Wolfsangriffe in der Neuzeit

Während historische Belege von Wolfsangriffen nicht überprüft werden können, ist dies im 20. Jahrhundert anders. Die meisten Berichte kommen aus Indien und Zentralasien. Sie, und besonders die Ereignisse in Nordamerika und Kanada, sind genauer untersucht worden und geben Hinweise darauf, warum Wölfe Menschen angreifen.

Die nachfolgende Ursachenforschung bezieht sich auf wild lebende Wölfe. In einem späteren Kapitel komme ich dann noch einmal auf die spezielle Problematik von Zoowölfen und Wolfshybriden zurück.

 
  • Wolfsangriffe auf Menschen haben in der Neuzeit drastisch abgenommen. Dies hat unter anderem folgende Gründe:
·        Die Wolfspopulation erholt sich nach der fast vollständigen Ausrottung nur langsam.
·        Aggressive Wölfe waren die ersten, die sterben mussten, daher hatten nur scheue Wölfe eine Überlebenschance. Diese Angst vor dem Menschen haben sie an ihren Nachwuchs weitergegeben.
·        Mit der Entwicklung des Tollwutimpfstoffes gibt es nur noch wenige Tiere, die der Krankheit zum Opfer fallen.
·        In der heutigen Zeit werden kaum noch Kinder als Hüter von Nutztieren eingesetzt.
·        Die Menschen zogen vom Land in die Stadt.
·        Es gibt für Wölfe wieder genügend Beutetiere, sodass sie nicht auf Haustiere zurückgreifen müssen und so in Konflikt mit Menschen geraten.

Wie wenig Angriffe von Wölfen auf Menschen zu verzeichnen sind, zeigt sich schon dadurch, dass über diese einzelnen Fälle in der Presse immer ausgiebig berichtet wird. Die nachfolgenden Fälle stammen überwiegend aus Alaska, Kanada oder Minnesota. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Beschreibungen der Begegnungen von Wolf und Mensch subjektiv sind und von der Einstellung der schildernden Zeugen zum Wolf abhängen. Daher wird auch versucht, alternative Erläuterungen für das Verhalten des Wolfes zu geben.

 

Tollwut

Diese Krankheit kann als Hauptursache für die meisten historischen Wolfsangriffe angesehen werden. Wölfe haben offensichtlich schon immer Tollwut übertragen. Die ersten Berichte stammen aus dem 13. Jahrhundert. Erst seit der Eindämmung der Krankheit durch moderne Impfstoffe sind diese Angriffe drastisch zurückgegangen.

Bei der Tollwut handelt es sich um eine akute Infektionskrankheit von Säugetieren, besonders von Fleischfressern, die das zentrale Nervensystem befällt. Der Erreger ist das Tollwutvirus, auch Rabies- oder Lyssavirus genannt. Tollwütige Tiere (oder auch Menschen) scheiden das Virus mit ihrem Speichel aus. Der Mensch infiziert sich in der Regel durch den Biss eines erkrankten Tieres oder das Belecken einer verletzten Hautstelle. Sind Viren durch eine Bisswunde eingetreten, wandern sie entlang der Nervenbahnen bis zum Gehirn und führen dort zu einer Entzündung der Nervenzellen. Vom Gehirn aus verbreitet sich das Virus in die Körperorgane. Ist das Virus durch den Biss direkt in die Blutbahn gelangt, erreicht es das Zentralnervensystem sehr viel schneller. Die Inkubationszeit beträgt in der Regel drei bis acht Wochen, selten kürzer als neun Tage, in Einzelfällen bis zu einem oder sogar mehreren Jahren.

Das Besondere an einer Tollwuterkrankung ist, dass sie, wenn einmal die typischen Symptome ausgebrochen sind, nicht mehr heilbar ist und tödlich verläuft. Es gibt jedoch einen Fall in den USA, wo eine junge Frau, die von einer Fledermaus gebissen und mit Tollwut infiziert worden war, geheilt wurde, indem sie in ein künstliches Koma versetzt und mit antiviralen Mitteln behandelt worden ist. Weitere Heilungen sind nicht bekannt.

Bisswunden, die von einem tollwütigen Wolf stammen, sind gefährlicher als die von anderen Tieren. Die Wunden sind groß und tief und befinden sich meist am Hals oder im Gesicht.

Ein von Tollwut befallener Mensch ist extrem licht- und zugempfindlich und wasserscheu. Durch Muskelkrämpfe kann er den vermehrten Speichelfluss oft nicht schlucken, was zum typischen Speichelfluss aus dem Mund führt. Ein erkrankter Mensch kann auch völlig unvorhersehbar auf Geräusche oder optische Reize reagieren, und zwar in Form von Krampf- und Wutanfällen bis zum Toben, Schreien, Schlagen, Beißen, Treten und anderen Gewaltäußerungen. Für Menschen, die keine Ahnung von der Krankheit haben, kann dies ein entsetzlicher Anblick sein. Entsprechend brutal ging man früher gegen die Kranken vor: Die häufigste Methode, die Tollwut im Anfangsstadium zu behandeln, war das meist vergebliche großflächige Ausbrennen der Wunden mit einem glühenden Eisen. Wenn die anschließende Behandlung mit Kräutern und Medizin nichts mehr half und die typischen Symptome auftraten, band man die Kranken fest, sperrte sie ein oder erstickte sie, um ihre Qualen zu beenden.

Tollwut war bis ins letzte Jahrhundert eine in Europa weitverbreitete Krankheit. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation sterben heute noch weltweit jährlich etwa 55.000 Menschen an ihr. Vermutlich ist mit einer erheblichen Dunkelziffer, insbesondere in Asien und Afrika, zu rechnen. Die Hälfte der Todesfälle weltweit betrifft Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren. Ungefähr 10 Millionen Menschen werden jährlich nach einem Verdacht, sich der Tollwut ausgesetzt zu haben, behandelt. In 99,9 Prozent der Fälle wurden sie von einem Hund gebissen. In den letzten Jahren sind vereinzelt Fälle von Tollwutinfizierungen durch Organtransplantationen vorgekommen, zuletzt im Februar 2005 in Marburg.

Deutschland gehört zu den Ländern Europas, in denen durch systematische Bekämpfungsmaßnahmen, vor allem durch die orale Immunisierung der Füchse, die Tollwut bei Wild- und Haustieren getilgt werden konnte. Der letzte Tollwutfall in unserem Land trat im Februar 2006 bei einem Fuchs in der Nähe von Mainz auf. Die orale Immunisierung wurde noch bis einschließlich Frühjahr 2008 durchgeführt; nach internationalen Kriterien sind weitere Impfaktionen in Deutschland somit nicht mehr erforderlich. Haus- und Wildtiere, insbesondere Füchse, werden jedoch weiterhin diesbezüglich überwacht.

Neben Deutschland erlangte auch die Schweiz, Finnland, die Niederlande, Italien, Luxemburg, Frankreich, Belgien sowie die Tschechische Republik durch die orale Immunisierung der Füchse offiziell den Status »tollwutfrei«. Als frei von terrestrischer Tollwut gelten seit langem auch Spanien (nicht die nordafrikanischen Exklaven Mellila und Ceuta), Portugal, Großbritannien, Irland und die skandinavischen Länder. In Ländern wie Polen, der Slowakei, Ungarn und Estland sind in den letzten Jahren nur noch sporadisch Einzelfälle gemeldet worden. In allen anderen europäischen Ländern bleibt die Tollwut bei Wild- und Haustieren nach wie vor noch ein Problem.

Für in Deutschland lebende Menschen bestehen gegenwärtig erhöhte Infektionsrisiken fast ausschließlich bei Reisen in Länder mit endemischem Vorkommen der Tollwut. Der letzte Tollwutfall bei einem Menschen in Deutschland durch einen Kanidenbiss trat im Jahr 2007 auf. Es handelte sich um einen Mann, der in Marokko von einem streunenden Hund gebissen wurde.

Infizierte Tiere fallen durch auffällige Verhaltensänderungen auf. Es gibt zwei Phasen der Tollwut, eine »stille Wut« bei etwa 20 Prozent der Fälle und eine »wilde« oder »rasende Wut«, von der besonders Kaniden betroffen sind. Das typische Verhalten eines tollwütigen Wolfes gleicht einem »Amoklauf«. Das Tier verliert jede Scheu, rast auf Menschen und Tiere zu und beißt wahllos zu. Bei Wölfen scheint die »wütende« Phase der Tollwut in besonders starkem Maß aufzutreten.

1810 kam ein tollwütiger Wolf in ein kleines Dorf an der Mosel. Die Winzer waren damit beschäftigt, die Trauben zu keltern. Der Wolf lief durch die Straßen, drang in die Weinkeller ein und biss 40 Menschen, die alle starben. Betrachtet man die Entfernung, die Wölfe während ihrer Krankheit zurücklegen können und darüber hinaus ihre Größe, Kraft und Geschwindigkeit, dann ist klar, dass ein tollwütiger Wolf vermutlich das gefährlichste aller tollwütigen Tiere sein kann. Interessant ist auch, dass – im Gegensatz zu manch anderen Angriffen – diese Attacken nur an einem oder zwei Tagen hintereinander stattfinden und die Opfer nicht gefressen werden.

Im McNay-Report sind von 80 Fällen zwölf registriert, in denen Tollwut die Angriffsursache war. Nachstehend drei dieser Fälle:

 

Huikitak River, Northwest Territories, 1984

Am 9. Juni landeten die Biologen Susan Fleck, Doug Heard und Mark Williams mit dem Hubschrauber in der Nähe einer Wolfshöhle beim Huikitak River westlich von Barthurst Inlet. Sie liefen auf die Höhle zu und sahen in kurzer Entfernung eine Wölfin, deren Gesäuge darauf hinwies, dass sie offensichtlich Welpen hatte. Das Tier lief langsam fort, wobei es sich ab und zu nach den Forschern umschaute. Als die Biologen noch etwa hundert Meter von der Höhle entfernt waren, stand ein zweiter Wolf auf und lief direkt auf sie zu. Der Wolf war verletzt; ein Fetzen Fleisch hing von seinem Kiefer herunter. Als das Tier weniger als 30 Meter entfernt war, begannen Williams und Heard, ihn anzuschreien, aber er lief direkt zu Williams und biss in das Stativ, das der zu seiner Verteidigung in der Hand hielt. Wolf und Williams zogen beide am Stati, dann ließ der Wolf los und lief zu Susan Fleck. Er schnappte nach ihrem Stativ und zog es ihr aus der Hand. Fleck zog sich in Richtung Hubschrauber zurück, der 200 Meter hinter ihr stand. Der Wolf folgte und näherte sich. Sie schlug mit dem Rucksack nach dem Tier, das ein Stück Stoff aus dem Rucksack riss. Fleck zog sich zurück, aber der Kanide folgte ihr weiter. Diesmal schnappte er sich den kompletten Rucksack. Die Szene wiederholte sich, und die Frau schlug erst mit ihrem Fernglas, dann mit der Kamera und später mit einer anderen Kamera nach dem Wolf, während sie immer weiter zurückging. Schließlich sprang sie in den Hubschrauber und der Pilot startete die Maschine. Heard, der zur selben Zeit den Hubschrauber erreicht hatte, nahm ein Gewehr und schoss auf den Wolf, verfehlte ihn aber. Er schoss noch zwei Mal, wobei der Wolf einmal zu Boden ging, dann wieder aufstand und auf Williams zulief, der immer noch ein Stück entfernt war. Dort schnappte er erneut nach dem Stativ, aber Williams konnte ihn abwehren. Der Wolf ließ schließlich das Stativ los und lief zur Höhle zurück. Die Biologen stiegen in den Hubschrauber, flogen über die Höhle und erschossen ihn.

Der Wolf, ein großer, heller Rüde, wurde positiv auf Tollwut getestet. Heard beschreibt sein Verhalten als geschwächt, wie gelähmt. Er habe einen ausdruckslosen Gesichtsausdruck gehabt und nicht reagiert, als er mit dem Stativ oder dem Rucksack geschlagen wurde. Dieser Zwischenfall zeigt eine milde Form der Aggression bei einem tollwütigen Wolf ähnlich dem nachfolgenden Fall, aber vollkommen verschieden von der wütenden Aggression des tollwütigen Wolfes im dritten Fall.

 

Arctic National Wildlife Refuge, Alaska, 1977

Der Biologe Richard Chapman beobachtete am 14. Juli 1977 einen Wolf, der an seinem Zelt vorbeilief. Er pfiff, um ein Foto von ihm zu machen. Das Tier lief in 10 bis 15 Meter Entfernung mehrmals hin und her, kam dann bis auf drei Meter an Chapman heran. Der Biologe schrie ihn an und schlug auf seine Kochtöpfe, aber der Wolf zog sich nur 15 Meter zurück und kam dann erneut näher. Diesmal schlug ihm Chapman mit einem seiner Stiefel über den Kopf. Wieder zog sich der Wolf kurz zurück und kam wieder. Und noch einmal schlug der Mann ihm mit dem Stiefel auf den Kopf. Der Wolf schnappte sich daraufhin den Stiefel und zog sich 10 bis 15 Meter zurück. Als sich das Tier ein weiteres Mal näherte, erschoss Chapman es mit seiner Pistole. Untersuchungen ergaben, dass der Beutegreifer Tollwut hatte.
Chapman beschrieb, dass der Wolf »leicht schwankend« gelaufen sei. Er schien nicht ganz bei sich zu sein und seine Schnauze war mit Speichel und Schmutz bedeckt. Während des Zwischenfalls hatte der Wolf mindestens einmal angehalten, um in die Erde zu beißen. Am Tag zuvor hatte Chapman gesehen, wie dieser Wolf mit mehreren seiner Rudelmitglieder gekämpft hatte, und einen Monat später, Mitte August, fand er sechs tote Wölfe in der Nähe seines Camps. Drei dieser Tiere hatten Stacheln von Baumstachlern (die amerikanischen Verwandten unserer Stachelschweine) in ihren Schnauzen. Zwei Wölfe wurden positiv auf Tollwut getestet. Das beständige, aber nicht wütende Verhalten dieses Wolfes ähnelt dem zuvor beschriebenen Fall.

 

Noorvik, Alaska, 1942

Ein 72 Jahre alter Eskimojäger, Panuekuk Samson, wurde am 27. Januar 1942 von einem Wolf schwer verletzt. Der Angriff geschah in der Nacht, nachdem der Mann bemerkt hatte, dass seine Schlittenhunde unruhig waren. Samson ging hinaus, um der Sache nachzugehen und wurde wütend von einem Wolf angegriffen. Das Ganze dauerte 30 Minuten, in denen der Mann wiederholt gebissen wurde und mehrfach mit seinem Messer auf den Wolf einstach. Während des Vorfalls zog sich der Wolf ab und zu kurz zurück, kam aber immer wieder, um erneut anzugreifen. Das Opfer war der Erschöpfung nahe, als sich das Tier in die Dunkelheit zurückzog und nicht wiederkam. Der Mann erholte sich von dem Wolfsangriff, bekam aber die Tollwut und starb sechs Wochen später an der Krankheit. Der betreffende Wolf wurde am nächsten Tag getötet, als er im Dorf Kiana, nur 24 Kilometer entfernt, Hunde angriff.

 

Beutemotivierte Angriffe

Wenn Wölfe ein Opfer jagen und angreifen, um es zu fressen, sprechen Biologen von einem Prädatorenangriff oder beutemotiviertem Angriff.

Angriffe von tollwütigen Wölfen sind schrecklich, aber besonders schockierend ist es, wenn von einem vermissten Opfer Körperteile oder blutverschmierte Kleidung gefunden werden. Während Tollwutangriffe von einem einzelnen kranken Wolf an einem einzigen Tag verübt werden, geschehen Prädatorenangriffe durch einzelne Wölfe oder ein ganzes Wolfsrudel oft über einen längeren Zeitraum hinweg, in der Regel so lange, bis der Wolf stirbt oder getötet wird. Die Opfer von Prädatorenangriffen sind meist Kinder oder Frauen, während tollwütige Wölfe wahllos und unabhängig von Alter oder Geschlecht angreifen. Tollwütige Wölfe greifen darüber hinaus häufiger im Winter und Frühjahr (März bis Mai) an, beutemotivierte Angriffe geschehen dagegen oft gegen Ende des Sommers. Als Grund hierfür wird angenommen, dass Wölfe in dieser Zeit einen größeren Nahrungsbedarf haben, da ihre Jungen jetzt noch gefüttert werden müssen und außerdem in dieser Jahreszeit mehr Menschen in den Wolfsrevieren unterwegs sind.

Während in Europa Prädatorenangriffe im letzten Jahrhundert fast vollständig aufgehört haben, ist die Zahl der Wolfsangriffe in Nordamerika in den letzten Jahrzehnten angestiegen. Bei einem Großteil der unprovozierten Angriffe waren Wölfe beteiligt, die an Menschen gewöhnt waren.

Der Grund für den Anstieg der Aggressionen in den letzten Jahrzehnten könnte im stärkeren gesetzlichen Schutz der Wölfe, in den sich ausbreitenden Populationen und den steigenden Besucherzahlen in entlegenen Gebieten liegen. Diese Faktoren könnten dazu führen, dass sich die Wölfe stärker an Menschen gewöhnen und im ungünstigsten Fall auch von ihnen mit Futter konditioniert werden.

Die bekanntesten Angriffe weltweit sind die Fälle der entführten und getöteten Kinder in Indien, der »Ice-Bay-Zwischenfall« in Alaska (2000) und die Wolfsangriffe in Saskatchewan (2005), Ontario (2006) und Alaska (2010).

 

Indien

Seit dem 19. Jahrhundert wird aus Indien von Menschen berichtet, die durch Wölfe ums Leben gekommen sind. In den letzten 20 Jahren gab es mehrere Untersuchungen, hauptsächlich in den Regionen Uttar Pradesh, Bihar und Andhra Pradesh. In diesen Gebieten wurden angeblich mindestens 273 Kinder von Wölfen getötet.

Dr. Yadvendradev Jhala, ein in den USA ausgebildeter Wolfsbiologe, der die Kaniden in seinem Heimatland Indien erforscht, untersuchte diese Berichte und versuchte zu bestimmen, ob ein anderes Tier außer einem Wolf oder Wölfen an der Tötung beteiligt war. Diese Untersuchungen gehören zu den am besten dokumentierten Vorfällen über nicht-tollwütige Wolfsangriffe auf Menschen.

Fast alle Opfer waren Kinder unter 16 Jahren, die am Rand von kleinen Dörfern in dicht bewachsenem Unterholz gespielt hatten oder zur Toilette gegangen waren. In dem Gebiet gibt es sehr wenig wilde Beute, und das meiste Nutzvieh wird gut bewacht. Zum Zeitpunkt ihres Todes waren die Kinder unbeaufsichtigt, vielleicht auch von ihren Eltern vernachlässigt. Weil die indische Regierung Eltern, die ihre Kinder durch wilde Tiere verloren haben, mit mehr als einem durchschnittlichen Jahresgehalt entschädigt, glauben manche indische Biologen, dass dies ein Anreiz für die Eltern gewesen sein könnte, ihre Kinder nicht so genau zu beaufsichtigen. In den Gebieten, wo die Kinder getötet wurden, trieben sich in den Dörfern häufig Wölfe herum und wagten sich manchmal sogar bis in die Hütten der Dorfbewohner vor. Sie hatten offensichtlich ihre Scheu vor Menschen verloren. Vielleicht war ihre Suche nach Nahrung in der Nähe der Häuser auch ein Akt der Verzweiflung, weil es keine natürlichen Beutetiere mehr für sie gab. Diese Kombination aus fehlender Angst, Nähe zu Menschen und der Anwesenheit vieler kleiner Kinder in dichtem Gehölz verführte möglicherweise einige mutigere Beutegreifer dazu, mit dieser neuen Art von Beute zu experimentieren. Vermutlich mussten die Wölfe viele Versuche unternehmen, bis es ihnen tatsächlich gelang, ein kleines Kind zu ergreifen. Aber nachdem sie ein oder zwei Mal erfolgreich waren, könnte dies Belohnung genug gewesen sein, um einige von ihnen zu so genannten »Menschenfressern« zu machen.

Die Länge des Zeitraumes (20 Jahre) und die geografische Ausdehnung der Angriffe lassen darauf schließen, dass mehrere Wolfsrudel beteiligt waren.

Die Tötung der Kinder führte im Laufe der Jahre in den betroffenen Regionen zu einem emotionalen Aufruhr. Es gab zahlreiche Gerüchte von umherstreifenden Werwölfen bis zu den benachbarten traditionellen Todfeinden, den Pakistani, die sich angeblich nachts als Wölfe verkleideten, um indische Kinder zu töten. Das Misstrauen innerhalb der Dorfbevölkerungen wuchs. Jeder war verdächtig, mindestens 20 Menschen wurden gelyncht. Eine ganze Armee von Freiwilligen und Polizisten wurde auf die Raubtiere angesetzt, aber niemand kann mit Gewissheit sagen, ob die dabei erschossenen Wölfe auch tatsächlich für die Tötungen verantwortlichen waren.

In Indien werden in jedem Jahr Hunderte Menschen durch Wildtiere verletzt oder getötet: So betrug die Anzahl der Wildtierangriffe im Staat Madhya Pradesh in einem Zeitraum von nur fünf Jahren: 735 Angriffe durch Bären, 138 durch Leoparden, 121 durch Tiger, 24 durch Elefanten, 29 durch Wildschweine, 13 durch Wölfe und drei durch Hyänen.

 

Ice Bay, Alaska, 2000

Dieser Vorfall gehört zu den bekanntesten Ereignissen, bei denen ein Wolf ein Kind als »Beute« angegriffen hat. Er inspirierte den amerikanischen Biologen Mark McNay dazu, alle bisher in Nordamerika stattgefundenen Wolfsangriffsfälle zu untersuchen:

Am 26. April 2000 spielten der sechs Jahre alte John Stenglein und sein neun Jahre alter Freund Keith Thompson zusammen mit ihrem Hund etwa 150 Meter vom Wohnwagen der Familie entfernt in einem Holzfällercamp, als ein wilder Wolf aus den Wäldern auf die Jungen zukam. Er näherte sich den Kindern in kauernder Position und fletschte die Zähne. Einer der Jungen erzählte später, dass der Wolf geknurrt habe. Die Kinder rannten davon, als im selben Augenblick der Hund den Wolf angriff. Der kleine John trug Gummistiefel, die ihm zu groß waren; er stolperte und fiel hin. Als er hinfiel, lief der Wolf an dem Hund vorbei, griff den Jungen an und biss ihn in Rücken und Gesäß. Erwachsene, die seine Schreie hörten, kamen herbei, um den Wolf fortzujagen. Sie warfen Steine nach ihm und schrien ihn an. Der Wolf versuchte daraufhin, den Jungen fortzutragen, und schleppte ihn hinter ein paar Bäume. Als er das Kind fallen ließ, um erneut nachzufassen, gelang es den Männern, Kind und Wolf zu trennen. Als das Tier kurze Zeit später noch einmal zurückkehrte, wurde es erschossen.

Die Fisch- und Wildbehörde von Alaska untersuchte den Beutegreifer und testete ihn negativ auf Tollwut. Es handelte sich offensichtlich um einen gesunden, wilden Wolf, der mit 35 Kilo jedoch ein wenig zu leicht schien. Der kleine John wurde nach Yakutat geflogen und dort medizinisch versorgt.

Der Wolf, ein fünfjähriger Rüde, hatte vor vier Jahren etwa 160 Kilometer vom Camp entfernt ein Sendehalsband erhalten. Seit Anfang 1999 war er öfter in der Nähe des Holzfällercamps gesehen worden. Im April 1999 tauchte er in der Nähe der Straße auf, wo ein Truckfahrer noch am Tag zuvor einem unbesenderten Wolf etwas zu Fressen hingeworfen hatte. Es scheint also, als seien an diesem Ort früher bereits Wölfe von Menschen gefüttert worden, wenngleich die Untersuchungen nach dem Angriff keine Hinweise dafür ergaben, dass die Wölfe seit April 1999 gefüttert worden waren.

Die Campbewohner hatten den Wolf mit dem Radiohalsband im Sommer 1999 oft dabei beobachtet, wie er an der Grenze zum Camp stand oder dort entlanglief. Er schien den natürlichen Wanderweg zwischen dem Wald und dem nahe gelegenen Strand zu benutzen. Im April 2000, in den letzten Tagen vor dem Angriff, zeigte der Wolf immer deutlicher furchtloses Verhalten, wanderte gelegentlich mitten durchs Camp und ignorierte dabei die Bewohner. Vor dem Angriff auf das Kind hatte das Tier jedoch nie aggressiv Menschen gegenüber reagiert.

 

Algonquin Provincial Park, Ontario, 1998

Im Juni 1998 beobachteten Besucher vermehrt einen furchtlosen Wolf in der Nähe von Two Lakes im Algonquin-Park. Vier Wildbiologiestudenten hatten mit dem Wolf länger als 40 Minuten Kontakt. Sie schilderten das Tier als »vorsichtig und neugierig, nie ängstlich. Er schien seine Begegnung mit uns sehr zu genießen, ähnlich wie ein Hund.« Die Studenten beschrieben, dass der Wolf ihr Verhalten imitierte, sich langsam bis auf wenige Meter näherte, dann zurücksprang und das Repertoire wiederholte.

Vielleicht hatte der Wolf auf Zeltplätzen Essen gefunden, aber Parkbeamte fanden keine Hinweise, dass er gefüttert worden war. Auch hatte niemand gesehen, dass er Abfälle fraß. Den ganzen Sommer hindurch wurde das Tier fast täglich beobachtet, vermutlich von Tausenden Menschen. Camper, die begeistert waren, einen wilden Wolf so nah zu sehen, berichteten, dass er sich an der Nähe zu Menschen nicht zu stören schien. Jedoch hatte er schon drei Mal Hunde der Camper angegriffen.

Ende September änderte sich das Verhalten des Wolfes plötzlich, als er einen Mann und eine Frau verfolgte, die mit ihrer vierjährigen Tochter spazieren gingen. Der Wolf schien sich dem Kind nähern zu wollen. Die Eltern verhinderten dies, indem sie sich zwischen das Kind und den Wolf stellten und den Wolf mit Pfefferspray ansprühten. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, sich weiter zu nähern. Als die Mutter mit dem Kind in einen nahe gelegenen Wohnwagen flüchtete, verlor der Wolf das Interesse an ihnen und verließ das Camp.

Am nächsten Tag griff der Wolf einen vierten Hund an. Am 27. September tauchte er am Two-Rivers-Zeltplatz aus dem Gebüsch auf und näherte sich einem Ehepaar mit zwei Kindern. Die Familie hatte gepicknickt und packte gerade zusammen. Eines der Kinder, ein 19 Monate alter Junge, saß auf dem Boden, sechs Meter von seinem Vater entfernt. Der Wolf schnappte den Kleinen am Brustkorb und warf ihn etwa einen Meter in die Luft. Die Mutter riss das Kind vom Boden hoch und kletterte mit ihm auf einen Picknicktisch. Der Vater und andere Camper jagten den Wolf fort. Der Junge hatte Bisswunden an Brust und Rücken. Die Behörden gingen davon aus, dass der Angriff ein versuchter Beuteangriff war.

Der Wolf wurde noch am selben Tag gefunden und getötet. Tollwuttests waren negativ und auch sonst schien er normal zu sein. Das Tier hatte ein DNA-Profil, das typisch für die Wölfe im Algonquin-Park ist, es war also weder ein entwichener Zoowolf noch ein Hybride. Im Algonquin-Park hatten zwischen 1987 und 1996 Wölfe bereits in vier anderen Fällen Menschen angegriffen. In diesem fünften Fall jedoch sind die Elemente eines Beuteangriffs deutlich sichtbar. In allen fünf Fällen zeigten die Wölfe durch ihr Verhalten, dass sie vor den Beißzwischenfällen an die Nähe von Menschen gewöhnt und/oder von ihnen gefüttert worden waren. Zu diesem Zeitpunkt hatten seit 1970 schon zwölf Wölfe bemerkenswertes Gewöhnungsverhalten gezeigt. Vier von ihnen waren später in Beißereien verwickelt.

Bei allen Vorfällen im Algonquin Provincial Park sind sich die Biologen über die genetische Identität der Wölfe jedoch nicht einig. Während sie zurzeit noch offiziell als Grauwölfe klassifiziert werden, gibt es neuere Hinweise, dass es sich bei den Tieren entweder um Rotwölfe oder um eine Kreuzung zwischen Wölfen und Kojoten handeln könnte (Coywolves). Kojoten zeigen im Gegensatz zu Wölfen weniger Scheu vor Menschen.

 

Kenton Joel Carnegie, Saskatchewan, 2005

Der 22-jährige Geologiestudent Kenton Joel Carnegie wurde am Abend des 8. November 2005 in der Nähe von Points North Landing in Sakatchewan, Kanada, tot aufgefunden. Vermutlich war er von Wölfen getötet worden. Die abschließenden Untersuchungsergebnisse von Behörden und privaten Ermittlern sind kontrovers und werden immer noch heftig diskutiert.

Erste Ermittlungen der Polizei (Royal Canadian Mounted Police, RCMP) ergaben, dass er wahrscheinlich durch den gewaltsamen Angriff eines großen Fleischfresser starb. In diesem Gebiet kommen nur Wölfe und Schwarzbären infrage. Beide Tierarten hatten schon vor dem Ereignis aggressiv auf Menschen reagiert. Der leitende Gerichtsmediziner von Saskatchewan beauftragte den unabhängigen Wolfsbiologen Dr. Paul Paquet und den forensischen Anthropologen der RCMP, Dr. Ernest Walker, mit der Untersuchung des Falles. Die Forscher kamen zu dem Ergebnis, dass Carnegie entweder von einem Wolf oder von einem Schwarzbären getötet worden ist. Der Bärenexperte Dr. Stephen Herrero kam zum selben Ergebnis, tendierte jedoch eher zum Schwarzbären als Angreifer.

Eine weitere unabhängige Untersuchung des Falles durch die National Geographic Society (NGS) unter der Leitung der Verhaltensforscherin Dr. Jane Packard und dem forensischen Anthropologen Dr. Gary Haynes stimmte mit dem offiziellen Ergebnis überein.

Ein weiterer Bärenspezialist, Wayne McRory, vermutete nach Sichtung der Beweismittel ebenfalls einen Schwarzbären als Täter.

Die Familie des Opfers gab eine private Untersuchung in Auftrag. Der Ethologe Dr. Valerius Geist und der Wildbiologe Mark McNay gingen von einem Wolfsangriff aus. Der zusätzlich von der Carnegie-Familie beauftragte Wildbiologe Dr. Brent Patterson kam zu keinem klaren Schluss, vermutete aber eher einen Wolfsangriff.

Nur Paquet und Haynes waren vor Ort, um die Unfallstelle zu untersuchen. Paquet und Walker kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass Carnegie von einem Wolf oder einem Bären getötet worden ist. Mehr gaben die Prüfungen der Spuren, Indizien und Zeugenaussagen nicht her. Die Ursache dafür liegt darin, dass die Substanz, Verlässlichkeit, Qualität und Beschaffenheit der Beweismittel in weiten Teilen sehr unsicher war, und sich die Aussagen der Zeugen, die später am Tatort waren, widersprachen. Die vorhandenen Fakten reichten für konkrete Beweise nicht aus.

Die Ermittlungen wurden auch dadurch erschwert, dass nach dem Unfall jegliche kriminalistische Sorgfalt grob missachtet worden war. In ersten Berichten, die bereits an die Medien gegeben wurden, bevor die Untersuchung überhaupt begonnen hatte, war schon die Rede davon, dass Wölfe Carnegie getötet hätten. Das führte dazu, dass die die Unfallstelle mehrmals von verschiedenen Menschen aufgesucht worden war, ohne dass vorher weder von der Leiche noch von den Spuren vor Ort sowie deren Umgebung eine brauchbare Dokumentation des ursprünglichen Zustands festgehalten worden war. Der Leichnam wurde sogar, ohne ihn näher zu untersuchen, über Nacht an der Unfallstelle belassen, sodass Aasfresser ihn von der Fundstelle wegschleppen konnten. Deshalb war es später unmöglich, festzustellen, welches Tier ihn wann angefressen hatte. Auch vorhandene Spuren wurden nicht sofort gesichert, sondern erst am nächsten Tag fotografiert, nachdem über Nacht Neuschnee gefallen war.

56 Stunden nach dem Unfall wurden zwei Wölfe getötet und untersucht. In ihrem Mägen konnte man keine menschlichen Überreste finden, sie waren weder krank, noch hatten sie Tollwut. Paquet: »Das waren die gesündesten Wölfe, die ich jemals gesehen habe.«

Verschiedene renommierte amerikanische Wolfsexperten identifizierten anhand von Fotos die Spuren am Unfallort als Fuchs, Wolf und Bär. Aber auch Menschenspuren waren vorhanden.

Einiges spricht für einen Bären als Täter:

Paquet und Walker bestätigten, dass der Körper 50 bis 60 Meter weit fortgezogen wurde. Nur Schwarzbären ziehen ihre Beute noch über größere Strecken fort. Wölfe können schwere Beutetiere nicht sehr weit fortziehen. Das kann ich aus meinen Beobachtungen in Yellowstone auch bestätigen.

Herz, Leber und Lunge des Opfers waren intakt, was ebenfalls für einen Bärenangriff spricht, denn Wölfe fressen diese Organe meist zuerst. Der Magen, Darm und die Nieren von Carnegie waren zuerst gefressen worden. (Wölfe fressen aber keinen Mageninhalt.)

Wenn man die Medienberichte verfolgt und die zahlreichen Stellungnahmen von Wolfs- und Bären-»Experten« liest, dann stellt man fest, dass – wie üblich – jeder die Punkte herausstellt, die für einen Angriff des »anderen« Tieres sprechen.

Am Ende fasst es Mark McNay vom Alaska Department of Fish and Game zusammen: »Jedes Argument über spezielle Fressmuster, Position des Körpers, Entfernung der Kleidung und Wunden, wird letztendlich nicht gelöst werden können, weil es für das Verhaltensmuster von Wölfen, die einen Menschen töten und ihn fressen, keine dokumentierten Nachweise gibt und darüber hinaus das Verhalten von Wolf und Bär sogar bei ihrer natürlichen Beute übereinstimmt.«

Was bleibt, ist Spekulation. Wer den Studenten wirklich getötet hat, werden wir nie erfahren. Paquet und Walker schließen aus allen zur Verfügung stehenden Informationen, dass Carnegie »das unglückliche Opfer eines zufälligen Unfalls« war.

 

Lake Superior Provincial Park, Ontario, 2006

Am 4. September 2006 griff an zwei beliebten Stränden im Lake Superior Provincial Park ein einziger Wolf insgesamt sechs Menschen an.

Auf einer Urlaubsreise mit ihren beiden Enkeltöchtern hielten Jerry und Rachel Talbot an Katherine’s Cove an, um zu baden, als ein großes, schwarzes »hundeähnliches« Tier die drei Jahre alte Leah angriff. Der Wolf schnappte das Kind am Arm und versuchte, es zu einem Busch zu ziehen. Als der Großvater dem Kind zu Hilfe kam, ließ der Wolf los und humpelte fort.

Am selben Nachmittag griff dieser Wolf an einem Strand in der Nähe von Katherine’s Cove Brenda Wrights Familie an. Brendas Sohn, der zwölfjährige Casey, sah das Tier auf sie zurennen. Der Wolf sprang Caseys Cousin Jack an und schnappte nach seinem Knöchel. Dann drehte er sich zu Casey um und biss ihn in den Po. Brenda schrie ihrer Familie zu, sich im Wasser in Sicherheit zu bringen. In dem Moment sprang der Wolf sie an. Die Frau bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, und der Wolf biss sie in Hände und Beine.

Die 14 Jahre alte Emily traf eine mutige Entscheidung und lief auf den Wolf zu, um ihn von ihrer Mutter abzulenken. Der Wolf lief ihr nach und biss sie in den Arm und das Gesicht. Als das Mädchen in den See flüchtete, drückte er es unter Wasser. Emily kämpfte um ihr Leben. Sie schnappte den Wolf mit einer Hand am Genick und boxte ihm mit der anderen Faust auf den Kopf. Dann tat sie das, was manchmal als letzte Möglichkeit bei einem Kampfhundeangriff empfohlen wird: Mit voller Wucht rammte sie dem Wolf ihre Faust so tief sie konnte in den Rachen.

Auf die Schreie des Kindes kamen zwei Fremde und verjagten den Wolf. Der rannte fort, kam aber später wieder zurück, um die Essensvorräte am Strand zu untersuchen. Kurze Zeit später wurde er von Parkbeamten erschossen. Sechs Menschen hatten unterschiedlich schwere Verletzungen.

Der schwarze Wolf war ein junger, ausgewachsener Wolf. Er hatte keine Tollwut, war aber verletzt. Irgendwann einmal war das Tier angeschossen worden. Die Kugel steckte noch in seinem Körper. Außerdem litt der Wolf unter chronischer Arthritis im Ellbogengelenk, weshalb er stark humpelte. Dennoch war er nicht am Verhungern und ansonsten fit.

Nach Zeugenaussagen hatte sich das Tier so verhalten, als wolle es wirklich irgendjemanden töten. Zum Glück waren die Strände des Sees an diesem Feiertagswochenende stark bevölkert.

 

Candice Berner, Alaska, 2010

Am 8. März 2010 um sechs Uhr morgens wurde in der Nähe des abgelegenen Dorfes Chignik Lake im Südwesten von Alaska die 32-jährige Sonderschullehrerin Candice Berner tot aufgefunden. Die leidenschaftliche Joggerin war vor einiger Zeit nach Alaska gezogen und trainierte dort für einen größeren Lauf. Alles deutete darauf hin, dass die Frau von zwei bis drei Wölfe angegriffen und getötet worden war. Mehrere Dorfbewohner hatten in den vergangenen Wochen über das auffällige Verhalten der Beutegreifer berichtet.

Beamte der Wildtierbehörde, die den Fall untersuchten, teilten mit, dass ihr Körper von der Straße gezogen worden sei und die Stelle Wolfsspuren aufgewiesen habe.

Die Autopsie ergab »zahlreiche Verletzungen durch Tierbisse«, jedoch wurde nicht gesagt, welche Bisse. Wölfe waren jedoch die Hauptverdächtigen der Polizei, weil es keine anderen Fleischfresser in der Nähe gab. Weitere Untersuchungen folgten, darunter auch DNA-Analysen.

Die Polizei geht von einem Wolfsangriff aus: »Es gab unzählige Wolfsspuren (wahrscheinlich drei bis vier Wölfe) und die Schleifspuren stimmen ebenfalls überein.«

Schon 2007 hatten die Bewohner eines Eskimodorfes in Marshall an den Stadtgrenzen Wachen aufgestellt, nachdem eine Gruppe Wölfe sechs Schlittenhunde angegriffen und getötet hatte. Ein Wolf, der von den Dorfbewohnern erschossen worden war, stellte sich als tollwütig heraus.

In Chignik Bay waren die Einheimischen schon vorher wachsam, weil die Wölfe, laut Aussage des Bürgermeisters, in letzter Zeit immer dreister geworden seien.

Nach dem Angriff auf Berner, töteten die Behörden insgesamt acht Wölfe, die sich in der Nähe der Stelle, wo das Opfers gefunden wurde, aufhielten. Die Kadaver wurden negativ auf Tollwut getestet. Sechs der Tiere befanden sich in ausgezeichneter körperlicher Verfassung. Mindestens zwei hatten auf Körper und Kleidung von Candice Berner DNA-Spuren hinterlassen, was vermuten lässt, dass mehr Wölfe an der Tötung beteiligt waren.

Die Tatsache, dass die junge Frau in einer unübersichtlicher Gegend joggte, könnten mit zu einem Angriff beigetragen haben. Berner hörte Musik über einen Kopfhörer und es wehte ein starker Wind. Wölfe und Opfer könnten überraschend aufeinandergetroffen sein. Die Spuren am Ort des Geschehens weisen darauf hin, dass die Joggerin vermutlich die Richtung gewechselt hat und von den Wölfen fortgerannt ist. Alles geschah wahrscheinlich sehr schnell und setzte die Frau rasch außer Gefecht. Zwei Wölfe verfolgten sie die Straße hinunter und griffen an, während ein anderer Wolf von oben kam und ihr den Weg abschnitt. Die Spuren im Schnee weisen darauf hin, dass ihr Körper nach ihrem Tod noch zwei Mal fortgezogen wurde zu einem Gebiet mit mehr Dickicht.

In Chignik Lake gab es keine Hinweise auf Fütterung oder Habituierung der Wölfe in der Umgebung. Alle Tiere waren körperlich gesund und nicht ausgehungert.

Große Hunde, die im Dorf lebten, kamen als Angreifer nicht infrage. Der Biologe des ADF&G Lem Butler, der den Fall acht Tage lang vor Ort untersuchte: »Als ich im Dorf lebte, waren alle Hunde sehr freundlich und gut sozialisiert. Ich gehe davon aus, dass Haushunde, die sich außerhalb vom Dorf aufhalten, nicht sehr lange leben. Sie werden von Wölfen getötet. Jedes Jahr erhalte ich Berichte über Hunde, die von Wölfen getötet wurden.«

 

»Testen« von Beute

Wenn wilde Wölfe unmittelbare, scheinbar »aggressive« Angriffe starten und beispielsweise in einem entlegenen Gebiet auf einen Menschen zuspringen und beißen, ist es schwer, die Motivation der Tiere zu bestimmen. Es könnte sein, dass der Wolf den Menschen mit Beute verwechselt, dass neugierige, junge oder naive Wölfe unbekannte Beute testen wollen, oder es könnte eine direkte Reaktion auf das Verhalten eines Menschen sein, der beispielsweise drohend auf sie zuläuft.

In den folgenden Beispielfällen zeigten Wölfe aggressives Annäherungsverhalten, gegen das sich die Beteiligten verteidigen konnten. Keiner der Wölfe war futterkonditioniert oder krank.

 

Whale Cove, Northwest Territories, 1985

Etwa 65 Kilometer südwestlich von Whale Cove, einer kleinen Gemeinde an der Westküste der Hudson Bay im heutigen kanadischen Territorium von Nunavut, waren am 13. Dezember 1985 gegen 13:40 Uhr die Biologen Robert Mulders und Mark Williams damit beschäftigt, mit einem Netz aus einem Hubschrauber eine Karibukuh einzufangen, um ihr ein Sendehalsband anzulegen. Dann landeten sie, um das Tier zu untersuchen. Als sie über dem Karibu knieten, das noch im Netz lag, beobachtete Mulders, wie sich ihnen ein Wolf aus etwa 200 Meter Entfernung näherte. Der Hubschraubermotor lief noch, aber der Wolf rannte nur zehn Meter am Helikopter vorbei auf die Männer zu. Die Biologen standen auf, schrien ihn an, gingen auf ihn zu und wedelten mit den Armen. Als Mulders ein paar Schritte auf den Wolf zumachte, lief der in geduckter Angreiferhaltung nach rechts. Die Männer drehten sich um, um den Wolf im Auge zu behalten, woraufhin dieser weiter nach rechts lief, so als ob er sie umzingeln wollte. Mulders, der ihm am nächsten war, hielt direkten Augenkontakt zu ihm. Als sich das Tier ihm näherte, trat er einen Schritt zurück und nach rechts. In dem Moment sprang der Wolf blitzschnell auf ihn zu, schnappte sein linkes Bein knapp unterhalb des Schienbeins und hielt es fest. Mulders schlug dem Wolf die Faust auf den Kopf, aber er hielt ihn noch weitere 10 bis 15 Sekunden fest. Erst als Williams ihn mit dem Karibu-Sendehalsband bewusstlos schlug, ließ der Wolf los. Mulders schlug ihm noch zwei Mal das Halsband auf den Kopf und stach ihm mit dem Messer in die Brust. Der Biss hatte einen vier Zentimeter langen Riss in seiner Hose und eine Hautverletzung am Schienbein hinterlassen.

Die Untersuchung des Kadavers ergab, dass es sich bei dem Angreifer um eine etwa sieben Monate alte Jungwölfin gehandelt hatte, die bei guter Gesundheit war und geschätzte 22 Kilo wog. Spuren von getrocknetem Blut an ihrer rechten Schulter ließen darauf schließen, dass sie innerhalb der letzten Tage gefressen hatte. Der Kopf wurde zum Tollwuttest eingeschickt, der Körper ohne Nekropsie verbrannt. Der Test war negativ.

Die Männer glauben, dass der Wolf das Karibu fressen wollte und vorher vielleicht noch nie einen Menschen gesehen hatte. Vermutlich hatte das Tier noch keine jagdliche Erfahrung. Es ist möglich, dass es beobachtet hat, wie das Karibu gefangen wurde und dadurch visuell stimuliert wurde. Ungewöhnlich ist jedoch, dass ihn der Lärm des Hubschraubermotors nicht abgeschreckt hat. Unter Berücksichtigung der Windrichtung gehen die Männer davon aus, dass der Wolf sie und das Karibu erst gerochen hat, als er sehr nah war. Williams vermutete, dass die Bewegungen von Mulder, während der Wolf ihn umkreiste, eine aggressive Reaktion hervorgerufen haben könnten. Sein Kollege zieht eine andere Schlussfolgerung. Er beschreibt die letzten Momente wie folgt: »Der Wolf war nähergekommen (vielleicht bis auf vier Meter), lief dann im großen Kreis in geduckter Haltung nach rechts. Ich hielt die ganze Zeit ständigen Augenkontakt zu dem Tier, und ich glaube, dass er entschlossen war, näherzukommen. Ich denke nicht, dass mein hin und her laufen den Wolf dazu gebracht hat, loszurennen und zu beißen. Wahrscheinlich hatte er das schon von Anfang an vor. Offensichtlich kann man über die Motive des Wolfes nur spekulieren.«

 

Ellesmere Island, Northwest Territories, 1977

Die Paläontologen J. Hutchison und M. Dawson arbeiteten am 29. Juni 1977 an Feldstudien auf Ellesmere Island. Sie saßen an der Kante einer Klippe, als sie 120 Meter unter sich eine Gruppe von sechs Wölfen am Strand entlanglaufen sahen. Einer der Wölfe entdeckte die Wissenschaftler und das Rudel lief langsam den Hang zu ihnen hinauf. Als die Tiere nur noch fünf Meter entfernt waren, standen der Mann und die Frau auf und Dawson warf ihren Rucksack nach den Wölfen, die unbeeindruckt weiter auf sie zukamen. Die beiden Forscher gingen vorsichtig den Hang hinunter und hoben mehrere dicke Steine auf. Sie beschrieben das Verhalten der Wölfe so:

»Obwohl wir sie anschrien und Steine nach ihnen warfen, kamen sie auf uns zu. Etwa drei bis vier Meter von uns entfernt blieben sie stehen. Einige von ihnen liefen ein paar Mal auf und ab. Dann versuchte einer, uns von hinten zu umkreisen, drehte jedoch ab, als ein Stein neben ihm landete. Daraufhin übernahm einer der Wölfe die Führung und ging langsam vorwärts, während er Dawson direkt anschaute. Er ignorierte unsere schlecht geworfenen Steine. Seine Ohren waren nach vorn gerichtet und sein Maul geschlossen. Als er noch etwa eineinhalb Meter entfernt war, sprang der Wolf auf Dawsons Kopf zu. Sie wich ihm mit dem Oberkörper aus und stieß dabei einen kleinen Schrei aus. Der Wolf streifte ihre Wange, die von seinem Speichel nass wurde, landete auf dem Boden, drehte sich um und zog sich zurück, nicht ohne ihr noch ein paar Blicke zuzuwerfen.«

Dann zogen sich alle sechs Wölfe ohne weiteren Zwischenfall zurück. Keines der Tiere hatte während des Vorfalls geknurrt oder anderweitig gedroht. Kurz danach trabten die Wölfe in das Camp von Hutchinson und Dawson und wühlten in einer kleinen Latrine.

Bei der anschließenden Beurteilung des Geschehens gingen die Wissenschaftler davon aus, dass es sich um das Testen von unbekannter Beute gehandelt haben musste. Sie wussten nicht, wie sich die Wölfe bisher anderen Menschen gegenüber verhalten hatten. Es hätte durchaus möglich sein können, dass die Tiere vorher gefüttert worden waren und somit eine futterkonditionierte Annäherung stattfand.

 

Verteidigung

Wölfe verteidigen ihre Welpen mutig gegen Bären und Pumas – aber nur selten gegen Menschen. Es gibt viele Berichte, in denen Trapper oder auch Biologen Wolfswelpen aus den Höhlen geholt haben, während die Eltern winselnd in der Nähe auf und ab liefen. Offensichtlich ist die Angst vor den Zweibeinern meist größer als die Mutterliebe. Und selbst wenn sie ihre Jungen verteidigen oder sich in eine Situation gedrängt fühlen, aus der es keinen Ausweg gibt, neigen Wölfe lediglich dazu, in Hände, Arme oder Beine zu schnappen, ohne den Menschen ernsthaft zu verletzen, um anschließend fortzulaufen. Eines ist sicher: Wollte ein ausgewachsener Wolf einen Menschen tatsächlich töten, wäre es eine Leichtigkeit für ihn.

 

Riding Mountain National Park, Manitoba, 1990

Im Juni beobachteten der kanadische Biologe Dr. Paul Paquet und seine Frau eine Wolfshöhle im Riding Mountain National Park. Sie übernachteten auf einer kleinen Insel in der Nähe des Strandes nur 50 Meter von der Höhle entfernt und schliefen in einem Biwaklager auf der Erde. Nachdem sie sieben Tage lang den Wolfsbau beobachtete hatten, wachten sie eines Morgens auf und stellten fest, dass er leer war. Die Wölfe kehrten nicht zurück. Die Paquets bauten in etwa 100 Meter Entfernung von der verlassenen Höhle ein kleines Nylonzelt auf, das mit einem Regendach bedeckt und mit einem Seil im Boden verankert war. Um 1.00 Uhr morgens wurden die Forscher durch Wolfsgeheul in der Nähe wach. Die Tiere kamen zum Zelt und umkreisten es, während sie knurrten und bellten. Sie zerbissen die Seile, die das Dach hielten. Paquet kroch mit seiner Taschenlampe aus dem Zelt heraus, um die Wölfe fortzujagen. Im Schein der Lampe entdeckte er die Leitwölfin und die anderen Rudelmitglieder. Sie blieben in drohender Haltung zwei bis drei Meter entfernt stehen und knurrten. Paquet kroch ins Zelt zurück, und die Wölfe blieben noch etwa zwei Stunden in der Nähe, bevor sie davon liefen.

Am nächsten Tag fand Paquet den neuen Wolfsbau, etwa 500 Meter vom alten entfernt. Das Ehepaar richtete sich einen Beobachtungsplatz in etwa 100 Meter Entfernung ein, baute aber diesmal kein Zelt auf. Sie beobachteten die Wölfe noch mehrere Tage lang, die Wölfe verhielten sich in dieser Zeit unauffällig und drohten nicht mehr. Offensichtlich hatten sich die Tiere an die Paquets in ihrer »ursprünglichen Form« (im Biwaksack) gewöhnt. Das unbekannte Zelt war verdächtig genug, um drohendes Verhalten bei den Vierbeinern hervorzurufen. Als dann die Paquets wieder im Biwaksack schliefen, betrachteten die Wölfe sie anscheinend nicht mehr als »Gefahr«. Es waren also nicht die Menschen, die diese Reaktion hervorgerufen hatten, sondern das Zelt.

 

Dass Wölfe nicht nur ihre Welpen, sondern auch ihre Rudelmitglieder verteidigen, war bisher kaum bekannt:

Fortymile River, Alaska, 1994

Im Februar fingen Biologen Wölfe ein, um sie zu Forschungszwecken zu besendern. Dabei wurde die Leitwölfin vom Hubschrauber aus betäubt. Das Tier lag bewegungsunfähig im Schnee, aber die Forscher konnten sich ihm nicht nähern, weil der Leitrüde jedes Mal aggressiv angriff, wenn der Hubschrauber landen wollte. Schließlich gelang es den Wissenschaftlern, den Leitwolf ebenfalls zu betäuben.

Dieser Zwischenfall ist insofern einzigartig, als das aggressive Verhalten von einem Wolf ausging, der seinen bewegungsunfähigen Partner verteidigt, und zwar im Winter. Normalerweise sind Wölfe eher im Sommer bereit, ihre Höhle oder den Rendezvousplatz zu verteidigen. Der Rüde hätte die Möglichkeit gehabt, das Gebiet zu verlassen; er wurde vom Hubschrauber weder gejagt noch bedroht.

 

Riding Mountain National Park, Manitoba, 1979

Tim Trottier arbeitete als Wildtiertechniker an einem Wolfsprojekt im Riding Mountain National Park. Im Dezember sollte er den Kadaver eines mit einem Sendehalsband versehenen Wolfes abholen, der in einem entlegenen Gebiet gestorben war. Er fuhr mit dem Schneemobil etwa 27 Kilometer durch tiefen Schnee, bevor die Maschine in einer Schneewehe stecken blieb. Auf Schneeschuhen lief er etwa fünf Kilometer weiter, bis er den toten Wolf fand.

Es war spät geworden und er beschloss, die Nacht dort zu verbringen, statt das Tier im Dunkeln herauszutragen. Er hatte weder Zelt noch Schlafsack dabei und machte sich ein Feuer. In der Nacht hörte er mehrmals Wolfsheulen in der Nähe und konnte auch gelegentlich die Tiere durch das Gebüsch laufen hören. Die Wölfe blieben die ganze Nacht in der Nähe; kurz vor der Morgendämmerung heulten sie noch einmal ein bis zwei Kilometer entfernt. Bei Tageslicht entdeckt Trottier, dass nachts mehrere Wölfe sein Lagerfeuer umkreist und auch den Kadaver des toten Wolfes besucht hatten. Das tote Tier war ein Jungwolf; ein weiterer toter Jungwolf lag in der Nähe. Die Untersuchung ergab später, dass die Tiere an Lungenentzündung und Staupe gestorben waren.

Dieser Fall enthält viele Verhaltenselemente, die oft von Wölfen gezeigt werden, die eine Höhle oder einen Rendezvousplatz verteidigen. Entweder sie verteidigten die toten Jungtiere, oder sie beschützten noch andere kranke oder schwache Familienmitglieder in der Nähe. Die Tatsache, dass beide Wölfe an einer Krankheit verendet waren, lässt vermuten, dass sie schon einige Zeit stark geschwächt dort gelegen hatten, bevor sie starben. Das könnte zum Verteidigungsverhalten des Rudels beigetragen haben.

 

Während ihrer Feldstudien müssen Biologen gelegentlich tote Beutetiere untersuchen. Normalerweise werden diese Kadaver von Wölfen nicht verteidigt. Ihr Verhalten im folgenden Fall könnte sowohl an der Frische der getöteten Beute als auch an der Tageszeit liegen:

Great Falls, Manitoba, 1990

Im November 1990 stellte Stuart Jansson an einem Flussufer im südöstlichen Manitoba Bisamratten-Fallen auf. Als es dunkel wurde, kehrte er zu seinem Auto zurück und entdeckte, dass ein Wolf kurz zuvor auf dem Eis ein Reh getötet hatte. Schleifspuren wiesen darauf hin, dass der Wolf seine Beute ins Unterholz gezogen hatte. Jansson folgte den Spuren. Als er sich dem Gebüsch näherte, hörte er nur etwa fünf Meter von ihm entfernt ein lautes Knurren. Wegen der einbrechenden Dunkelheit war nicht viel zu sehen, und Jansson zog sich sofort auf die offene Lichtung zurück. Am nächsten Tag kam er wieder zu derselben Stelle und entdeckte, dass das ganze Gebiet mit Spuren von vier bis fünf Wölfen buchstäblich übersät war. Ein paar verstreute Haare und ein Stück des Unterkiefers waren alles, was von dem Reh übrig geblieben war. Anscheinend war der Trapper in der Nacht zuvor direkt zu einem Kadaver gelaufen, und ein Wolf, der seine Beute verteidigt hatte, statt sich zurückzuziehen, hatte ihn angeknurrt.

In einem ähnlichen Fall habe ich persönlich andere Erfahrungen gemacht, als ich ein paar Monate lang in Minnesota in einer Wildniscabin mitten im Wolfsgebiet gelebt habe. Dort bin ich immer wieder einmal über frische Wolfsrisse gestolpert. Manchmal habe ich gespürt, wie ich beobachtet wurde, dennoch haben sich die Wölfe mir nie genähert, geschweige denn mich bedroht oder sogar angeknurrt.

 

Verwechslung/Neugier

Wölfe sind sehr neugierig. Wenn sie nicht gelernt haben, Menschen zu meiden, können sie sich auf Zeltplätze oder sogar in Dörfer wagen, um so neue Gebiete zu erkunden. Finden sie dabei Nahrung, kann dies dazu führen, dass sie immer wieder die Nähe von Menschen suchen. Aber auch wenn sie nichts zu Fressen vorfinden, zerbeißen sie manchmal Schuhe, Zeltausrüstungen oder menschliche Kleidung. Dave Mech und Jim Brandenburg berichten in ihrem Film über die weißen Wölfe von Ellesmere Island, dass diese regelmäßig versucht haben, die Schlafsäcke des Filmteams aus den Zelten zu ziehen, um damit zu spielen. Die Wölfe waren nicht aggressiv und zogen sich sofort zurück, wenn sich Menschen näherten. Viele »Opfer« neugieriger Wölfe werden im Schlaf überrascht, sodass sich am Ende sowohl Mensch als auch Wolf erschrecken. Aber diese Neugier kann auch zu Verletzungen führen, wie in einem der nachfolgenden Fälle.

 

Algonquin Provincial Park, Ontario, 1994

Am 22. August 1994 zeltete eine Frau mit ihren beiden Teenagertöchtern auf Burnt Island im Algonquin Park, als sie nachts außerhalb von ihrem Zelt ein Geräusch hörte. Sie schaute hinaus und sah im Mondlicht einen Wolf, der ihren Rucksack fortzog. Die Frau zog sich ruhig in ihr Zelt zurück. Der Wolf zerknackte eine Wimperntusche im Rucksack und ließ ihn etwa zwei Meter vom Zelt entfernt fallen, bevor er weglief. Die Zeugin berichtete später, dass sie glaube, dass der Wolf, als er ihre Anwesenheit bemerkte, Angst bekommen hat und darum fortlief.

 

Tibbles Lake, British Columbia, 1988

Am 23. Juni 1988 schlief ein Mann im Freien hinter einem Wochenendhaus am Tibbles Lake. Gegen fünf Uhr morgens wurde er von einem stechenden Schmerz in der Seite geweckt. Weniger als einen Meter entfernt starrte ihn ein Wolf an. Als der Mann schrie und mit den Armen wedelte, wich der Wolf etwa fünf Meter zurück, drehte sich um und kam erneut näher. Der Mann ging in die Knie, schrie und wedelte weiter mit den Armen. Das Tier zog sich zurück, hielt noch einmal an und schaute sich nach ihm um, bevor es verschwand. Der Wolf hatte in den Schlafsack gebissen und dabei den schlafenden Mann zwischen Hüfte und Achsel erwischt. Der Biss verursachte bei dem Mann eine geringfügige Hautverletzung und zwei Blutergüsse, aber der Schlafsack war weder zerrissen noch durchbissen. Der untersuchende Beamte charakterisierte den Biss als »eher ein festes Zwicken als einen tatsächlichen Biss«.

Um 5:30 Uhr am nächsten Morgen überfiel ein Wolf eine nahe gelegene Farm, tötete drei Schafe, verletzte drei weitere schwer und biss sieben andere. Durch den Lärm wachte der Farmer auf, kam aus dem Haus und sah, wie der Wolf etwa zehn Meter entfernt ein Huhn im Maul forttrug. Er erschoss das Tier. Später sagte der am Vortag gebissene Mann aus, er glaube, dass es sich bei dem getöteten Wolf um dasselbe Tier handele. Der 36 Kilo schwere Rüde war in guter körperlicher Verfassung, der Tollwuttest war negativ.

Dieser Fall ist ungewöhnlich, weil es der erste offiziell gemeldete, unprovozierte Angriff eines Wolfes auf einen Mann in dieser Gegend war. Bei anderen Bisszwischenfällen zeigten die Beutegreifer im Allgemeinen eine Zeit lang futterkonditioniertes oder Gewöhnungsverhalten, bevor sie sich Menschen näherten. In diesem Fall wird angenommen, dass der Wolf nur in den Schlafsack beißen wollte und der Mann »zufällig« darin gelegen hat.

 

Riding Mountain National Park, Manitoba, 1984

Im Mai 1984 befand sich der Wolfsforscher Dr. Paul Paquet zur Welpenbeobachtung im Riding Mountain National Park. Die Leitwölfin war ihm gegenüber sehr tolerant und erlaubte ihm, sich der Geburtshöhle zu nähern, manchmal sogar bis auf wenige Meter. Am 31. Mai lag Paquet in einem Biwaksack und beobachtete die Höhle, als die Wölfin zu ihm lief und ein kleines Objektivtuch schnappte, das neben ihm auf dem Boden lag. Sie trug das Tuch zum Bau und zeigte auch später noch bemerkenswertes Interesse daran, es herumzutragen. Im nächsten Jahr beobachtete Paquet dieselbe Höhle derselben Wölfin und war überrascht, zu sehen, dass sie immer noch das Tuch mit sich herumtrug, das sie ein Jahr zuvor gestohlen hatte. Die Wölfin war nicht futterkonditioniert, aber die chemische Behandlung des Objektivtuches könnte vielleicht ihre Neugier daran geweckt haben.
Dieser Fall zeigt, dass Wölfe durchaus an nicht-futterbezogenen »Neuheiten« interessiert sind. An Menschen gewöhnte Wölfe im Denali-, Banff- und dem Algonquin-Park zeigen ebenfalls dieses Verhalten. Ähnliches wurde auch von offensichtlich nicht an Menschen gewöhnten Wölfen gemeldet, die in entlegenen Gebieten in den Jahren um 1800 auf Menschen trafen.

 

Niedersachsen, Deutschland, 2012

Im September 2012 musste sich ein Soldat gegen ein aufdringliches Wolfsrudel wehren. In der Nähe eines Truppenübungsplatzes im niedersächsischen Munster, auf dem ein kleine Wolfsfamilie lebt, waren drei Jungwölfe einem Soldaten gefolgt. Die Tiere hefteten sich dem Mann bei seinem Nachtmarsch an die Fersen. Immer wenn der Soldat stehen blieb, legten auch seine Verfolger eine Pause ein. Sobald er seinen Weg fortsetzte, liefen sie ihm wieder hinterher. Als der Mann auf einen Turm des Truppenübungsplatzes kletterte, kam einer der Jungwölfe bis an die Leiter heran und lief erst davon, als der Soldat herabkletterte und nach ihm trat. Mit etwas Abstand folgten ihm die Wölfe noch ein Stück, verloren nach einiger Zeit aber wohl das Interesse und verschwanden in der Dunkelheit.

Der Soldat berichtete später, er habe ein »unangenehmes Gefühl« gehabt, was nicht verwunderlich ist bei jemandem, der keine Erfahrung im Umgang mit Wölfen hat. Dieses Verhalten der Jungwölfe ist absolut normal. Während Alttiere bei der Witterung eines Menschen das Weite suchen, sind Jungtiere sehr neugierig. Eine Gefahr geht aber nicht von ihnen aus. In solchen Momenten ist es ungeheuer wichtig, die Neugier der Wölfe nicht zu »belohnen«, indem man ihnen sogar noch Futter hin wirft. Mehr dazu später.

 

Hunde

Auch Hunde können Zwischenfälle mit Wölfen provozieren. Kleine Hunde sind für die größeren Verwandten Beute und große Hunde Nahrungskonkurrenten. In vielen Ländern sind Hunde eine wichtige Nahrungsquelle für Wölfe, wie zum Beispiel in Kroatien, wo nach einer Umfrage mehr Hunde als Schafe von Wölfen getötet werden, oder in Russland, wo Wölfe die Zahl der streunenden Hunde reduzieren. Dave Mech berichtet, dass in Minnesota Wölfe, die in der Nähe von Häusern Hunde angreifen, so intensiv auf ihre Beute konzentriert sind, dass sie zeitweise ihre Angst vor Menschen verlieren.

2009 töteten Wölfe in den Great Lakes Staaten von Minnesota, Wisconsin und Michigan 37 Hunde und 24 in den Rocky Mountains (Montana, Idaho und Wyoming). In Wisconsin wurde in den letzten Jahren mehr Entschädigung für von Wölfen getötete Haushunde als für Nutzvieh gezahlt. Wölfe greifen Hunde auch in der Nähe von Siedlungen oder Häusern an, besonders wenn die Tiere nachts außerhalb des Hauses festgebunden sind.

In Polen hatte sich 2005 ein Wolfsrudel auf das Töten von Hunden spezialisiert. Innerhalb weniger Monate fielen 30 von ihnen den Beutegreifern zum Opfern, die sie meist direkt von der Kette weg fraßen. Die Behörden gaben daraufhin zwei Wölfe zum Abschuss frei.

In nordeuropäischen Ländern, in denen Wölfe leben, werden viele Jagd- und auch einige Haushunde von ihnen getötet. So werden in Schweden jährlich etwa 20 Jagdhunde von Wölfen getötet. In Finnland und Russland töten Wölfe überwiegend kleine Hunde als Nahrung. Bis zu 70 Prozent der Angriffe auf Hunde in Finnland und alle in Russland fanden in der Nähe von Häusern statt.

 

Angriffe auf Hunde während der Jagd

Bei den in Deutschland üblichen Treib-/Drückjagden werden die Hunde von der Leine gelassen und sollen das Wild aufstöbern, damit es den ringsum aufgestellten Schützen vor das Gewehr läuft. Oft werden ganze Meuten losgelassen, die zusammen jagen. Manchmal sind sie viele Hundert Meter oder sogar mehr als einen Kilometer, von den nächsten Schützen entfernt unterwegs. Manche Hunde, wie beispielsweise Terrier, stellen Hirsche oder Wildschweine, sodass der Hundeführer, der der Meute meist in großem Abstand folgt, das Tier vor den Hunden schießen kann. Gut erzogene Hunde kommen während des Treibens immer wieder einmal zum Hundeführer zurück.

Die Jagd mit Hunden in Skandinavien lässt sich nicht mit der in Deutschland vergleichen. Das Revier ist deutlich größer, die Landschaft nicht so waldreich. Der nicht angeleinte Hund jagt eigenständig in zum Teil weiten Entfernungen, ohne dass der Hundeführer ihn leiten kann. Früher oder später stößt der Hund auf die Fährte eines Elches und folgt ihm. Bleibt der stehen, bellt der Loshund den Jäger herbei, der sich gegen den Wind heranpirscht und schießt. Bei einer solchen Jagd kann es vorkommen, dass ein Hund auf frische Wolfsspuren trifft und plötzlich dem Wolf – statt wie geplant dem Elch – folgt und von diesem als Eindringling in sein Revier angegriffen wird. Tests mit besenderten Wölfen haben bezeigt, dass sie nicht von sich aus Hunde verfolgen und auch nicht von Hundegebell angelockt werden.

Der erste Fall, bei dem ein Jagdhund in Deutschland von einem Wolf getötet wurde, ereignete sich 2005. Eine Hündin hatte sich unbemerkt von ihrem Besitzer entfernt, nachdem sie offensichtlich Witterung von einer Wölfin bekommen hatte. Sie verfolgte die Wölfin und stellte sie nach Stöberhundemanier. Kurz nach dem typischen Standlaut hörte der Hundeführer das Jaulen seines Tieres, das mit mehreren Bisswunden zurückkam und wenige Stunden später beim Tierarzt starb. Hund und Wolf waren etwa 650 Meter vom Hundebesitzer entfernt aufeinandergetroffen. Der Hund hatte den Wolf verfolgt und gestellt (nicht umgekehrt!). Wölfe sind sehr territorial. Dringt ein Wolf in das Revier eines anderen ein, riskiert er, getötet zu werden. So kann es auch den domestizierten Verwandten gehen.

Ein weiterer Zwischenfall, bei dem ein Wolf (vermutlich) einen Jagdhund angriff, ereignete sich Anfang Januar 2013 in der Annaburger Heide (Elbe-Elster-Gebiet). Der Hund überlebt die Attacke, weil er eine Schutzweste trug, die ihn vor Bissen und Schlägen des Schwarzwildes schützen soll. Der Tierarzt konnte allerdings nur bestätigen, dass es sich um einen »Kanidenbiss« gehandelt habe, eine DNA-Probe wurde nicht genommen.

Jäger, die in Wolfsgebieten ihr Revier haben, brauchen nicht auf das Jagen mit Hunden zu verzichten. Sie sollten jedoch sehr genau über die Anwesenheit von Wölfen und die damit verbundenen Risiken informiert sein. In Wolfsgebieten gilt die Regel, dass Hunde erst zehn Minuten nach Beginn der Drückjagd freigelassen werden dürfen. Das gibt den Beutegreifern genügend Zeit, sich zu entfernen. (Zur Erinnerung: Wölfe sind in Deutschland ganzjährig geschützt und dürfen nicht gejagt werden. Bei einer Jagd im Wolfsrevier ist dies unbedingt zu beachten!) Die meisten Drückjagden finden im Spätherbst statt. Bei früheren Jagden von September bis Anfang Oktober muss darauf geachtet werden, dass in der weiteren Umgebung der Rendezvousplätze von Wölfen keine Hunde eingesetzt werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Beutegreifer am Aufenthaltsort ihrer Welpen aggressiv auf Hunde reagieren, ist hoch. Auch muss bei der Nachsuche auf krankes Wild damit gerechnet werden, dass die Wölfe das Tier bereits gefunden haben und gegenüber Hunden als ihre Beute verteidigen. Hier – wie überall in Wolfsgebieten – gilt: Die Anwesenheit von Menschen ist der beste Schutz für Hunde.

 

Nachfolgend zwei Beispiele aus Nordamerika und eins aus Europa, in denen Wölfe Hunde in der Nähe ihrer Menschen angegriffen haben:

Pacific Rim National Park, British Columbia, 1999

Im Januar 1999 joggte ein Mann mit seinen beiden Hunden in der Nähe von Ucluelet, British Columbia, als zwei Wölfe den kleineren der Hunde angriffen. Der Mann nahm ihn auf den Arm, und die Wölfe sprangen auf den Mann beziehungsweise den Hund zu, berührten ihn aber nicht. Danach folgten sie ihm, bis er in sein Auto einstieg.

Ein ähnlicher Zwischenfall geschah im März, als eine Frau, die ihren Hund Gassi führte, einen Wolf auf dem Weg antraf. Die Frau nahm den Hund sofort auf den Arm und zog sich zu einem nahe gelegenen Parkplatz zurück. Drei Wölfe folgten ihr in zehn Meter Entfernung.

 

Haines Junction, Yukon, 2000

Im Dezember 2000 führte eine Frau in der Nähe ihres Hauses, etwa zehn Kilometer von Haines Junction entfernt, ihren Hund spazieren. Das Haus lag am Fuß eines offenen hügeligen Gebietes in der Nähe des Alaska Highway. Als die Frau ihre Auffahrt hinunterging, sah sie etwa 80 Meter entfernt einen schwarzen Wolf auf einem Hügel sitzen und sie beobachten. Als der Wolf den Hügel hinunter und direkt auf sie zulief, wurde ihr mulmig. Sie drehte sich um und wollte zum Haus zurückgehen, aber der große Kanide lief zehn Meter von ihr entfernt auf die Auffahrt und blockierte den Weg. Die Frau hielt an, wedelte mit den Armen und schrie den Wolf an. Dieser sah sie an, reagierte aber nicht. Die Hundebesitzerin drehte sich um und lief etwa 150 Meter in Richtung Straße, während ihr der Wolf in kurzer Entfernung nachlief. Nach etwa 30 Metern erreichte die Frau einen Felsen von der Größe eines Autos. Sie zog sich dahinter zurück und nutzte ihn als Deckung, aber der Wolf kam mit gesenktem Kopf und vorgebeugter, angespannter Haltung näher. Nur wenige Meter von ihr entfernt blieb er stehen. Er ließ seine Augen nicht von der Frau und ihrem Hund, knurrte aber nicht. In den nächsten Minuten schrie die Frau weiterhin den Wolf an und rief nach ihrem Mann, der sich im Haus befand. Schließlich näherte sich ein Auto, das sie anhielt. Der Wolf blieb beim Felsen stehen, bis die Frau und ihr Hund im Auto waren. Dann lief er fort.
Die Frau erzählte später, dass sie vor dem sich nähernden Wolf Angst gehabt und das Verhalten des Tieres eher aggressiv als neugierig eingeschätzt habe. Gleichwohl vermutete sie, dass der Wolf mehr auf ihren Hund konzentriert war als auf sie. Der Hund war ein paar Tage zuvor kastriert worden, was zum Verhalten des Wolfes beigetragen haben könnte. Nachdem Naturschutzbeamte die Gegend um das Haus der Frau herum abgesucht hatten, fanden sie im Schnee Hinweise, dass sich der Wolf beträchtliche Zeit in dem Gebiet aufgehalten haben musste und dort vermutlich schon vorher den Spuren des Hundes gefolgt war. Den ganzen folgenden Winter hindurch berichteten die Bewohner des Ortes immer wieder, einen Wolf gesehen zu haben, auf den die Beschreibung passte, aber das Tier verhielt sich nicht so, als ob es futterkonditioniert sei. Auch näherte es sich keinem anderen Menschen.

 

Stockholm, Schweden, 2011

Eine Geschichte, die fälschlicherweise als »Wolfsangriff auf Familie« durch die Medien ging, ereignete sich im April 2011 in Schweden. Eine Familie mit Mann, Frau und Kleinkind war mit ihrem nicht angeleinten Wachtelhund (Jagdhund) in einem Waldgebiet nördlich von Stockholm unterwegs. In diesem Gebiet lebte eine Wolfsgruppe mit drei bis vier Tieren. Zwei Wölfe tauchten auf, wovon einer umgehend den Hund angriff und verschleppte; er wurde später tot aufgefunden. Der zweite Wolf blieb anfänglich in Sichtweite der Familie, verschwand aber, sobald die Frau laut zu sprechen begann und die Arme bewegte. Keiner der Wölfe zeigte aggressives Verhalten gegenüber den Menschen.

 

Verhalten von Hundehaltern in Wolfsgebieten

Werden Hunde von Wölfen angegriffen und/oder getötet, bricht natürlich für den Hundehalter die Welt zusammen. Hinzu kommt die emotionale Stimmung und Berichterstattung in den Medien, die nach einem einzelnen Zwischenfall schnell wieder »unschuldige Kinder« gefährdet sehen. Ihr Einfluss auf die öffentliche Meinung zum Wolf ist ein nicht zu unterschätzender Faktor.

Manchmal ist es schwierig festzustellen, unter welchen Kriterien der Wolf entscheidet, ob ein Hund eine Bedrohung oder eine Mahlzeit ist. Hunde großer Rassen, die auch vom Körperbau eher Wölfen ähneln, werden im Allgemeinen als Konkurrenz angesehen, die es zu vertreiben gilt. Kleinere Rassen sehen für den Wolf wie kleine Beutetiere aus und werden entsprechend als Futter betrachtet. Sie werden ganz oder teilweise gefressen.

Hundehalter, die in Wolfsgebieten leben, sollten ihre Tiere beim Spaziergang im Wald an die Leine nehmen und außerdem niemals den Hund unbeaufsichtigt im Garten oder Hof lassen, besonders nicht nachts. Trifft ein Hundebesitzer auf einem Spaziergang einen Wolf und reagiert dieser aggressiv, dann muss er wissen, dass sich die Aggression gegen seinen Hund richtet, nicht gegen ihn.

Normalerweise kann ein Hund schon allein dadurch, dass er sich in seinem Revier aufhält, eine Zielscheibe für den Wolf sein. Es ist völlig natürlich, wenn der Wolf einen Eindringling in sein Territorium konfrontiert.

Dass es auch anders sein kann und ein Wolf sogar einen Hund als »Spielgefährten« akzeptiert, zeigt eine Geschichte aus Alaska. Aber Vorsicht! Romeos Geschichte ist ein ganz großer Ausnahmefall. Ich rate keinem deutschen Hundebesitzer, zu versuchen, seinen Labrador mit einem wilden Wolf zusammenzubringen nach dem Motto: »Nun spielt mal schön!«

 

Romeos Geschichte

Romeo war einst das stolze Mitglied einer Familie von 13 Wölfen, die in den Bergen rund um den Mendenhall-Gletscher in der Nähe von Juneau, Alaska, lebte. Eines Tages verlor Romeo seine Familie. Alle Gruppenmitglieder bis auf Romeo und eine Wölfin waren in den Fallen eines Trappers gestorben. Die aufgebrachte Bevölkerung von Juneau verfolgte die Geschichte in den Medien und erreichte schließlich, dass die Regierung das Fallenstellen im Gletschergebiet verbot – nicht zuletzt dank einer mutigen Frau, die einen lebenden Wolf mit bloßen Händen aus einer Stahlfalle befreite und das Foto der blutigen Szene veröffentlichte.

Trotz des dramatischen Geschehens hatten Romeo und seine Gefährtin noch gute Chancen, eine neue Familie zu gründen. Dann aber benutzte ein gelangweilter Taxifahrer die lange Straße zum Besucherzentrum des Mendenhall-Gletschers für Geschwindigkeitstests, genau in dem Augenblick, als die überlebende Wölfin von der Jagd zurückkam und die Straße überqueren wollte. Sie wurde getötet – mit ihren vier Welpen, die sie in sich trug. Soweit zu Romeos Neuanfang.

Von da an lebte der schwarze Wolf alleine. Niemand weiß, warum Romeo weiter in der Gegend blieb und nicht abwanderte, um eine neue Familie zu finden. So wurde der einsame Wolf eine Legende in Juneau.

Wölfe sind normalerweise sehr vorsichtige Tiere, die Menschen meiden. Nicht so Romeo. Er suchte Gesellschaft. Als im Winter die Beutetiere des Wolfes in die Täler und in die Nähe des Gletschers kamen, folgte er ihnen. Sah er auf dem zugefrorenen Mendenhall-See Wanderer oder Skifahrer mit ihren Hunden, rannte er bis auf wenige Meter auf sie zu und versuchte, durch Bellen und Spielgesten die Hunde dazu zu bringen, mit ihm zu spielen. Immer mehr Menschen ließen dies zu. Romeo war nie aggressiv. Wurde er von einem anderen Hund angegriffen, unterwarf er sich oder lief fort. Nachts klang sein einsames Heulen durch das Tal.

Der Wolf war eine örtliche Berühmtheit. Manchmal versammelten sich über 30 Fotografen, um das perfekte Foto von ihm zu bekommen. Einige von ihnen nahmen Hunde als »Köder« mit, um Romeo anzulocken. Biologen und Ranger des Forest Service warnten und forderten, dass der Wolf wie ein Wildtier behandelt werden solle, egal wie freundlich er sich gebe – vergeblich. Warnschilder wurden aufgestellt, und es folgte ein Leinenzwang für Hunde, an den sich kaum jemand hielt.

Schließlich passierte das Unvermeidbare: Romeo griff im Beisein des Besitzers einen herumrennenden Beagle im Genick. Einige Zeit später schnappte er sich einen kleinen Mops, den Hund eines Fotografen. Während der Wolf mit dem Hund davon lief, drückte der Fotograf unentwegt den Auslöser und sammelte seinen Hund erst wieder ein, nachdem der Wolf ihn losgelassen hatte. In beiden Fällen ließ der Wolf die Hunde fallen und sie entkamen unverletzt.

Eine Woche später griff er sich einen kleinen Pomeranian, den er nicht wieder losließ. Der Körper des Tieres wurde nicht mehr gefunden.

Wieder begann die Diskussion, was mit Romeo geschehen solle. Wenn ein Wildtier in Alaska seine Scheu vor Zweibeinern verliert, wird es normalerweise vom Forest Service betäubt und in ein anderes Gebiet geflogen oder es wird getötet. Aber bei so viel öffentlichem Interesse scheuten die Behörden diesen Schritt.

»Wir sehen nicht den Wolf, sondern die Menschen als Problem«, war deren Reaktion. Dann kam der Sommer und Romeo verschwand wieder in die Berge bis zum nächsten November. Drei Winter lang verwöhnte der schwarze Wolf die Bewohner von Juneau mit seiner Anwesenheit.

Eines Tages kam die Meldung, dass Romeo tot sei. Beerensammlern hatten ihn am südlichen Ende der Stadt in einer Parkbucht gefunden. Ein blutiges Bündel Fell, vollgepumpt mit Kugeln und mit durchschnittener Kehle. Der Kadaver war absichtlich dort abgelegt worden, vermutlich als deutliche Nachricht. Die Behörden konnten nicht viel tun. Es gab weder Zeugen noch Hinweise. Wolfsfreunde setzten eine Belohnung für Informationen aus. Die meisten Telefonanrufe kamen von weinenden und geschockten Romeo-Fans. Die Belohnung wuchs durch viele kleine und große Spenden auf 10.000 Dollar an.

Einige der Wolfsbeobachter, die Fotos des toten Tieres sahen, begannen zu zweifeln, dass es sich tatsächlich um Romeo handelte.

Mehr als einen Monat später machte eine Nachricht die Runde. Jemand hatte einen schwarzen Wolf die Straße beim Visitor Center des Gletschers überqueren sehen. Dann berichtete ein Wanderer, der mit seinem Hund im Gebiet unterwegs war, dass ihnen ein schwarzer Wolf leise winselnd gefolgt sei. Romeo war von den Toten auferstanden.

Ende August verhaftete die Polizei zwei Männer, die schließlich zugaben, einen anderen schwarzen Wolf getötet und nach Juneau gebracht zu haben.

Auch im nächsten Winter zeigte er sich wieder seiner ständig wachsenden Fangemeinde. Manchmal wurde er in der Gesellschaft eines jungen, grauen Wolfes gesehen. Dann wanderte eine fremde Wolfsfamilie in Romeos Revier ein. Im September 2009 wurde er zum letzten Mal gesehen. Seine Beobachter fürchten, dass er von den Neuankömmlingen getötet wurde. Mit acht Jahren hatte er für einen wilden Wolf ein reifes Alter erreicht. Es könnte aber auch sein, dass er abgewandert ist. Romeos Schicksal ist ungewiss in einem Land, in dem Wölfe massiv verfolgt, getötet oder in Fallen gefangen werden.

 

Futterkonditionierung/Habituierung

Wölfe haben in den letzten Jahrhunderten mehr schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht als umgekehrt. Darum gehen sie ihnen instinktiv aus dem Weg und meiden in der Regel Siedlungen und Straßen. Dennoch sind sie flexibel genug, um in ihrer Nähe zu leben, wie zum Beispiel die Abruzzen-Wölfe ganz in der Nähe von Rom. Diese Anpassungsfähigkeit führt jedoch dann zu einem Problem, wenn der Mensch die wilden Kaniden dazu ermutigt, sich ihm zu nähern, beispielsweise dadurch, dass er ihnen Futter anbietet.

Eine Habituierung auf Menschen ist eine natürliche Reaktion auf häufigen Kontakt zu ihnen ohne Konsequenzen. Wenn Wölfe öfter auf Menschen treffen und das keine negativen Auswirkungen für sie hat, sondern im Gegenteil sogar noch durch Füttern belohnt wird, dann gewöhnen sie sich immer mehr an sie und fürchten sie weniger. Dabei ist entscheidend, ob der Kontakt zu den Zweibeinern nur vorübergehend oder zielgerichtet ist. Es gibt zahlreiche Fälle, besonders in Nationalparks, wo Wölfe durch Zeltplätze laufen, gelegentlich an einem Gegenstand schnuppern, ihn vielleicht mitnehmen, aber sonst kein weiteres Interesse an Menschen haben. Problematisch werden diese Begegnungen, wenn Wölfe Menschen mit Futter in Verbindung bringen.

 

Algonquin Provincial Park, Ontario 1994

Im Sommer 1994 berichteten zahlreiche Camper von einem furchtlosen Wolf im Gebiet von Opeongo-Lavieille. Der Wolf schien an Futter uninteressiert, knurrte aber Menschen an, zerriss Teile von Campingausrüstungen und biss schließlich zwei Männer. Er reagierte aggressiv, wenn er auf Einzelpersonen traf, aber nicht, wenn es mehrere Personen waren.

Der erste Vorfall geschah am 3. August, als ein neun Jahre alter Junge allein von der Toilette zu seinem Zelt zurück ging und gegen 7:30 Uhr auf den Wolf traf. Das Kind rannte davon, der Wolf jagte es, biss es in die Seite und verletzte es leicht. Der Vater des Jungen reagierte auf dessen Schreien und verscheuchte den Wolf. Der aber hielt nach zwei Metern an und beobachtete den Jungen noch eine ganze Weile.

Am 1. September 1994 war eine Frau dabei, aus ihrem Zelt zu kriechen. Als ihr Mann sie rief, drehte sie sich nach ihm um. In dem Augenblick näherte sich ein Wolf und biss ihr in die Beine. Die Frau kroch ins Zelt zurück, und der Wolf begann, die Ausrüstung des Ehepaares zu zerstören. Schließlich wurde das Tier getötet. Die Tollwutuntersuchung war negativ.
Das Anknurren könnte als Hinweis auf ein Verteidigungsverhalten eingestuft werden, aber die zwei Bisse waren forscher und fanden ohne Provokation durch den Menschen statt.

In beiden Fällen biss der Wolf, als die Menschen ihm schon den Rücken zugedreht hatten, sich aber noch in seiner Nähe befanden.

 

Algonquin Provincial Park, Ontario 1996

Im Algonquin Provincial Park gibt es »Heul-Nächte«, wo die Besucher mit den Wölfen heulen können, in der Hoffnung auf eine Antwort der wilden Vierbeiner. Im August 1996 verbrachte die Familie Delventhal aus Pittsburgh, Pennsylvania, ihren Urlaub dort und nahm ebenfalls an dem Ereignis teil. Ein einsames Wolfsheulen antwortete ihnen.

Was dann geschah, erzählte drei Monate später der elfjährige Zachariah selbst:

»Die schrecklichste Nacht in meinem Leben war die letzte eines wunderschönen Camping-Urlaubs im Algonquin-Park. Wir waren erschöpft und wollten am nächsten Morgen früh aufbrechen, darum beschlossen wir, im Freien zu schlafen. Ich erinnere mich, dass ich gerade von meinen Eltern träumte, die durch einen Wald gingen. Plötzlich fühlte ich einen Druck auf meinem Kopf und mein Traum begann zu verschwinden. Ich wachte auf und spürte immer noch den Druck, aber jetzt auch Schmerzen. Ich schrie, und sofort ließen der Druck und der Schmerz nach. Ich öffnete meine Augen und sah aber nichts. Ich war zwei Meter fortgezogen worden – von einem Tier. Ich schrie: ‚Mich hat was gebissen!‘ Meine Mutter kam und drückte den Schlafsack an mein Gesicht, um das Blut zu stillen. Dann stand mein Vater auf und begann zu schreien. Ich bekam Angst, als er im Gebüsch verschwand, aber er kam zurück. Ich fragte: ‚Was war das?‘ Zwei schreckliche Worte: ‚Ein Wolf.‘ Sofort kroch ich von der Stelle fort, wo ich war; ich war verrückt vor Angst und zur gleichen Zeit völlig verwirrt. Ich wollte nicht von so einem kräftigen Tier gefressen werden. Ich hatte immer gehört, dass Wölfe keine Menschen angreifen, und jetzt war ich beinahe von einem Wolf getötet worden. Ich hatte sehr viele Verletzungen: Meine Wunden mussten mit über 80 Stichen genäht werden, meine Nase war an fünf Stellen gebrochen, mir fehlte ein Stück von meinem Ohr. Mein Gaumen, meine Tränendrüsen und meine Wangenknochen hatten Löcher.

Trotz allem soll niemand Angst davor haben, in den Wald zu gehen. Wölfe sind keine Killer. Die Gefahr, angegriffen zu werden ist so gering. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass mir das passiert ist. Meine Eltern hatten nicht recht, als sie mir sagten, dass Wölfe keine Menschen angreifen. Aber ich weiß auch, dass sie es fast nie tun.«

Später an diesem Tag näherte sich derselbe Wolf einer Frau, die im flachen Wasser im See stand. Der Wolf sprang vier Mal auf die Frau zu. Die Frau berichtete, dass ihr das Verhalten des Wolfes eher spielerisch vorkam. Jedes Mal, wenn sie ihm »Hau ab!« zurief, wich er zurück. Als zwei andere Leute kamen, zog sich der Wolf zurück, verließ aber nicht das Gebiet.

Drei Tage nachdem Zachariah gebissen worden war, näherte sich der Wolf am späten Abend zwei Frauen bei ihrem Zelt. Die Frauen stiegen schnell in ihr Kanu und paddelten fort. Als sie mehrere Stunden später zurückkamen, hatte der Wolf einen Leinensack zerrissen und den Inhalt ihres Zeltes auseinandergenommen.

Am 23. August erschossen die Behörden den offensichtlich gesunden Wolf auf dem Zeltplatz der Familie Delventhal. Sein Magen enthielt etwa ein Kilo Fleisch, Bohnen, Karotten, Bindfäden und Aufkleber, was darauf hinwies, dass er sich von menschlicher Nahrung und Müll ernährt hatte.
Während der letzten zwölf Tage war dieser Wolf oft gesehen worden. Andere Camper berichteten, dass er immer wieder Campingartikel und Kleidung gestohlen hatte, sich aber Menschen gegenüber nie aggressiv verhielt. Einmal zog er unter dem Kopf eines Mannes, der außerhalb seines Zeltes schlief und der seine Kleidung als Kopfkissen benutzte, die Kleider hervor. Der Mann wachte auf und schrie, der Wolf ließ seine Beute fallen, kam aber zurück und versuchte, den Mann zu schnappen, als er sich zum Boden beugte, um seine Sachen aufzuheben.

Andere Camper hatten eine ganze Salami auf ihrem Kanu liegen lassen, aber das Tier schien am Essen nicht interessiert zu sein. Später fanden die Camper zwei Turnschuhe im Gebüsch, die der Wolf gestohlen und zerkaut hatte.

Obwohl es ernsthafte Verletzungen gab, gingen die Behörden davon aus, dass der Angriff auf den Jungen im Schlafsack kein Beuteangriff war. Stattdessen hat wohl die Begeisterung des Wolfes für menschliche Ausrüstungsgegenstände und Kleidung dazu geführt, dass er einen »besetzten« Schlafsack fortzog. Die Rissmuster wiesen darauf hin, dass der Wolf ursprünglich versucht hatte, den Schlafsack beim Material zu packen und wegzuziehen. Das zerriss aber unter dem Gewicht des Kindes. Zachariahs Verletzungen stammen vermutlich daher, dass das Tier bei dem Versuch, das Gewicht des Schlafsacks mit dem Jungen fortzuziehen, nach dem Kopf des Jungen geschnappt hat. Die tiefen Bissverletzungen zeigen jedoch andererseits, dass das Kind wiederholt gebissen wurde und dass es sich um mehr handelte als ein einfaches Ziehen und Beißen. Wahrscheinlich ist der Junge durch die Bisswunden aufgewacht und hat durch den Schmerz noch mehr gestrampelt und so das vermehrte Nachfassen des Wolfes verursacht.

An Menschen gewöhnte Wölfe zeigen oft eine große Begeisterung für menschliche Kleidung und Ausrüstung. Obwohl dieser Wolf offensichtlich auch gefüttert worden war, suchte er auf den Zeltplätzen doch nie Nahrung und ignorierte es auch, wenn irgendwo etwas zu Fressen herumlag.

 

Ellesmere Island, Northwest Territories, 1995

Mitte Juni 1995 stand die Wildtierbeamtin Tabita Mullin in der Nähe ihres Wohnquartiers im Basis Camp der Ranger auf Ellesmere Island. Sie beobachtete und fotografierte ein Rudel von elf Wölfen, die sich plötzlich dem Camp näherten. Die Tiere kamen bis auf zehn Meter an sie heran und blieben dann stehen. Ein einzelner Wolf ging weiter und umkreiste sie eng. Beunruhigt ging Mullin zum Haus zurück, das nur fünf Schritte entfernt war. Als sie sich umdrehte, um nach der Tür zu greifen, kam einer der sie umkreisende Wölfe zu ihr und packte sie am Arm. Mullin versuchte den Arm zurückzuziehen, aber der Wolf hielt fest. Erschrocken stieß sie einen kurzen Schrei aus, und der Wolf ließ los. Die Frau ging in das Gebäude und der Beutegreifer lief fort.

Tabita Mullin hatte die Wölfe weder gefüttert, noch hatte sie etwas zu Essen dabei. Der Müll des Camps wurde in den Häusern gelagert und täglich verbrannt. Mullin glaubte auch nicht, dass die anderen Ranger oder Angestellten die Wölfe fütterten, aber sie nahm an, dass Fotografen den Tieren gelegentlich etwas zuwarfen, um bessere Fotos zu bekommen, auch wenn es verboten war. Außerdem berichtete sie von Wölfen, die sich außerhalb des Parks bei den Wetterstationen von Alert und Eureka aufhielten und dort auf den öffentlichen Müllhalden Abfall fraßen. Auch hatte man gesehen, wie die Wölfe von Bewohnern direkt gefüttert worden waren. Das Verhalten der Tiere, die sich Mullin genähert haben, weist eindeutig auf eine Futterkonditionierung hin. Als der Wolf das erwartete Futter nicht bekam, schnappte er nach dem Arm der Frau.

 

Vargas Island, British Columbia, 2000

Mitte Juni erreichte die Wildtierfotografin Jacqueline Windh mit ihrem Kajak Vargas Island. Sie arbeitete zusammen mit einem zweiten Fotografen, der kurz vor ihr angekommen war und der zwei Leute beobachtet hatte, wie sie eine Wölfin in der Nähe fütterten. Nach Windhs Ankunft näherte sich ihr die Wölfin, und als die Fotografin sich niederhockte, um zu fotografieren, lief sie direkt auf sie zu und schnupperte an der Linse der Kamera. Windh streckte die Hand aus; die Wölfin roch daran und biss zart hinein, offensichtlich um zu sehen, ob die Frau Futter in der Hand hielt. Als sie kein Futter fand, leckte sie die Hand der Fotografin. Später kam noch ein Wolfsrüde hinzu. Er war forscher, kam schnell herbei, knabberte an einem Riss im Knie von Windhs Hose und an ihren nackten Zehen, die aus ihrer Sandale herausschauten. Aber auch sein Beißen war zurückhaltend.

Die Fotografen zelteten zwei Tage lang in der Nähe des Strandes, und die Wölfe hielten sich weiterhin in der Nähe auf. Die Wölfin schlief nahe beim Zelt. Die Tiere versuchten, Kleidungsstücke und Campingausrüstung zu stehlen, fanden aber nichts zu fressen. Windh berichtete, dass die Wölfin Wasserflaschen unter einem Stamm hervorzog und spielend herumschubste. Außerdem ging das Tier vor ihr in die Spielverbeugung, rannte im Kreis und verhielt sich, als ob es sie zum Spielen auffordern wollte. Später, am zweiten Tag, wurde das Wolfspaar zudringlicher. Schließlich näherte sich der Rüde direkt und mit gesenktem Kopf den Fotografen, während die Wölfin sie von hinten umkreiste. Die beiden empfanden dieses Verhalten bedrohlicher als am Anfang und zogen sich rückwärtsgehend an den Strand zurück. Sie konnten die Wölfe verscheuchen, indem sie Steine nach ihnen warfen. Am nächsten Morgen verließen sie die Insel. Windh erfuhr später von anderen Besuchern, dass die Wölfe im Jahr zuvor als Welpen von Menschen mit der Hand gefüttert worden waren und dass sie sich sowohl durch Spielen als auch durch Füttern an Touristen gewöhnt hatten.

Ein paar Tage, nachdem Jacqueline Windh die Insel verlassen hatte, zeltete eine Gruppe von 18 Touristen auf einem nahe gelegenen Campingplatz auf Vargas Island. Die meisten schliefen in Zelten, aber zwei Männer legten sich im Schlafsack in die Nähe des Lagerfeuers. Einer von ihnen wachte gegen 1:30 Uhr nachts auf und sah einen Wolf auf dem Ende seines Schlafsacks sitzen. Der erschrockene Mann schrie den Wolf an, der sich aber nicht rührte. Ein anderer Camper hörte die Schreie und machte Lärm, was den Wolf vertrieb. Der Mann, auf dessen Schlafsack der Wolf gesessen hatte, zog in ein Zelt um. Aber der zweite Camper, der dreiundzwanzigjährige Student Scott Langevin, schlief weiter draußen und wurde gegen zwei Uhr wach, als etwas an seinem Schlafsack zog. Der Wolf schleppte den Menschen im Schlafsack ein paar Meter weg, ließ aber los und sprang einen Schritt zurück, als der Mann ihn anschrie. Der Wolf sprang wieder vor und biss in den Oberkörper des Studenten, der immer noch im Schlafsack steckte. Wieder schrie der Mann den Wolf an und versuchte, das Tier mit den Armen abzuwehren. Dann rollte der Camper sich in Richtung Feuer, aber der Wolf sprang auf seinen Rücken und begann, ihm in den Hinterkopf zu beißen. Seine Freunde, die die Schreie hörten, kamen ihm zu Hilfe und jagten das Tier fort. Das Opfer schätzt, dass der Angriff etwa fünf Minuten gedauert hat. Die Wunde an seinem Kopf musste mit 50 Stichen genährt werden.

Am nächsten Morgen töteten Beamte der Naturschutzbehörde zwei Wölfe in der Nähe des Zeltplatzes, einen 37 Kilo schweren Rüden und ein 29 Kilo schweres Weibchen. Das Alter der beiden wurde auf etwa 14 Monate geschätzt. Sie waren in gutem Gesundheitszustand und wurden negativ auf Tollwut getestet. Ihr Darminhalt enthielt keinen Hinweis auf menschliche Nahrung oder Abfall.

Die Wölfe, die in der Nähe der Angriffsstelle getötet worden waren, wurden später als dieselben Tiere identifiziert, die schon an anderen Orten von Vargas Island mit Touristen Kontakt hatten. Sie waren offensichtlich futterkonditioniert und gleichzeitig auch auf Menschen sozialisiert, was ihre Versuche zeigten, mit der Fotografin zu spielen. Trotz der Gewöhnung und Sozialisation reagierte der Wolf aggressiv, als der Student im Schlafsack ihn anschrie und mit den Armen fuchtelte. Die Aggression des Tieres steigerte sich während des Angriffs – vielleicht eine Reaktion auf das, was er vermutlich als Angstaggression des Mannes empfand, oder als übertriebene Reaktion, weil er nicht wie sonst Futter erhielt. Nachdem die beiden Wölfe getötet worden waren, kamen andere Wölfe zu den Zeltplätzen auf der nahe gelegenen Flores-Insel, wo sie Schuhe, Zeltausrüstung und Kleidung aus den Zelten stahlen. Dies ist ein Zeichen dafür, dass auch andere Mitglieder des Wolfsrudels ähnlich futterkonditioniert waren.

 

Zusammenfassung

Grundsätzlich gehören wir Zweibeiner nicht in das natürliche Beuteschema von Wölfen. Dennoch gibt es Hinweise darauf, dass in den letzten Jahrhunderten Menschen sowohl von gesunden als auch von tollwütigen Wölfen getötet worden sind. Dabei waren Angriffe von tollwütigen Wölfen am häufigsten, insbesondere auf Erwachsene, während gesunde Wölfe überwiegend Kinder unter zehn Jahren (90 Prozent) angriffen. Wenn Wölfe Erwachsene als Beute sahen, dann waren die Opfer fast immer Frauen. Dieses Muster entspricht der Vorliebe von Kaniden für schwache und ungefährliche Beutetiere.

Jedoch ist es sehr selten, dass Wölfe Menschen als Beute betrachten. Daher werden in der heutigen Zeit die meisten Wolfsangriffe auf Menschen durch Habituierung und Futterassoziierung hervorgerufen.

Auch Hunde sind ein Faktor für Wolfsangriffe, und zwar sowohl Hunde in Begleitung von Menschen als auch Schlittenhunde oder draußen angeleinte Haushunde. Verteidigen Menschen ihr Tier, kann dies dazu führen, dass der Wolf seinerseits einen Verteidigungsangriff startet.

Vergleicht man die Häufigkeit von Wolfsangriffen mit denen von anderen Wildtieren auf Menschen, dann sind Wölfe in Anbetracht ihrer Größe und ihrer Kraft eindeutig die für den Menschen am wenigsten gefährliche Tierart.