5. Praktische Arbeit mit diesem Buch

 

Die folgenden Zeilen richten sich an diejenigen, die sich auf das Abenteuer »Selbsterfahrung mit Märchen« einlassen wollen.

 

Die Arbeit mit inneren Bildern, Imaginationen und Traumreisen spricht direkt dein Unbewusstes an und stößt dort oft Entwicklungsprozesse an, die du vorher nie geahnt hättest und bewusst so nicht gewollt hast. Immer wieder erzählen mir Gruppenteilnehmer, wie sehr ihnen eine bestimmte Geschichte (oder auch nur eine Szene oder Gestalt daraus) noch tage-, wochen- oder monatelang nachgegangen ist.

 

Und – so wertvoll das Material ist, das die »Märchen-Hebammen« ans Tageslicht bringen, so unangenehm oder Angst machend kann das manchmal sein. Also sei bitte achtsam im Umgang mit den folgenden Anregungen. Die Wirkung der Geschichten ist zwar subtil, kann aber sehr machtvoll sein – unterschätze sie nicht!

 

Erste Empfehlung: Solltest du ein Märchen nicht nur lesen, sondern erleben wollen, such dir jemanden, der es dir vorliest. Dies kann auch zu mehreren – oder wie bei mir – in größeren Gruppen geschehen. Ich rate dem Zuhörer, die Augen zu schließen – dann wird erfahrungsgemäß das Ohr »größer«.

 

Beim Hören der Geschichte ist es ratsam, den denkenden Kopf ganz weit wegzuschicken, sich vorzustellen, man könne diese Geschichte »mit dem Herzen hören«.

 

Während du nun der Geschichte lauschst, spüre nach, welche Szene dich am tiefsten berührt, welche sozusagen deine Szene ist. Denk nicht darüber nach, lass dein Herz entscheiden.

 

Ist die Geschichte zu Ende gelesen, folgt in meiner Gruppenarbeit– bei weiterhin geschlossenen Augen – eine erste Imagination: »Lass diese Szene vor deinem inneren Auge entstehen, lass sie ablaufen wie einen Film, und schau dir diesen Film an.« Allein dieses »innere Kino« ist oft schon spannend genug.

 

Jetzt kann die Fährtensuche weitergehen: Welche Gestalt in deiner Szene ist dir jetzt die wichtigste, der/die Hauptdarsteller/in für dich? Das muss nicht eine menschliche Gestalt sein, es kann auch eine Fee sein, es kann ein Baum, eine Pflanze, es kann der Wind oder das Feuer sein. Alles ist erlaubt.

 

Wenn du noch weitergehen möchtest, kannst du dir vorstellen, in die Haut dieser Gestalt hineinzugehen, mit ihr zu verschmelzen. Dann spüre, wie sich das anfühlt: Welche Stimmung, welches Gefühl, welche Energie ist jetzt in dir? Wo fühlst du deinen Körper am deutlichsten? Es klingt vielleicht unwahrscheinlich, aber ich habe viele Menschen in meinen Gruppen erlebt, die teilweise sogar extrem körperlich reagiert haben, wenn sie sich in der Haut ihrer Gestalt erlebt haben. Häufig erhält man so auch wertvolle Hinweise auf die Natur oder Ursache von Krankheiten oder körperlichen Beschwerden.

 

Empfehlenswert ist immer, dir Notizen zu machen über deine Bilder, Gedanken und Gefühle, die gerade da sind, solange alles noch »frisch« ist. Es ist häufig so, dass im Unmittelbaren die Szene nur Kopfschütteln hervorruft: Warum gerade diese Szene oder diese Gestalt? Lese ich dann meine Notizen ein paar Tage oder Monate später, kann mir eine plötzliche »Erleuchtung« widerfahren, können Zusammenhänge deutlich werden.

 

Nun kannst du zum Beispiel diese Gestalt oder ein wichtiges Bild aus deiner Szene malen. Du kannst diese Gestalt körperlich darstellen, du kannst eventuell mit anderen die gesamte Szene theatralisch darstellen oder eine andere Ausdrucksmöglichkeit suchen.

 

Wichtig ist auf alle Fälle: Jede Gestalt, die dir in solch einer Imagination begegnet, ist in dir. Wenn sie nicht in dir wäre, könntest du sie nicht sehen. Du begegnest immer nur dir selbst! Deshalb gibt es in meinen Gruppen an dieser Stelle immer eine Runde, in der jeder Teilnehmer sich als seine Gestalt in seiner Szene vorstellt, zum Beispiel: Ich bin Schneewittchen im gläsernen Sarg oder der Wolf, der Rotkäppchen verfolgt, oder die Schöne, die das Ungeheuer umarmt, oder der Frosch der an die Wand geworfen wird, oder der Königssohn, der voller Tatendrang das alte Königreich verlässt.

 

Nun kann ich damit beginnen, diese Märchensituation auf das »richtige Leben« zu übertragen. Was bedeutet es zum Beispiel, wenn ich mich als Schneewittchen im Glassarg erlebe? Dann bin ich in der Regel in einer Lebenssituation, in der ich abgeschnitten bin von meiner Lebendigkeit. In der ich nicht mehr wirklich am Leben teilnehme, blutleer geworden bin.

 

Wenn ich mich dagegen als den Königssohn erlebe, der gerade das alte Königreich verlässt, befinde ich mich vermutlich innerlich in einer Aufbruchsphase. Umarme ich gerade das Ungeheuer, bin ich vielleicht gerade dabei, mich mit der »ungeheuerlichen« Energie meiner Leidenschaft und Sexualität anzufreunden. Werde ich als Frosch von der Prinzessin an die Wand geworfen, ist mit Sicherheit ein Beziehungsthema hochaktuell.

 

Wenn du diese Bilder für dich nutzen willst, ist es wichtiger, dir deine Interpretation zu erlauben, als die Szene richtig zu deuten. Natürlich ist es interessant, die Szene »Schneewittchen im Sarg« im Gesamtzusammenhang des Märchens zu verstehen: Die böse Stiefmutter hat Schneewittchen den vergifteten Apfel angedreht. Aufs wirkliche Leben übertragen: Es gibt Mütter, die neidisch auf die Schönheit und Attraktivität heranwachsender Töchter sind und deren Weg zu Erotik und Männerbeziehungen »vergiften«.

 

Die logische Frage, die man sich nun stellen kann, wäre etwa: Wer hat mir den vergifteten Apfel gereicht, wann war das und warum? In einem sexualfeindlichen Familienklima beispielsweise gibt es regelmäßig solche Äpfel zu essen (auch für Männer!), und dann findet man sich als Erwachsener oft in der Unberührbarkeit und Leblosigkeit des Glassarges wieder. Im Kontext des Märchens also ist diese Glassarg-Situation sicherlich problematisch – der Fluch der »dunklen Mutter« ist für Schneewittchen lebensbedrohlich geworden.

 

Nun habe ich aber erlebt, dass Gruppenteilnehmern diese Szene für sich als durchaus positiv erleben können: Wenn jemand sich etwa in einer Lebenssituation befindet, in der er/sie sich gestresst, überfordert, von Erwartungen anderer überschwemmt fühlt, kann geradezu eine Sehnsucht nach dem gläsernen Sarg entstehen: Dann wird dieser ein kraftvolles Symbol für Rückzug, notwendige Distanz, meditative Stille und Klarheit! Wenn also jemand den Sarg im Moment als positiv erlebt, hat er in seinem Sinne Recht – es wäre nicht sinnvoll, ihm seine Sichtweise ausreden zu wollen.

 

Es ist ja gerade das Faszinierende, dass ein und dasselbe Märchen, ein oder dieselbe Szene oder Gestalt so unendlich verschieden erlebt werden kann – und auch erlebt wird. Die persönliche Fährtensuche lebt geradezu von dieser individuellen Sichtweise. Manchmal erzählen Gruppenteilnehmer mit absoluter Überzeugung von Szenen oder Worten, die in der Geschichte gar nicht vorkommen oder überhören konsequent zentrale Motive (»Was, in der Geschichte kommt ein gläserner Sarg vor? Kann nicht sein!«).

 

Wenn ich nun sehe, dass ich eine offensichtlich für die Geschichte bedeutsame Szene einfach überhört habe, dann kann ich mich fragen, weshalb das so ist. Die erste Möglichkeit: Ich »brauche« diese Szene nicht, sie hat zumindest im Moment keine Bedeutung für mein Leben, anderes ist mir wichtiger. Die zweite Möglichkeit: Gerade diese Szene ist eigentlich meine, aber jemand in mir will nicht hinschauen, sei es aus Angst, Scham oder Trotz. Schau dir selbst zu: Wie ehrlich darfst du mit dir sein bzw. wie sehr musst du dich selbst (noch) austricksen?

 

Weitere Hinweise könnten folgende Fragen geben: Bin ich in einer männlichen oder weiblichen Gestalt zu Hause, ist also zur Zeit eher meine männliche oder weibliche Energie gefragt? Bin ich in einer eher hellen oder dunklen Gestalt zu Hause? Ist eher meine lichte oder meine Schattenseite dran? Bin ich – auf das Märchen bezogen – in der Anfangsszene zu Hause, irgendwo in der Mitte oder ganz am Schluss? Bin ich also eher am Anfang einer neuen Lebensphase, eher mittendrin oder geht ein Lebenszyklus gerade zu Ende, wird etwas abgeschlossen? Was kam im Märchen vor meiner Szene, was folgt ihr? Was habe ich – symbolisch gesehen – hinter mir? Welche Herausforderung wird die nächste sein?

 

Teilnehmer, die schon seit Jahren meine Gruppen besuchen, haben das eine oder andere Märchen schon öfter gehört und haben in der Regel festgestellt, dass sie durch die Geschichte »wandern«. Man springt ja nie zweimal in den gleichen Fluss. Höre ein Märchen heute, du wirst es mit anderen Ohren hören als in einem Jahr, in zwei Jahren, in fünf Jahren. Wenn du die Entwicklungsschritte des Märchenhelden auf dein Leben überträgst, wirst du hochinteressante Parallelen finden.

 

Eine weitere Möglichkeit der Fährtensuche – die ich oft verwende– ist die Reise in die Vergangenheit. Du kannst dir die Frage stellen: Wie alt ist diese Szene beziehungsweise das dazugehörige Thema in deinem Leben? Vielen Teilnehmern fällt spontan eine Jahreszahl ein oder ein bestimmtes Lebensalter: drei Jahre, fünf Jahre, acht Jahre, zwanzig Jahre. Manche haben auch das Gefühl, diese Szene noch weiter zurückdatieren zu müssen, als ob ihnen dieses Thema seit Urzeiten und nicht erst aus diesem Leben bekannt wäre.

 

Nun kannst du zum Beispiel – am besten auch wieder mit geschlossenen Augen – das Rad der Zeit zurückdrehen bis zu dem Zeitpunkt, als diese Szene, dieses Thema in dein Leben kam, dich sozusagen »erinnern«, Bilder von damals vorüberziehen lassen. Wann hat das alles angefangen, was war damals?

 

Jetzt kommt vielleicht das Wichtigste: der Botschaft dieser Geschichte nachzuspüren. Wenn du lange genug in der Vergangenheit verweilt bist und vielleicht Hinweise bekommen hast auf den lebensgeschichtlichen Hintergrund deiner Szene, dann dreh das Rad der Zeit wieder nach vorne, bis hin zum heutigen Tag, und spür nach: Warum gerade heute diese Geschichte, diese Szene, diese Gestalt? Was »will« diese Geschichte von dir? Welche Botschaft an dich ist verborgen in dieser Geschichte? Was ist also »dran« in deinem Leben? Wohin geht deine Reise?

 

Diese Botschaft, Aufforderung, vielleicht auch Warnung, ist immer »von dir an dich« gerichtet. Du bist sozusagen dein eigener Guru. Niemand von außen erzählt dir, was du zu tun oder zu lassen hast. Du erzählst es dir selbst.

 

Aus mindestens zwei Gründen ist mir diese Art der Arbeit so wichtig geworden. Erstens: Weil unser Verstand in der Regel viel zu hochmütig ist, als dass er die Botschaften aus der inneren Welt ernst nehmen würde (es sind ja »nur« Märchen). Zweitens: Weil wir sehr oft so verunsichert sind durch die klugen, gescheiten und wichtigen Menschen, die Zeigefinger und Richter um uns herum, dass wir uns nicht mehr trauen, unsere eigene, innere Wahrheit ernst zu nehmen.

 

Die Botschaften eines Märchens ernst zu nehmen, heißt aber auch, dich selbst ernst zu nehmen, heißt auch, ein Selbstvertrauen zu bekommen, das von innen und nicht durch Bestätigung von außen kommt. Du wirst feststellen: Es gibt jemanden in dir selbst, der für dich sorgt. Nenne es »Innere Führung«, »Höheres Selbst«, Weisheit des Unbewussten oder wie auch immer. Das Wichtigste an dieser Arbeit ist die Möglichkeit, dich an diese Innere Führung (wieder) anzuschließen. Dies ist – in meinen Augen – der spirituelle Aspekt der Märchenarbeit.