Warum greifen Wölfe nicht an?

Bevor wir uns fragen, ob und warum Wölfe Menschen angreifen, sollten wir uns die wichtigste Frage stellen: Warum greifen sie uns nicht an?

Wenn ich sehe, wie ein Rudel Wölfe einen tonnenschweren kräftigen Elch niederreißt oder ein einzelner Wolf mit Leichtigkeit den Kopf eines Hirschen zerknackt, dann frage ich mich, warum wir, die wir doch so leichte Beute für sie wären, nicht von ihnen angegriffen werden.
Der amerikanische Biologe Douglas Pimlott erklärt das mit dem Respekt des Wolfes vor dem Menschen auf der Grundlage der Körpersprache: »Wölfe haben die instinktive Fähigkeit, Aggression oder Angst zu erkennen, die sich auf unterschwellige Weise durch unser Verhalten oder unsere Taten ausdrücken. Wir bewegen uns bewusst so wie viele Beutegreifer. Selbstbewusst streifen wir durch Wald und Feld, so wie ein Wolf, der auf der Suche nach Nahrung sein Revier durchquert.« Nach Ansicht von Pimlott können unsere Verhaltensmuster den Wölfen zu verstehen geben, dass wir gleichgestellte Jäger sind – nicht Beute.

Der Wolfsforscher Dave Mech sieht einen weiteren Grund für die Vorsicht des Wolfes gegenüber dem Menschen darin, dass Menschen aufrecht gehen, was kein Beutetier des Wolfes tut. Auch stehen Bären manchmal auf ihren Hinterbeinen, und Bären versucht der Wolf möglichst zu meiden.

Einen dritten wichtigen Faktor führt der kanadische Wolfsforscher Dick Dekker an: die tödliche »Durchschlagskraft« menschlicher Waffen. Dies müssen nicht nur die heutigen Schusswaffen sein. Auch die Speere und Lanzen, die schon unsere Urahnen in der Steinzeit fertigten, sind bei entsprechender Übung erschreckend effiziente Tötungsmittel.

Ein weiterer Grund, warum Wölfe keine Menschen angreifen, könnte in der Jagdmethode der Beutegreifer begründet sein. Im Gegensatz zu Katzen, die sich an ihr Opfer heranschleichen, benötigen Kaniden für die Jagd einen Auslösereiz in Form eines fliehenden Tieres. Erst diese Flucht setzt die Verfolgung durch die Beutegreifer in Gang. Wir Zweibeiner passen einfach nicht in dieses Beuteschema. Dies ist übrigens auch der Erfolg von Lamas als Herdenschutztiere. Auf dieses Thema gehe ich im Kapitel »Wölfe und Nutztiere« noch näher ein.

Die Angst vor uns ist tief in die Gene der Wölfe eingebettet und wird von Generation zu Generation weitergegeben. Wölfe, die Menschen nicht gemieden haben, sind gestorben. Die Europäischen Wölfe gehören zu den scheuesten Kaniden – gerade, weil sie so viele Jahre verfolgt wurden. Weniger ängstlich sind die nordamerikanischen Wölfe, und von diesen die Arktischen Wölfe, die keine Verfolgung durch den Menschen kennen.

Wilde Wölfe, die Menschen angreifen, sind äußerst selten, und fast immer ist der Mensch selbst der Grund für einen solchen Angriff. Auf diese Gründe werde ich noch im Einzelnen eingehen.

Tatsache ist, dass Canis lupus extrem scheu ist und uns meidet. Wir aber drängen massiv in seinen Lebensraum ein und schränken seine Möglichkeiten ein, Beute zu machen. Stellen Sie sich vor, ein wildfremder Mensch zieht mit seiner kompletten Familie plötzlich in Ihr Haus, plündert Ihren Kühlschrank und macht sich es in Ihren Betten bequem. Was würden Sie tun? Die Toleranz und Anpassungsfähigkeit der Wölfe ist ungeheuer groß. Und es ist erstaunlich, dass es bisher noch nicht zu viel mehr Angriffen auf Menschen gekommen ist. Die Frage ist, wie viel können wir einem wilden Beutegreifer noch zumuten, bevor er anfängt, sich zu wehren?