Furchtlosigkeit oder Angst – was ist »natürlich«?

Für die meisten Menschen sind Wölfe ein Symbol der Wildnis. »Sie gehören nicht in die Zivilisation« heißt es immer wieder. Während viele Wölfe in Kanada, Alaska oder Russland niemals im Leben einen Zweibeiner riechen, hören oder sehen werden, leben die meisten Wölfe dieser Welt in der Nähe von Menschen. Sie passen ihr Verhalten an das Leben mit uns an. In Italien leben sie an der Stadtgrenze von Rom und in Deutschland auf Truppenübungsplätzen. In Spanien oder Rumänien beispielsweise sind sie tagsüber nur selten aktiv und laufen auf der Suche nach Futter nachts durch die Bergdörfer. In Yellowstone, wo die Wölfe von ihren Fans und Fotopaparazzi regelrecht »verfolgt« werden, haben es einige von ihnen aufgegeben, das Fleisch eines Kadavers zu den Welpen zu transportieren, weil sie dabei eine Straße überqueren müssen. Sie legen sich in das hohe Gebüsch und warten, bis die Touristen die Geduld verlieren und weiterfahren. Erst dann machen sie sich auf den Weg zur Höhle. Rumänische Wölfe marschieren nachts durch die Städte – unerkannt von späten Zechern, weil der »Hund« ein Halsband trägt (Radiohalsband).

Selbst innerhalb einer Wolfspopulation variiert die Vorsicht vor Menschen von Wolf zu Wolf. Die Yellowstone-Leitwölfin der Lamars marschierte ungerührt an eine Gruppe Fotografen vorbei und ignorierte sie vollständig. Ihre Schwester dagegen geriet beim Anblick der Zweibeiner in Panik und wagte sich erst nachts über die Straße.

Das Titelbild des Buches zeigt die Leitwölfin der Lamar-Canyon-Wolfsfamilie in Yellowstone. Während wir mit unseren Spektiven die Wölfe suchten, lief sie völlig entspannt hinter uns vorbei, ohne dass wir sie bemerkten.

Die Frage, ob die Angst des Wolfes vor dem Menschen ererbt oder erlernt ist, ist umstritten. Manche glauben, dass die Tiere von Natur aus jeden Zweibeiner fürchten, weil sie über Hunderte Jahre von ihm gejagt und verfolgt wurden.

Dem widersprechen viele Experten. Wölfe sind hochintelligente und anpassungsfähige Tiere. Viel von ihrem Verhalten wird nicht durch Instinkt geformt, sondern durch soziales und individuelles Lernen. Sie beobachten genau, sind flexibel und ändern blitzschnell ihr Verhalten, wenn sich ihr Umfeld verändert.

Mutige oder dreiste Tiere gibt es überall. Sie sind oft die Ersten, deren Begegnung mit uns tödlich endet. Leben sie in einem geschützten Gebiet, können sie überleben, dort haben sie im Allgemeinen weniger Scheu vor Menschen als dort, wo sie gejagt werden. Dennoch gilt das nicht für alle. So meiden die Wölfe auf der Isle Royale (Michigan) immer noch Menschen, obwohl sie seit mehr als 50 Jahren unter strengem Schutz stehen.

Es ist kaum möglich, eine klare Linie zwischen »natürlichem« und »unnatürlichem«, zwischen »wildem« und »habituiertem« Verhalten zu ziehen, denn jeder individuelle Wolf und jedes individuelle Rudel reagiert anders.

Bei Wölfen in stark frequentierten Nationalparks kann man von einem hohen Grad an Toleranz gegenüber Menschen ausgehen. Das Lamar Canyon-Rudel in Yellowstones Lamar Valley lebte ein ganz normales »Wolfsleben« vor der Kulisse einer riesigen Menschenmenge. Die Tiere jagten, paarten sich, zogen ihren Nachwuchs auf und verhielten sich wie ganz normale wilde Wölfe, während sie gleichzeitig die Touristen, die sie das ganze Jahr hindurch beobachteten, zur Kenntnis nahmen und ignorierten. Oft sah ich die Leitwölfin gelassen die Straße überqueren und auf die ängstlicheren Familienmitglieder warten, während nur wenige Meter von ihr entfernt Hunderte begeisterte Fotografen die Fotos ihres Lebens machten. Als im Herbst 2012 die Wolfsjagd an den Grenzen zu Yellowstone begann, waren es die furchtlosen Wölfe, die zuerst starben – auch die Lamar Leitwölfin. Ihre Familie hat sich für mehrere Monate ins Hinterland zurückgezogen, ist aber inzwischen wieder ins Lamar Valley zurückgekehrt und lebt erneut mit dem Touristentrubel.

Wölfe zeigen im Allgemeinen wenig Angst vor anderen Tierarten. Warum sollten sie sich also Menschen gegenüber anders verhalten? Die hochintelligenten Tiere erkennen schnell, wenn sie nicht gejagt oder verfolgt werden, und kehren sofort zu ihrem »natürlichen« Verhalten zurück. Daraus lässt sich schließen, dass bei Wölfen Furchtlosigkeit natürlich ist und nicht Angst.