»Wir haben hier viele Kränze gesehen,
aber keinen Kranz aus dem Nordwesten.«

Peking
1973–1976
Als ich Anfang 1973 nach China kam, fegte ein kalter Winterwind durch Peking. Sandwolken aus der Wüste Gobi verdunkelten den Himmel, und man konnte nicht einmal mehr die Häuser auf der anderen Straßenseite sehen. Ich hatte das Land ein halbes Jahr zuvor aus der Perspektive einer sommerlichen Prominentenreise erlebt und merkte nun deutlich, dass ich als ständiger Korrespondent unter ganz anderen Bedingungen würde arbeiten müssen. Während ich in diesen ersten Tagen durch Peking lief, konnte ich mir kaum vorstellen, was die Stadt in diesem Jahrhundert alles erlebt und überstanden hatte: das Ende des Kaiserreichs, den Bürgerkrieg, den Einmarsch der Japaner, noch einmal Bürgerkrieg und Revolution und schließlich Maos »Großen Sprung nach vorn«, der viele Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Nach einer Atempause und dem Versuch eines geordneten wirtschaftlichen Aufbaus war schließlich Mitte der sechziger Jahre die »Große Proletarische Kulturrevolution« gefolgt, durch die so viele Chinesen ihr Leben verloren hatten, dass darüber bis heute keine zuverlässigen offiziellen Zahlen veröffentlicht werden. Je nach Berechnungsgrundlage liegt die Opferzahl zwischen drei Millionen und sechzig Millionen. Bevor ich nach China fuhr, kannte ich nur einige begeisterte Beschreibungen von Mao-Fans, von denen es zeitweise auch in Deutschland ziemlich viele gab. Nun sah ich ein anderes China und merkte, dass Ausländer in der Millionenstadt Peking noch isolierter waren, als ich es mir vorgestellt hatte.
Ich wohnte im Minzu-Hotel, einem großen Gebäude am Rande der Innenstadt, das im Moskauer Stil erbaut und mit russischem Plüsch eingerichtet worden war. Hier hatte man für mich eine Zweizimmersuite zum Wohnen und Arbeiten bereitgestellt. Das war nicht unbequem, aber weit abgelegen vom belebteren Zentrum und vom Viertel der ausländischen Botschaften am Stadtrand. Die wenigen Ausländer, die für chinesische Stellen arbeiteten, waren in einem eigenen Wohnheim isoliert. Im Minzu wohnten nur Ausländer aus dem Westen oder der Dritten Welt, und von ihnen gab es nicht sehr viele. Abends schloss das Restaurant bereits um neun Uhr, und der große Hotelbau lag dann wie ausgestorben da.
Immerhin stand uns Gästen ein Büro für Dienstleistungen zur Verfügung, das uns ein Ausländer-Taxi und einen Englisch sprechenden Reiseführer bestellen konnte. So klapperte ich die Büros der wenigen westlichen Kollegen ab, um mir das Leben in Peking und die Arbeitsmöglichkeiten erklären zu lassen. Da gab es zwei Franzosen, zwei Engländer und einen Kanadier, der zwar für die New York Times arbeitete, aber für eine Zeitung aus seinem Heimatland akkreditiert war, weil zwischen Peking und Washington noch keine diplomatischen Beziehungen bestanden. Dann war da eine Reihe japanischer Korrespondenten, die anscheinend nur mit anderen Japanern Kontakt hielten, und schließlich Pressevertreter aus der Sowjetunion und den Ostblockstaaten, auch aus der DDR, die einerseits zu allen westlichen Kollegen Distanz halten mussten, andererseits wegen der gespannten Beziehungen zwischen Moskau und Peking vom chinesischen Leben abgeschottet wurden. Als Korrespondenten aus der Bundesrepublik Deutschland waren wir zu dritt: außer mir ein Kollege von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der wenige Wochen vor mir nach Peking gekommen war, dann Hans-Joachim Bargmann von der Deutschen Presseagentur, der schon mehrere Jahre in Hongkong und Peking gearbeitet hatte – ein erfahrener Kollege, der gern mit Informationen und Erklärungen aushalf. Zu chinesischen Journalisten entwickelten sich keine Kontakte. Die Mitarbeiter von Rundfunk und Fernsehen waren nach einem ersten und einzigen Begrüßungsessen unerreichbar, und auch die Verlagsgebäude der Zeitungen blieben für mich gesperrt.
Von den ausländischen Botschaften war ebenfalls kaum Hilfe zu erwarten. Die Briten und die Franzosen verfügten zwar über große Kanzlei- und Wohngebäude, aber nachdem diese auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution von jungen Rotgardisten, fanatischen Mao-Anhängern, eingeschlossen und zum Teil besetzt worden waren, beschränkten sich die Mitarbeiter inzwischen nur noch auf Routinetätigkeiten. Damals war eine ganze Anzahl von Botschaften betroffen gewesen – darunter auch die Vertretungen von Indonesien und der Mongolei, der Sowjetunion und anderer sozialistischer Länder. Am schwersten hatte es die britische Botschaft getroffen: Mindestens zehntausend Rotgardisten hatten die Diplomaten und ihre Familien im August 1967 mehrere Tage lang eingeschlossen und dann das Botschaftsgebäude erstürmt und in Brand gesetzt. Die Eingeschlossenen wurden misshandelt, ehe sie mit zerrissener Kleidung durch die Menge entkommen konnten. Damals hatte sie Ministerpräsident Zhou Enlai retten lassen, indem er eine Armeeeinheit zur »Rückeroberung« der Botschaft geschickt hatte. Für einen englischen Kollegen, den Reuters-Korrespondenten Anthony Grey, hatte der Ausbruch der kulturrevolutionären Raserei besonders schlimme Konsequenzen. Er wurde von Rotgardisten im Keller seines Hauses zwei Jahre eingesperrt. Sie strichen das einzige Fenster schwarz und verhinderten, dass ihn Informationen aus der Außenwelt erreichten. Seither blickten viele Ausländer in Peking besorgt über die Schulter, wenn sie einer größeren Ansammlung von Chinesen begegneten.
Nachdem 1972 diplomatische Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und China aufgenommen worden waren, gab es nun auch eine bundesdeutsche Vertretung in Peking – mit einem ambitionierten Botschafter, auslandserfahrenen Mitarbeitern und mehreren guten Dolmetschern. Wir drei Korrespondenten stellten die »deutsche Kolonie« dar, konnten unsere Post aus dem Ausland an die Botschaftsadresse schicken lassen, mit den Diplomaten Informationen austauschen und uns über die Entwicklungen in Deutschland auf dem Laufenden halten. Die meisten anderen Botschaften waren kleiner und nicht gerade mit Chinaexperten besetzt, nur die Australier machten da eine Ausnahme: Für sie war China auf der gegenüberliegenden Seite des Pazifiks fast so etwas wie ein Nachbar, dessen Bevölkerung freilich siebzig Mal größer war. Statt eines Karrierediplomaten hatten sie den Botschafterposten mit einem unternehmungslustigen und neugierigen jungen Sinologie-Professor besetzt. Er und viele seiner Mitarbeiter sprachen Chinesisch, wussten gut über die Geschichte und den gegenwärtigen Zustand Chinas Bescheid und waren ebenso auskunfts- wie diskussionsfreudig. Die sowjetische Vertretung war bei weitem die größte und zugleich die verschlossenste. Nach den Vorfällen während der Kulturrevolution hatte man sie in eine Art Festung mit einer starken Truppe von Sicherheitsleuten verwandelt, und anschließend wurde sie von den chinesischen Behörden fast vollständig isoliert und ignoriert. Pekings Stadtverwaltung hatte sogar den Namen der Straße geändert, an dem die Enklave der Sowjetbotschaft lag. Die Adresse hieß nun »Antirevisionismusstraße Nr. 1«. Revisionismus, also das Abweichen vom wahren und revolutionären Kommunismus, war der politische Hauptvorwurf der Chinesen gegen die Sowjetunion. Dem mussten die Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft nun täglich ins Auge sehen.
Die Diplomaten lebten in Peking in besonderen Wohnblocks für Ausländer, nach Ost, West und Dritte Welt getrennt. Es gab drei oder vier Restaurants mit mittelmäßiger Küche, die sie manchmal besuchten, und mit einiger Regelmäßigkeit bekamen sie über die chinesische Dienststelle für die Versorgung des diplomatischen Korps Eintrittskarten für die Peking-Oper. Allerdings durften nur noch die gleichen acht revolutionären Modellopern, etwa Das rote Frauenbataillon oder Die Legende der roten Laterne, aus der Werkstatt von Maos Frau Jiang Qing aufgeführt werden. Die ersten Monate in Peking, in der kargen Welt des halbleeren Minzu-Hotels, schienen mir mithin von tödlicher Langeweile geprägt. Auch alle meine Bemühungen, über die Presseabteilung des Außenministeriums und das Versorgungsbüro für ausländische Diplomaten eine eigene Wohnung zugeteilt zu bekommen, blieben erfolglos. Das bedeutete, dass ich keine Mitarbeiter beschäftigen konnte. Ich hatte gehört, dass ein neues sechsstöckiges Wohnhaus für Ausländer fertiggestellt worden war und dass darin eine ganze Reihe Wohnungen leer stand. Zwei junge Engländer, die täglich für ihre Botschaft einen Informationsdienst mit Artikeln aus der chinesischen Presse erstellten, waren neben einer englischsprachigen chinesischen Tageszeitung die einzige Informationsquelle für uns Ausländer. Von ihnen erfuhr ich, dass leer stehende Wohnungen in Reserve gehalten würden, bis die USA eine Botschaft in Peking eröffnen konnten. Aber niemand wusste, wann das geschehen würde.
Was blieb mir anderes übrig, als die Millionenstadt zu durchwandern und mit eigenen Augen zu erforschen? Die wenigen ausländischen Besucher, die in dieser Zeit nach China eingelassen wurden, neigten dazu, ihre Hoffnungen und Ängste auf eine Wand von Millionen Menschen in gleich geschnittenen blauen Anzügen zu projizieren. Die meisten von ihnen – Rechte wie Linke – waren von China beeindruckt. Die einen bewunderten den disziplinierten Nationalstaat, der eines Tages der Sowjetunion entgegentreten würde, die anderen sahen in China den konsequenten revolutionären Kommunismus, frei von Erscheinungen der sowjetischen Verbürgerlichung. Je länger ich die Chinesen beobachtete, desto deutlicher bemerkte ich jedoch Verhaltensweisen, die weder in das Schema eines disziplinierten kommunistischen Kommandostaats passten noch in eine Gesellschaft freier revolutionärer Initiative. Schon am ganz alltäglichen Straßenleben war das abzulesen. Ich musste dazu nur morgens früh aus meinem Hotel auf die breite Changan-Avenue treten.
Gegen sechs Uhr rollte eine ganze Armee von Radfahrern über die breite Avenue des Ewigen Friedens und drängelte sich in Richtung Stadtzentrum. Ihnen kamen verschlafene Bauern entgegen, die Ladungen frisches Gemüse in die Stadt geliefert hatten. Sie nickten auf ihren Karren ein, während ihre Pferde heimwärts trotteten. Für Pferdewagen und Traktoren war die Innenstadt tagsüber Sperrgebiet, und die Verkehrspolizisten an den großen Kreuzungen hatten mit ihnen wenig Geduld, weil sie das Bild einer modernen sozialistischen Hauptstadt störten und den Verkehr behinderten. Oft mussten die Bauern deshalb vom Wagen springen und ihre Pferde im Dauerlauf durch die Masse der Radfahrer über die Kreuzung ziehen. Dazu kamen die Lastwagen, die sich ihren Weg durch das Heer der Radfahrer zu hupen versuchten, weil sie sich mit ihrem motorisierten Fahrzeug als Vertreter eines neuen Zeitalters fühlten, das nicht durch Karren, Fahrräder und Fußgänger aufgehalten werden dürfe. Die Fahrer der wenigen schwarzen Dienstwagen, die ihre Chefs zu Ministerien und Verwaltungen bringen sollten, versuchten die »Massen« nicht zu verärgern. Schließlich waren die Radfahrer fest davon überzeugt, dass sie als das Volk stets Vorfahrt haben sollten und dass die Verkehrsampeln für sie nichts bedeuteten. Da konnten die Polizisten durch Lautsprecher und Megafone noch so viele Anweisungen brüllen. Gelang es ihnen doch einmal, aus der Menge einen renitenten Radfahrer herauszugreifen, dann zogen sie blitzschnell den Schlüssel aus dem Fahrradschloss am Hinterrad, damit der Betreffende nicht das Weite suchen konnte. Anschließend versuchten sie, ihm die Grundregeln des Straßenverkehrs beizubringen. Meist jedoch gesellten sich andere Radfahrer dazu, ergriffen Partei gegen die Verkehrspolizisten und unterstützten lautstark die Proteste ihres Kameraden. Das kommunistische China, so glaubten wir Ausländer, wenn wir in dem Land ankamen, sei ein disziplinierter Polizeistaat, aber die Polizisten konnten nicht einmal Strafzettel ausstellen und Geldbußen kassieren. Im schlimmsten Fall meldeten sie einen Radfahrer in seiner Fabrik oder an seinem Arbeitsplatz und verlangten, dass er über korrektes Verhalten im Verkehr belehrt werde. Doch das schienen die Zehntausende auf der Straße nicht zu fürchten. Sie nahmen die Botschaft der Kulturrevolution ernst, wonach das ganze Land den werktätigen Massen gehöre.
Nach dem wüsten Gedränge des morgendlichen Berufsverkehrs fand ich die großen Straßen tagsüber recht still. Vor den Häusern hockten alte Männer in der Sonne, rauchten ihre langen Pfeifen, Großmütter schoben Bambuskinderwagen in die Parks, vom Bahnhof strömten Besucher zum Tiananmen-Platz, um sich vor dem Tor des Himmlischen Friedens, dem Eingang zum alten Kaiserpalast, fotografieren zu lassen. Zehntausende wanderten durch die Einkaufsstraßen und betrachteten die Auslagen in den Schaufenstern. Manchmal wollten alle mitreden, die in kleiner Gruppe vor einem Schaufenster standen: ob ein Teekessel Fehler habe, ob er zu teuer sei, ob es anderswo nicht einen besseren gebe. Vor den Geschäften in den kleinen Seitenstraßen drängte sich die Menge Schulter an Schulter. Alle Läden waren staatseigen, aber deshalb keineswegs gleich. In manchen bemühten sich die Angestellten, mit dem wenigen, was es zu verkaufen gab, die Schaufenster nett und attraktiv zu gestalten. Zahnbürsten, Seife und bunte Plastikbecher wurden zu Blumen oder Lampions zusammengestellt, Zigarettenschachteln oder Kuchenstücke wurden aufgebaut wie die Große Mauer. In der schmalen Dashalan-Straße, wo vor dem Sieg der Kommunisten Seidenhändler teure Ware feilgeboten hatten, gab es in den kleinen Läden längst nur noch die blauen Baumwollstoffe, aus denen alle ihre Jacken und Hosen schneiderten. Die Stoffe waren rationiert: zwei Meter pro Käufer. Gegenüber konnte man Töpfe, Pfannen und Thermosflaschen erstehen. In einem Schaufenster standen lauter Wecker mit Pandabären auf den Zifferblättern, die mit den Augen rollten und jede Sekunde mit dem Kopf abnickten. Es gab auch eine traditionelle Apotheke, die einen Rehfötus in einem Glas ausstellte, dazu bizarre Ginseng-Wurzeln und die fossilen Knochen längst ausgestorbener Tiere, sogenannte Drachenknochen, die Gesundheit und Männlichkeit fördern sollten. Spielzeugläden boten Puppen, kleine Gewehre und billige Bambuskinderwagen an. In einem anderen Laden aber war die moderne Zeit eingezogen. Hier fand man Transistorradios und ein paar kleine Schwarzweißfernseher, die 300 Yuan kosteten, was etwa sechs Monatslöhnen eines Industriearbeiters entsprach.
Zwischen den engen Straßen lagen ein paar große Abstellplätze, wo ältere Frauen Radfahrer aufforderten, ihre Fahrräder abzuschließen, und ihnen eine kleine hölzerne Plakette mit einer Nummer in die Hand drückten. Dass es auch im neuen China eine Menge Fahrraddiebe gab, hatte die Propaganda uns Ausländern nicht erzählt. Neben einem unauffälligen zweistöckigen Gebäude waren einige Dienstwagen geparkt: ältere schwarze Limousinen russischen Fabrikats oder grüne Autos vom Typ »Shanghai«, dem chinesischen Wagen für die Mittelklasse der Funktionäre. Gesetzte Herren stiegen mit ihren Frauen und Töchtern aus, die wie alle Chinesen vorschriftsmäßig in blaue Hosenanzüge gekleidet waren. Sie gingen in ein unauffälliges Restaurant, von dem ich in alten Reiseführern gelesen hatte. Dies war das einst berühmte und nach wie vor beste Restaurant für Pekingente. Die meisten Passanten sahen es von der Straße aus nicht, wären aber selbst dann nicht eingelassen worden, wenn sie das nötige Geld dafür gehabt hätten.
Nicht weit entfernt davon lag das siebzehnstöckige Peking-Hotel. Dessen automatische Türen ließen sich ohne Berührung öffnen und schließen. Das war eine Attraktion für die Besucher vom Lande, die staunend auf der Straße stehenblieben. In der Nähe des Hotels befand sich Pekings größtes Kaufhaus. An den Theken im Erdgeschoss wurden Hunderte verschiedener Süßigkeiten aus ganz China angeboten, daneben aber auch in Aluminium verpackte Zigarren aus Kuba. Ich schaute zu, wie Leute vom Lande einfache Artikel wie Kugelschreiber oder Füllfederhalter bestaunten und wie sich an einem Ladentisch eine Menschentraube bildete, als die Verkäuferin eine Schweizer Armbanduhr aus einer Schatulle nahm. 800 Yuan sollte sie kosten – anderthalb Jahresgehälter für einen Industriearbeiter und eine unvorstellbare Summe für die Besucher aus den Dörfern.
Aus dem Verhalten der Menschen konnte ich schließen, dass ganz verschiedene Elemente der chinesischen Lebensweise trotz Revolution und Umerziehung überlebt hatten und dass sich deshalb keineswegs einfach voraussagen ließ, welche Entwicklung China nehmen würde. Immerhin gab es Anzeichen für eine bevorstehende Lockerung des Verhältnisses zum Rest der Welt. Zu den ersten derartigen Signalen gehörte die Einladung einer westdeutschen Wirtschaftsdelegation nach Peking. Zwanzig Jahre zuvor waren die Handelsbeziehungen wegen des Koreakriegs abgebrochen worden. Nun kam im Mai 1973 eine Abordnung von eindrucksvollem Kaliber, geleitet von Berthold Beitz, dem Chef von Krupp, sowie Alfred Herrhausen von der Deutschen Bank, dazu hochkarätige Vertreter der wichtigsten deutschen Handels- und Industriezweige. Sie wurden bei diesem zwölftägigen Aufenthalt als Gruppe durch die chinesische Hauptstadt geführt, besichtigten Fabriken, zu denen ihnen nur schwer lobende Bemerkungen einfallen konnten, hatten ein Gespräch in der Universität, in der es kaum Studenten, aber viele Soldaten gab, und hörten in Volkskommunen im landwirtschaftlichen Umland mehrfach den gleichen Vortrag über die politischen Errungenschaften der Kulturrevolution und das hohe ideologische Bewusstsein der Arbeiter.
Die Delegation war ebenfalls im Minzu untergebracht. Zurück von Reisfeldern oder Werkshallen, brachten die Dolmetscher sie an ihren reservierten Tisch im Restaurant und wünschten allen eine angenehme Nachtruhe. Nach dem frühen Abendessen lag das Hotel im Dunkeln. Kein Restaurant, keine Bar war geöffnet. Einige der deutschen Gäste hatten sich deshalb etwas mit aufs Zimmer genommen, aber im Hotel gab es nur den starken chinesischen Schnaps und einen Whiskey, der nach schlechtem Portwein schmeckte. So saßen die deutschen Wirtschaftsführer abends stundenlang auf ihren Zimmern oder unterhielten sich in meinem Büro. Meine Wohnverhältnisse kamen ihnen von Tag zu Tag spartanischer vor, und einer bedauerte mich ausdrücklich dafür, dass ich in diesen kärglich ausstaffierten Räumen nun Jahre verbringen sollte.
Die Delegation wartete auf ein Gespräch mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Zhou Enlai, das schon seit einigen Tagen auf dem Programm stand. Ich wusste, dass Zhou solche Gespräche am liebsten spät in der Nacht oder in den ganz frühen Morgenstunden führte. Aber wann er die deutsche Delegation zu sich bitten würde, konnte niemand sagen. Am vierten Abend, eine halbe Stunde nach Mitternacht, sah ich, dass alle Ampeln auf der Changan-Avenue gleichzeitig auf Rot geschaltet wurden. Kein Auto, nicht einmal ein Radfahrer waren zu sehen, als eine Reihe von schwarzen Limousinen an unserem Hotel vorfuhr. Zhou Enlai ließ die deutschen Gäste zur Großen Halle des Volkes abholen. Ich begleitete die Gruppe und beobachtete, wie der Ministerpräsident höflich und aufmerksam den Referaten der Deutschen zuhörte, die ihm die Leistungsfähigkeit ihres Industriezweigs und die großen Chancen eines deutsch-chinesischen Wirtschaftsaustausches schilderten. Ein wenig verblüfft waren sie, als ihnen der Ministerpräsident eine ganz einfache Frage stellte: »Die Bundesrepublik ist doch nun in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Da gibt es doch alles, was Sie brauchen. Warum sind Sie an Handelsbeziehungen mit China interessiert?« Den deutschen Gästen war eine gewisse Enttäuschung anzusehen: Selbst der Ministerpräsident, der als einer der erfahrensten und bestinformierten Männer in China galt, hatte offenbar keine Ahnung von internationalem Wirtschaftsaustausch. Zhous Mitarbeiter schrieben unterdessen alles mit, was gesprochen wurde. Es war die Zeit des Übergangs zu einer sachlicheren Wirtschaftspolitik, und das akademische Seminar, das Berthold Beitz und seine Delegation für den chinesischen Ministerpräsidenten zu veranstalten schienen, sollte am Ende tatsächlich einen wichtigen Anstoß für die Diskussion innerhalb der chinesischen Führung geben. Es half, jene Kräfte zu stärken, die auf ein moderneres, an Wirtschaftswachstum orientiertes China setzten. Aber an diesem Abend konnte niemand ahnen, dass der deutsch-chinesische Handel schon binnen weniger Jahre sprunghaft anwachsen würde.
Zhou Enlai führte in dieser Nacht, als die Delegation bereits ins Hotel zurückfuhr, mit Berthold Beitz noch ein ausführliches Gespräch unter vier Augen über Deutschland, Europa und die Weltpolitik. Die chinesischen Funktionäre im Außenministerium achteten deshalb von nun an sorgsam auf jede Äußerung, die der deutsche Delegationschef gegenüber seinen Mitreisenden machte. Und da es dabei nicht immer um die Weltwirtschaft ging, registrierten sie auch, was er über meine Hotelunterkunft und das aussichtslose Warten auf eine Wohnung sagte. Berthold Beitz meinte, ich bräuchte mir eine solche Behandlung nicht gefallen zu lassen. Wenn die Chinesen so wenig an meiner Anwesenheit interessiert seien, dann solle ich meine Koffer packen. Einem deutschen Reeder, der zur Delegation gehörte, rief er unüberhörbar zu: »Ruges Möbel sollen nächste Woche auf Ihrem Frachter ankommen. Rufen Sie den Kapitän an, er soll sie gar nicht erst ausladen. Ruge fliegt mit uns zurück. Was soll er hier, wo man ihn nicht einmal anständig unterbringt.« Ich hätte meine Zelte in China trotz aller Unbequemlichkeiten natürlich nicht so schnell abgebrochen, aber wie sich sehr bald zeigte, war das auch gar nicht nötig. Schon am nächsten Vormittag besuchte mich ein älterer Verwaltungsmann aus dem Büro für die Versorgung von Ausländern und erklärte in gepflegtem Englisch, er könne mir eine Wohnung zeigen. Da gab es nun in dem neuen Hochhaus, das eigentlich für die Amerikaner reserviert war, eine angenehme Parterrewohnung: vier Zimmer, eine große Küche, zwei Bäder und ein Büro für mich und den Dolmetscher.
In den nächsten zwei Wochen ging es weiter mit der Ausstattung meiner Korrespondentenexistenz: Das Betreuungskomitee hatte bereits eine Liste mit zukünftigen Mitarbeitern für mich vorbereitet. Diese Mannschaft schien mir zunächst für einen Korrespondenten ungewöhnlich groß, eher passend für die Vertretung eines kleineren Staats oder einer großen Handelsorganisation. Aber alle Korrespondentenbüros waren personell ähnlich üppig ausgestattet. Das erinnerte ein wenig an die vorkommunistischen Jahre, als die Ausländer für wenig Geld viel Personal anstellen konnten. Und in der Tat waren die Personalkosten fast so niedrig wie in der kapitalistischen Zeit – auf »Ausbeuterniveau«, so hätten es die Zeitungen der chinesischen Kommunisten damals genannt. Die Kosten waren so festgesetzt, dass auch kleinere Staaten der Dritten Welt und die ehemaligen kommunistischen Bruderstaaten keinen Grund zur Beschwerde hatten.
Als Erster kam Herr Liang, der Dolmetscher. Er sorgte zunächst dafür, dass ich eine Putzfrau bekam, Frau Li. Dann kamen Herr Yu, von allen »kleiner Yu« genannt, als Koch dazu und der Fahrer, Herr Wang, der sich um meinen Dienstwagen kümmern sollte, sobald dieser mit den Möbeln per Schiff aus Bremerhaven eintreffen würde. Und schließlich war da noch die Chinesischlehrerin, Frau Shu, die mich an jedem Wochentag zwei Stunden lang unterrichtete. Das waren ziemlich viele Leute, die sich täglich in meiner Wohnung aufhielten. Erst war ich darüber etwas besorgt, aber sie alle hatten Erfahrungen mit überbelegten Wohnungen und teilten sich die Arbeitsplätze in Küche und Büro auf, ohne einander zu stören. Natürlich war die Distanz zu mir sehr groß und, wie mir zunächst schien, bei der schüchternen Putzfrau fast unüberwindlich. Aber gerade Frau Li erwies mir, ohne es zu wissen, einen Gefallen. Vierzehn Tage nachdem sie bei mir zu arbeiten angefangen hatte, musste sie bei der Leitung ihrer Organisation einen ersten Bericht über Arbeitsplatz und Arbeitgeber abliefern, und der fiel positiv aus. Ich hatte, ehe meine Möbel ankamen, in einem chinesischen Geschäft einen Küchenstuhl gekauft, der mir als billig und praktisch aufgefallen war. Auf ihm ruhte Frau Li sich gelegentlich aus. Das berichtete sie ihren Vorgesetzten, worauf diese offenbar zu dem Schluss kamen, ich sei kein hochnäsiger ausländischer Ausbeuter, sondern ein Mann, der auch einfache Chinesen mit Respekt behandle und das Proletariat nicht verachte. Diese Einschätzung, von der ich erst Jahre später von meiner Chinesischlehrerin erfuhr, ging in einen der vielen Berichte ein, in denen regelmäßig Äußerungen von Ausländern zusammengefasst wurden.
Herr Wang, der Chauffeur, war um die dreißig Jahre alt, ein Fischersohn aus der Nähe von Tsingtao, ein bisschen naiv, aber offen und freundlich. Er hatte seinen eigenen Kopf, aber was für ein Dickschädel er wirklich war, erfuhr ich erst nach einem Unfall mit unserem Dienstwagen. Auf einer Nebenstraße am Stadtrand war ein Traktor mit unserem Wagen zusammengestoßen. Die Schäden am Traktor waren nicht sehr groß, die Reparaturen an unserem Auto aber würden teuer werden. Die Polizei hatte die Unfallstelle besichtigt und ein Urteil gefällt: Schuld sei der Fahrer mit dem Wagen des Ausländers. Das aber wollte Herr Wang nicht auf sich sitzenlassen. Seiner Ansicht nach habe die Polizei nur deshalb so geurteilt, damit der deutsche Korrespondent zahlt, während bei einer Schuld des Traktorfahrers dessen Volkskommune die Reparaturkosten hätte tragen müssen. Inzwischen hatte jedoch auch der Chef der staatlichen Dienststelle, die Ausländern die Chauffeure stellte, gegen meinen Fahrer entschieden. Das hieß, dass ich die Kosten übernehmen und Herr Wang durch einen anderen Fahrer abgelöst werden sollte. Das wollte er nicht hinnehmen. Jeden Morgen setzte er sich in meinen Dienstwagen und schickte den Ersatzchauffeur wieder weg. Nach drei Wochen warnte mich mein Dolmetscher: Wenn der Fahrer sich weigere, einen anderen Posten anzunehmen, werde das langsam gefährlich für mich. Auch meine Sprachlehrerin empfahl mir, ich solle Herrn Wang sagen, dass ich den Streit beenden und die Schadensrechnung begleichen würde. Der Fall, so sagte sie, habe inzwischen Diskussionen ausgelöst, die uns beiden Schwierigkeiten machen könnten. Also beklagte ich mich nicht mehr, und Herr Wang war eines Tages verschwunden, ohne sich verabschiedet zu haben. Später erfuhr ich von meinem Dolmetscher, er sei aus Protest nach Hause auf seine Fischerinsel im Chinesischen Meer zurückgekehrt. Einen Monat später aber hielt ein Auto auf der Hauptstraße mit quietschenden Bremsen vor mir: Aus dem Wagen stieg Herr Wang, der mich hocherfreut und respektvoll begrüßte, wie er es auch später bei jedem Zusammentreffen tun würde. Er hatte gegen alle Erwartungen der Kollegen seinen Job als Ausländerchauffeur wiederbekommen, aber mit der Auflage, dass er bei mir nicht wieder arbeiten dürfe. Nun war er Fahrer eines afrikanischen Botschafters. »Zur Strafe«, kommentierte Herr Liang, ohne zu erklären, warum ihm die Versetzung vom Steuer eines weißen Journalisten in den Wagen eines schwarzen Diplomaten als Strafe erschien.
Zwischen den Mitarbeitern in meinem Büro gab es offiziell keine Rang- oder Klassenunterschiede. In Situationen wie der beim Chauffeurwechsel konnte ich gleichwohl erkennen, wie verschieden sie waren. Genau erklären konnte ich es mir nicht, denn es gehörte zu ihrem Selbstschutz, sich nicht zu sichtbar von den anderen zu unterscheiden, und ich konnte nicht nachfragen, ohne sie zu gefährden. Mir fiel auf, dass Herr Liang von anderen Chinesen nicht als mein Dolmetscher, sondern als Sekretär unseres Korrespondentenbüros bezeichnet wurde. Viele Jahre später hörte ich, dass er tatsächlich kein einfacher Dolmetscher war, sondern vor seiner Zeit bei mir eine Abteilung im Außenministerium geleitet hatte, die Diplomaten auf die Botschaftsarbeit in englischsprachigen Staaten vorbereitete. Man hatte ihn dann jedoch aus Gründen, die ich nie erfuhr, wie viele andere zur Umerziehung in ein ärmliches Dorf in Nordwestchina geschickt. Als er nach Peking zurückkehrte, suchten Kollegen für ihn einen Arbeitsplatz, der nicht so exponiert sein durfte wie der eines Abteilungsleiters im Ministerium, bei dem aber seine Intelligenz und seine Kenntnisse gewürdigt würden. So kam er zu mir und erwies sich auf seine zurückhaltende, vorsichtige Art als ein ausgesprochen erfahrener Helfer. Nach etwa anderthalb Jahren allerdings wurden die maoistischen Kulturrevolutionäre wieder stärker, sie entfernten Herrn Liang aus meinem Büro und schickten ihn ein zweites Mal zur Umerziehung aufs Land. Als ich ihn dann Jahre später in Peking auf der Straße wiedertraf, ging er mit zwei älteren Jungen spazieren, und ich sagte ihm, ich hätte ihn mit den Kindern vor Jahren schon einmal auf der Straße gesehen. Ich hätte ihnen zugewinkt, aber zurückgewinkt habe er nicht. Ja, sagte er, damals habe man keinen Ausländer begrüßen und schon gar nicht sagen dürfen, dass man Kinder habe. Jedes private Gespräch hätte ein Grund sein können, ihn zur Landarbeit zurückzuschicken.
Der Nachfolger von Herrn Liang war wieder ein Mann, der eigentlich im chinesischen Außenministerium einen besseren Platz auf der Aufstiegsleiter hatte. Natürlich hielt er nach den Erfahrungen seines Vorgängers noch mehr Abstand zu mir, aber er sprach ein gutes Deutsch, war ein geschickter Organisator und eine große Hilfe für mich. Jahre später traf ich ihn in Deutschland wieder, wo er den Umzug der chinesischen Botschaft von Bonn nach Berlin organisierte.
Bei meiner Chinesischlehrerin Frau Shu spürte ich von Anfang an, dass sie etwas Besonderes war. Ihre Kollegen behandelten sie mit bemerkenswertem Respekt, wenn sie sich bei ihr Ratschläge für alle Lebenslagen holten. Wenn ich mich mit ihr unterhielt, lachte sie sehr viel, was zwischen Chinesen und Ausländern sonst extrem selten vorkam. Bei mir und ausländischen Kollegen ließ sie manchmal mit freundlicher Ironie erkennen, dass wir von den Verwicklungen der aktuellen Politik so wenig Ahnung hätten wie von Chinas klassischer Kultur. Einmal erwähnte sie, sie habe zu einer Gruppe gehört, die Das Kleine Rote Buch mit den Aussprüchen des Vorsitzenden Mao in monatelanger Arbeit ins Deutsche übersetzte. Meine Frage, ob sie verheiratet sei, bejahte sie, aber meinen Wunsch, ihren Mann einmal kennenzulernen, wies sie ab. Der sei ein Naturwissenschaftler an einer Pekinger Universität und dürfe wegen seiner wichtigen Arbeit keinen privaten Kontakt mit Ausländern haben. Dabei blieb es dann. Wir waren uns durchaus sympathisch, und manchmal gab sie mir am Rande des Unterrichts kleine Hinweise, die es mir leichter machten, die Bedeutung eines Leitartikels oder die Meldung einer chinesischen Zeitung zu verstehen. Ohne dass eine engere Beziehung entstand, kamen wir gut miteinander aus. Aber mehr über sie erfuhr ich erst zwei Jahrzehnte später.
Der Mann von Frau Shu, so stellte sich heraus, war gar kein Naturwissenschaftler, wie sie mir erzählt hatte. Er war vielmehr bis Mitte der sechziger Jahre einer der beliebtesten und berühmtesten Opernsänger Chinas gewesen. Dann jedoch war er in Konflikt mit Maos Frau geraten, als diese das kulturelle Leben Chinas zu revolutionieren versuchte und daranging, die klassischen Opern – chinesische wie europäische – durch ihre eigenen Schöpfungen zu ersetzen. Frau Shus Mann wurde auf Jahre hinaus vom Kulturleben ausgeschlossen, sie wurde inhaftiert und zur Arbeit aufs Land geschickt. Als ich Frau Shu nach zwanzig Jahren wiedertraf, hatte sie gerade einen Roman aus dem Deutschen übersetzt: Deutschstunde von Siegfried Lenz. Der Roman erzählt von den Erfahrungen eines Malers in der Nazizeit, von dem Malverbot, das ihn traf, und von Hitlers Versuch, eine »entartete« Kunst zu zerstören. Die Parallelen zwischen NS-Kulturpolitik und Chinas Kulturrevolution konnten den chinesischen Lesern nicht entgehen.
In allen Gesprächen musste man nach den Zwischentönen suchen und an den fast unbeweglichen Gesichtern ablesen, ob man auf Ablehnung oder ein bisschen Verständnis gestoßen war. So ging es mir auch mit der stellvertretenden Leiterin der Presseabteilung des Außenministeriums, über deren Tisch alle Entscheidungen bezüglich der Arbeits- und Reisemöglichkeiten ausländischer Journalisten gingen. Viele westliche Diplomaten und die meisten meiner Kollegen nannten sie eine böse alte Kommunistin. Manche Anfragen fegte sie unerbittlich vom Tisch, und bisweilen dirigierte sie uns auf Reisen zu Fabriken oder Volkskommunen in strengem Befehlston. Sie musste fünfundfünfzig bis fünfundsechzig Jahre alt sein, und aus der britischen Botschaft stammte das Gerücht, sie habe in ihrer Jugend in Shanghai zu den revolutionären Studenten gehört und schon in den dreißiger Jahren im Bürgerkrieg mit Zhou Enlai zusammengearbeitet. Bei einigen ihrer Bemerkungen schien mir, dass sie und ihre beiden engsten Mitarbeiter tatsächlich eher dem Premierminister Zhou und seiner kontrollierten Modernisierung Chinas zuneigten und nicht unbedingt Maos Frau Jiang Qing und ihren Kulturrevolutionären. Jiang Qing hatte seit 1973 eine Kampagne gegen den klassischen Philosophen Konfuzius geführt, die dann ein Jahr später erweitert wurde durch Angriffe gegen den ehemaligen Armeechef Lin Biao, der nach seinem Streit mit Mao bei einem Flugzeugabsturz 1971 auf ungeklärte Weise ums Leben gekommen war. Mit den Kampagnen ging auch – für Europäer schwer verständlich – eine Verurteilung Beethovens und seiner Musik einher, die als antiproletarisch und antirevolutionär geächtet wurde. Aus vorsichtigen Nebenbemerkungen der beiden Männer aus der Presseabteilung schloss ich, dass sie zumindest die Verurteilung Beethovens bedauerten. Ich lud sie und ihre Chefin einige Male zum Abendessen zu mir ein, teils um ihnen ganz offiziell über die Probleme der Korrespondentenarbeit zu berichten und teils um mein Verständnis der chinesischen Politik zu vergrößern. Wenn die drei vor der Tür standen, lief bereits eine Schallplatte mit »Freude, schöner Götterfunken« aus Beethovens 9. Sinfonie. Ich fragte nicht, ob ihnen die Musik gefalle, sie sprachen wenig und hörten lieber zu. Als ich später bei einer anderen Gelegenheit erneut ein Gespräch mit Beethoven untermalte, waren sie wieder ganz still. Wir hatten etwas Gemeinsames gefunden, und von da an spürte ich bei ihnen stets so etwas wie unausgesprochenes Wohlwollen, wenn ich Informationen oder Reisegenehmigungen zu bekommen versuchte.
So lebten wir Ausländer mit unseren chinesischen Mitarbeitern durchaus freundlich nebeneinander, ohne etwas Genaueres über das Leben der anderen zu wissen. Dazu kam eine eigenartige Schwierigkeit: Die Antworten und Erklärungen, die ich bei einem Besuch erhielt, konnten bei der nächsten Begegnung schon völlig anders klingen und selbst mit zeitgeschichtlichen Fakten konnte es einem so ergehen – als wäre die Erinnerung an unpassende Ereignisse aus den Gehirnen wie weggewischt. So ist es mir bei manchen Wiederbegegnungen auf Reisen durch die chinesische Provinz ergangen, die ich in den folgenden zwei Jahrzehnten unternommen habe.
Als ich 1976 das erste Mal das Dorf Hua Xi, 150 Kilometer nördlich von Shanghai, besuchte, war die politische und militärische Erziehung der Stolz der Gemeinde. Die Bauernfamilien, die hier lebten, kannten für Chinesen schwer auszusprechende Namen wie Marx und Engels, Dühring und Lassalle und hatten gelernt, dass Marx immer recht hatte. In den Regalen der kleinen Bibliothek standen die Standardwerke von Lenin und Stalin neben den Schriften Maos, dazu kleine Broschüren, die wie Comics illustriert waren, aber über historische und aktuelle politische Ereignisse berichteten. Es gab sieben Stunden politischen Unterricht in der Woche und zusätzlich Vorträge während der Pausen bei der Feldarbeit. Die Frauengruppen hatten darüber hinaus eigene Treffen für politische Schulung und militärische Ausbildung. Neunundzwanzig Kämpferinnen der Volksmiliz bauten sich für mich zu einer Kolonne auf. Eine fünfundzwanzigjährige Frau befahl ihnen, über den Hof zu marschieren und Nahkampf zu üben. »Der Klassenkampf ist nicht vorbei«, sagte der stellvertretende Kommunenvorsitzende Wu. »Wir müssen immer auf der Hut sein vor reaktionären, konterrevolutionären und kapitalistischen Tendenzen.«
Als ich zweiundzwanzig Jahre später wieder nach Hua Xi kam, sprach man immer noch von einem Dorf, aber mittlerweile ragten viele Fabrikschornsteine auf. Die Neubauten sahen nicht nach den üblichen Unterkünften chinesischer Bauern aus, und das Haus, in dem man mich bei meinem ersten Besuch untergebracht hatte, war nicht mehr das schönste, sondern eines der schäbigsten. Die Bauernfamilie, bei der ich damals gewohnt hatte, war ausgezogen, und nun diente das Haus als Unterkunft für Wanderarbeiter, die aus anderen Provinzen Chinas nach Hua Xi gekommen waren. Siebentausend Arbeiter, Techniker und Ingenieure arbeiteten in Fabriken und Werkstätten, die sich im Gemeinschaftseigentum der Bauernfamilien befanden. Frau Chao, die mich beim ersten Besuch als meine Gastgeberin empfangen hatte, war inzwischen zur Direktorin einer Fabrik für Stahlröhren aufgestiegen. Auch diese Fabrik gehörte zum Gemeinschaftseigentum der Bauernkommune. Von dem neuen Haus, in dem Frau Chaos Familie lebte, hätte bei meinem ersten Besuch niemand zu träumen gewagt: 450 Quadratmeter Wohnraum, so viel, dass in einigen der Räume gar keine Möbel standen. Auch Frau Chaos Mann hatte als Chef des Hotelrestaurants einen guten Posten. Gut zwanzig Jahre zuvor war das Essen viel einfacher gewesen als das, was Frau Chao mir nun auf ihren Banketttisch im Esszimmer stellte. Wir Männer tranken ein Gläschen Maotai-Schnaps und stießen dann gemeinsam mit französischem Rotwein an. »Der Osten wird rot«, toastete Frau Chao. Diesen Mao-Spruch vergesse sie nie. Das Dorf besaß nun ein Hotel, zehnstöckig und in Form einer Pagode, ein Anziehungspunkt für reiche Leute oder für verdiente Arbeiter aus den Industrievierteln Shanghais. Mir hatte man die Präsidentensuite reserviert, 400 Quadratmeter groß und mit zwei hochmodernen Badezimmern ausgestattet. Als alter Freund bekam ich sie zum Sonderpreis, umgerechnet 50 Euro pro Nacht. So viel verdiente ein Facharbeiter im Monat. Die Fabriken, die zum Gemeinschaftseigentum der Dorfbewohner gehörten, produzierten jetzt Wollstoffe, Aluminiumfenster, Schnaps, Zigaretten und Stahl. Im kleinen Erholungspark des Ortes war für jede Familie des Kollektivs eine Tafel errichtet, die den jeweiligen Besitz verzeichnete. Ich schaute nach, was meinen Gastgebern, der Familie Chao, gehörte: ein Sparguthaben von umgerechnet fast 100.000 Euro, zwei Fernseher, eine Klimaanlage, vier Badezimmer, Telefon, Waschmaschine, Motorrad und Fahrrad. »Jeder weiß, was jeder hat. Das ist Sozialismus«, sagte Frau Chao. Mitte der siebziger Jahre hatte hier noch die Devise gegolten, die drei Schätze, die ein Mann mit in die Ehe bringen müsse, seien eine Armbanduhr, eine Nähmaschine und ein Fahrrad. In den neunziger Jahren nannten Chinesen auf dem Lande einen Farbfernseher mit Karaokeanlage, ein Motorrad und eine große Schrankwand als die begehrten Schätze. Aber von so etwas redeten die Leute von Hua Xi schon nicht mehr. Sie fühlten sich als Kommunisten, freilich in einer anderen Kategorie als die Leute, die für sie arbeiteten. Ebendas gehörte zu dem China, das ich bei jedem Besuch anders erlebte, und jedes Mal wurden die Veränderungen uns Ausländern als ganz normale Weiterentwicklung vorgestellt.
Zehntausend Besucher kamen in den sechziger und siebziger Jahren täglich in das Dorf Shaoshan zu dem einstöckigen Haus am Lotusteich, in dem Mao Tsetung geboren wurde. Wie in Marschkolonnen zogen sie durch das Bauernhaus, das zum Nationaldenkmal gemacht worden war. Bis heute besuchen Touristengruppen diesen Ort, wobei sie die romantische Landschaft genauso anzieht wie Maos Geburtshaus. Auch 1998, bei meinem letzten Besuch in Shaoshan, knipsten die Menschen einander vor dem Lotusteich, doch inzwischen erstarrten sie nicht mehr in Ehrfurcht, und der eine oder andere trug ein T-Shirt mit dem Bild Maos, einfach weil er es schick fand. Daran, was sich während der Kulturrevolution ereignet hatte, erinnerten sich die meisten Besucher nur ungenau. Das sei ja vor seiner Geburt gewesen, sagte mir einer, und seitdem sei es in China besser geworden. Ein Student der Volkswirtschaft warf dagegen ein, Maos Kulturrevolution sei eine Katastrophe für China gewesen und habe Wirtschaft und Bildung um zehn Jahre zurückgeworfen. Gut, dass das vorbei sei, meinte er und kaufte dann für sich und seine Freundin zwei Mao-Abzeichen als Reiseandenken. Ein Mann wollte seiner Frau Maos Geburtshaus zeigen und erzählte, wie die Chinesen vierzig Jahre zuvor hierhermarschiert seien, um den großen Führer anzubeten. Heute komme er wieder wegen der Erinnerung an seine Jugend, sagte er. Die jungen Leute dagegen seien aus Neugierde hier, nur zum Vergnügen, weil sie in der Nähe Urlaub machten. Ein älterer Mann, ein Lokalpolitiker aus einer anderen Provinz, wollte sich am liebsten nicht äußern. Er sei auf Reisen und wolle sich nur einmal Maos Geburtshaus anschauen. »Das ist ein Stück Kulturgut, das Geburtshaus des Vorsitzenden«, sagte er. »Die Kulturrevolution hatte ihre guten und ihre schlechten Seiten.« Er hatte keine große Lust, etwas über Maos historische Bedeutung für China zu sagen, sondern meinte nur: »Für die politische Bewegung war die Kulturrevolution gut.« Als ihm seine Frau widersprach, verbesserte er sich: »Na ja, im Rückblick muss man sagen: Es war doch übertrieben, wie sie damals die Parteifunktionäre totgeschlagen haben. Es war doch ein Fehler, das muss man schon sagen.«
Jedenfalls ließ sich Maos Name noch immer nutzen: Am Lotusteich gleich nebenan lag das »Mao-Familienrestaurant«. Frau Tang, die das Restaurant aufgemacht hatte, war zwar bloß eine angeheiratete Mao, aber sie hatte sich erklären lassen, wie man die Lieblingsgerichte des Großen Vorsitzenden kocht – lauter scharfe und fette Speisen. Frau Tang ging es jetzt viel besser als zu Lebzeiten Maos, als sie noch eine arme Bäuerin gewesen war. An der Wand hing ein Foto, das zu ihrem Stammkapital gehört: Mao auf Besuch in seinem Heimatdorf bei seinen Verwandten. Die Frau mit dem Kind auf dem Bild ist Frau Tang. Tausende dieser Fotos hat sie in Umlauf gebracht, denn der tote Vorsitzende, so fand sie, mache gute Reklame für ihre Kette von elf Mao-Familienrestaurants. Die liefen so erfolgreich, dass sie inzwischen stellvertretende Vorsitzende der Handelskammer von Shaoshan war.
Das kleine Rote Buch und andere Schriften Maos scheinen heute schon wieder fast vergessen. Die Werke des Konfuzius, die in den Kampagnen der Kulturrevolution verspottet und verurteilt wurden, lebten dagegen in den neunziger Jahren wieder auf. Qufu, Geburtsstadt des Konfuzius in der Provinz Shandong, war allerdings 1998 auch eher ein Tourismuszentrum als ein Ort der Verehrung und des Nachdenkens. Im Hotel konnte ich ein buntes Wägelchen in altchinesischem Stil mieten, was ein paar Jahre zuvor noch verboten gewesen wäre. Der Mann, mit dem ich dann durch die Stadt fuhr, hieß Herr Kong. Er war ein Nachkomme des großen Philosophen und Sittenlehrers und stammte in der 75. Generation von dem alten Meister ab. Die Europäer hatten dessen Namen einst in »Konfuzius« verwandelt, nachdem deutsche und französische Philosophen des 18. Jahrhunderts ihn als großen Denker und Moralisten entdeckt hatten. In den Augen der meisten jüngeren Chinesen war Konfuzius dann nur noch ein Reaktionär gewesen, der in Maos Kulturrevolution bekämpft werden musste. Herr Kong fuhr mit mir zur großen Tempelanlage, wo seine Ahnen schon vor zweieinhalbtausend Jahren gelebt hatten. Seitdem waren die Tempel von Qufu ein zentraler Ort der chinesischen Kultur und Zivilisation gewesen, immer wieder erweitert, manchmal zerstört, schließlich wieder aufgebaut, bis die Rotgardisten die Tempel besetzten und die uralten Steintafeln zerschlugen. Sie wollten den Chinesen das konfuzianische Denken austreiben und es durch die Lehren von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao ersetzen. Nun waren die Konfuziustempel wieder geöffnet, aber Konfuzius’ Platz im chinesischen Denken war immer noch unsicher: Weder kommunistische Kulturrevolutionäre noch kapitalistische Industrielle konnten mit seinen Lehren viel anfangen. Ich fragte Herrn Kong, was die konfuzianischen Werte, von denen im Westen noch oft gesprochen werde, für die neukapitalistischen Chinesen von heute bedeuten könnten. »Die Ideen und Lehren des Konfuzius haben das Denken unserer Gesellschaft zweieinhalbtausend Jahre beeinflusst. Deshalb glauben auch jetzt viele Leute, besonders unter den jungen Studenten, an die Lehren und Richtlinien des Konfuzius«, meinte Herr Kong. In der Zeit der Kulturrevolution hatten nur seine engsten Verwandten von seiner Herkunft wissen dürfen, aber nun brauchte er sie nicht mehr zu verstecken. Der Wald der Familie Kong, in dem alle männlichen Nachfahren seit zweieinhalbtausend Jahren begraben wurden, war immer noch da, ebenso der runde Hügel, unter dem der Meister Kong einstmals sein Grab gefunden hatte. Die wilde Wut der proletarischen Kulturrevolution hatte das Grab für einige Jahrzehnte verschüttet, aber nicht zerstört.
Ich sah die jungen Studenten, die nach dem Examen ernst vor dem Tempel des Konfuzius standen, und fragte mich, wie sie künftig wohl angesichts uralter chinesischer Tradition, kommunistischer Lippenbekenntnisse und eines neuartigen kapitalistischen Erfolgsstrebens ihr modernes China bauen würden.
Wir Ausländer hatten Mitte der siebziger Jahre so gut wie keinen Einblick in die innerparteilichen Auseinandersetzungen, die meist in »Parteichinesisch« und anhand scheinbar abgelegener Themen ausgetragen wurden – wie etwa Jiang Qings Kampagne gegen die Sittenlehre des Konfuzius und die Musik Beethovens. Auf welche Weise die inneren Machtkämpfe des Regimes verlaufen waren, konnten wir meist erst dann genauer erkennen, wenn die eine Seite gesiegt hatte und die angeblichen Verfehlungen der anderen Seite verurteilte. Die Konfliktlinien waren keineswegs eindeutig, aber im Kern ging es bei den Auseinandersetzungen stets um die Gegensätze zwischen den sowjetisch-bürokratisch geprägten Funktionären der Parteihierarchie, den von Mao angetriebenen, meist jüngeren Kämpfern der Kulturrevolution und den Vertretern einer reformorientierten Wirtschaftspolitik.
Wir konnten nur versuchen, das Kunstchinesisch der kommunistischen Politiker zu übersetzen, das freilich in Zeiten innerer Konflikte mehr der Tarnung als der Erklärung diente. Zwar trafen wir uns in kleinen Kreisen befreundeter Journalisten und Diplomaten und tauschten aus, was wir gehört hatten, aber die Informationen und Erkenntnisse blieben bruchstückhaft und widersprüchlich. Den normalen Chinesen erging es nicht viel anders, wenn sie mehr über die großen Kampagnen erfahren wollten, die die Lager in der Parteispitze gegeneinander führten und die zeitweise in ihrer Schärfe fast einem verdeckten Bürgerkrieg glichen. Die Menschen bemühten sich, aus Zeitungsartikeln und Schulungsmaterial herauszulesen, ob gerade die radikale Fraktion mit Maos Frau die Oberhand gewann oder ob die Funktionäre um Ministerpräsident Zhou Enlai mit ihrem Modernisierungskurs wieder stärker dastanden. Ein Echo dieser Machtkämpfe erreichte uns über Zeitungen aus anderen Teilen des Landes, etwa aus Shanghai, wo stets schärfere kulturrevolutionäre Töne angeschlagen wurden als in Peking oder in anderen Provinzen.
Immer wenn sich der Konflikt zuspitzte, verlagerte sich der Propagandakampf aus der offiziellen Presse in die sogenannten Wandzeitungen. Sie hingen in der Regel zuerst in den Höfen der Universität, wo sie auch die wenigen ausländischen Studenten lasen. Denen war meist verboten, die Texte abzuschreiben, damit sie nicht in die Hände von ausländischen Journalisten und Botschaftsmitarbeitern gelangen konnten. Ausländische Dolmetscher, die mit einer Delegation eine Fabrik besichtigten, brachten dennoch manchmal den Text der Schlagzeilen von Wandzeitungen mit, die sie in der Fabrik gesehen hatten. Steigerte sich der Konflikt im kommunistischen Apparat weiter, tauchten die Wandzeitungen schließlich auch außerhalb der Universitäten auf. Nun waren sie für jeden sichtbar an den Außenwänden der Häuser angebracht.
Im Sommer 1974 begann mitten in Peking, gegenüber der Stadtverwaltung, dem sogenannten Revolutionskomitee, eine für uns Ausländer schwer verständliche Wandzeitungskampagne, in der sich die innerparteilichen Konflikte zu spiegeln schienen. Unterzeichnet von sechs Arbeitern aus sechs verschiedenen Fabriken, behauptete die erste, plakatgroße Zeitung: »Es gibt schwarze, konterrevolutionäre Gruppen in der Hauptstadt, und sie folgen einem schwarzen Kurs. Sie sind bestrebt, die revolutionären Rebellen zu unterdrücken und die Errungenschaften der Kulturrevolution abzuschwächen.« Diese Wandzeitung war zwar am nächsten Tag abgerissen worden, aber nun hing da eine andere, die von »zwei Frauen aus der kommunistischen Partei« unterschrieben war und in der zu lesen stand, die leitenden Genossen wollten die Kulturrevolution rückgängig machen. Auf einem anderen Plakat unterstützte ein Mann, der sich als altes Parteimitglied bezeichnete, die beiden Frauen. Acht Arbeiter einer Pekinger Baugesellschaft wiederum beklagten, in ihrem Betrieb würden die führenden Anhänger der Revolution verfolgt und sie hätten überdies ein Jahr lang keinen Lohn erhalten. Ein Arbeiter aus einer Werkzeugmaschinenfabrik beschrieb, dass die Kulturrevolution in seiner Fabrik nur noch formales Gerede sei und ihre Anhänger längst unterdrückt würden. Die Leitung der Fabrik habe sie in mehr als tausend Wandzeitungen kritisieren lassen und die Bewegung abgewürgt, so dass in der Fabrik nur noch Stille und Einsamkeit herrschten. Zwar meldeten sich hier vor dem Revolutionskomitee nur Verfechter kulturrevolutionärer Errungenschaften zu Wort, aber mit ihren Klagen zeigten sie doch, dass sie mancherorts in großen Schwierigkeiten steckten und ihre Gegner stärker waren als sie.
Auch Arbeiter aus anderen Provinzen klebten an den Häusern nahe der Stadtverwaltung Wandzeitungen an. Manche ihrer Beschwerden waren ziemlich persönlicher Art und gaben Einblicke in Aspekte des chinesischen Lebens, die Fremden sonst verborgen blieben. Sie erlaubten es uns Ausländern, gelegentlich einen Blick auf die Spannungen und Auseinandersetzungen hinter den Kulissen der politischen Reden und Leitartikel zu werfen. So protestierte eine Frau aus Sichuan, man habe ihr verboten, ihre Klagen in der Hauptstadt aufzuhängen. »Ich war 329 Stunden im Gefängnis Nr. 2 eingesperrt. Ich musste alle möglichen Beleidigungen, illegalen Handlungen und Schläge ertragen. Ich musste mich bei einer Untersuchung ganz ausziehen, und die Vertreter des Büros für öffentliche Sicherheit untersuchten jeden Teil meines Körpers, sogar meine Haare und meinen Hintern. Ich bin eine Bürgerin der Volksrepublik China und gemäß der Verfassung habe ich das Recht, die Abteilung für öffentliche Sicherheit anzuzeigen. Sie haben mein Geld und meine Getreidecoupons beschlagnahmt, 22 Yuan und Marken für vier Kilo Getreide. Sie haben versprochen, dass ich alles zurückbekomme, aber ich habe nichts zurückerhalten. Ich musste unterschreiben, dass sie alles zurückgegeben haben, sonst hätten sie mich nicht freigelassen. Sie haben auch die Materialien beschlagnahmt, mit denen ich unsere Klagen belegen wollte. Diese Papiere waren der Beweis, dass es in der Provinz Sichuan Machthaber gibt, die den Kapitalismus wiederherstellen wollen.«
Eine Woche lang waren die Hauswände in der Nähe des Pekinger Revolutionskomitees voll von solchen Mitteilungen. Einige von ihnen schienen zu politischem Widerstand gegen die Regierung aufzurufen. Andere enthielten persönliche Beschwerden und lasen sich wie Leserbriefe in westlichen Zeitungen. Manche hingen einige Tage lang, andere wurden noch in der Nacht entfernt. Immer standen Menschenmengen vor den Plakaten, aber sie kommentierten vorsichtshalber eher die Qualität der Schriftzeichen als den Inhalt. Die meisten Leser schwiegen zwar, aber es gab stets Leute, die einzelne Textpassagen abschrieben, vielleicht um sie selbst für Wandzeitungen in ihren Fabriken und Schulen zu verwenden. Die zwei Frauen, die eine der ersten Zeitungen an die Wand geklebt hatten, brachten schließlich eine Fortsetzung. »Gestern Mittag kamen wir zwei Genossinnen hierher, um ein Plakat zur Unterstützung der anderen Genossen aufzuhängen. Wir wollten sie an das Eisentor gegenüber dem Gebäude des Revolutionskomitees kleben. Wir wussten nicht, dass dieses Tor der Eingang zu einem Club ist, in dem einige führende Genossen sich erholen und schwimmen gehen. Wir wussten auch nicht, dass wir ihre Würde verletzten, aber man sagte uns, dass wir die leitenden Genossen stören würden, und mehrere Männer kamen heraus, um die Plakate abzureißen. Sie hatten den Befehl, uns zwei Frauen zu schlagen. Sie verletzten uns an den Armen, die Finger von einer von uns sind noch geschwollen. Dann öffneten sie das Tor, brachten einen Schlauch und bespritzten uns mit Wasser. Wir waren total nass und konnten kaum atmen.«
Was hinter dem Streit um die Wandzeitungen steckte, ließ sich zwar meist nicht genau beurteilen, aber sie vermittelten doch einen lebhaften Eindruck von den Konflikten innerhalb der chinesischen Gesellschaft. Die Chinesen selbst konnten die Zusammenhänge besser einordnen oder auch mit vertrautesten Freunden oder Verwandten vorsichtig darüber sprechen. Zuverlässige Schlüsse über den Stand der Auseinandersetzungen innerhalb der kommunistischen Parteiführung konnten freilich auch sie nicht ziehen.
Am 28. März 1976 entdeckte ein englischer Diplomat aus dem Fenster seines Zuges auf dem Weg von Shanghai nach Peking dicht neben den Gleisen ein großes Plakat. Es war so aufgestellt worden, dass die Reisenden es nicht übersehen konnten: »Ehret das Andenken der Revolutionsmärtyrerin Yang Kaihui.« In dieser Zeit des Jahres waren Spruchbänder zum Andenken an die Märtyrer von Revolution und Bürgerkrieg eigentlich nichts Überraschendes, denn die Woche des Qingming-Festes stand bevor, in der die Toten und besonders die Opfer des revolutionären Kampfes geehrt wurden. Der Engländer war jedoch ein Kenner der chinesischen Revolutionsgeschichte, und der Name auf dem Plakat elektrisierte ihn. Yang Kaihui war die zweite Frau Mao Tsetungs gewesen, bevor sie 1930 von Gegnern der chinesischen Kommunisten hingerichtet worden war. In einem von Maos Gedichten findet sich eine bewegende Huldigung an sie. Dann aber hatte man ihren Namen während der Kulturrevolution aus den erklärenden Fußnoten zu Maos Gedichten entfernt. Was bedeutete es nun, wenn Maos zweite Frau gerade in einem Augenblick geehrt wurde, an dem seine derzeitige Frau Jiang Qing an politischem Einfluss gewinnen wollte? War das ein Protest gegen Jiang Qing und ihre Kulturrevolutionäre?
Der englische Diplomat, der das Plakat sorgfältig studiert hatte, gab uns ausländischen Journalisten diese Fragen weiter. So suchten wir nun nach Hinweisen und Anhaltspunkten auf den Transparenten von Jungkommunisten oder bei Schulklassen, die in der Woche des Qingming zum Platz des Himmlischen Friedens im Zentrum Pekings marschierten. Hier geschah zunächst nichts Ungewöhnliches: Die jungen Leute legten Kränze aus Papier und Blumen zu Ehren der Opfer des revolutionären Kampfes am Fuß des Märtyrerdenkmals nieder, sangen die »Internationale« und hörten mit erhobener Faust zu, wie ihre Redner einen Ergebenheitsschwur an die chinesische kommunistische Partei verlasen. Dann aber lehnte am 30. März ein Kranz mit dem Bild des Ministerpräsidenten Zhou Enlai an der Vorderseite des Denkmals. Das ließ uns aufmerken.
Zhou Enlai war drei Monate zuvor mit 77 Jahren gestorben. Der geachtete und bewunderte Ministerpräsident hatte jahrelang Stabilität und Kontinuität im revolutionären Prozess garantiert und galt vielen Chinesen als der einzige Mann, der Konflikte durch geduldige Verhandlungen zu lösen vermocht und Verständnis für die Sorgen der Intellektuellen wie der einfachen Leute bewiesen hatte. Für die meisten Chinesen umgab ihn eine Aura intellektueller Eleganz, verbunden mit selbstloser Hingabe für den revolutionären Fortschritt. Unmittelbar nach seinem Tod waren Tausende von Menschen weinend und schluchzend auf dem Tiananmen-Platz zusammengekommen. In der Stadt selbst aber waren keine Trauerdekoration in Schaufenstern und keine Fahnen vor den Häusern erlaubt. Nur vor dem Palast des Volkes, am Außenministerium und an den wichtigsten Regierungsgebäuden durften Fahnen auf halbmast gesetzt werden, und Studenten, die an der Universität die chinesische Fahne aufgezogen hatten, wurden verwarnt. Manche Pekinger schmückten Zhous Bilder zu Hause oder in den Büros mit schwarzer Gaze und fügten handgeschriebene Bekenntnisse zum Ministerpräsidenten an die Wand. Einige, so hörten wir, hätten sogar Mao-Porträts abgehängt.
Nun schien die Woche des Qingming-Festes ohne jede Ankündigung und propagandistische Vorbereitung zur Woche der Ehrung Zhou Enlais zu werden. An der Südseite des Märtyrerdenkmals versammelten sich am 30. März zunächst zwanzig oder dreißig junge Leute und legten Kränze für den verstorbenen Ministerpräsidenten nieder. Ein Mädchen verlas eine Lobrede, dann trat ein anderer Student mit einer Ansprache vor. Mehrere Stunden lang priesen sie den Ministerpräsidenten. Andere holten Notizbücher und Bleistifte heraus, um festzuhalten, was am Fuß des Denkmals gesagt wurde – vielleicht um es mit nach Hause zu nehmen oder in Schulen und Fabriken bei Versammlungen zu verwenden. In einiger Entfernung vom Denkmal kamen nach und nach auch Arbeiter zusammen. Ein älterer Mann sprach ruhig, aber mit starkem Gefühl über Zhou Enlai: »Sein Leben war selbstlos der Befreiung des chinesischen Volkes gewidmet. Wenn sein Leben jetzt kritisiert werden soll, wie werden wir dann weiterleben?« Ich spürte einen Ton des Trotzes in seiner Rede. Dieser Ton fand sich auch in den Sprüchen und Gedichten wieder, die Studenten am Fuß des Denkmals ablegten. Sie lasen die Texte laut vor und erklärten die komplizierten Schriftzeichen. Deren Bedeutung war für uns Ausländer kaum zu verstehen, doch es ließ sich erraten, dass sie sich gegen die radikale Gruppe in der Parteiführung richteten. Dann aber fand ich am Fuß des Denkmals zwischen den vielen Plakaten und Zetteln einen Satz, dessen Sinn auch ich entschlüsseln konnte: »Wir haben hier viele Kränze gesehen, aber keinen Kranz aus dem Nordwesten.« Im Nordwesten des Platzes lag Maos Haus.
Gerade weil keine offene und scharfe politische Kritik gegen Mao und die Gruppe um seine Frau gerichtet wurde, trauten sich die Menschen in den folgenden Tagen zu Tausenden auf den Platz im Herzen Pekings und bekundeten ohne Worte ihren Respekt für den toten Ministerpräsidenten. Die Stimmung schien entspannt, ganze Familien kamen mit Großmüttern und Kleinkindern und bildeten eine endlose Prozession durch die immer länger werdenden Reihen von Kränzen und Plakaten. Ich merkte, dass die Menschen diesmal nichts dagegen hatten, wenn sich Ausländer unter sie mischten. Sie halfen uns sogar beim Übersetzen und Abschreiben der Texte, begannen freundliche und neugierige Gespräche. Einige Tage später, am 2. April, marschierte eine Gruppe von Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften feierlich auf den Platz. Junge Leute halfen ihnen, einen Kranz mit einem Gedicht ganz oben auf das Märtyrerdenkmal zu heben. Zuerst kam uns das Trauergedicht recht traditionell vor. Aber als wir abends mit einigen Journalisten und Chinaexperten zusammensaßen und die vielen Texte analysierten, begannen wir zu verstehen, dass die Akademiker in diesem Gedicht durch eine sehr subtile Veränderung einzelner Schriftzeichen Vorwürfe gegen Maos Frau und ihre Verbündeten erhoben hatten.
Am 3. und 4. April, einem Samstag und einem Sonntag, strömten insgesamt bis zu 100 000 Menschen auf den Tiananmen-Platz. Der Protest war immer noch gewaltlos, doch mittlerweile reagierten die Menschen gereizter auf die wiederholten Versuche der Polizei und der Milizionäre in Zivil, sie zu vertreiben. Die Lage spitzte sich zu, und es kam zu ersten Schlägereien. Offenbar versuchten radikale Studenten oder Rotgardisten, die Masse der ruhigen Demonstranten zu provozieren. Am Sonntagabend waren südlich vom Denkmal plötzlich Sprechchöre zu hören. Studenten riefen: »Wir sind für Ministerpräsident Zhou und gegen Franco. Wir sind für Freiheit und Demokratie, gegen Faschismus. Wir wollen keine schmutzige Kaiserin.« Die Aussagen waren unmissverständlich, mit der Kaiserin konnte nur Maos Frau gemeint sein. Als es zu dämmern begann, kamen weitere Plakate und Sprechchöre hinzu, die offen Zhou Enlai ehrten und unverhohlen Maos Frau attackierten. Noch um neun Uhr abends harrte eine große, erregte Menge im trüben Licht der großen Laternen auf dem Platz aus. Dann merkten wir, dass einige Chinesen in der Menge aufeinander einschlugen. Ausländern gegenüber waren die Menschen zu diesem Zeitpunkt noch immer freundlich gesinnt, aber nun war es uns nicht mehr möglich, nahe genug an den Kern des Geschehens heranzukommen. Gegen zehn Uhr entstanden auch am Rande des Platzes einzelne Keilereien. Plötzlich waren viele Polizisten da, die anfangs nur zuschauten. Sie zerrten einen Mann fort. Uns Ausländer versuchten sie höflich, aber entschieden, zu vertreiben.
Am frühen Morgen des 5. April war der Platz zunächst leer, von Stunde zu Stunde aber strömten immer mehr Menschen herbei und sammelten sich um das Denkmal. Die Milizangehörigen hielten sich zurück, während sich der Platz immer weiter füllte. Die Stimmung wurde unruhiger und angespannter. Ich stand um etwa 10 Uhr in der Menge an der Treppe zur Großen Halle des Volkes, als mich einige ältere Männer misstrauisch betrachteten und etwas zueinander sagten. Ich versuchte, langsam und möglichst unbemerkt auf die andere Seite der Großen Halle zu gelangen. Doch die Männer zeigten mit dem Finger auf mich und sprachen einige Studenten an. Die Situation schien gefährlich zu werden, aber dann sah es doch so aus, als würden sie mich gehen lassen. Am Seiteneingang standen drei Soldaten in Uniform und mit aufgepflanztem Bajonett vor einer Gruppe von jungen Männern, die offenbar in das Gebäude eindringen wollten und sich Schritt für Schritt die Treppe hochschoben. Die Soldaten verschwanden hinter der Tür und kamen ohne ihre Waffen zurück. Als sie sich wieder aufstellen wollten, schnappten sich vier Studenten einen von ihnen und zogen seine Uniformjacke herunter. Die beiden anderen Soldaten versuchten zu fliehen, wurden aber sofort umzingelt. Ich stand dreißig Meter entfernt und überlegte, in welche Richtung ich am besten entkommen könnte. Da deuteten die älteren Männer erneut auf mich, und junge Studenten eilten auf mich zu. Ich versuchte so schnell wie möglich in Richtung chinesische Staatsbank zu verschwinden, deren Eingang stets von bewaffneten Polizisten geschützt wurde. Aber wenige Meter vor meinem Ziel holte mich die Studentengruppe ein und drückte mich an die Hauswand. Einer von ihnen verlangte, dass ich den Fotoapparat hergab, doch ich konnte mich in der drängenden Menge nicht rühren. Inzwischen hatten sich vierzig bis fünfzig junge Leute angesammelt. Sie verstanden nicht, was vor sich ging, und schoben sich aus Neugierde immer näher heran. Schließlich gelang es mir, den Film aus der Kamera zu ziehen. Die Männer, die am nächsten standen, streckten den abgerollten Film als Siegeszeichen in die Luft. Eine halbe Minute lang schwenkten sie ihn herum, ohne auf mich zu achten. Ich nutzte den Moment der Unaufmerksamkeit und schob mich an der Wand entlang und an den Wachposten vorbei in den Eingang der Bank. Zwei der Angestellten schlossen die Tür hinter mir und brachten mir auf den Schreck hin ein Glas Wasser.
Eine halbe Stunde später hatte sich die Menge wieder verlaufen, und niemand kümmerte sich um mich, als ich zurück auf den Tiananmen-Platz ging. Gegen Mittag stieg am Rande des Platzes eine gelbliche Rauchwolke auf. Ein halbes Dutzend junger Männer kam aus der Nähe eines brennenden Autos gerannt, sprang auf einen Lastwagen und fuhr mit hoher Geschwindigkeit davon. Dann kamen zwei Feuerwehrfahrzeuge, die zum Brandherd wollten. Die Feuerwehrleute mussten sich regelrecht gegen die Menge verteidigen. Halbwüchsige zogen an den Schläuchen, rissen an den Jacken der Männer, warfen Helme in die Luft und kletterten auf dem Löschzug herum. Nach einiger Zeit ließen die Feuerwehrleute den schwelenden Wagen zurück, weil sie nichts ausrichten konnten, und wollten den Platz verlassen, aber da wurden sie von einer Menschenmenge umringt und angehalten. Nicht weit davon entfernt kippten die Menschen einen Minibus um. Ein Trupp Soldaten kam vom Historischen Museum angerannt und postierte sich zwischen dem Minibus und der Polizeistation gegenüber. Die Menge zog sich zunächst eilig zurück; als die Leute dann aber merkten, dass die Soldaten nur Stellung bezogen hatten, näherten sie sich wieder dem Minibus. Unter den Bäumen am Rande des Platzes gab es eine Explosion. Ein weiterer Wagen ging in Flammen auf, dann brannte auch der umgestürzte Minibus.
Gelegentlich wurden Ausländer umdrängt und aufgefordert zu verschwinden. Ein Diplomat hob die Arme und rief: »Ich ergebe mich.« Die Menschen lachten und schoben ihn fort. Andere wurden von Polizisten in Zivil angehalten und nach ihrer Nationalität gefragt. »Wir wollen hier keine Sozialimperialisten«, sagte ein Polizist und meinte damit Bürger aus der Sowjetunion. Wenn ein Ausländer erklärte, er sei kein Russe, durfte er weitergehen. Ein sowjetischer Diplomat, der eine karierte Mütze trug und wie ein altmodischer englischer Tourist aussah, wurde von der johlenden Menge verjagt. Die meisten Chinesen kamen jedoch als Zuschauer und ließen die Ausländer ebenfalls zuschauen.
Am Abend begannen schließlich Einheiten von Militärpolizei und Arbeitermilizen aus den großen Fabriken, die Straßen nördlich und westlich des Kaiserpalastes zu blockieren. Soldaten trugen Maschinengewehre heran, andere patrouillierten auf Motorrädern. Gegen 22 Uhr stürmten etwa tausend Milizionäre aus dem Tor des Himmlischen Friedens, liefen über den Platz und bildeten einen weiten Ring um das Märtyrerdenkmal. Ich zog mich an den Rand des Platzes zurück, aber auch da drängten sich Soldaten und Zivilisten. Die Menge am Denkmal wurde nur langsam kleiner, Reden wurden aber nicht mehr gehalten.
Vom Rand beobachtete ich, wie Soldaten und Milizionäre Pekings Hauptstraße auf beiden Seiten des Denkmals abriegelten. Dann wurde es dunkel: Die Kandelaber wurden auf halbe Leuchtstärke geschaltet, die kriegerische Musik aus den Lautsprechern, die Soldaten wenige Stunden zuvor aufgestellt hatten, wurde lauter gestellt. Von den Seiten rannten fast tausend Soldaten und mehrere Tausend Arbeitermilizionäre mit großen Holzknüppeln auf das Denkmal zu. Ich konnte nicht genau erkennen, was dort geschah. Es sah aus, als würden jeweils Gruppen von dreißig oder vierzig Menschen von der Menge abgetrennt und über den Platz getrieben. Noch um ein Uhr nachts wurden Menschen abgeführt. Einige ausländische Journalisten und Diplomaten versuchten noch einmal, durch die Reihen der Soldaten zum Denkmal vorzudringen, aber keiner schaffte es auf die Terrasse. In der Südostecke des Platzes saßen viele Leute auf dem Boden, die nach und nach in kleinen Gruppen auf Lastwagen abtransportiert wurden. Wir Ausländer wurden mit eigenartiger chinesischer Höflichkeit behandelt. »Sie sollten jetzt nach Hause gehen und sich ausruhen. Es ist hier draußen zu kalt«, sagte eine Milizpatrouille zu mir. Als wir den Platz verließen, konnten wir auf dem Pflaster einige große Flecken erkennen, die wie Blut aussahen. Unter unseren Schuhen knirschte das Glas zerschlagener Fahrradlampen. Auf dem höchsten Absatz des Denkmals stand immer noch ein einzelner Kranz für Zhou Enlai.
Der Kranz war auch am nächsten Morgen noch da, nachdem die Polizeiketten um den Platz schon abgerückt waren. Die Szenerie sah eigentlich aus wie immer: Gegenüber dem Tor des Himmlischen Friedens arbeiteten die Berufsfotografen wieder auf ihren hölzernen Plattformen, und chinesische Hauptstadtbesucher warteten geduldig in einer Schlange, um ein Erinnerungsfoto von sich machen zu lassen. Auf dem Platz standen nur vereinzelt kleine Gruppen von Männern und Frauen herum. Die Polizeistation lag inzwischen leer und ausgebrannt da, und vor ihr sammelte sich eine neugierige Menge. Vor dem Historischen Museum, das ein paar Hundert Demonstranten tags zuvor hatten stürmen wollen, wurde ein neuer transportabler Metallzaun errichtet. Soldaten forderten die Menschen zum Weitergehen auf. Eine junge Frau kam aus dem Ministerium und sprach beruhigend auf die Menge ein. Als sie zurückging, wurde der Zaun umgestürzt, aber die Leute wussten nicht mehr, was sie noch tun sollten. Einige sahen eine Gruppe von Ausländern und liefen auf sie zu, woraufhin die Ausländer in ihren Wagen sprangen und vorsichtig durch die Menge auf die Avenue zurückfuhren. Irgendwann kamen Arbeiter mit einem Kranz und versuchten vergeblich, ihn am Denkmal festzumachen. Viele Menschen applaudierten. Auch andere wollten noch Wandzeitungen am Denkmal anbringen, aber Polizisten in Zivil hinderten sie daran.
Am Morgen des 7. April war der Tiananmen-Platz schließlich von so vielen Soldaten und Polizisten umgeben, dass kein normaler Bürger mehr zum Denkmal gelangen konnte. Bald lag der Platz still und menschenleer da. Eine Frauenbrigade erschien und begann, das Pflaster zu scheuern. Es sah aus wie eine rituelle Reinigung.
In den folgenden Wochen versuchten wir ausländischen Journalisten gemeinsam mit Mitarbeitern der Botschaften, unsere Informationen und Eindrücke zu sammeln und auszutauschen. So viel schien uns klar: Dies war ein Protest gegen jene Parteiführer gewesen, die mit den Waffen der Kulturrevolution den innerparteilichen Konflikt für sich entscheiden wollten. Indem die Demonstranten den toten Ministerpräsidenten Zhou Enlai als Mann von Ordnung und Fortschritt ehrten, gaben sie sich als Gegner weiterer revolutionärer Unruhe zu erkennen. Aber sie hatten sich nicht durchsetzen können. Nach dem Ende des Protestes war offenkundig, dass der ehemalige Vizepremier Deng Xiaoping, der eigentlich als der Nachfolger Zhou Enlais gegolten hatte, den Machtkampf in der Parteispitze verloren hatte. Tatsächlich musste er nach den Ereignissen auf dem Tiananmen-Platz alle seine Ämter abgeben. Stattdessen führte der bis dahin wenig bekannte Hua Guofeng die Regierung. Die radikalen Anhänger von Maos Frau hatten mit Hilfe der Armee gewonnen und agitierten von nun an gegen den Vorrang der wirtschaftlichen Modernisierung und für die revolutionäre Umgestaltung. Peking lag wieder da, als sei nichts geschehen.
Doch dann erschütterten am 28. Juli 1976 Erdstöße die Häuser in der Pekinger Innenstadt. An der Fassade der Großen Halle des Volkes zogen sich auf beiden Seiten des riesigen Mao-Porträts zwei breite Risse vom Boden bis zum Dach. Während die Pekinger rätselten, ob dies ein Zeichen sei und was es bedeuten könnte, bestätigten neue Gerüchte über das Erdbeben die schlimmsten Befürchtungen. Bald sprach sich herum, dass 160 Kilometer von Peking entfernt eines der größten Erdbeben des modernen China die Industriestadt Tangshan regelrecht vernichtet hatte. 700 000 Menschen seien getötet worden, hieß es. Gleichzeitig ließen die widersprüchlichen Reaktionen der Parteiführung auf die Katastrophe erkennen, dass der Konflikt zwischen den beiden verfeindeten Lagern erneut auf einen Höhepunkt zusteuerte. Zunächst hatten die Anhänger Jiang Qings ein Komitee gegründet, dessen Zweck »die Bekämpfung des Erdbebens und die Dezentralisation der Bevölkerung« sein sollte. Die Wortwahl beunruhigte die Pekinger. Viele von ihnen hatten in der kaum zerstörten Stadt ihre Wohnungen verlassen und in Tausende von Zelten ziehen müssen. Nun fürchteten sie, die Radikalen könnten dem Beispiel der von Jiang Qing oft gelobten Regierung von Kambodscha folgen, welche die Bevölkerung der Hauptstadt auf Provinzstädte und Landgebiete verteilt hatte. Dann änderten sich plötzlich die Signale. Armeelastwagen mit Baumaterial rollten nach Peking, und Soldaten reparierten beschädigte Häuser. Im Fernsehen und in den Zeitungen tauchten Maos Frau und die Vertreter der Radikalen nicht mehr auf, und man sah nun stattdessen den neuen Ministerpräsidenten, der den Überlebenden von Tangshan den Wiederaufbau ihrer Stadt versprach. Hua Guofeng hatte sich offenbar von den Radikalen abgesetzt, und die Chinesen verstanden, dass er Maos Nachfolger und damit der neue Führer des Landes werden könnte.
Am 9. September 1976, um 15 Uhr, kündigten die chinesischen Rundfunk- und Fernsehanstalten eine wichtige Verlautbarung an, die eine Stunde später folgen werde. Eine ähnliche Mitteilung hatte es acht Monate zuvor gegeben, als der Tod des Ministerpräsidenten Zhou gemeldet worden war. So bildeten sich auf den Straßen von Peking stille Gruppen von Menschen an den öffentlichen Lautsprechern und um junge Männer herum, die ein Transistorradio hatten. Auf dem Tiananmen-Platz hatten die Besucher vom Lande noch vor den Fotografen Schlange gestanden, nun stellten sie sich im großen Halbkreis gegenüber dem Fahnenmast auf. Punkt 16 Uhr setzten Soldaten die chinesische Flagge auf halbmast. Die Soldaten standen mit gebeugtem Kopf da, einige von ihnen weinten. Alte Männer verneigten sich unter dem großen Porträt des Vorsitzenden Mao nach traditioneller chinesischer Art, junge Mädchen hockten schluchzend neben ihren Fahrrädern. Die Wachsoldaten holten schwarze Armbinden aus ihren Taschen, als die Nachricht vom Tod Maos über die Lautsprecher kam. Innerhalb von Stunden verwandelte sich Peking in eine Stadt mit Trauerarmbinden und mit Papierblumen in Weiß, der traditionellen chinesischen Trauerfarbe. Andererseits gab es bald nur noch wenig sichtbare Schmerzausbrüche und nur wenige Menschen, die auf der Straße weinten. Die Stimmung in der Stadt war düster und irgendwie unheimlich – es schien, als versuche die Führung bewusst, den Ausdruck allzu starker Emotionen zu verhindern.
Der offizielle Nachruf in den Zeitungen las sich trocken wie ein parteipolitisches Schulungsdokument. Zwar wurde Mao der größte Marxist der Gegenwart genannt, dennoch vermittelte nichts das Gefühl eines so starken Verlustes, wie es seiner historischen Bedeutung eigentlich gebührt hätte. Mao war ein Meister des Wortes gewesen und hatte politische Ziele sogar in den Metaphern der klassischen Dichtung ausdrücken können. Die dürren und kühl berechneten Nachrufe dagegen ließen erkennen, dass die verfeindeten Führer seinen Tod in erster Linie als Waffe in ihrem Machtkampf nutzten. So gab es im Fernsehen zunächst nur Bilder ohne Ton, die eine rituelle, disziplinierte und unemotionale Trauer zeigten. Erst einige Tage später konnte man bei Wiederholungen im Fernsehen auch das Schluchzen von Trauernden hören und sah Bilder von weinenden Menschen, die den Glaskasten zu berühren versuchten, in dem der Tote lag. Für mich war der Pressetermin, bei dem wir Journalisten an dem Sarg vorbeigeführt wurden, das erste Mal, dass ich Mao aus der Nähe sah. Unter meinen Kollegen kam es dabei zu einem Streit: Ein sowjetischer Journalist bemerkte, Mao sehe schon jetzt nicht mehr so gut aus, und ein Jugoslawe entgegnete, in Moskau hätten sie ja auch schon den dritten Lenin im Mausoleum. Wenn Chinesen in geordneten Reihen durch die Trauerhallen ihrer Fabriken gingen, wo Maos Porträt inmitten von Kränzen stand, wurde geweint und geschluchzt, aber wenn sich die Menge danach auf der Straße auflöste, schwatzten die Menschen wieder miteinander, als sei dieser eine Gefühlsausbruch erst mal genug. Am Tag der offiziellen Trauerfeier marschierte eine halbe Million Menschen auf den Platz des Himmlischen Friedens. Alle Gruppierungen warteten stundenlang auf den Stellen, die für sie auf dem Pflaster markiert worden waren. Die Fernsehübertragung begann um 15 Uhr mit der Verlesung des Nachrufs. Um 15.31 Uhr zeigte das Fernsehen als Schlussbilder der Trauerfeier, wie die Partei- und Staatsführung die Tribüne verließ. Neunhundert Millionen Chinesen hatten die Köpfe gebeugt und sich an den toten Vorsitzenden erinnert. Aber nur eine Stunde später waren sie schon wieder an ihren Arbeitsplätzen oder drängten zum Einkaufen in die Läden, in denen es keineswegs stiller zuging als sonst.
Ich schrieb einen langen Artikel über Maos Bedeutung für China, über die Trauerkundgebungen der Millionen, das seltsam verhaltene Auftreten der Führungsgruppe und die Nachrufe, die, so fand ich, in ihrer formellen Nüchternheit der Person Maos und seiner geschichtlichen Rolle nicht gerecht wurden. Es sei zu erkennen, dass die Erben sich nicht darüber einigen könnten, was Mao ihnen hinterlassen habe: den Aufruf zu einer neuen Kulturrevolution oder die Aufforderung zum Aufbau eines moderneren China. Mein Artikel, in dem ich auch Spekulationen über die Zukunft nach Maos Tod streifte, war ungefähr eine Zeitungsseite lang. Ich übergab ihn den Beamtinnen im Zentralen Telegrafenamt zur Übermittlung an die Welt-Redaktion in Deutschland. Normalerweise kamen Fernschreiben auf diesem Weg nach zwei Stunden unzensiert und unverändert in Hamburg an. Dieser Artikel hingegen hatte die Redaktion auch am nächsten und übernächsten Tag noch nicht erreicht. Ich sprach bei der Presseabteilung des Außenministeriums vor, um wegen der Verzögerung nachzufragen. Die stellvertretende Leiterin, die mir sonst stets so etwas wie Sympathie entgegengebracht hatte, war ziemlich kurz angebunden. Wenn man einen so langen Text versende, dann müsse man schon damit rechnen, dass die Übermittlung lange dauern werde. Ich dankte für diese Auskunft, verabschiedete mich und ging zur Tür. Sie folgte mir und sagte noch: »Dieser lange Artikel war nicht korrekt.« Und dann etwas leiser: »Aber intelligent. Auf Wiedersehen.« Es war, wie ich später fand, das größte Kompliment, das ich je in Peking bekommen hatte.
Der Artikel traf schließlich doch nach drei Tagen in Hamburg ein. Da war die Stimmung in Peking freilich schon umgeschlagen. Ein chinesischer Kollege, der uns Ausländer sonst links liegenließ, sagte lächelnd zu mir: »Ich bin so glücklich. Jetzt weiß ich, dass in China alles gut sein wird.« Ich hatte zuvor öfter schon das Gefühl gehabt, dass ihm die radikale Politik von Jiang Qing nicht gefiel, und versuchte zu raten: »Ist Madame etwas zugestoßen?« Der chinesische Kollege lachte. »Bald werden Sie wissen, warum ich glücklich bin. Ich weiß jetzt, dass China ein großes modernes Land werden wird.« Zwei Tage darauf klebte eine große Wandzeitung an einem Bekleidungsgeschäft in der Straße des Östlichen Lichts und verkündete, die Partei habe die Herausgabe der Werke Mao Tsetungs an den Ministerpräsidenten Hua übertragen. Am Abend war die Wandzeitung wieder abgerissen. Also suchte ich mit einem australischen Kollegen in dunklen Seitenstraßen und auf Hinterhöfen mit der Taschenlampe nach weiteren Plakaten, und tatsächlich fanden wir nun überall den gleichen Text, der Hua Guofeng als Erben Maos zu benennen schien. Damit war klar, dass Jiang Qing und die Radikalen den Kampf endgültig verloren hatten. Tatsächlich wurden sie und ihre drei engsten Verbündeten nun als die »Viererbande« geächtet und saßen bereits einen Monat nach Maos Tod im Gefängnis.
Mein Korrespondentenvertrag war abgelaufen und die Abreise aus China stand unmittelbar bevor. Angesichts der sich abzeichnenden politischen Veränderungen fragte ich bei der Presseabteilung im Außenministerium vorsichtig nach, ob es nicht klüger sei, in Peking zu bleiben und genauer über die Ereignisse der letzten Wochen zu berichten. »Nein«, sagte man mir, »jetzt ist alles geregelt, und um zu verstehen, was geschehen ist, würden Sie viele Monate brauchen.«