißer Abend«, warnte sie etwa, wenn in der Hotelhalle oder vor dem Eingang besonders viele Bewacher warteten. Als ich die Treppe hinabging, hörte ich dann, wie sie halblaut ins Telefon sprach – wahrscheinlich, um mich bei den Bewachern anzukündigen.
Als ich mein Visum bei der Sowjetbotschaft in Bonn abgeholt hatte, hatte ich mich vorsichtig nach den Zensurbestimmungen in Moskau erkundigt. »Zensur?«, sagte der Presseattaché. »In der Sowjetunion gibt es keine Zensur.« In Moskau erfuhr ich dann aber von dem Dutzend westlicher Korrespondenten, dass keine Meldung und kein Bericht unzensiert übermittelt werden konnte. Schon der Versuch, die Redaktionskollegen in Köln anzurufen und mit ihnen über einen langweiligen Leitartikel der Prawda zu sprechen, endete nach wenigen Sekunden. Die Leitung war tot. Westliche Kollegen erklärten mir schließlich die Spielregeln: Alle Artikel waren maschinengeschrieben an einem Schalter im zentralen Telegrafenamt einzureichen. Den Text durfte man erst dann telefonisch durchgeben – und das auch nur vom Telegrafenamt aus –, wenn man ihn mit dem Stempelaufdruck »Glawlit« zurückbekommen hatte, der Abkürzung für »Hauptverwaltung für Literatur«. Ohne die Genehmigung von »Glawlit« durfte in der Sowjetunion kein Zeitungsartikel, kein Gedicht, kein Lehrbuch erscheinen und auch keine Meldung eines Korrespondenten ins Ausland übermittelt werden. Manchmal waren unsere Berichte mit Bleistift zusammengestrichen. Gelegentlich erhielt man sein Manuskript erst nach Stunden oder Tagen zurück; zehn bis zwanzig Minuten für einen Routinebericht waren normal. Als ich ein paar Monate später in Deutschland auf Urlaub war, machte ich den schon erwähnten Presseattaché höflich darauf aufmerksam, dass seine Kenntnis der Regeln für ausländische Berichterstatter nicht ganz vollständig sei. »Ach, das war es, was Sie meinten«, sagte er daraufhin. »Das ist keine Zensur, das ist eine Hilfe, damit durch Missverständnisse und Irrtümer keine Fehlinformationen veröffentlicht werden.«
Wirklich persönliche und private Gespräche mit Sowjetbürgern blieben die Ausnahme. Die Moskauer lebten in einem schwierigen Spannungsfeld. Drei Jahre nach Stalins Tod lag sein Schatten noch immer über dem Land. Die Zeit der großen Massenverhaftungen und Hinrichtungen war zwar vorbei, aber selbst jetzt noch konnte der kleinste Kontakt mit Ausländern Verdacht erregen oder gar zur Verhaftung führen. Wenn wir ausländischen Journalisten im zentralen Telegrafenamt saßen und auf die Rückgabe unserer Manuskripte warteten, beobachteten uns Russen, die hier ein Auslandsgespräch angemeldet hatten. Wir redeten zu laut und zu viel, machten Witze, wenn uns die Langeweile packte, versuchten mit den Telegrafenbeamtinnen hinter den Schaltern über das Wetter und die Gesundheit zu schwatzen. Die anderen im Raum sprachen nicht miteinander und schon gar nicht mit uns Ausländern. Mit verschlossenen Mienen warteten sie darauf, aufgerufen zu werden.
Gelegenheit für ausführlichere Unterhaltungen gab es nur aus dienstlichem Anlass: bei offiziellen Interviews, Fabrikbesichtigungen, Begegnungen auf Empfängen von Regierungsstellen und Botschaften. Mitunter luden sowjetische Journalisten zu einem Gespräch ein. Da ging es dann in der Regel darum, uns ausländische Korrespondenten mit Informationen zu versorgen, die in keinem sowjetischen Organ veröffentlicht worden waren, von denen der KGB aber meinte, wir sollten sie in unseren Heimatländern verbreiten. Meistens drehte es sich um Fragen der Außenbeziehungen und um Versuche, im Ausland eine ungünstige Wahrnehmung von sowjetischen Maßnahmen zu korrigieren. Wir nannten die russischen Kollegen, die uns solche Informationen zukommen ließen, die »Halbleiter«. Einige von ihnen waren angenehme Gesprächspartner, neugierig darauf, wie Journalisten aus dem Westen die Welt betrachteten. Wir redeten mit ihnen nicht nur über die Themen, für die sie auf uns angesetzt waren, sondern tauschten uns auch über Film, Theater und Literatur aus und sprachen ein bisschen über unser Leben und über Ereignisse, die nicht gerade hochpolitisch waren. Es waren vernünftige Leute darunter, nicht bloß flache Propagandisten, und mit einem Kollegen, dem Historiker Lew Besymenski, blieb ich fast fünfzig Jahre lang bis zu seinem Tod befreundet. Eine gewisse Distanz zwischen uns blieb dennoch bestehen, und erst nach dem Ende der Sowjetunion erzählte er mir, dass er zu den Wenigen gehört habe, die den toten Hitler im Führerbunker gesehen hätten.
Freilich blieb immer die Frage, ob ein Gesprächspartner, so freundlich er sein mochte, nicht jede unserer Äußerungen dem KGB meldete. Sekretärinnen, Fahrer und Hausangestellte mussten angeblich einmal in der Woche zusammenfassend Bericht erstatten, üblicherweise, so sagte man, am Mittwochnachmittag. Und letztlich wurde auch uns Ausländern durch das sowjetische System ein tiefes Misstrauen eingeimpft. Als mir das UPDK eines Tages eine Sekretärin und Dolmetscherin schickte, warnten mich einige Kollegen davor, in ihrer Anwesenheit über Politik zu sprechen. Aber gerade deshalb verstand ich nicht, warum man Ljubow Golowanowa ausgesucht hatte. Sie war alles andere als eine gut organisierte Geheimdienstagentin. Ich merkte sehr bald, dass sie von politischen Dingen so gut wie keine Ahnung hatte. Die Lektüre der großen Zeitungen langweilte sie, und die Leitartikel verstand sie bestenfalls ungefähr. Wenn sie für mich vormittags die Provinzzeitungen durchging, machte sie mich vorzugsweise auf Skandalgeschichten aufmerksam: Meldungen über Halbstarken-Krawalle, unmoralische Mädchen, Betrügereien in der Landwirtschaft. Sie meinte offenbar, ausländische Journalisten suchten für ihre Zeitungen Skandale aus der Sowjetunion, und außerdem kam es wohl ihren eigenen Interessen entgegen.
Ljubow Golowanowas große Liebe aber war die Bühne. Sie konnte stundenlang über Schauspieler und Schauspielerinnen erzählen und tat nichts lieber, als Karten für uns beide zu organisieren. Immerhin kam ich auf diese Weise zu einigen ungewöhnlichen Theaterbesuchen. Als die berühmte Galina Ulanowa im Ballett Romeo und Julia auftrat, führte mich Frau Golowanowa zu einem Nebeneingang des Bolschoi-Theaters. Ein älterer Herr empfing uns mit tiefer Verbeugung und führte uns in die Intendantenloge. Ich habe nie erfahren, als wen sie mich ausgegeben hat.
Eines Tages bat sie mich um Hilfe bei einer Übersetzung aus dem Deutschen. Für den Verlag des Komponistenverbandes sollte sie Mozarts Briefe an seine Cousine ins Russische übertragen. Sie kam mit der verspielten Sprache nicht zurecht, und eigentlich fand sie manche von Mozarts Scherzen auch etwas unanständig. Ich konnte ihr nicht wirklich helfen, und die Übersetzung ist am Ende wohl nie erschienen. Aber dass so ein Projekt überhaupt versucht wurde, fand ich bemerkenswert, und ein wenig veränderte es auch mein Bild vom kollektiv vorgestanzten russischen Intellektuellen.
Ljubow Golowanowa hatte ihre eigene Skandalgeschichte, die sie mir nach einiger Zeit erzählte. Am Schwarzen Meer hatte sie im Urlaub einen Mann kennengelernt, war mit ihm tanzen gegangen und traf ihn dann in Moskau wieder. Nun hatte sie herausgefunden, dass er nicht bloß verheiratet, sondern obendrein ein stellvertretender Unionsminister war. In Moskau konnte er sich nicht mit ihr zeigen. Er wollte sie auf seine Datscha mitnehmen, aber das schien ihr zu unmoralisch. Manchmal ließ er sich bei zugezogenen Gardinen in seinem Dienstwagen mit ihr durch die Stadt chauffieren. Einige Wochen lang erzählte sie mir fast täglich davon, dann versickerte die Romanze irgendwie. Für mich blieb die Frage, wie sie die verschiedenen Elemente von Liebe und Überwachung in ein sowjetisches Frauenleben zusammenfügen konnte, und natürlich auch, was sie wohl dem KGB über mich berichtet hat.
Die seltsam verspannte Atmosphäre in Moskau führte dazu, dass wir die lebhaftesten Unterhaltungen dort hatten, wo man sie am wenigsten erwartete: im Kreml und auf Botschaftsempfängen. Wenn eine ausländische Regierungsdelegation zu Besuch war, gab es in der Regel einen großen Empfang im russischen Regierungssitz und einen Gegenempfang der ausländischen Gäste in den Botschaften ihrer Länder. Bei diesen Gelegenheiten durften wir Korrespondenten auf ein Zusammentreffen mit Nikita Chruschtschow hoffen, der gegenüber Ausländern nicht vor lauten und deutlichen Worten zurückschreckte. Wenn er mit uns zusammenkam, redete sich der Parteiführer der KPdSU den Ärger des Tages von der Seele, mit einer Offenheit, die es sonst in der Sowjetunion nirgends gab.
Zu den Empfängen im Georgssaal des Kreml waren üblicherweise rund vierhundert Gäste geladen, die durch die rote Kordel, an der ich schon während des Adenauer-Besuchs gestanden hatte, von den ausländischen Ehrengästen, den Parteiführern und Ministern getrennt wurden. An langen Tischen gab es Stör, Kaviar, Pilzragout, Spanferkel und allerlei Aufschnitt, dazu Flaschen mit Champagner, Wodka und Mineralwasser. In diesem Teil des Saals konnten wir Ausländer mit Leuten ins Gespräch kommen, zu denen wir sonst nie Zugang hatten: Generäle, Offiziere der Raketentruppen, Vertreter des staatlichen Planungskomitees, Universitätsrektoren. Je ranghöher die Gesprächspartner, desto ungezwungener schien die Unterhaltung, aber sie blieb natürlich konventionell. Immerhin konnte man führende Leute aus der Nähe betrachten, Schauspieler und Schriftsteller persönlich kennenlernen, die Gesichter von Ministern und ZK-Sekretären studieren – und auch einmal mit dem über siebzigjährigen Marschall Budjonny über die längst vergangenen Reiterattacken seiner Kosaken reden. Die meisten im Georgssaal waren jedoch von ihrer Fabrik oder ihrer Dienststelle entsandt worden, das »Gästeproletariat«, wie wir sie nannten. Sie aßen schweigend und waren verwundert darüber, dass sie das große Los einer Kreml-Einladung gezogen hatten. Im Laufe der ersten Stunde arbeiteten wir Korrespondenten uns dann an die rote Kordel heran. Chruschtschow hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die protokollarisch vorgeschriebenen Trinksprüche und die zugehörigen Wodkas hinter sich und war gelangweilt von den abgezirkelten Phrasen der Diplomatie. Das war der Augenblick, in dem wir uns bemerkbar machten, um ihn herüberzulocken. Manchmal kam er, um gleich Streit anzufangen. »Ist hier ein Engländer?«, fragte er kurz nach der Suezkrise im Herbst 1956 und setzte dem Reuters-Korrespondenten den Finger auf die Brust: »Dem britischen Löwen haben wir den Schwanz abgekniffen.«
Andere Male schien es, als wolle sich Chruschtschow von dem Ärger befreien, den er aus internen Gesprächen mitgebracht hatte. Er wetterte dann darüber, dass fast ausschließlich Kinder von Funktionären an den Universitäten studierten und nicht einmal zehn Prozent der Studenten aus Bauern- und Arbeiterfamilien stammten. Oder er schimpfte, dass es viel zu viele Juristen gebe, die keine nützliche Arbeit täten. Nun wolle auch noch seine Tochter Julia Jura studieren, dabei seien viele Jurastudenten doch Juden, die nicht arbeiten, sondern nur eine höhere Bildung erwerben wollten. Auch über die Trägheit der Kolchosvorsitzenden und Bauern, über niedrige Ernteerträge und verrostende Maschinen ließ er sich aus.
Wir ahnten, dass er in einem harten Kampf um Veränderungen von Politik und Staat steckte, aber er war meist zu verärgert oder verbittert, als dass er zu langen Diskussionen bereit gewesen wäre. Stellte einer von uns eine Frage, die ihm missfiel, dann sah er einen bloß mit seinen eiskalten Schweinsaugen an. Oft war es schwer für uns, seine Worte zu bewerten. Wollte er ein Signal an den Westen senden, wenn er sagte, Kommunismus bedeute nicht Revolution und Umsturz des Kapitalismus, oder räsonierte, auch Parlamente könnten echte Organe der Arbeiterklasse sein? Es gebe verschiedene Wege zum Sozialismus, meinte er einmal, und die Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten sei für Kommunisten nicht nur möglich, sondern notwendig. Für solche Bemerkungen waren vor ihm noch Leute nach Sibirien geschickt oder erschossen worden. Später fanden wir mitunter ähnliche Gedanken, vorsichtiger formuliert, in offiziellen Dokumenten und Reden wieder.
Ende 1956 lud der chinesische Ministerpräsident Zhou Enlai am Ende einer Osteuropareise zu einem Empfang in die chinesische Botschaft. Chruschtschow war ebenfalls anwesend und erweckte den Eindruck, als seien nun, nach dem Ungarnaufstand und der Unruhe in Osteuropa, die Krisen und Spannungen, die seine Entstalinisierung heraufbeschworen hatte, überwunden. Die Gäste im Saal wirkten lebhafter als sonst. Vielleicht hatten die erfahrenen Wodkatrinker aber auch nur den hochprozentigen Hirseschnaps Maotai unterschätzt. Die offiziellen Reden waren vorbei, als Chruschtschow hinter dem Banketttisch der Ehrengäste noch einmal sein Glas erhob. »Trinken Sie auf den Sieg des Kommunismus. Dieser Sieg kommt«, rief er den westlichen Botschaftern zu. »Es ist historisch sicher, dass wir Sie begraben werden. Ob Sie es wollen oder nicht, der Kommunismus wird kommen. Das ist, wie wenn eine Frau schwanger wird und ein Kind gebiert, dann kann man das Kind auch nicht …« Politbüromitglied Anastas Mikojan, ein nüchterner Armenier, zog Chruschtschow am Arm. »Nikita Sergejewitsch, wir haben schon verstanden.« Aber Chruschtschow ließ sich nicht unterbrechen. »Wenn eine Frau ein Kind kriegt, dann kann das kein Arzt in die Mutter zurückdrücken. Das kann keiner. Der Kommunismus siegt.« Gastgeber und Ehrengäste wirkten erleichtert, als Chruschtschow nun mit der Floskel vom Rad der Geschichte fortfuhr. Die Chinesen blickten unbewegt vor sich hin, einige westliche Diplomaten tranken Chruschtschows Toast auf den Sieg des Kommunismus mit, andere stellten die Gläser weg.
Wir Journalisten wussten oft nicht recht, wie wir derlei Ausbrüche bewerten sollten, und es blieb immer die Frage, wie weit der Wodka aus Chruschtschow gesprochen hatte. Immerhin aber verdanke ich einem solchen Moment mit dem sowjetischen Parteiführer eine Reise, die mich 1958 nach Sibirien führen sollte, in den fernen Osten der Sowjetunion. Auf einem Empfang in der italienischen Botschaft hatte sich Chruschtschow mal wieder mit uns Korrespondenten angelegt. Wir verstünden nichts von Russland und den Russen. »Ihr müsst viel mehr mit den einfachen Menschen reden«, sagte er. »Die einfachen Menschen reden nicht gern mit uns«, antworteten wir. »Dann müsst ihr sie zu euch einladen«, gab er zurück. »Die kommen nicht zu uns«, sagte ein Kollege, »vor jedem unserer Häuser steht ein Polizist, und der lässt sie nicht herein.« Einer der Leibwächter drängte sich zwischen uns und erklärte, die Polizisten seien nicht dazu da, die Ausländer zu isolieren, sondern um sie zu schützen: »Was würden Sie sagen, wenn ein Mann in Ihr Haus kommt und Sie ermordet?« Chruschtschow schob den Leibwächter beiseite und empfahl uns, möglichst oft aus Moskau aufs Land zu reisen, wo die Menschen offen und gastfreundlich seien – am besten ins weite Sibirien.
Am nächsten Morgen schickte ich einen Reiseantrag an die Presseabteilung des Außenministeriums: Der Erste Sekretär der KPDSU, Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, habe mich bei einer Begegnung in der italienischen Botschaft aufgefordert, über die Menschen in Sibirien zu berichten. Im Außenministerium begann eine schwierige Beratung, wie ich viele Jahre später erfuhr: Hatte Chruschtschow seine Aufforderung ernst gemeint? Wollte er wirklich, dass ein Journalist aus Westdeutschland nach Sibirien reiste? Man hätte ihn fragen können, aber niemand war erpicht darauf, beim großen reizbaren Chef nachzuhaken. Da schien es einfacher, mich reisen zu lassen. Nach einer Woche kam eine Rückfrage: Wohin ich in Sibirien fahren wolle? Das war nun nicht so leicht zu beantworten. Die wenigen größeren Städte im Süden Sibiriens interessierten mich nicht besonders. Im Norden dagegen war seit dem Zweiten Weltkrieg, als dort amerikanische Hilfslieferungen auf dem Seeweg angekommen waren, kein westlicher Ausländer mehr gewesen. Auf gut Glück nannte ich einen Namen, der mir aus dem Erdkundeunterricht in Erinnerung war: Werchojansk, in Lexika verzeichnet als kältester Ort der Erde mit einer Minustemperatur von 67,8 Grad. Und dann suchte ich im Atlas ein paar weitere Städte, größere und kleine Orte. Tatsächlich bekam ich daraufhin einen Reiseplan vorgelegt, der mich bis fast an den Pazifik führen sollte.
Vierzig Stunden samt Zwischenstopps und Verspätungen brauchte die zweimotorige Maschine, um über den Ural, über eine Mondlandschaft abgeernteter riesiger Getreidefelder, über die Sümpfe der Tundra und dünn bewaldetes Bergland ins breite Stromtal des Lena-Flusses zu gelangen. Bei nächtlichen Zwischenlandungen auf kleinen Flughäfen kam man sich vor wie im Flüchtlingslager; die einstöckigen hölzernen Hotels mit ihren Sechsbettzimmern waren zu klein und die Zahl der Reisenden zu groß. Manche lagen auf dem Fußboden, hockten auf Fensterbrettern und Balustraden oder schliefen mit ihrem Koffer als Kissen; einige Familien teilten sich mit Gepäckstücken und Holzbänken kleine Ecken des Raumes ab, die Frauen gaben ihren Babys die Brust, die Männer holten sich Wodka und Bier, aber niemand klagte, niemand schien unzufrieden. In Jakutsk, der Hauptstadt der sibirischen Republik Jakutien, wartete ich einen Tag und eine Nacht lang auf die nächste Maschine. Dann wurden wir endlich aufgerufen: Eine LI-15 stand bereit, ein Flugzeug mit Platz für zwölf bis fünfzehn Personen. Die Maschine flog auf Sicht – einmal lag eine menschliche Siedlung, ein Rentier-Kolchos, unter uns, dann wieder Bergtaiga mit dünnen Wäldern und moosbedeckten Ebenen.
Schließlich flog die LI-15 ganz tief über eine Hügelkette und bog in ein breites Tal ein. Da standen ein flaches Holzhaus und ein Mast mit einem Windsack. Die Wiese unter uns war der Flugplatz. Nach der Landung ging ich etwas unentschlossen zu dem kleinen Haus, aber da kam schon ein hochgewachsener Ukrainer in der blauen Uniform von Aeroflot auf mich zu. Er war der Chef des Flughafens und fragte, ob ich angemeldet sei, was ich vorhätte und wie lange ich bleiben wolle. Er wirkte nicht sonderlich überrascht von dem ausländischen Besucher. Dann schlug er vor, mich in den Ort zu begleiten, ein Fußweg von fünf Minuten.
Die ersten Gebäude von Werchojansk wirkten nicht gerade einladend: flache Blockhäuser, umgeben von einem meterhohen Erdwall, mit flachen Dächern, die mit einer Erdschicht bedeckt waren. Die ärmsten Häuser des Orts, sagte der Flughafenchef, aber ich bemerkte, dass es viele von dieser Art gab. Der Sitz des Ortssowjets war ein einstöckiger Holzbau, besaß jedoch ein richtiges Dach, war mit Lehm verkleidet und weiß gekalkt. Im Hof weidete eine Kuh. In der großen halbdunklen Diele summte ein Wasserkessel, wie in einem Bauernhaus. Dann betrat man das Büro und war wieder in der Sowjetunion: ein Raum mit dem typischen langen, grün überzogenen Konferenztisch, an dem Funktionäre überall im Lande ihre Sitzungen abhielten. Der Ukrainer von Aeroflot stellte mich zwei Männern vor, dem Vorsitzenden des Ortssowjets und seinem Stellvertreter, beides Jakuten, die mit Ausländern hier noch nie zu tun gehabt hatten.
»Kalt heute, nicht wahr?«, fragte mich der stellvertretende Vorsitzende. »Bald wird es Winter, dann ist es hier richtig kalt. Das macht uns nichts aus. Wir leben hier ganz gut, nicht gerade reich, aber auch nicht arm.« Eigentlich sei ich zu früh gekommen, meinten beide, denn noch gebe es nur milde Nachtfröste. Im Dezember oder Januar würde es für einen Touristen richtig interessant. Und dann erzählte der Vorsitzende, dass er im Krieg bis Wien gekommen sei. Dort sei das Klima ja sehr angenehm. In Wien gebe es das ganze Jahr Gemüse zu essen. Hier in Werchojansk lebe eine Frau, die habe sogar Kartoffeln gepflanzt und könne sie jetzt ernten. Das solle ich mir mal ansehen. Während der Vorsitzende einen Lehrer anrief, der als Leiter der Kulturabteilung von Werchojansk arbeitete, fragte mich sein Stellvertreter über Deutschland aus. Ob die Teilung noch lange dauern werde, ob man von einem Teil in den anderen reisen könne. Ich erklärte ihm die Verhältnisse, woraufhin der Vorsitzende, der inzwischen sein Telefonat beendet hatte, sich wieder ins Gespräch einmischte: »So was kann man sich gar nicht vorstellen«, sagte er kopfschüttelnd. »Jakutien geteilt – in Ostjakutien und Westjakutien –, und die Leute können nicht mehr über den Lena-Fluss zusammenkommen.« Er verabschiedete sich, stieg auf sein Rad und fuhr zum Angeln.
Der Stellvertreter zeigte mir meinen Schlafplatz. Auf der anderen Seite der großen Diele befand sich ein Raum mit drei eisernen Bettgestellen. Bettzeug und Wolldecken lagen auf der Matratze. Es gab einen kleinen, mit Lehm ummauerten Ofen, drei Stühle und einen Tisch, auf dem eine Karaffe mit kaltem Tee stand. »Tee«, meinte mein Gastgeber, »Tee muss sein, damit man sieht, dass das Wasser wirklich abgekocht ist.« Auf zwei Marmeladengläsern standen Kerzen. Daneben lag eine Schachtel Streichhölzer. Auf einem Bett schlief ein Mann bereits, auf dem anderen saß ein junger Jakute, den ich schon im Flugzeug gesehen hatte. Dann machte mich der stellvertretende Vorsitzende des Ortssowjets mit dem Lehrer Innokenti Roschin bekannt, einem kleinen mageren Mann und reinblütigen Jakuten, wie er dabei ausdrücklich betonte. Roschin sagte sofort, er sei in Werchojansk geboren und aufgewachsen. Als er hörte, dass ich während meines kurzen Aufenthalts in Jakutsk die Universität besichtigt hatte, wollte er wissen, ob der Direktor ein Russe oder ein Jakute sei. Die Frage der Nationalität war ihm offenkundig wichtig. Er schlug nun vor, erst einmal mit mir in der Ortskantine essen zu gehen: Kartoffelsuppe, Schweinegulasch mit Reis, Rote Grütze und Kakao. Bezahlen durfte ich nicht. »Ich weiß den Gast zu ehren. Bei uns braucht der Gast nicht zu bezahlen. Er ist Gast.« Nach dem Essen nahm mich der Lehrer mit zu sich nach Hause. Wir gingen die Hauptstraße von Werchojansk entlang, die damals immer noch Stalinstraße hieß – die Entstalinisierung war offenbar noch nicht bis hierher vorgedrungen. Auf halbem Weg lag ein kleiner eingezäunter Platz mit einer Holztribüne. An Feiertagen winkte hier der Vorsitzende des Ortssowjets dem Volk zu, den 1500 Menschen aus dem Dorf und von den Rentier-Kolchosen der Umgebung. Die Straße selbst ging irgendwann in einen schmalen Weg über, der sich in den graubraunen Hügeln verlor.
Eines der Zweifamiliengebäude, die neben der Schule lagen, war das Lehrerhaus. Roschins Arbeitszimmer wirkte trostlos und kahl, ein roher Holztisch mit einem Stuhl und ein überladenes Bücherregal. Auf dem Fußboden stapelten sich neben Lehrbüchern und Schulheften Werke von Marx, Engels, Lenin, Stalin – sogar ein Band mit Gedichten von Heinrich Heine war dabei. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne. Ob man in Deutschland auch Marx, Engels, Kautsky und Lenin studiere, fragte Roschin, und ob es bei uns auch viele Bilder von Lenin, Marx und Engels gebe. Meine Antwort überraschte ihn nicht. Er war politisch geschult und wusste, dass die Bundesrepublik Deutschland kein fortschrittliches Land war. Unsere Unterhaltung blieb zäh: Auf seiner Seite bestand sie fast nur aus Phrasen.
Später am Nachmittag luden mich meine beiden Zimmernachbarn ein, mit ihnen einen Film zu sehen. Ein Kino besaß Werchojansk zwar nicht, aber im Kulturhaus gab es ein Zimmer mit dreißig Stühlen und einem Projektor. Wir warteten gespannt, was man uns zeigen würde, und zu meiner Überraschung war es schließlich ein französischer Film, Lohn der Angst mit Yves Montand. Im Westen galt das als ein spannendes sozialkritisches Stück, in Werchojansk faszinierte der Film, weil er ein Land zeigte, in dem ständig die Sonne schien und die Opfer des Kapitalismus Whiskey tranken. Dazu erklang flotte südamerikanische Musik. So nahm die soziale Anklage im Kulturhaus von Werchojansk fast märchenhafte Züge an. Der düstere Schluss konnte daran nichts ändern, denn wir bekamen ihn nicht zu sehen: Die Vorführung brach mittendrin ab, und es hieß, der zweite Teil solle in einigen Wochen gezeigt werden. Ich konnte freilich bei meinen jakutischen Zimmergenossen dadurch punkten, dass ich ihnen das Ende erzählte. Sie waren unterwegs zu ihren Rentierherden und hätten ohne mich wohl nie erfahren, wie die Geschichte ausgegangen ist.
Als ich Werchojansk zwanzig Jahre später in der Breschnew-Zeit erneut besuchte, hatte sich der kleine Ort nur wenig verändert. Im Gegensatz zum Lehrer Innokenti Roschin, der jetzt neue Fragen stellte: Ob die deutsche Industrie wirklich so gut funktioniere und ob sie dazu beitragen könne, Sibirien zu erschließen. Er sprach inzwischen auch mehr von jakutischen Traditionen als vom Marxismus. 1992, bei unserer dritten Begegnung, war Roschin dann Abgeordneter des jakutischen Parlaments. Nun ging es ihm darum, die Bodenschätze Jakutiens gegen die Ausbeuter aus Moskau zu verteidigen. Mittlerweile war die zweistöckige Schule fertig geworden, und gemeinsam mit dem Ortsvorsitzenden erzählte er mir davon, wie man künftig Jagdfreunde aus dem Westen als Touristen nach Werchojansk holen werde. Daraus war allerdings nichts geworden, als ich 1997 zum vierten Mal Werchojansk anflog – der einzige Westeuropäer, der sich viermal in seinem Leben für den kleinen Ort interessiert habe, meinte der Ortsvorsitzende. Roschin war nunmehr der Direktor der Schule, die einige Jahre zuvor zur besten ländlichen Schule Russlands gewählt worden war. Als ich ihn zu Hause aufsuchen wollte, war er nicht da. Er war zu einer medizinischen Behandlung in der Hauptstadt Jakutsk, wie mir seine Frau Swetlana erzählte. Sie zeigte mir ihr Treibhaus: zwei Meter hoch, verglast, fast hundert Quadratmeter groß, mit einem Holzofen in der Mitte. So etwas habe es früher nicht gegeben, sagte sie und präsentierte mir Tomaten und Gurken, Kürbisse und Paprikaschoten. Zum Schluss gab sie mir die Telefonnummer der Wohnung, in der ihr Mann auf die Untersuchung im Krankenhaus von Jakutsk wartete. Er war nicht sonderlich überrascht von meinem Anruf. Wir sähen uns eigentlich alle zehn Jahre, meinte er, und diesmal seien eben nur fünf vergangen.
Am Sonntagnachmittag trafen wir uns im Park hinter dem Sportstadion von Jakutsk. Dort kam er mit alten Freunden zusammen, gemeinsam tanzten sie jakutische Volkstänze, und der Vorsänger improvisierte Lobgesänge auf die Natur und die Menschen, die in ihr leben. Irgendwann nahm Roschin mich an der Hand und reihte sich mit mir in den Reigen ein. Es waren lauter ältere Leute, pensionierte Lehrerinnen und Schuldirektoren, Frauen aus der Bezirksverwaltung, Leiterinnen kleinerer Krankenhäuser, Partei- und Staatsfunktionäre, eine weißhaarige Frau war sogar Abgeordnete des Obersten Sowjet in Moskau. Roschin und ich setzten uns anschließend auf eine Parkbank und dachten über die vergangenen fast vierzig Jahre nach. Er selber habe sich verändert und sein Leben auch, sagte er. »Als ich jung war, wollte ich an die Hochschule, um die Wahrheit zu lernen und für sie zu kämpfen. In dieser Hinsicht haben sich meine Prinzipien nicht gewandelt. Aber als Student und junger Lehrer habe ich alles vom Standpunkt der kommunistischen Ideologie aus gesehen. Das ganze Leben lag unter dieser Kuppel, und ich will diese Lehre auch heute nicht völlig wegwerfen. Da war ja auch die Idee der Gleichberechtigung von Menschen und Völkern. In diesem Sinne bin ich auch heute nicht gegen die marxistisch-leninistische Lehre, aber diese Doktrin war eben ganz einseitig, und dann wurde sie auch noch durch Stalin entstellt. Also bin ich dafür, dass sich unsere Gesellschaft in Richtung Demokratisierung bewegt, trotz all der Schwierigkeiten, die wir heute haben. Früher sollte es nur den Sowjetmenschen geben. Aber die Menschen sind doch verschieden, mit unterschiedlichen Interessen und Begabungen, ganz abgesehen von ihrer nationalen Herkunft. Bei uns steht nun auch die jakutische Kultur auf dem Lehrplan. Man muss doch seine Muttersprache sprechen können.« Auf unserem kleinen Planeten seien es die Unterschiede der Kulturen, die das Leben reich und vielfältig machten, meinte der alte Schuldirektor. Andrej Sacharow, der Atomwissenschaftler und Friedensnobelpreisträger, habe solche Prinzipien vertreten. Sein früher Tod habe ihm wehgetan, sagte der Schuldirektor zu mir. »Vieles ändert sich, das muss so sein. Wir beide werden uns nicht mehr entwickeln. Wir sind ja gleich alt und halten uns aufrecht. Sie arbeiten, ich arbeite, das ist das Beste dabei.« Es war unser letztes Gespräch, und bis heute ist für mich eine Frage offen: War der junge Innokenti mit seinem Sermon kommunistischer Theorie bei unserer ersten Begegnung fünf Jahre nach Stalins Tod bloß vorsichtig gewesen oder hatte sich sein Weltbild im Laufe der Jahre tatsächlich so stark gewandelt? Auffällig jedenfalls war, dass Roschin mit mir nie über das Leben unter Stalin gesprochen hat. Immerhin lag das kleine Werchojansk in dem riesigen Gebiet der Arbeits- und Todeslager.
Als ich mich 1958 von Werchojansk zum ersten Mal verabschiedete, hatte ich den Reiseplan der Moskauer Behörden in der Tasche, auf dem fast nur noch große Städte standen: Irkutsk, Tschita und Chabarowsk im fernen Osten. Doch was in Moskau geplant worden war, ließ sich nicht so einfach realisieren. Ein Abschnitt der Reise wurde am Abend vor der Weiterfahrt von Jakutsk ersatzlos gestrichen: Die Polizei teilte mir mit, die vorgesehene Strecke sei für Ausländer gesperrt. Daraufhin musste ich in einen kleinen Ort an der mittleren Lena fliegen – »sozusagen ins Nichts«, wie die junge Frau bei Intourist sagte, die meine Reise umbuchte. Mir tat es nicht leid, denn je kleiner und abgelegener die Orte waren, desto mehr interessierten sie mich. Nach drei Tagen in Olekminsk bekam ich einen Anschlussflug nach Süden in die Großstadt Irkutsk und dann weiter Richtung Osten. Diesmal blieb ich ungeplant in Birobidschan, einer Kleinstadt im äußersten Südosten der Sowjetunion. Fünfunddreißig Jahre zuvor war sie als Siedlungszentrum für die Juden Russlands ausersehen worden, dann aber war ihre Entwicklung bald steckengeblieben. Für mich wurde Birobidschan zum Endpunkt meiner Sibirienreise. Ein Mann von der Stadtverwaltung hatte ein Telegramm aus Moskau erhalten: Das eigentlich vorgesehene Ziel, die große Industriestadt Chabarowsk, sei für Ausländer gesperrt worden.
Eine andere Rückreiseroute stand jedoch nicht auf meinem Plan. Ich versuchte meine Sekretärin in Moskau anzurufen, doch erst zwei Tage nach der Anmeldung gab es eine Verbindung. Ich wisse nicht, wie ich nach Moskau kommen solle, sagte ich, in Birobidschan gebe es keinen Flugplatz. Sie möge mit den Ausländerbehörden klären, welche Route ich benutzen solle. Anderthalb Tage später kam die telegrafische Antwort: »Abwarten bis ein Platz frei.« Ich hatte Deutsch mit meiner Sekretärin gesprochen – das war ein Fehler gewesen. Sie hatte verstanden, es gebe keinen Platz im nächsten Flug nach Moskau, und so hatte sie es auch der Ausländerbehörde mitgeteilt. Und selbst beim KGB wusste man offenbar nicht, dass in Birobidschan kein Flughafen existierte. Bis Chabarowsk waren es bloß noch 170 Kilometer, aber ich traute mich nicht, durch diese offenbar neu eingerichtete Sperrzone zu fahren.
In Birobidschan hatte ich inzwischen alle Sehenswürdigkeiten besucht, die kleine Synagoge und die Bibliothek mit Büchern in Russisch und Jiddisch, erschienen in einem jüdischen Verlag, der zehn Jahre zuvor geschlossen worden war. Nun half mir der Ortsvorsitzende. Ich merkte, dass er mich loswerden wollte, und tatsächlich brachte er mich zum Bahnhof, kurz bevor ein Zug der Transsibirischen Eisenbahn in Richtung Moskau fahren sollte. Er half mir, ein Billett zu kaufen – allerdings nur bis Tschita, zwei Tage Bahnfahrt entfernt und immer noch weit weg von Moskau. In Tschita wiederum hatte ich auf der Hinfahrt die Chefin des Intourist-Büros kennengelernt, die mir nun ein Flugticket nach Irkutsk besorgte. Als ich dort landete, war gerade auch eine große Düsenmaschine aus Peking angekommen. Mit dem Koffer in der Hand begab ich mich zum Schalter von Intourist. Gegen fünfzig Rubel Zuschlag durfte ich schließlich in die Maschine umsteigen, die nach Moskau weiterfliegen sollte. Irgendwie gefiel mir der Gedanke, dass die Behörden in Moskau, die doch jeden Schritt eines Ausländers beobachten wollten, noch weniger als ich wussten, wo ich mich eigentlich aufhielt. Und so war ich bereits wieder in meinem Hotel am Roten Platz, während mich der KGB noch am anderen Ende des Landes vermutete.
Mittlerweile wohnte ich wieder im National, und dort war es auch, dass ich eines Abends, als ich mit dem Fahrstuhl in mein Zimmer fuhr, so etwas wie Jazzmusik hörte, es klang nach Cool Jazz, damals das Neueste aus Amerika. Die Musik kam aus dem Restaurant. Der Speisesaal war überfüllt, bevölkert von jungen Leuten, die aussahen, als lebten sie in Saint Germain des Prés oder Schwabing, Männern mit Existenzialistenbart und Frauen, die ihr langes Haar à la Juliette Gréco frisiert hatten. An einem runden Tisch saßen Komponisten, Musiker und Musikkritiker, wie sich später herausstellte, und klatschten mit großem Vergnügen. An einem anderen Tisch lauschten Offiziere in Uniform mit ihren Mädchen misstrauisch den ungewohnten Klängen, und dann waren da auch recht gut angezogene Männer mit ein paar jungen Frauen, so schick gekleidet, wie man sie in Moskauer Restaurants selten sah. Ein paar ältere Leute, offenbar Hotelgäste, hatten sich auf der Suche nach einem Abendessen in diesen Saal verirrt. Sie ertrugen die Musik und aßen, ohne zu protestieren.
Zwei der jungen Musiker, den Pianisten und den Schlagzeuger, hatte ich schon einmal kurz getroffen – im Gorki-Institut für Weltliteratur. Da hatten sie den Auftritt von einigen blutjungen Dichtern begleiten wollen, doch das hatte die Leitung nicht genehmigt. Die beiden studierten am Konservatorium, andere wollten Ingenieure und Ärzte werden, und es gab an den Moskauer Universitäten und Instituten noch sehr viel mehr Jazzfans. Während der Weltjugendfestspiele 1957 in Moskau, bei denen die Sowjetführung Modernität demonstrieren wollte, hatte diese Band sogar den zweiten Preis gewonnen. Nun jazzten sie im feinen National, durch dessen große Fenster man auf die Kremltürme mit den leuchtenden roten Sternen blickte. Der Direktor des Hotels hatte überlegt, wie er in den Wochen des Jahres, wenn kaum ausländische Touristen kamen, Gäste in sein Restaurant locken könnte. Da hatte man ihn auf die Amateurband aufmerksam gemacht, die während der Weltjugendfestspiele mit Rücksicht auf die Ausländer gewissermaßen behördlich anerkannt worden war. Und nun waren in dem langweiligen Restaurant alle Tische besetzt.
So gab es einige Monate Jazz gegenüber vom Kreml. Dann allerdings meinten die jungen Musiker, dass sie nicht nur als geduldete Amateure auftreten, sondern ganz professionell ihren Anteil von den Einnahmen bekommen sollten – doch dem Hoteldirektor war es ohnehin schon mulmig bei dem Gedanken an die Kritik, die früher oder später von der Partei und vom kommunistischen Jugendverband kommen würde. Als die jungen Jazzfans ein paar Tage nicht mehr auftreten wollten, heuerte er kurzerhand eine Kapelle von Berufsmusikern an, und nun erklangen im spießig eingerichteten Speisesaal wieder der Amur-Wellen-Walzer, die Donkey-Serenade und ab und zu ein eingängiges Stück von Gershwin. Zwar wurde der Saal nicht mehr voll, aber dafür schob sich nun ein gemischtes mittelaltes Publikum über das Parkett, an dem selbst der Jungkommunistenverband nichts auszusetzen hatte.
Ich war über zehntausend Kilometer durch Sibirien gereist, aber jetzt saß ich wieder in Moskau mit extremer Reisebeschränkung: Vom Roten Platz aus, auf den ich von meinem Hotelzimmer blicken konnte, durfte ich mich nur in einer Zone mit einem Radius von dreißig Kilometern frei bewegen. Und selbst dreißig Prozent von dieser Zone waren Sperrgebiete. Interviews und Besichtigungen wurden von unbekannten Dienststellen organisiert und waren meist kaum mehr als Pressekonferenzen mit vorbereiteten Erklärungen. Bitten um Begegnungen mit sowjetischen Intellektuellen und Professoren blieben meist unbeantwortet. Aber es gab auch Ausnahmen. So hatte es seit Ende 1957 im Fall des Dichters Boris Pasternak eine Entwicklung gegeben, die es den sowjetischen Stellen nützlich erscheinen ließ, ausländischen Korrespondenten ein Treffen mit dem berühmten Schriftsteller zu vermitteln.
Boris Pasternak war einer der großen Lyriker zur Anfangszeit der Sowjetunion gewesen, gemeinsam mit Majakowski und Jessenin gefeiert als einer der Dichter des sogenannten Dreigestirns. Die beiden anderen hatten später unter dem Druck der stalinistischen Diktatur Selbstmord begangen; Pasternak dagegen war es gelungen, als Übersetzer bedeutender Werke der Weltliteratur, von Goethe und Shakespeare, die Jahre der Unterdrückung zu überstehen. Seit langer Zeit hatte er an dem Roman Doktor Schiwago gearbeitet, einem Buch über das Schicksal russischer Menschen in den Aufbaujahren der Sowjetunion – kein antisowjetisches Pamphlet, sondern eine tief empfundene, nachdenkliche Auseinandersetzung mit dem schwierigen Leben als Intellektueller unter Stalin. Jahrelang schien es, als habe der Roman keine Chance auf Veröffentlichung. Doch mit Stalins Tod im März 1953 begann eine Zeit, für die der Autor Ilja Ehrenburg in einer gleichnamigen Novelle die Bezeichnung »Tauwetter« fand.
Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler fingen an, sich wieder vorsichtig mit der Wirklichkeit des Lebens auseinanderzusetzen. Sie wagten es zwar nicht, die Ungerechtigkeiten des Sowjetsystems offen zu benennen, aber sie wollten, dass die Fehler und Härten der Vergangenheit beseitigt würden. Viele erinnerten sich jetzt auch wieder an Boris Pasternak. Alte Bekannte meldeten sich, Schriftsteller, Musiker und Schauspieler trafen sich in seinem Haus, und immer häufiger standen junge Frauen mit den Gedichtbänden der zwanziger und dreißiger Jahre vor seiner Tür und erbaten ein Autogramm. Ein Jahr nach Stalins Tod druckte eine Moskauer Literaturzeitung zum ersten Mal wieder zehn Gedichte von ihm ab: »Verse aus dem Roman in Prosa ›Doktor Schiwago‹«. Das Parteiorgan Prawda indes reagierte schnell und attackierte den Dichter als Dekadenzler, Symbolisten und subjektivistischen Individualisten. Im Westen, wo man mittlerweile auch nach Pasternaks Schicksal und dem neuen Roman fragte, verkündete der Leiter der Auslandsabteilung des sowjetischen Schriftstellerverbands, Pasternak habe seinen Roman nicht beendet, weil er durch seine Arbeit als Übersetzer reich und träge geworden sei. Zwei Jahre vergingen, ohne dass eine Zeile von ihm in der Sowjetunion gedruckt werden konnte. 1955 wurde Pasternak schließlich zu einer offiziellen Veranstaltung nach Moskau eingeladen: Der deutsche Dichter Bertolt Brecht, der den Stalin-Preis erhalten sollte, hatte explizit darum gebeten. Doch der russische Dichter sagte ab und arbeitete lieber in aller Stille weiter. Ende 1955 war Doktor Schiwago vollendet.
Das Manuskript wurde nun in Redaktionen begutachtet und von Parteiorganen überprüft. Mehrfach wurde verlautet, Doktor Schiwago werde in wenigen Wochen oder Monaten erscheinen. Ein junger Redakteur in Moskau, so hieß es, solle noch einige notwendige Kürzungen vornehmen. Pasternak war mit solchen Eingriffen in seinen Text durchaus einverstanden. Er gehörte zwar nicht zu jenen Autoren, die ihre Bücher nach den Parteirichtlinien umschrieben, aber es war ihm recht, wenn eine gekürzte Ausgabe in der Sowjetunion herauskam. Tolstois Auferstehung sei in erster Ausgabe auch nur in einer von der Zensur gekürzten Fassung gedruckt worden, sagte er zu seinen Freunden. Es vergingen Monate, in denen eine Stelle der anderen die Verantwortung zuschob. Die Entscheidung zögerte sich immer weiter hinaus – am Ende sollte es noch drei Jahrzehnte dauern, bis Doktor Schiwago offiziell in der Sowjetunion erscheinen durfte. Allerdings lag das Manuskript mittlerweile in Mailand auf dem Schreibtisch des kommunistischen Verlegers Giangiacomo Feltrinelli. Ein italienischer Kommunist, der beim Schriftstellerverband in Moskau als Lektor arbeitete, hatte Feltrinelli eine Kopie des Manuskripts geschickt, als die Veröffentlichung in der Sowjetunion noch kurz bevorzustehen schien. Um nun eine italienische Ausgabe zu verhindern, wurde der erste Sekretär des sowjetischen Schriftstellerverbands, Alexej Surkow, nach Mailand in Marsch gesetzt. Nichts in seiner Karriere hatte Surkow auf feinfühlig-diplomatische Gespräche mit italienischen Intellektuellen vorbereitet. Er drohte ihnen mit dem Ausschluss aus der kommunistischen Partei, falls sie die Veröffentlichung von Doktor Schiwago unterstützten. Feltrinelli trat daraufhin aus der kommunistischen Partei aus, viele seiner Mitstreiter waren über die versuchte Einflussnahme verärgert und verstört, und die Geschichte erregte am Ende internationales Aufsehen. Ausländische Beobachter nahmen sie zum Anlass, an das Schicksal sowjetischer Dichter und Schriftsteller und an die große Zahl der Verhaftungen und Selbstmorde unter Stalin zu erinnern. Nachdem dann der Roman 1957 in Italien erschienen war, kam schließlich auch das Gerücht auf, Pasternak sei der nächste Kandidat für den Literaturnobelpreis. In dieser Situation beschloss das sowjetische Staatskomitee für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland, uns westliche Korrespondenten zu einem Besuch der Schriftstellerkolonie Peredelkino einzuladen. Wir sollten einmal mit eigenen Augen sehen, dass Pasternak doch ganz gut lebte.
Ich wusste, dass Boris Pasternak, der Übersetzer von Faust I und Faust II, gut Deutsch können musste, und bat darum, ihn allein und nicht zusammen mit den englischen und amerikanischen Kollegen besuchen zu dürfen. Der Bitte wurde entsprochen, und so fuhr mich ein Chauffeur Ende 1957 in einem großen schwarzen Mietwagen nach Peredelkino, über die Dreißig-Kilometer-Zone hinaus, an der meine Reisefreiheit normalerweise endete. In der Schriftstellerkolonie, die Stalin in den dreißiger Jahren hatte erbauen lassen, bewohnte Pasternak eine zweistöckige Datscha am Waldrand. Hier stand nun ein großer Mann lachend auf der Treppe und winkte mir zu – ein ungewöhnlicher Empfang in der Sowjetunion mit ihrer von Vorsicht und Misstrauen geprägten Atmosphäre. Die Notizen von dieser ersten Begegnung habe ich bis heute aufbewahrt.
Aus der scharfen Winterkälte trat ich durch eine schmale Tür in die warme Küche. Boris Pasternak schüttelte mir beide Hände, als ich mich auf Russisch vorstellte. »Sie sind also der angekündigte Korrespondent aus Westdeutschland«, sagte er auf Russisch, um dann auf Deutsch fortzufahren: »So jung und schon so verdorben.« Das war ein Witz, den er noch aus seiner Studentenzeit in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg kannte. Es war eine unerwartet herzliche und stürmische Begrüßung, ehe seine Frau uns in einen hellen Raum mit großen Fenstern im ersten Stock hinaufführte. Ein Schreibtisch stand darin, dazu ein Kleiderschrank, neben dem ein paar Koffer lagen, einige Holzstühle und ein schmales, dunkel gebeiztes Bücherregal. Da gab es ein großes englisch-russisches Wörterbuch neben einer alten russischen Bibel, und da standen die Werke Franz Kafkas in einer deutschen Ausgabe neben Marcel Proust auf Französisch. »Ich habe Kafka noch nicht gelesen, gerade erst bekommen«, meinte Pasternak. »Ich lese eben Proust. Sehr, sehr schön zuweilen, aber etwas fehlt mir dabei. Aber darüber sprechen wir später.« Und dann begann fast ohne Übergang ein turbulentes Selbstgespräch, der Versuch des Dichters, sein Werk und sein Schaffen zu definieren und abzugrenzen. Die Namen Rilke, Thomas Mann, T.S. Eliot, James Joyce erschienen und verschwanden im Strudel der Vergleiche. »Die Kraft von Thomas Mann und Rilke in einer Person vereint – das wäre ein Kunstwerk.« Thomas Mann, das sei zu viel Experimentalstudio, auch zu viel Essay für literarische Zeitschriften. Aber seine Kunst verbunden mit der Feinfühligkeit und Tiefe, mit dem Sinn jenes Rilke, der den Malte Laurids Brigge schrieb, das wäre etwas! Und was für ein Roman wäre der Ulysses von James Joyce geworden, wenn darin die Klarheit der Erzählung von den Dubliners bewahrt geblieben wäre! Erregt und begeistert sprach Pasternak über die westliche Literatur der zwanziger Jahre, wie er sie selbst erlebt hatte und über die er seit fast drei Jahrzehnten in seinem Heimatland nicht mehr öffentlich reden durfte.
Er sei ein moderner Mensch, so Pasternak, und wenn er auch ein großes Stehpult habe, das an Goethe erinnere, so sei es nur wegen seines Beinleidens aufgestellt. Er müsse in der Formenwelt der Gegenwart schaffen. In Goethes Werk hätten sich alle Strömungen seiner Zeit wiedergefunden, überindividualistisch, überaktuell, nicht nur als persönliches Bekenntnis. Und dann sprachen wir plötzlich von Doktor Schiwago. Er sagte: »Ich bedaure nicht, dass mein Roman im Westen erscheint, aber ich bedaure den Lärm, der darum gemacht wird. Wer hat das Buch eigentlich gelesen? Sie zitieren immer die gleichen drei Seiten aus einem Buch von siebenhundert Seiten.« Pasternak verwahrte sich dagegen, dass man sein Buch wie ein politisches Pamphlet behandelte; in seinen Augen war es mehr als nur eine Anklageschrift gegen die Gesellschaft, in der er lebte.
Im Erdgeschoss neben der Küche saßen inzwischen einige Freunde an der langen weißgedeckten Esszimmertafel. Immer wieder kam der Schriftsteller bei den Trinksprüchen auf die Liebe zu seinem Land zurück. Er wolle nun einen patriotischen Toast ausbringen, sagte Pasternak, und erhob das Wodkaglas: Er müsse seiner Epoche und seinem Land dankbar sein, denn sein Werk und seine Kraft seien von dieser Epoche und diesem Land geformt worden. Er selbst sei ein esoterischer, in Fantasien und Impressionen verlorener Dichter gewesen. Deshalb sei er dem Sowjetstaat dankbar für dessen literarische Erziehungsarbeit. »Ich bin kein sozialistischer Realist geworden«, meinte er. »Nein, ein sozialistischer Realist bin ich nun doch nicht, aber ein Realist bin ich geworden, und dafür bin ich dankbar.« Pasternak lud mich beim Abschied ein, am folgenden Sonntag zum Mittagessen mit seinen Freunden wiederzukommen, aber das war nicht so einfach, wie er es sich vorstellte. Nichts sprach dafür, dass man mir die Sperrzone noch einmal öffnen würde.
Zu meinem Glück hatte ich eine andere Verabredung mit einem Schriftsteller, der ebenso intellektuell wie lebensklug war, Ilja Ehrenburg, der Autor von Tauwetter. Er hatte lange Jahre in Frankreich gelebt, kannte Deutschland und Osteuropa gut und war kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs aus der Emigration in die Sowjetunion zurückgekehrt. Ich hatte ganz offiziell ein Interview mit ihm beantragt und genehmigt bekommen. Wir sprachen über die deutsche Literatur der Weimarer Republik, auch über Camus und Hemingway, überhaupt über die Literatur seiner Generation. Er zählte eine ganze Reihe guter russischer Romane auf, und ich wusste, dass es durchweg Werke von Autoren waren, die von den offiziellen Parteiorganen scharf kritisiert wurden. Auf dem Bücherbord entdeckte ich die deutsche Übersetzung seines Romans Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito. Es stand da auch in Englisch, Französisch, Spanisch und anderen Sprachen. Im übrigen Europa war das Buch ein großer Erfolg gewesen, in der Sowjetunion durfte es nicht erscheinen. Es gefalle mir am besten von all seinen Romanen, sagte ich. Ehrenburg lächelte, Julio Jurenito sei ihm auch sehr lieb. Das Buch sei ein bisschen boshaft, aber sehr amüsant. Es ist die Geschichte eines seltsamen Heiligen, der in Westeuropa Friedfertigkeit, Gerechtigkeit und Demokratie predigt, bis all seine Anhänger im Ersten Weltkrieg in nationalen Überschwang und mörderische Kriegslust verfallen. Tief enttäuscht emigriert Julio Jurenito daraufhin in die junge Sowjetunion. Hier hat er nur noch Lob für die kommunistischen Führer, weil sie die Welt richtig behandeln: So wie die Menschen nun einmal seien, verdienten sie strenge Strafen und gewaltsame Unterdrückung. Aber das wollen die neuen Herrscher der Sowjetunion nicht hören, und Julio Jurenito ist nun endgültig desillusioniert. Er kratzt sein letztes Geld zusammen, kauft sich ein Paar neue Winterstiefel, geht bei Einbruch der Dunkelheit auf den großen Boulevard und wird dort am nächsten Morgen tot und ohne Stiefel aufgefunden. Andere Schriftsteller wären mit einem solchen Text in größte Schwierigkeiten geraten. Ehrenburg aber wusste, wie man sich taktisch geschickt verhielt. Als auf einem Schriftstellerkongress eine heftige Debatte über ein anderes seiner Bücher ausbrach, erhob er sich zu einer kurzen Antwort. Das Buch sei seiner Ansicht nach klug und richtig, das habe ihm ein Leser gerade am Abend vorher telefonisch bestätigt. »Aber«, so Ehrenburg, »der Genosse Stalin kann sich vielleicht auch einmal irren.« Es waren solche Tricks, mit denen er sich immer wieder aus der Schusslinie brachte. Manche Kollegen im Schriftstellerverband hassten ihn dafür, andere, besonders unter den Jüngeren, empfanden so etwas wie Bewunderung.
Als wir über Doktor Schiwago sprachen, fand Ilja Ehrenburg nur lobende Worte. »Pasternak ist einer der größten lebenden Dichter der Welt, auch seine Prosa ist immer Poesie, immer eine Handbreit über der Erde, aber es ist stets große Prosa. Ich habe Doktor Schiwago gelesen, die Beschreibung jener Zeit ist ausgezeichnet. Wir sind Altersgenossen, und ich kann das beurteilen.« Und dann, als er merkte, wie sehr mich sein offenes, positives Urteil über ein schon fast verbotenes Buch überraschte, fügte er hinzu: »Ich habe den Roman gelesen, das Manuskript. Ich bin allerdings noch nicht am Ende, bin gerade bis zur Revolutionsepoche gekommen. Bis dahin, das muss ich wiederholen, ist die Beschreibung jener Zeit ganz ausgezeichnet.« Ehrenburg hatte sich wieder einmal geschickt aus der Affäre gezogen. Vielleicht konnte ich ja von ihm einen Rat bekommen: Pasternak habe mich eingeladen, aber ich glaubte nicht, dass man mir ein zweites Mal einen Besuch genehmigen würde. Ob er es für möglich halte, dass der Schriftstellerverband mich dabei unterstützte? Ehrenburg überlegte. »Wozu brauchen Sie eine neue Genehmigung? Da stand doch nichts von zeitlicher Begrenzung drin, also sollte man annehmen, dass Sie auch ein zweites oder drittes Mal zu Pasternak fahren können.«
Genau das habe ich dann auch riskiert und bin weiter nach Peredelkino gefahren, allerdings nicht mehr mit einer Mietkarosse von Intourist. Ich fuhr vom Hotel zunächst ein paar Stationen mit der Metro, dann nahm ich ein Taxi zum Weißrussischen Bahnhof und von dort einen Vorortzug zum Stadtrand, um schließlich eine Viertelstunde über Felder und zwischen Kleingärten zu Pasternaks Haus zu wandern. Niemand hielt mich auf, und ich glaubte, niemand habe mich gesehen. Fünfundzwanzig Jahre später nahm mich der Sohn eines KGB-Generals auf einer Cocktailparty zur Seite und überreichte mir einen Umschlag mit einem Foto. Man brauche das nicht mehr, sagte er, und mir würde es vielleicht Freude machen. Das Bild zeigte Pasternak und mich auf einem Waldspaziergang, steil von oben von einem Hochstand oder Baum aus fotografiert. Ich war also keineswegs unbeobachtet und unerkannt geblieben, aber warum ich damals nicht verwarnt wurde, hat mir niemand erklären können.
Wenn Pasternak und ich allein hinter seinem Haus unter den großen Kiefern spazierengingen, schien es manchmal, als ob ihn Traurigkeit und Selbstzweifel überkämen. Dann erzählte er von der Angst in den Jahren der großen Säuberungen, als Dichter verschwanden oder Kulturfunktionäre unangepassten Schriftstellern Papiere zur Unterschrift vorlegten, die für Kritiker Stalins die Todesstrafe forderten. Ich weiß nicht, ob auch er solche Forderungen unterschrieben hat, aber manchmal schien es ihn zu plagen, dass er sich nicht mutig genug für andere eingesetzt hatte. Einmal habe spätabends das Telefon bei ihm geklingelt. Als er den Hörer abnahm, war er mit Stalin persönlich verbunden. Erst habe er an einen schlechten Scherz geglaubt, aber dann doch verstanden, dass es sich tatsächlich so verhielt. Stalin fragte ihn nach einem anderen Dichter, Ossip Mandelstam, der für seine Lyrik als Abweichler kritisiert worden war. Ob Mandelstam ein großer Dichter sei, habe Stalin wissen wollen. Pasternak erzählte mir, damals sei er nicht für Mandelstam eingetreten. Er habe nur gesagt, man dürfe eine schöne Frau nie nach einer anderen schönen Frau fragen. Nun, viele Jahre später, machte er sich seine Zurückhaltung zum Vorwurf – vielleicht hätte eine entschiedenere Antwort Mandelstam vor dem Tod im Lager bewahrt. Von Pasternaks Frau und seinen Freunden hörte ich zwar, er habe getan, was er konnte. Aber er litt darunter, dass es offenbar nicht genug gewesen war.
Als mein Gepäck kurze Zeit darauf nach einem Deutschlandbesuch bei der Wiedereinreise am Moskauer Flughafen von Zollbeamten durchsucht wurde, fanden sie in einem Koffer zusammengeheftete Seiten mit auf der Maschine geschriebenen russischen Gedichten von Pasternak. Eine Dreiviertelstunde ließen sie mich stehen und diskutierten aufgeregt in einem Nebenzimmer über ihren Fund. Schließlich kamen zwei der Offiziere und gaben mir die Texte zurück. Da unter jedem Gedicht eine Fußnote mit Datum und dem Namen einer sowjetischen Literaturzeitschrift stand, waren sie zu dem Ergebnis gekommen, dass die Gedichte bereits veröffentlicht worden seien und somit die sowjetische Zensur schon passiert hätten. Weder die Zollbeamten noch ich wussten, dass nur sieben der dreiunddreißig Gedichte tatsächlich 1956 in der literarischen Zeitschrift Snamja gedruckt worden, die übrigen Angaben in den Fußnoten jedoch freie Erfindungen waren. Verehrer von Pasternak, mit ziemlicher Sicherheit russische Emigranten, hatten die neuen Texte in den Westen geschmuggelt, vervielfältigt und mir nach Moskau mitgegeben, damit Pasternak sie noch einmal korrigieren könne: Ehe sie im Ausland gedruckt würden, wollte er sie unbedingt noch einmal kritisch ansehen. (In Deutschland, wo sie 1960 im S. Fischer Verlag erschienen, hat sie der Slawist Rolf-Dietrich Keil einfühlsam übersetzt, der als Adenauers Dolmetscher an der Kanzlerreise nach Moskau teilgenommen hatte.) Es waren keine politischen Bekenntnisse oder Aufrufe, sondern lyrische Naturskizzen und Erinnerungen an die Liebe zwischen Menschen, getragen von dem großen Aufatmen nach Stalins Tod. Der Titel des Gedichtbands klang hoffnungsvoll: Wenn es aufklart. Immer mehr Zollbeamte und, wie mir schien, vor allem Zollbeamtinnen hatten die Texte einander gezeigt. So hatte ich langsam und unbemerkt meinen zweiten Koffer mit dem Fuß am Schalter vorbeischieben können. Eingepackt in Hemden und Pullover lagen darin die ersten sechs gebundenen Exemplare von Doktor Schiwago in englischer Sprache.
Je mehr sich die Gerüchte über einen Nobelpreis für Pasternak verdichteten, desto häufiger trafen Briefe französischer und englischer Schriftsteller bei ihm ein, die ihm im Voraus gratulierten. Auf Veranstaltungen, die der kommunistische Jugendverband Komsomol in der Universität organisierte, fragten Studenten immer drängender danach, was denn Doktor Schiwago für ein Roman sei und warum man ihn im Ausland eher lesen könne als in Russland. Die Antworten fielen immer gleich aus: Gegen Pasternak selbst habe man nichts, er sei ein großer Lyriker, der einen solchen Preis für seine Gedichte verdient hätte. Sein Roman Doktor Schiwago aber sei wertlos und verleumderisch. Von ausländischen Korrespondenten befragt, sagte Kulturminister Michailow, der Roman sei schwach, aber Pasternak sei ein guter Lyriker und großer Übersetzer. Am 23. Oktober 1958 kamen Nachbarn zu Pasternak und berichteten ihm von einer Meldung der BBC: Er sei der aussichtsreichste Kandidat für den Literaturnobelpreis, und die Bekanntgabe werde wohl am Nachmittag erfolgen. Pasternak zog sich seinen Mantel an, setzte die alte Schirmmütze auf und ging hinaus in den strömenden Regen. Uns Korrespondenten, die wir ihm später zur Verkündigung gratulieren wollten, hatte er nicht viel zu sagen. An seinem Haus versammelten sich Nachbarn und Freunde, um diesen Tag mit ihm zu feiern. Glückwunschtelegramme ausländischer Dichter und Schriftsteller trafen ein, und schließlich überbrachte ein Bote vom Telegrafenamt die offizielle Benachrichtigung, dass ihm der Nobelpreis verliehen worden war. Es schien ein gutes Zeichen zu sein, dass die sowjetische Post nicht den Auftrag hatte, die Telegramme zurückzuhalten.
Unterdessen bereitete man sich jedoch in den Redaktionen, insbesondere bei den Organen des Schriftstellerverbandes, schon auf den Gegenschlag vor. Pasternaks Roman sei eine übelriechende Schmähschrift und die Verleihung des Nobelpreises ein sorgfältig geplanter Akt ideologischer Wühlarbeit, so hieß es in einer offiziellen Erklärung des Verbandes. »Der innere Emigrant Schiwago, von kleinmütiger und niederträchtiger Spießernatur, ist den Sowjetmenschen ebenso fremd wie der gehässige literarische Snob Pasternak. Man muss entweder mit jenen gehen, die den Kommunismus aufbauen, oder mit denen, die seinen Vormarsch aufhalten wollen. Pasternak hat den Weg der Schande und Ehrlosigkeit gewählt.« Die Pressekampagne steigerte sich von Tag zu Tag. Auf einer Massenversammlung von Jungkommunisten, an der Nikita Chruschtschow teilnahm, nannte der Komsomol-Chef Pasternak »ein Schwein, das in den eigenen Futtertrog scheißt«, und forderte seine Ausweisung aus der Sowjetunion. Die Moskauer Mitglieder des Schriftstellerverbands stimmten schließlich über den Ausschluss Pasternaks ab: Die einzige Gegenstimme kam vom jüngsten Mitglied, dem sechsundzwanzigjährigen Dichter Jewgeni Jewtuschenko. Ilja Ehrenburg blieb der Versammlung mit der Begründung fern, er sei erkältet.
Der Druck hielt gleichwohl unvermindert an. Tag und Nacht versammelten sich Demonstranten vor Pasternaks Haus, die ihn beschimpften und verfluchten. Ein Polizeiposten wurde zu seinem Schutz eingerichtet, ein Bereitschaftsarzt war ständig im Haus. Die Parteibürokraten fürchteten, der Schriftsteller könne in den Selbstmord getrieben werden, wie vor ihm schon die beiden anderen Dichter des großen Dreigestirns der zwanziger Jahre. Das immerhin wollte die Partei vermeiden. An die Schwedische Akademie, die ihm den Nobelpreis für Literatur zugesprochen hatte, sandte Pasternak schließlich ein Telegramm: »In Anbetracht der Bedeutung, die die Gesellschaft, an der ich teilhabe, dieser Auszeichnung unterstellt, muss ich den unverdienten Preis zurückweisen, der mir zuerkannt wurde. Seien Sie durch meine freiwillige Ablehnung nicht verletzt.«
An Nikita Chruschtschow schrieb Pasternak: »Ich wende mich an Sie persönlich und an das Zentralkomitee der KPDSU und an die sowjetische Regierung. Für mich ist es unmöglich, die Sowjetunion zu verlassen. Ich bin durch meine Geburt, mein Leben und meine Arbeit mit Russland verbunden. Was immer meine Fehler und Irrtümer gewesen sein mögen, so habe ich mir doch nicht vorstellen können, dass ich in den Mittelpunkt einer politischen Kampagne geraten würde, die man im Westen um meinen Namen entfacht hat. Nachdem mir das klar wurde, habe ich die Schwedische Akademie davon in Kenntnis gesetzt, dass ich freiwillig auf den Nobelpreis verzichte. Das Verlassen meines Landes wäre für mich gleichbedeutend mit dem Tode, und deshalb bitte ich Sie, nicht gegen mich die äußerste Maßnahme zu ergreifen. Mit der Hand auf dem Herzen kann ich sagen, dass ich etwas für die sowjetische Literatur getan habe und ihr noch nützlich sein kann. B. Pasternak.«
Weder Chruschtschow noch eine andere sowjetische Instanz beantworteten je diesen Brief, und die Drohung der Ausweisung hing damit immer noch in der Luft. Doch im Laufe der Zeit ließen die Hassdemonstrationen vor Pasternaks Haus nach, und auch die bösartigen Zeitungsartikel blieben schließlich aus. Solange Pasternak lebte, gab es gegen ihn keine Verleumdungskampagnen und Strafmaßnahmen mehr. Aber der Druck und die Angst begleiteten ihn weiter. Er mache sich weniger Sorgen um seine Familie, denn sie würden nach seinem Tod in der Schriftstellersiedlung Peredelkino weiterleben können. Umso mehr beunruhigte ihn jedoch das Schicksal seiner langjährigen Geliebten Olga Iwinskaja. Im Sommer 1958, also noch vor der Verleihung des Nobelpreises, hatte er mich einmal gebeten, seine Freundin zu besuchen. Er wollte, dass jemand im Ausland von ihr wusste, falls sie nach seinem Tod verfolgt würde. Schon 1949 war sie unter einem Vorwand zu langer Haft verurteilt worden, um dadurch Pasternak zu bestrafen. Nun fragte er sich, was man Olga Iwinskaja antun könnte, sobald der Schutz seines Namens fehlte. Ich fuhr also zu ihrer Wohnung, wo sie mit Tochter und Sohn aus erster Ehe auf mich wartete – eine blonde, etwas füllige, aber immer noch schöne Frau. Anfangs sprachen wir über Pasternaks Arbeit, denn sie hielt mich zunächst für einen deutschen Wissenschaftler, der sich mit dessen Goethe-Übersetzungen beschäftigte. Wir tranken Tee, und ich versuchte zu verstehen, was sich Pasternak von diesem Besuch versprach – schließlich war diese Begegnung mit einem Ausländer nicht ungefährlich für Olga Iwinskaja. Schon seit langem und trotz ihrer Haftstrafe hatte sie sich beim Schriftstellerverband und bei Parteidienststellen für Pasternak eingesetzt und war dabei über Grenzen gegangen, die ein Sowjetbürger in dieser Zeit nur unter großer Gefahr überschreiten konnte.
Pasternak fürchtete, dass Olga Iwinskaja völlig mittellos zurückbleiben würde. Deshalb bat er mich, ihr eine möglichst große Summe Geld zu überlassen, ehe ich wieder in den Westen fuhr. Das war für uns alle drei riskant. Mit großer Vorsicht hielt ich daraufhin mit Olgas Tochter Irina Kontakt, indem ich gelegentlich von Münzfernsprechern in Theatern oder Restaurants anrief. Zugleich versuchte ich, eine möglichst große Summe in Rubel zusammenzubringen. Von meinem Konto bei der Außenhandelsbank hob ich mehr Geld ab, als ich benötigte. Im Warteraum des bundesdeutschen Konsulats sprach ich vorsichtig russlanddeutsche Aussiedler an, die ihre Rubel nicht mit nach Deutschland nehmen durften. Sie überließen sie mir gegen das Versprechen, ihnen später in Deutschland den entsprechenden Betrag in D-Mark zurückzugeben. Das schien mir eine vertretbare Umgehung der Devisenbestimmungen, ebenso wie Pasternaks Vorschlag, mir mein Geld eines Tages aus seinen westlichen Honoraren zurückzuüberweisen. Bevor ich schließlich im Herbst 1958 nach Deutschland zurückkehrte, verabredete ich mich mit Irina Iwinskaja in der Metro-Station Majakowskiplatz. In der Menschenmenge des Berufsverkehrs übergab ich ihr im Vorübergehen das Bündel der gesammelten Rubelscheine, in die Parteizeitung Prawda eingeschlagen. Offenbar waren wir vorsichtig genug gewesen, denn in dem Gerichtsverfahren, bei dem ihre Mutter 1960, wenige Monate nach Pasternaks Tod, erneut zu langer Lagerhaft verurteilt wurde, spielte unsere Geldübergabe keine Rolle. Andere Besucher aus dem Ausland hatten offenkundig mit weniger Vorsicht geholfen.
Meine Freundschaft mit Pasternak hatte die Behörden schon lange nach Maßnahmen gegen mich suchen lassen. Ende Oktober 1958 lief meine Akkreditierung als Korrespondent in der Sowjetunion ab, und normalerweise hätte ich automatisch eine Verlängerung bekommen. Diesmal jedoch teilte mir ein junger Diplomat im Außenministerium mit freundlichem Bedauern mit, mein Visum könne nur noch um drei Wochen verlängert werden. »Man« habe die Presseabteilung des Ministeriums davon in Kenntnis gesetzt, dass ich von nun an nur noch ein Besuchervisum hätte. Ich ging in mein Hotelzimmer, packte meine Koffer und landete zwei Tage später wieder in Deutschland.
Sowjetische Schriftsteller, gleichgültig, ob sie nun für oder gegen Pasternak gewesen waren, zeigten sich immer weniger bereit, den »Fall Pasternak« und seine Folgen zu kommentieren und den Dichter zu verurteilen. Sie zogen es sicherheitshalber vor, ihn gar nicht zu erwähnen. Auch sie konnten nicht wirklich verstehen, warum der Nobelpreis im Herbst 1958 in Parteikreisen einen so heftigen Wutausbruch ausgelöst hatte. Ihnen allen aber war klar, was es bedeutete, dass auf dem Friedhof Peredelkino am Grabe Pasternaks stets mehr Sträuße, Kränze und Briefe von Verehrerinnen lagen als auf allen Gräbern des Friedhofs zusammen.