Wölfe und Nutztiere

Ein erstes Anzeichen, dass Wölfe in der Nähe leben, sind meist tote Schafe – und zwar auch dort, wo es ausreichend »natürliche« Beute gibt. Wölfe sind an die Jagd auf Huftiere angepasst. Sie machen keinen Unterschied zwischen wilden und domestizierten Huftieren. Als echte Opportunisten reißen sie Tiere, die leicht zu erlegen sind. Haben sie erst einmal gelernt, dass unbewachte Schafe leichte Beute sind, werden sie sie immer wieder als Nahrung auswählen. Seit ewigen Zeiten versuchen Nutztierhalter in den Wolfsgebieten Europas dies zu verhindern und die Verluste zu reduzieren, mit Zäunen, Einstallen, Herdenschutzhunden. In Deutschland, wo es lange keine großen Beutegreifer gab, wurden diese Schutzmaßnahmen vergessen. Mit der Rückkehr der Wölfe jedoch sind die Nutztierhalter gefordert, umzudenken, aktiv zu werden und selbst Maßnahmen zum Schutz ihrer Tiere zu ergreifen.

 

Was fressen Wölfe?

Definitiv keine Rotkäppchen. So viel ist sicher. Wölfe gehören zur Gattung der Karnivore (Fleischfresser), dennoch sind sie keine reinen Fleischfresser wie Katzen, sondern vielmehr fleischfressende Allesfresser. Die Ernährung der Wölfe ist vielfältig und hängt von ihrem Lebensraum und auch von den Jahreszeiten ab. Zur Hauptnahrung gehören große Huftiere, aber als echte Opportunisten fressen sie alles, was sie bekommen können wie kleine Säugetierarten, Vögel, Fische, Insekten, Lurche, Kriechtiere, Hasen, Eichhörnchen, Eidechsen, Schlangen, pflanzliche Nahrung und auch Obst. In Kanada gibt es Wölfe, die sich fast nur von Lachsen ernähren, die sie auch selbst fangen. Andere Wölfe fressen vom Lachs ausschließlich den Kopf. In den dicht besiedelten Regionen von Italien ernähren sich die Beutegreifer auch von Abfällen auf den Müllkippen. Luigi Boitani, ein italienischer Wolfsforscher, nannte sie mir gegenüber einmal liebevoll seine »Spaghetti-Wölfe«. In Spanien fressen die Wölfe Nutztiere, Kadaver und auch Hunde. In Deutschland und Mitteleuropa ernähren sie sich überwiegend von Reh-, Rot- und Schwarzwild, örtlich auch von Dam- und Muffelwild. In Skandinavien bevorzugen sie Elche und Rentiere.

Wildtiere sind die natürlichen Beutetiere des Wolfes. Sie zu töten, ist daher logischerweise nicht als »Angriff« zu definieren. Daher gehört das Thema »Wölfe und Jagd« und auch die Frage, ob und wie der Wolf das Wild beeinflusst, auch nicht in dieses Buch. Hier verweise ich auf die ausgezeichnete Broschüre »Mit Wölfen leben. Informationen für Jäger, Förster und Tierhalter« von Gesa Kluth & Ilka Reinhardt (siehe Buchtipps im Anhang).

 

Fünf Kilo Fleisch täglich?

»Wölfe brauchen vier bis fünf Kilogramm Fleisch pro Tag.« Dies wird leider immer noch zitiert – ist jedoch falsch! Wie kommt man zu einer solchen Zahl? Man schätzt das Gewicht eines getöteten Beutetieres und wartet, wie lange es dauert, bis alles vertilgt ist. Was bei der Fünf-Kilo-Menge aber nicht bedacht wird, ist, dass sich von einem Beutekadaver bis zu fünfzehn verschiedene Spezies ernähren, ganz besonders Raben. Außerdem legen manche Wölfe auch Futterlager an und vergraben Teile ihrer Beute. Daher muss von einer realistischen Menge von etwa eineinhalb Kilo Fleisch pro Tag ausgegangen werden.

 

Angriffe auf Weidetiere

Die Domestikation von Tieren und ihre Verwendung als Nutztier brachten massive Veränderungen in der Einstellung der Menschen zu Wölfen mit sich. Angriffe auf Nutztiere waren der Hauptgrund für groß angelegte Vernichtungskampagnen. Auch heute noch sind sie eines der größten Probleme beim Schutz der Beutegreifer.

In jedem Land, in dem die beiden koexistieren, greifen Wölfe Nutztiere an. Abgesehen von den wirtschaftlichen Verlusten führt die bloße Bedrohung ihrer Tiere bei den Tierhaltern schon zu Stress. Trotz aller Bemühungen ist es bisher noch nicht gelungen, diesen Konflikt zu lösen. Hinzu kommt der menschliche Aspekt: Werte und Emotionen treffen aufeinander, und Falschinformationen gibt es zuhauf.

Die Toleranz für Nutztierrisse variiert unter den verschiedenen Kulturen. Während beispielsweise Indianer immer wieder Pferde oder Schafe an Wölfe verlieren, scheinen sie toleranter gegenüber den Beutegreifern zu sein als Mittel- und Nordeuropäer. Selbst im südlichen Europa und in Asien wurden niemals ganze Wolfspopulationen ausgerottet, obwohl auch hier die Menschen ihre Tiere an sie verlieren.

Als echte Opportunisten töten Wölfe jedes erreichbare Nutztier, wenn es ihnen leicht zugänglich gemacht wird. In Europa sind das meist Schafe und Ziegen. Sie sind zahlreich und leicht zu töten. Pferde und Rinder werden wegen ihrer Wehrhaftigkeit dagegen selten angegriffen.

Als die Populationen wilder Beutetiere in Europa immer mehr vernichtet wurden, blieb dem Wolf gar nichts anderes übrig, als Haus- und Weidetiere zu reißen. Gibt es allerdings einen Überfluss an gesunden wilden Beutetieren, lassen auch die Angriffe auf Nutztiere nach. Sich in Wolfsgebieten Gedanken um den Schutz der Nutztiere zu machen, ist demzufolge eine der Hauptaufgaben des Wolfsschutzes.

 

Wie viele Tiere werden bei einem Angriff getötet?

Die Zahl der Nutztiere, die Wölfe bei einem Angriff töten, hängt von deren Größe sowie von der Anzahl der Tiere in einer Herde ab. Bei Angriffen auf Rinder oder Pferde wird meist nur ein Tier attackiert und schnell aufgegeben, wenn es sich wehrt, während bei Schafen normalerweise mehr als ein Tier getötet wird.

Wölfe töten oft sehr viel mehr Nutztiere, als sie fressen können, besonders Schafe oder Rentiere in Europa und Schafe und Truthähne in den USA. So haben sie beispielsweise in einer Nacht in Minnesota 34 Schafe und 200 Truthähne erlegt. Truthähne geraten bei einem Angriff in Panik und drängen sich in die Ecken ihrer Gehege, wo zahlreiche von ihnen dann ersticken. In Italien wurden bei einem Angriff von zwei Wölfen innerhalb weniger Stunden 240 Schafe getötet.

 

Welche Nutztier werden gerissen?

Stehen sowohl Schafe als auch Rinder zur Verfügung, halten sich Wölfe an die Schafe. Von 2002 bis zum April 2012 wurden allein in Sachsen 309 Schafe gerissen; die meisten waren nicht geschützt.

Bei Rindern, Pferden und Rentieren töten sie eher Jungtiere, dagegen scheinen sie bei Schafen und Ziegen erwachsene Tiere zu bevorzugen.

Die meisten Nutztiere werden im Sommer getötet. Zum einen werden die Schafe in dieser Zeit auf die Weiden getrieben, zum anderen ist dann die Zeit, in der die Wölfe anfangen, ihre Welpen mit Fleisch zu füttern.

Wenn man bedenkt, wie viele leicht erreichbare und ungeschützte Weidetiere es gibt, dann fragt man sich, warum sie nicht viel mehr davon töten. Ich sehe in Montana immer wieder Wölfe völlig entspannt durch eine Rinderhierherde mit Kälbern laufen, ohne auch nur Anstalten zu einem Angriff zu machen. Manchmal bleiben sie stehen und mustern die Tiere. Was sie wohl denken?, frage ich mich. Fakt ist, dass Wölfe auf Nutztiere anders reagieren als auf Wildtiere. Vielleicht deshalb, weil Schafe und Rinder meist nicht ganzjährig auf den Weiden stehen, sie somit ein eher ungewohnter Anblick sind. Wölfe sind extrem vorsichtig allem neuen gegenüber, passen sich jedoch schnell an.

 

Mehrfachtötungen

Das sogenannte »Surplus Killing«, also das mehrfache Reißen von Tieren, hinterlässt oft den Eindruck, als würden die Wölfe im Blutrausch oder »aus Spaß« töten, was noch mehr zu einem negativen Bild beiträgt.

Das Phänomen der Mehrfachtötungen ist bisher noch nicht ausreichend erforscht. Das wissen wir bisher:

Wenn es ausreichend angreifbare und verletzliche Beute gibt, dann töten Wölfe (wie alle Fleischfresser) oft und fressen den Kadaver nicht vollständig auf.

Wie viele Beutetiere ein Wolf auf einmal tötet und wie viel er von seiner Beute frisst, hängt auch davon ab, wie leicht die Tiere zu töten sind. Weidetiere besitzen keine natürlichen Verteidigungsmethoden gegen Wolfsangriffe und sind außerdem in einem Gatter unausweichlich zusammengepfercht. Für einen Wolf sind sie leichte Beute - im Gegensatz zu wilden Beutetieren, hier gibt es kaum Mehrfachtötungen.

Was passiert, wenn Wölfe mehr Tiere töten, als sie fressen können? Die Wölfe befinden sich zunächst in einer Situation, die gänzlich anders ist, als sie sie normalerweise kennen. Gesunde wilde Beutetiere sind schwer zu erlegen. Werden sie angegriffen, fliehen sie oder stellen und wehren sich. Treffen die Beutegreifer jedoch auf eine Schafherde, finden sie dort leichte Beute im Überfluss. Wölfe, die normalerweise nicht wissen, wann und woher sie das nächste Futter herbekommen, sind darauf programmiert zu töten, wann immer es möglich ist. Beim »Surplus Killing« läuft wie bei jeder Jagd das ganz normale »Programm« ab: Rennende Schafe lösen immer wieder von Neuem den Tötungsreflex beim Beutegreifer aus. Zum Fressen kommt der Wolf dabei nicht, die getöteten Tiere bleiben liegen.

Normalerweise fressen Wölfe einen Kadaver so weit wie möglich auf. Ich kann in Yellowstone immer wieder beobachten, dass Wolfsfamilien einen Kadaver innerhalb weniger Tage komplett vertilgen – es sei denn, sie werden dabei gestört oder andere Aasfresser beteiligen sich am Festschmaus. Oft legen die Wölfe auch Lager an, wo sie das Fleisch verstecken. Darum muss eine solche Mehrfachtötung keine »Verschwendung« für den Wolf bedeuten. Hätte er die Gelegenheit, würde er zurückkommen und die restlichen Tiere auffressen. Dave Mech berichtet aus Alaska, wo sieben Wölfe mindestens 17 Karibus getötet hatten. Natürlich konnten sie sie nicht alle auf einmal auffressen. Aber innerhalb von fünf Tagen waren 30 bis 95 Prozent eines jeden Kadavers gefressen oder in Lagern versteckt worden. Drei Monate später waren die meisten Lager ausgegraben und das Fleisch komplett gefressen worden.

Für Nutztierbesitzer ist es wichtig und vielleicht auch hilfreich, sich klar zu machen, dass die Wölfe selbst bei einem so schrecklichen und schockierenden Zwischenfall nicht darauf aus waren, aus reiner Mordlust und Blutgier ihre Schafe zu töten (und ihre Existenz zu vernichten), sondern dass sie nur instinktiv auf ein Verhalten der Tiere reagiert haben.

 

Wer war es?

Für emotionale Aufregung sorgt bei einer Nutztiertötung stets die Frage: Wer war’s? Wölfe werden für Morde beschuldigt, die sie gar nicht begangen haben. In vielen Fällen sind wildernde und streunende Hunde die Täter. Selbst erfahrene Investigatoren können nicht immer anhand eines Kadavers feststellen, ob das Tier von Wölfen oder Hunden getötet worden ist. Einige Hinweise, die helfen, den Täter zu identifizieren sind: Zahnabdrücke, Muster der Bisse, Spuren, Kot und Haaren, die in der Nähe eines Risses hinterlassen werden.

Die Wildtierland-Stiftung-Bayern hat eine Broschüre herausgegeben: »Wer war es? Spuren und Risse von großen Beutegreifern erkennen und dokumentieren.« Die Broschüre kann im Internet hier heruntergeladen werden: www.wildland-bayern.de/res/pdf/werwaresansicht_jobst.pdf

Weitere Informationen zur Begutachtung von Rissen finden Sie hier auf der sehr informativen Seiten des Kontaktbüros Gruppe LUPUS http://www.wolfsregion-lausitz.de/rissbegutachtung

 

Der Wirtschaftsfaktor

Neben dem emotionalen Trauma für Nutztierbesitzer können die wirtschaftlichen Schäden erheblich sein. Es versteht sich von selbst, dass die Rückkehr der Wölfe nicht allein auf dem Rücken der Landwirte und Viehzüchter ausgetragen werden darf. Sie müssen unterstützt und ihnen muss geholfen werden – am Besten lange, bevor irgendetwas passiert ist. Dazu gehört unter anderem Schadensprävention durch Hilfe bei der Finanzierung von Elektrozäunen und dem Kauf und der Unterhaltung von Herdenschutzhunden.

Schäden, die eindeutig auf Wölfe zurückzuführen sind, müssen ersetzt werden und letztendlich müssen – nachdem alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind – so genannte »Problemwölfe« eingefangen oder als allerletzte Möglichkeit getötet werden. Alle diese Fragen fallen unter den Begriff des »Wolfsmanagements« und werden von den Umweltbehörden der einzelnen Bundesländer geregelt. In Sachsen regelt beispielsweise die Härtefallausgleichsverordnung den Ersatz eines Schadens. 60 bis 80 Prozent des Schadens können ersetzt werden, vorausgesetzt, das Tier wurde von einem Wolf getötet. Allerdings muss, wer in einem ausgewiesenen Wolfsgebiet Schafe hält, gewisse Präventionsmaßnahmen ergreifen, um im Schadensfall eine Kompensation zu erhalten.

Diese Regelung gilt allerdings nur für landwirtschaftliche Betriebe, nicht für Privathalter. Tierhalter in den Wolfsgebieten können sich von Fachleuten beraten lassen und Zuschüsse für Schutzmaßnahmen beantragen. In Sachsen bekommen die Schäfer eine Förderung für den Kauf von Elektrozäunen, die Installation eines Unterwühlschutzes bei fest eingezäunten Flächen oder die Anschaffung von Herdenschutzhunden in Höhe von 60 Prozent der Anschaffungskosten. Für Notfälle - beispielsweise in Herden, wo der Wolf einen Elektrozaun immer wieder überspringt - wurde in Sachsen eine »mobile Eingreiftruppe« gegründet. Ein Schäfer mit zwei ausgebildeten Herdenschutzhunden greift dem betroffenen Kollegen für eine Zeit lang unter die Arme und schützt mit seinen Hunden die Herde. Dies ist für den betroffenen Schafhalter kostenlos, finanziert wird die Maßnahme über das Amt für Großschutzgebiete.

Auch Mecklenburg-Vorpommern zieht mit. Am 3. April 2013 hat das Ministerium eine Förderlichtlinie in Kraft gesetzt, die Nutztierhaltern helfen soll, wirtschaftliche Belastungen durch wild lebende Wölfe zu vermeiden oder mindern (Förderrichtlinie Wolf - FöRiWolf M-V). Bei Schäden von Haus- und Nutztieren durch Wölfe können Zuwendungen von bis zu 100 Prozent der Ausgaben gewährt werden. Für Präventionen zahlt das Land bis zu 75 Prozent der Ausgaben. Von 2007 bis 2012 gab es in Mecklenburg-Vorpommern 15 durch Wölfe verursachte Schadensfälle. Dabei wurden insgesamt 95 Tiere getötet und 29 verletzt. Der vom Land ersetzte Schaden betrug insgesamt 25.000 Euro.

 

Herdenschutz

Besser als jeder Schadensersatz ist natürlich, wenn es gar nicht erst zu Wolfsangriffen auf Nutztiere kommt. Es gibt durchaus Möglichkeiten, solche Attacken weitgehend zu verhindern.

Die höchsten Verluste haben stets unbewachte, verletzliche oder neu geborene Tiere. Die Praxis einiger europäischer Länder (z .B. Schweiz), Schafe am Anfang des Sommers auf die Weiden zu treiben und dort den ganzen Sommer über unbewacht grasen zu lassen, führt zwangsläufig zu Schäden.

Werden auf den Weiden gestorbene Tiere und Kadaver nicht sofort entsorgt, ist dies für den Wolf eine Einladung zum Mittagstisch.

Als äußerst effektiv haben sich elektrische Zäune oder Netze (teilweise in Verbindung mit einem Flatterband), nächtliche Einstallung und der Einsatz von Hirten erwiesen – am Idealsten alle zusammen in Kombination. Bei Zäunen wird eine Höhe von 120 bis 140 Zentimetern empfohlen mit einem Bodenabstand von höchsten 20 Zentimetern. Immer wieder gelingt es Wölfen, unter einem Elektrozaun hindurchzuschlüpfen, wenn er zu hoch über der Erde beginnt. Die Spannung sollte 5.000 Volt über die gesamte Länge des Zauns betragen. Zäune müssen regelmäßig kontrolliert werden. Wölfe, die an nicht sachgemäß aufgestellten Zäunen gelernt haben, diese zu überwinden, sind sehr viel schwerer von einem Angriff auf Schafe abzuhalten. Der Nebeneffekt von guten Elektrozäunen ist übrigens, dass es auf so gesicherten Weiden keine Wildschweinschäden mehr gibt.

Das beste Schutzmittel gegen Angriffe durch Wölfe sind jedoch speziell gezüchtete und trainierte Herdenschutztiere. In Süd- und Osteuropa haben Herdenschutzhunde eine lange Tradition und arbeiten schon seit Tausenden Jahren im Dienst des Menschen und seiner Schafe.

Ein Herdenschutzhund ist kein Hütehund und kein Kampfhund. Er treibt weder die Herde zusammen, noch greift er attackierende Wölfe an. Er wird mit den Schafen sozialisiert, das heißt, er wächst als Welpe mit ihnen auf und soll nach Möglichkeit kaum Kontakt zu Menschen haben. Die Schafe sind seine Familie und die Weide sein Revier, das er leidenschaftlich gegen Eindringlinge verteidigt. Nähert sich ein Wolf (manchmal auch ein Mensch) der Herde stürzen die imponierend großen Hunde mit erhobenem Schwanz und laut bellend auf den Eindringling zu, halten jedoch so weit wie möglich Abstand. Ein Wolf, für den in der Wildnis jede Art von Verletzung ein Überlebensrisiko ist, wird sich hüten, sich auf einen Kampf mit dem mächtigen Gegner einzulassen und sucht das Weite.

Dennoch haben auch die Wölfe gelernt, ihre Kontrahenten auszutricksen. Aus Minnesota wird berichtet, dass sie Hunde in die eine Ecke des Gatters locken und ablenken, während andere Wölfe an einer anderen Stelle eindringen und Schafe töten. Darum reicht – je nach Größe der Herde – ein Hund allein nicht aus. Es müssen stets mehrere Hunde im Einsatz sein.

Neuerdings werden auch große Esel zum Schutz von Schafherden eingesetzt. Für die Arbeit dieser Tiere gibt es bisher noch zu wenig Erfahrung, jedoch scheinen die Esel ihre Arbeit genauso gut zu machen wie die Hunde. (Hierzu gibt es eine sehr interessante Maturaarbeit von Nina Pfister, Schweiz, 2009: »Schutzverhalten von Herdenschutzhunden und -Eseln: Gemeinsamkeiten und Unterschiede.«)

In den USA haben an vielen Orten Herdenschutzlamas die Hunde als Bewacher abgelöst. Gerade auf großen, offenen Weiden sind sie ideal zu halten. Sie brauchen kein extra Futter wie Hunde, beißen keine neugierigen Touristen und können schon durch ihr bloßes Erscheinungsbild einen Wolf völlig aus der Fassung bringen. In meinem Buch »Wolfsküsse. Mein Leben unter Wölfen« habe ich über meine Begegnung mit Becky Weed geschrieben, die mit ihren Schafen auf einer Ranch in Montana lebt und seit dem Einsatz ihrer beiden Lamas keine Nutztierverluste mehr hat.

In der Schweiz gibt es ein nationales Herdenschutzprojekt und auch der WWF hat in der Schweiz ein Herdenschutzprojekt begonnen.  Meiner Ansicht nach eignet sich gerade für die Beweidung der Schafe auf dem Almweiden der Einsatz von Herdenschutzlamas besonders.

Zwar kann man auch mit Herdenschutztieren Verluste an Nutztieren nicht gänzlich verhindern, jedoch massiv reduzieren.

In der Schweiz gehen die Tierschützer andere Wege, um den Schafshaltern unter die Arme zu greifen. Seit 2009 bildet der WWF Freiwillige zu Hirten-Hilfen aus. Die unterstützten für ein bis drei Wochen Hirten auf 50 verschiedenen Schweizer Alpen, auf denen mit Wölfen oder Bären zu rechnen ist. Dabei erledigen sie ganz verschiedene Aufgaben: Sie helfen mit beim Aufstellen und Abräumen von Zäunen, bei der Überwachung der Schafherden und bei der Betreuung der Herdenschutzhunde. Die Freiwilligen machen zudem Wanderer und Biker auf die Wichtigkeit des Herdenschutzes aufmerksam und informieren über den richtigen Umgang mit den Hunden.

Die Freiwilligen, die während einiger Wochen das karge Leben der Älpler teilten, spielen aber auch eine wichtige Rolle im gegenseitigen Verständnis von Stadt- und Landbevölkerung. Sie lernen die Schwierigkeiten kennen, die entstehen, wenn ein Wolf auf einer Schafalp auftaucht. 2013 hat der WWF nun sein Projekt der Vereinigung für ökologische und sichere Alpbewirtschaftung VösA übergeben.

 

»Beutegreiferfreundliche« Schafe?

Meine Freunde in Montana haben aus der Not eine Tugend gemacht. Seit ihre große Schafsherde von Lamas bewacht wird, haben sie keine Verluste mehr – weder durch Wölfe noch durch Bären oder Pumas.

Und sie hatten eine Idee, die sich vielleicht eines Tages auch bei uns vermarkten lässt: Sie gründeten ein Label »Beutegreiferfreundliche Wolle« und »Beutegreiferfreundliches Fleisch«. Das Zertifikat besagte, dass sich die Nutztierhalter verpflichteten, auf ihrem Land keine Beutegreifer zu töten, ihre Tiere artgerecht zu halten und biologisch zu füttern. Dieses Zertifikat gibt es sowohl für Wolle als auch für Schafsfleisch. Es hat eine Weile gedauert, bis sich die Idee etablieren konnte, aber der Erfolg gab meinen Freunden recht. Das Fleisch von ihren Schafen wird inzwischen auf verschiedenen Märkten im Land und auch im Internet wegen seiner Qualität und seines guten Geschmacks zu Höchstpreisen verkauft. Und auch die Wolle findet ihre Abnehmer bei Tierfreunden.

Diese Idee ist eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. Tierfreunde können ihren Reden Taten folgen lassen, indem sie die Nutztierhalter unterstützen, die sich den aktiven Wolfsschutz auf die Fahnen – und das Label – geschrieben haben. Dafür bekommen sie ausgezeichnete Ware, gutes Gewissen inklusive.