Wolfsangriffe in der Geschichte

»Es gibt keinen dokumentierten Fall, in dem ein gesunder, wilder Wolf einen Menschen angegriffen hat.« Wenn ich für jedes Mal, wo ich diesen Satz gehört oder ihn auch selber ausgesprochen habe, einen Euro bekommen hätte, bräuchte ich mir um meine Altersversorgung keine Gedanken mehr zu machen.

Dieser Satz ist falsch! Tatsache ist, dass es bis vor Kurzem noch keine einzige Studie gab, die Angriffe von Wölfen auf Menschen genauer untersucht hat. Erst in den Jahren 2000 und 2002 kamen zwei umfangreiche Studien heraus, die sich mit Wolfsangriffen beschäftigen und auf die ich im Folgenden noch öfter eingehen werde:

1.   Der Linnell-Report »A fear of wolves: A review of wolf attacks on humans«, eine Studie von 18 namhaften europäischen Wissenschaftlern und Biologen, die vom norwegischen Institut »Norsk institutt for naturforskning« (NINA) 2002 veröffentlicht wurde. Die Forscher untersuchten Dokumente vom 16. bis zum 21. Jahrhundert. Es ist die erste detaillierte Untersuchung von Wolfsangriffen auf Menschen in Nordamerika, Europa, Indien, China und Japan.
2.   Der McNay-Report, der nach einem Wolfsangriff auf ein Kind in Alaska im Jahr 2000 entstand. Mark E. McNay, ein Biologe der Fisch- und Wildbehörde von Alaska, stellte einen Katalog auf von 80 Begegnungen zwischen Menschen und Wölfen, die seit 1900 in Alaska, Kanada und Minnesota stattgefunden haben. Der Report sollte helfen, zu verstehen, warum Wölfe angreifen und wie man mit solchen Situationen umgeht.

Die Angst vor dem Wolf war in den vergangenen Jahrhunderten einer der wichtigsten Gründe für die Vernichtung von Wölfen weltweit. Dagegen betrachteten andere Kulturen, wie Indianer oder Inuit, den Wolf nie als gefährlich, im Gegenteil, er war ihr Totemtier und sie verehrten ihn.

Auch in der Bibel (Matthäus 10:16) wird zwar auf die Gefahr von Wölfen für Schafe hingewiesen, sie werden jedoch nicht als gefährlich für Menschen beschrieben (»Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter Wölfe; so seid nun klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben.«) Es gibt jedoch deutlich mehr schriftliche Hinweise von Wolfsangriffen auf Menschen in Europa und Russland als in Nordamerika.

Die meisten historischen Berichte stammen aus Europa. Aber wie glaubwürdig sind sie?

In den vergangenen Jahrhunderten wurden Wolfsangriffe niemals vollständig untersucht oder als solche ohne jeden Zweifel bestätigt. Wenn heute ein Wolf einen Menschen angeblich angegriffen oder getötet hat, beginnt eine vollständige Überprüfung ähnlich einer kriminalistischen Untersuchung in einem Mordfall. Am Tatort werden so viele Beweise wie möglich gesammelt, Trittsiegel analysiert, Haarproben genommen, DNA-Proben eingeschickt; es werden Zeugen befragt und ein kompletter Bericht wird erstellt.

Aber in den vergangenen Jahrhunderten hatte man als einzigen »Hinweis« mündlich überlieferte Geschichten, Einträge in Kirchenbücher oder Zeitungsberichte. Einige Berichte – wie die am Anfang geschilderte Belagerung eines Dorfes oder die der Verfolgung einer Troika durch ein Rudel Wölfe – tauchen immer wieder auf, jeweils an anderen Orten oder mit anderen Teilnehmern. Es stellt sich daher die Frage, wie verlässlich sie für die Forschung sind.

Für die Wissenschaft gilt, dass ein »Wolfsangriff« dokumentiert oder bestätigt sein muss. »Dokumentiert« bedeutet laut Dave Mech: »Der Kopf des Wolfes muss entfernt und zur Untersuchung an ein Labor geschickt werden.« Insgesamt müssen folgende Kriterien erfüllt sein:

1.      Der Wolf wurde getötet und untersucht. Er war gesund.
2.      Es wird bewiesen, dass der Wolf während seines ganzen Lebens nicht in Gefangenschaft gelebt hat.
3.      Für den Angriff gibt es Augenzeugen.
4.      Der Mensch ist an seinen durch den Wolf entstandenen Wunden gestorben (Bisse gelten nach Auffassung von Mech nicht als Angriff).

Solche Kriterien machen es fast unmöglich, historische Berichte als »Wolfsangriff auf einen Menschen« zu bestätigen.

Historische administrative Unterlagen stellen daher die verlässlichste Quelle dar. In Kirchenbüchern werden seit dem 16. Jahrhundert Geburten, Hochzeiten und Sterbefälle registriert. Dort findet man als Todesursache auch den »Wolfsangriff«. Beispiel:

Viallacortese [nördliches Italien] 6. Mai 1654: »Pietro Maria, Sohn des Giovanni Scazoso genannt Farè, Alter 9 Jahre und einhalb, getötet von einem Wolf, während er mit den Rindern am Abend des 17. von der Weide zurückkehrte, wurde am folgenden Tag beerdigt.«

Die zweite relativ verlässliche Quelle sind Berichte in Zeitungen, Büchern oder von glaubhaften Augenzeugen, sofern die Beschreibungen übereinstimmen und von unabhängigen, glaubwürdigen Zeugen stammen.

 

Probleme bei der Untersuchung historischer Fälle

Bei jeder Studie, die auf historischen Berichten basiert, gibt es potenzielle Fehlerquellen. Diese können durch Übersetzung, Übertreibung oder absichtliche Lügen entstehen. Nachstehende Fehler sind die häufigsten:

 

Identifizierung

Ein Problem ist die Identifizierung eines angreifenden Tieres. So fällt es zum Beispiel selbst Fachleuten schwer, einen Wolf von einem Wolfsmischling zu unterscheiden. Wie soll dies dann erst ein Mensch beurteilen, der glaubt, angegriffen zu werden? Auch werden Wölfe oft mit Hunden (z. B. Schäferhunden) oder Kojoten verwechselt.

Ebenso kann das Verhalten des angreifenden Tieres, das das Opfer oder der Beobachter beschreibt, entsprechend seiner persönlichen Einstellung zum Wolf stark variieren. Was der eine als »aggressiv« bezeichnet, ist für den anderen vielleicht »neugierig«. Darüber hinaus fehlt dem überwiegenden Teil der Angegriffenen die Fachkenntnis von der Körpersprache eines Wolfes.

 

Täuschung

Was geschah wirklich mit Personen, die vermisst wurden?

1950 wurde in Polen eine junge Lehrerin als von Wölfen getötet gemeldet. Ihre Schuhe und Handtasche fand man blutverschmiert und mit Bissabdrücken, zusammen mit Kleidungsfetzen und sehr viel Blut. Die Polizei schloss daraus, dass Wölfe, die in der Gegend lebten, sie getötet haben mussten. Vierzig Jahre später kehrte sie gesund und munter nach Polen zurück. Ihr Freund hatte sie in den Westen nach Schweden geschmuggelt und das Gerücht der Wolfstötung in die Welt gesetzt, damit ihre Familie nicht von der Regierung für die Flucht bestraft wurde.

Auch Morde könnten so als Tötungen durch Beutegreifer vertuscht worden sein. Durch einen Fernsehfilm bekannt geworden und immer noch umstritten ist der Fall eines zehn Wochen alten Babys in Australien, das angeblich von Dingos aus dem Zelt verschleppt und getötet wurde. Die Überreste wurden nie gefunden und die Mutter des Kindes wegen Mordes verurteilt und später wieder freigesprochen.

 

Leichenfraß

In einigen Fällen wurden Leichen oder Leichenteile von vermissten Personen aufgefunden, die Bissspuren trugen. Waren sie von Wölfen getötet oder ihre Körper von den Tieren nur entdeckt und gefressen worden? In Zeiten von Kriegen, Seuchen und großen Hungersnöten vergrub man menschliche Leichen nicht sofort oder auch nicht sicher genug. Es ist daher durchaus möglich, dass Wölfe gemeinsam mit anderen Aasfressern von diesen Leichen gefressen haben. Ob diese an Menschenfleisch gewöhnten Raubtiere auch Menschen getötet haben, lässt sich nicht mehr nachweisen.

 

Berühmte historische Fälle

Europa hat eine lange Geschichte mit Wölfen. Einst waren sie fast überall verbreitet. Mit zunehmender Besiedlung der Dörfer, Zerstörung der Wälder und der Erfindung besserer, durchschlagsfähiger Waffen wurden auch die Beutetiere der Wölfe immer weiter zurückgedrängt. Als im 18. und 19. Jahrhundert die Populationen von Rot- und Schwarzwild den niedrigsten Stand erreicht hatten, waren die Wölfe gezwungen, sich von Nutz- und Haustieren zu ernähren. Dies führte zwangsläufig zu Konflikten und schließlich zur weitgehenden Ausrottung der Beutegreifer.

Einige historische Fälle von Wolfsangriffen gehören wegen der Anzahl der Opfer zu den spektakulärsten der Geschichte und haben wohl mehr als alle Gerüchte zur Angst vor dem Wolf beigetragen.

 

Frankreich: Die Bestie von Gévaudan

Über keinen Fall ist so viel geschrieben und veröffentlicht worden wie über die »Bestie von Gévaudan«. Von Juni 1764 bis Juni 1767 wurden angeblich über 100 Menschen in der Region von Gévaudan im südlichen Frankreich in einem Gebiet von circa 700 Quadratkilometer von einem Wolf getötet und gefressen. Der Pfarrer von La Besseyre sammelte Berichte von Augenzeugen und versuchte eine »wissenschaftliche« Beschreibung des Wolfes zu geben: »Das Tier hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Wolf, aber es gibt einige wesentliche Unterschiede. Dieser Menschenfresser bewegt sich nur in großen Sätzen und Sprüngen fort und lässt die Erde unter seinen Schritten erbeben. Rückwärts läuft er ebenso schnell wie vorwärts; er ist viel größer als ein Wolf, vor allem wenn er das Fell sträubt [...] An den Seiten hat er rötliche und schwarze Flecken, der Hals ist dick und sehr kurz, die Schnauze stumpf, der Kopf ist abgeflacht, und ein schwarzer Streifen zieht sich von den Schultern bis zur auffallend buschigen Schwanzspitze.« Mehrere Großjagden auf das Tier – teilweise mit über 20.000 Bauern und Soldaten – führten zu keinem Ergebnis. Dann wurde im März 1765 ein riesiger Wolf erlegt, der zahlreiche Narben und Kampfspuren aufwies. Überlebenden identifizierten ihn als den Gévaudan-Wolf. Mitte Oktober desselben Jahres wurde noch einmal eine Wölfin mit zwei Jungen getötet. Danach gab es eine kurze Ruhepause. Aber bereits ein halbes Jahr später kam es zu neuen Opfern. Erst als im Juni 1767 ein weiterer sehr großer Wolf getötet wurde, trat Ruhe ein. Auch dieser Wolf wurde beschuldigt, der Gévaudan-Wolf zu sein: In seinem Mageninhalt fand man menschliche Überreste. Einbalsamiert schickte man das Tier zum Hof nach Versailles. Sein Körper hatte sich aber bei seiner Ankunft bereits so zersetzt, dass eine weitere Untersuchung nicht möglich war – und der Jäger die ausgesetzte Belohnung nicht erhielt. Zwischen 1740 und 1767 wurden in Südfrankreich bei dem Versuch, die »Bestie« zu erlegen, 2.000 Wölfe getötet.

Über den Gévaudan-Wolf wird auch heute noch spekuliert. Es stellen sich zwei Fragen: War das Tier wirklich ein Wolf, und wurden die Menschen vom selben Tier getötet oder von verschiedenen Tieren?

Die offensichtliche Größe und Fellfarbe der getöteten Tiere ließen die Annahme zu, dass es sich um Wolfsmischlinge (der heute wissenschaftlich gebräuchliche Begriff ist »Hybriden«) gehandelt haben könnte, um Wölfe, die mit den Hunden der Schäfer gekreuzt worden waren. Weitere Theorien gehen von einer aus dem Zoo ausgebrochenen Hyäne aus oder in einigen Fällen sogar von einem Serienmörder. Im Laufe der Jahre sind die meisten untersuchenden Wissenschaftler jedoch zu der Überzeugung gekommen, dass die beiden Wölfe tatsächlich Hybriden waren, und dass einer oder mehrere von ihnen die Menschen getötet haben.

 

Finnlands Wolfsjahre

In der Fachliteratur immer wieder zitiert werden die »Wolfsjahre 1879 und 1882« in Finnland, in denen Wölfe in der relativ dicht besiedelten Gegend um Ǻbo 35 Kinder im Alter von zwei bis neun Jahren getötet haben sollen. Wieder einmal gab es groß angelegte Jagden, um die verantwortlichen Tiere zu töten. Im Januar 1882 wurde eine alte Wölfin mit schlechten Zähnen erschossen und zwölf Tage später ein erwachsener Wolf vergiftet. Danach kam es zu keinen weiteren Angriffen mehr.

 

Russland

Viele ehemalige russische Kriegsgefangene erzählen immer wieder von hungrigen Wölfen, die um ihre Lager in Sibirien geschlichen sein sollen. Diese Geschichten ähneln sehr der Erzählung von der russischen Troika. Es gibt jedoch keine Berichte, dass Wölfe tatsächlich auch Lager angegriffen haben.

1994 präsentierte Ilmar Rootsi von der Estnischen Naturkundlichen Gesellschaft auf einer Konferenz in Polen eine Studie mit dem Titel »Menschenfressende Wölfe im 19. Jahrhundert in Estland«. Darin wird von 108 Kindern und drei Erwachsenen berichtet, die von 1804 bis 1853 in Estland von Wölfen getötet worden sein sollen. Bei den Tätern soll es sich nicht um tollwütige, sondern um zahme Wölfe und Hybriden gehandelt haben.

Ob und in welchem Ausmaß Wölfe in der früheren UdSSR Menschen angegriffen haben, ist umstritten. Mivart berichtet, dass allein im Jahr 1875 in Russland insgesamt 161 Kinder von Wölfen getötet worden seien.

In seinem Buch »Wilk«, veröffentlicht 1990, widmet Michail Pawlow ein komplettes Kapitel der Gefahr, die Wölfe für Menschen darstellen können. Er beschreibt das Geschehen in Kirow, wo zwischen 1944 und 1950 22 Kinder im Alter von drei bis siebzehn Jahren von den wilden Kaniden getötet wurden. Pawlow hat die Theorie entwickelt, dass sich in manchen Rudeln einzelne, besonders aggressive Tiere befänden, die nach ersten gelungenen Angriffsversuchen auf die Zweibeiner, Menschen als leichte Beute erkennen und sich in Folge auf ihr Töten spezialisieren würden. Daher seien Wölfe überall dort gefährlich, wo sie hohe Aggressivität zeigten, wo ihre Population hoch sei und es wenig Beutetiere gebe. Diese Theorie ist äußerst umstritten. Die Verfasser des Linnell-Reports weisen darauf hin, dass Pawlow weniger Wissenschaftler als vielmehr Jäger und Wildhüter war, dass seine Aussagen daher nicht unvoreingenommen sein können. Pawlow habe sich auf einem »persönlichen Feldzug« gegen den Wolf befunden, um jedem zu zeigen, wie gefährlich diese Spezies sei.

Dennoch muss die außergewöhnliche und schwierige Situation in Russland nach dem Zweiten Weltkrieg in Betracht gezogen werden: Die ungewöhnlich hohe Wolfspopulation, der geringe Beuteanteil und die besonderen sozialen Bedingungen während oder nach dem Krieg (die Männer waren in der Schlacht und/oder es gab keine Waffen) könnten in isolierten Gebieten durch den verminderten Jagddruck und großen Hunger verstärkt zu Wolfsangriffen geführt haben. Da es diesbezüglich keine qualifizierten, wissenschaftlich überprüfbaren Daten gibt, konnte auch der Linnell-Report dem nicht weiter nachgehen.

Überwiegende Ursache für Wolfsangriffe auf Menschen in den vergangenen Jahrhunderten war die Tollwut. Tollwütige Wölfe waren – wegen der Größe und Gefährlichkeit ihres Bisses – in früheren Jahrhunderten ein erschreckendes Erlebnis, besonders bevor ein Impfstoff dagegen entwickelt worden war. Der Gebissene starb normalerweise einen langsamen, grausamen Tod. Es gibt zahlreiche Berichte von tollwütigen Wölfen und die Auswirkungen ihrer Bisse. Einmal wird geschildert, wie ein Mann zum Sterben an einen Baum gebunden wurde, weil er von der Tollwut extrem gewalttätig und gefährlich wurde. Solche Todesfälle hinterließen bei den Augenzeugen einen bleibenden Eindruck. Gelegentlich handelte es sich bei den Angreifern auch um Wolfshybriden.

Dennoch scheint es möglich, dass gesunde Wölfe in seltenen Fällen tatsächlich Menschen angegriffen haben, insbesondere wenn die Verfolgung der Wölfe lange Zeit nachgelassen hatte, weil – wie bereits erwähnt – die Männer im Krieg waren, wenn also Frauen und Alte allein und unbewaffnet zu Hause geblieben waren und die Kinder das Vieh hüten mussten, wenn in Zeiten von Kriegen, Seuchen und Hungersnöten menschliche Leichen nicht sogleich oder nicht sicher genug vergraben wurden oder wenn den Wölfen andere Beute fehlte und sie sehr hungrig waren.

Mit der besseren Bewaffnung und radikalen Verfolgung wurden jedoch die Wölfe aus den dicht besiedelten Gebieten zurückgedrängt, und die Berichte über menschenfressende Wölfe ließen nach.