4.3. Vom versteinerten Prinzen und der traurigen Prinzessin
 

»Erzähle mir, Lotosblüte, von dem berühmten Königreich Pajajaran! Singe mir, Palmwedel, vom versteinerten Prinzen auf dem Berg Sawal! Berichte, Muskatblüte, sprecht, Pfefferstrauch und Teezweig! Erzählt mir vom Leid der Prinzessin Dewi Ngalima.«

 

»Ich will sprechen, ich, die Lotosblüte: Die alten Könige sind ausgestorben, die Zeit des blühenden Reiches Pajajaran ist für immer dahin. Nur die Prinzessin Dewi Ngalima weint noch in den Nächten. Das erzähle ich euch! Ich, die erste unter allen Blüten.«

 

»Hört auch meine Worte! Wer die heilige Ordnung verletzt, bringt sich und anderen Unglück. Die Fehler der anderen beweint die Prinzessin Dewi Ngalima. Das sage ich euch, der grüne Teezweig!«

 

»Nur still, meine Schwestern! Still, lauscht nur mir! Jetzt erzähle ich, der Palmwedel.«

 

Es war einmal ein König, und es gab auch einmal ein Königreich, das hieß Pajajaran. In der Nacht schlief der König, und am Tag regierte er. So war es Gesetz. Nach dem Willen der Götter thronte der König auf einem Königsstuhl aus heiligem Gestein, und den Thron behüteten die guten Geister vom Gebirge der Heiligen. Es war ein verwunschener Thron, der Thron des Reiches Pajajaran. Wenn sich irgendein anderer auf diesem Königssitz niederlassen wollte, traf ihn der Fluch der Götter. So lautete ihre Botschaft, so war es ihr Wille.

 

Der Herrscher dieses erwählten Volkes hatte eine Tochter, die liebliche Dewi Ngalima. Sie wurde aus dem Duft der Zimtblüte und dem Kuss des Lichts geboren. Wenn die Prinzessin lachte, flog ein gelber Schmetterling aus ihrem Mund. Wenn sie sang, erblühten die Orchideen, und wenn sie traurig war, weinte sie schwarze Reiskörner. Jedermann im Reich liebte sie wie sein eigenes Kind und verehrte sie wie eine Göttin.

 

Den hohen Göttern des Landes gefiel es, Dewi Ngalima in Versuchung zu führen. Schuld daran war allein die Liebe. Auf den Flügeln lieblicher Träume sandten sie ihr das Bild des Königssohns aus dem Land des Jasmintaus zu und zauberten den Duft seines Atems in die Blüten des Palastgartens. Auf kristallklaren Wellen schwammen seine Lippen zum Mund der lieblichen Prinzessin Dewi Ngalima, und sein silbernes Boot furchte die Wellen des nächtlichen Sternenmeeres. Der Prinz und die Prinzessin liebten einander sehr. Aber Dewi Ngalimas Vater, der erhabene König des heiligen Reiches Pajajaran, hatte sie bereits dem bösen König von Tschirebon, einem mächtigen Zauberer, versprochen. Er achtete nicht darauf, dass die Prinzessin schwarze Reiskörner weinte und hatte für ihren Schmerz nur taube Ohren.

 

Da kam eines Tages ein eigenartiger Vogel in den Garten des Palastes geflogen, den noch niemand vorher erblickt hatte. Er trug einen Fischkopf, hatte einen Vogelkörper, eine Schlangenhaut und die Flügel eines großen Schmetterlings. Wer ihn sah, erstarrte vor Grauen. Dieser merkwürdige Vogel sprach zum König: »Erhabener Radscha, Beherrscher des Königreiches Pajajaran! Verbinde nie den Vogel mit dem Fisch, den Schmetterling mit der Schlange, die Zitrusblüte mit der Pest von Tschirebon. Sonst wird der Königssohn aus dem Reich des Jasmintaus dein Reich vom Erdboden fegen.«

 

»Wer bist du?«, fragte der König, und der Vogel erwiderte: »Ich bin dein böser Traum, König!«

 

Der erhabene Herrscher des Königreichs Pajajaran erschrak. Gleich am folgenden Tag schickte er Boten ins Land des Jasmintaus und ließ ausrichten, dass er entschlossen sei, dem Königssohn seine Tochter, die liebliche Dewi Ngalima, zu vermählen. Im Stillen aber überlegte er, wie er den Königssohn aus der Welt schaffen könnte, da er dem König von Tschirebon, dem mächtigen Zauberer, sein Wort gegeben hatte. Da rieten ihm die bösen Geister der traumlosen Nacht: »Führe den Königssohn in deinen Palast und setze ihn auf den verwunschenen Thron. Dann wird ihn der Fluch der Götter treffen und Unglück ereilen.«

 

Zum Dank für diesen schändlichen Rat bewirtete der König die bösen Geister mit Palmwein. Kaum hatte der Prinz im Land des Jasmintaus die Botschaft vernommen, begab er sich auf die Reise nach Pajajaran. Er zog Tag und Nacht mit seinem Gefolge über Berg und Tal, über Seen und Flüsse, immer den Klängen der feierlichen Gamelan-Musik nach. Vor ihm tanzten dunkeläugige Mädchen und streuten bunte Blumen auf seinen Weg.

 

Die schönste Blüte hob der Königssohn auf und wollte sie seiner Braut mitbringen. Als er sie jedoch mit seinem Atemhauch streifte, verwandelte sich die Blume in eine weiße Taube und ließ sich auf seinem Haupt nieder. »Hüte dich, die Gesetze des Landes und den Willen der Götter zu verletzen: Setze dich nicht auf den Thron der Könige von Pajajaran, sonst wird dich ein Fluch treffen!«, warnte sie den Prinzen.

 

»Wer bist du?«, fragte er. »Ich bin dein guter Traum«, erwiderte die Taube und flog zum Himmel empor.

 

Der Königssohn zog weiter, bis er endlich ins Reich Pajajaran gelangte. Der alte König empfing ihn mit allen Ehren, wie es sich für den edlen Bräutigam einer Königstochter geziemte. »Mein Sohn«, sprach er ihn heuchlerisch an und wies auf den steinernen Thron, »setze dich auf den heiligen Königsstuhl von Pajajaran! Du bist mein geliebter Nachfolger.«

 

Bei diesen Worten erstrahlte auf dem Antlitz der lieblichen Prinzessin Dewi Ngalima ein glückliches Lächeln, und ihrem schönen Mund entflog ein gelber Schmetterling. Der Prinz aber hatte die Warnung der weißen Taube nicht vergessen und lehnte höflich ab.

 

»Mein hoher Gebieter, ich bin noch nicht der Herrscher dieses Landes und habe kein Recht, auf dem heiligen Thron von Pajajaran zu sitzen!«

 

Des Königs Antlitz verdüsterte sich, doch drang er nicht weiter in den Prinzen. Vor der Hochzeitszeremonie aber führte er den Königssohn noch einmal vor den steinernen Thron.

 

»Hier ist dein Platz, edler Prinz«, sprach er feierlich. »Von diesem Platz aus wirst du an meiner Seite über das Reich herrschen, das wir durch die Gnade der Götter Pajajaran nennen dürfen. Setze dich auf den geheiligten Thron, mein Sohn!«

 

Da vergaß der Jüngling die Warnung der Taube und ließ sich stolz auf dem erhabenen Stuhl nieder. Kaum hatte er jedoch Platz genommen, da zog ein furchtbares Gewitter herauf, und im ganzen Palast erklangen angsterfüllte Klagen.

 

»Die Prinzessin Dewi Ngalima ist verschwunden! Man hat die Prinzessin entführt!«

 

Niemand achtete darauf, dass in diesem Augenblick ein gelber Schmetterling in den Flammen einer Fackel verbrannte. Niemand aber auch vermochte dem Königssohn zu sagen, wo seine Braut geblieben war. Nur ein alter Fischer entsann sich später, am Firmament den Schatten eines fallenden Pferdes erblickt und ein spöttisches Rufen gehört zu haben: »Der Fluch erfüllt sich! Unglücklich ist jener, der den heiligen Thron der Könige entweiht.« Der Fischer gab dem Prinzen auch ein paar schwarze Reiskörner, die wie Tränen oder Regentropfen in sein Boot gefallen waren.

 

Der verzweifelte Königssohn wusste sich keinen Rat mehr. Da kreiste über seinem Haupt eine weiße Taube und rief: »Überschreite den Fluss der Erhabenen und besteige den heiligen Berg, auf dem die mächtigen Götter ihre Pferde satteln.«

 

Der Prinz tat, wie ihm geheißen worden war. In Windeseile ritt er dem Gebirge entgegen, von dessen Höhe Blitze niedersausten. Er fühlte nicht, wie lange er reiten musste. Als er den Fuß des heiligen Berges erreicht hatte, trat ihm ein erhabener Greis in den Weg, der mit großen Zauberkräften begabt war. »Wer wagt es, die heiligen Rechte der Götter anzutasten?«, grollte er, und der Boden unter seinen Füßen erbebte.

 

»Mein Vater«, bat der unglückliche Königssohn, »du, der die Geheimnisse der Götter hütet, der in Einsamkeit und Entsagung Zauberkräfte erworben hat, führe mich in den Stall der geflügelten Pferde. Ich will mein Liebstes, die Prinzessin Dewi Ngalima, finden. Sieh, wie sie um meinetwillen weint!« Und er wies dem Greis die geöffnete Hand mit den schwarzen Reiskörnern.

 

Das Antlitz des Greises verfinsterte sich »Wer die Ordnung missachtet, muss büßen. Du hast das uralte Gesetz des Königreichs Pajajaran verletzt. Du hast gegen den Willen der Götter gehandelt. Deinen Schritten folgt nun der Fluch.«

 

»Ach, Vater!«, bat der Prinz, »du, der die Zärtlichkeit einer irdischen Mutter kennen lernte, du, der die süßen Früchte der Erde kostete, hast du denn schon alles Menschenleid vergessen? Führe mich zu den geflügelten Pferden, die von den erhabenen Göttern gesattelt werden. Die Prinzessin Dewi Ngalima weint um mich!«

 

Der Greis schüttelte verneinend den Kopf. »Die Ställe sind leer, Prinz. Die Götter zogen gegen die Dämonen des Windes zu Feld. Nur der heilige Adler Garuda, der geflügelte Rappe des höchsten Gottes Wischnu, kreist über den Gipfeln der Berge.«

 

»Dann rufe mir den heiligen Adler!«, bat der Königssohn.

 

Der Greis wich entsetzt zurück. »Ich will deine vermessenen Worte nicht gehört haben! Dein Leid ist größer als deine Klugheit. Doch damit du erkennst, dass ich die Tränen meiner Mutter noch nicht vergessen habe, will ich dir helfen. Schließe deine Augen!«

 

Als der Königssohn nach einem Weilchen um sich blickte, sah er, dass seinem Ross Flügel gewachsen waren. Er wollte dem Greis danken, doch der war verschwunden. Nur vom heiligen Berg zuckten Blitze herab. »Wer schuldig wurde, muss büßen«, grollte der Berg.

 

Der Prinz schwang sich aufs Pferd und erhob sich in die Lüfte. Tag und Nacht flog er auf seinem geflügelten Ross über Meer und Inseln. Immer wieder rief er seine Braut Dewi Ngalima, seine verlorene Liebe. Als er sich eines Tages dem Gipfel des Berges Sawal näherte, kreiste über seinem Kopf eine weiße Taube. »Hüte dich, mit den Geistern zu sprechen, Prinz!«, rief sie ihm zu. »Erhebe dein Schwert nicht gegen die Unsichtbaren, und beleidige sie auch nicht mit bösen Worten, sonst wird sich der Fluch erfüllen. Hüte dich, Prinz, vor dem Berg Sawal, dem Berg der Unsichtbaren!«

 

Der Königssohn jedoch missachtete die Warnung. Irgendetwas lockte ihn zu dem düsteren Berg, irgendjemand rief ihn aus den schwarzen Schründen.

 

»Wo bist du, Dewi Ngalima, wo bist du, meine Liebste?«, klagte er weinend.

 

»Sie verwandelte sich in eine weiße Taube, in jene Taube mit dem weißen Streifen auf dem Schöpf«, hörte er es von irgendwoher rufen. Der Prinz schaute in die Tiefe und erblickte am Fuß des Berges einen Haufen hässlicher Greise, die ihm zuwinkten. Es waren jedoch keine Menschen, sondern Geister. Der Prinz flog zu ihnen.

 

»Wo ist Dewi Ngalima, meine Braut?«, forderte er von ihnen.

 

»Sie wurde eine Himmelsfee und flog zu den Sternen«, lachte einer von ihnen meckernd.

 

»Sie grinst im Fell des Tigers aus dem Dschungel«, spottete ein anderer. Ein Dritter begann zu höhnen: »Das ist alles nicht wahr: Sie verwandelte sich in einen Zwergbock!«

 

»Ihr irrt euch! Sie ist ein Fisch und durchpflügt die Wellen«, meinte ein Vierter aus der Geisterrunde.

 

Doch der älteste und hässlichste Greis brachte alle anderen zum Schweigen: »Ich weiß es am besten, Prinz: Sie wurde zu einem Frosch, der sich in eine hässliche alte Hexe verwandelte, die einen Echsenschwanz und Krebsscheren hat.«

 

»Die alte Hexe haben wir erschlagen und in die tiefste Schlucht geworfen!«, lachten ihn die Geister hämisch aus, »so ist das, nun weißt du es!«

 

Als der Prinz die grausamen Worte der Alten vernahm, geriet er in Wut, zog seinen Zauberkreis mit der gewellten Klinge und schlug den Geistern allesamt die Köpfe ab. Ihre Körper verwandelten sich sofort in Felsen, aber ihre Köpfe rollten in den Abgrund und lachten höhnisch: »Wer in Wut entbrennt, dessen Tränen fließen. Wer selbst schuldig wird, muss dafür büßen!«

 

Der Königssohn war selber entsetzt, weil er so unbeherrscht gewesen war, und er bat die Götter um Vergebung. Aber der Himmel schwieg. Da stürmte er über Stock und Stein zum Gipfel des Berges Sawal hinauf, des Berges der Geister und Unsichtbaren.

 

»Wo bist du, Dewi Ngalima, meine verlorene Liebe?«, schrie er verzweifelt.

 

Da sprang eine abscheuliche alte Hexe aus dem Gebüsch hervor. Sie hatte einen Echsenschwanz, eine Schlangenzunge und Krebsscheren. Dieses Ungeheuer umarmte den Prinzen und versuchte ihn zu küssen. »Ich bin es, Dewi Ngalima, deine Braut! Hast du mich denn ganz und gar vergessen?«, zischte die Hexe.

 

Der Prinz war starr vor Abscheu und Grauen. »Du willst Dewi Ngalima, mein guter Stern, meine Morgenröte, sein? Wie könntest du dich so verwandelt haben! Weiche von mir, Ungeheuer, sonst reiße ich dir dein Herz aus dem Leib!«

 

Da zog sich ein wildes Gewitter zusammen, und der Berg begann Feuer zu speien. »Wehe dir, Prinz aus dem Land des Jasmintaus! Du hast die Geister beleidigt. Der Fluch hat sich erfüllt«, rief die alte Hexe aus, schwang sich auf das Ross des Prinzen und flog durch die Lüfte davon. Der Königssohn wollte sie zurückhalten. Doch er vermochte sich nicht mehr von der Stelle zu rühren. Sein ganzer Körper erstarrte allmählich und verwandelte sich in schwarzes Gestein. Nur seinem Mund entfloh noch ein schwacher Hauch, der traf eine einsame Knospe. Sie entfaltete sich daraufhin und gab Dewi Ngalima, die Prinzessin aus dem Reich Pajajaran, frei.

 

»Warum kamst du in dieses verwunschene Land, mein Prinz?«, fragte sie traurig. »Warum widersetztest du dich den Unsichtbaren und den Gesetzen der Götter?«

 

»Ich suchte dich, Liebste …«

 

Das waren die letzten Worte des Prinzen aus dem Land des Jasmintaus. Dann verwandelte er sich in eine bewegungslose Statue. Die Prinzessin Dewi Ngalima aber begann bitterlich zu weinen, und aus ihren Augen tropften erneut schwarze Reiskörner. Niemals mehr versiegten ihre Tränen. In mondhellen Nächten sitzt sie noch heute auf diesem oder jenem Friedhof unter einem buschigen Waringin-Baum und näht ein Totenhemd für den Prinzen aus dem Land des Jasmintaus. Sie näht und näht, aber sie wird ihre Arbeit niemals beenden. Wenn der Sturmwind über die Inseln heult, sagen die alten Leute: »Hört ihr das Klappern eines Webstuhls? Da webt Dewi Ngalima! Hört ihr das Schluchzen aus der Dunkelheit? Da weint die unglückliche Prinzessin!« (MÄRCHEN AUS INDONESIEN)

 

4.3.1. Überlegungen zum Märchen
 

Auch dieses Südseemärchen zeigt am Anfang den König ohne Königin. Dieser König regiert am Tag und schläft in der Nacht. Dies scheint belanglos, oder doch nicht? Wenn man aber bedenkt, dass es in vielen Märchen geradezu lebenswichtig ist, nachts wach zu bleiben, eine Nachtwache nicht zu verschlafen, dann bekommt diese simple Tatsache doch eine Bedeutung. Im indischen Märchen „Der Schlangenprinz“ schneidet sich die Prinzessin mit einem Messer in den Finger und streut Salz in die Wunde, um durch den Schmerz wach gehalten zu werden, nur um nachts nicht einzuschlafen. Und dadurch kommt sie auf die Spur ihres verlorenen Geliebten.

 

Nachts schlafen kann also auch bedeuten, die Anbindung an die Botschaften des Unbewussten zu verpennen, den Bezug zum Reich der Mütter, zur Nachtwelt des Mondes abzuschneiden. Bei einem König ohne Königin ist das sicherlich nicht verwunderlich.

 

Nun ist die Rede von der wunderschönen Prinzessin, der Tochter dieses Königs, eine absolute Lichtgestalt, sehr blumig geschildert. Ein erfahrener Märchendeuter wird hier schon misstrauisch. Wird eine Gestalt so ausschließlich licht dargestellt, braucht man nur auf die entsprechend hässliche Hexe zu warten, die ja auch prompt ein paar Seiten später auftaucht.

 

Dieser Problematik liegt sicherlich zugrunde, dass der männlich-patriarchale Vatergeist die dunkle Seite des Weiblichen immer gefürchtet hat. Deswegen wurden ja Scheiterhaufen errichtet. Das Grosse Weibliche wurde gespalten in Maria und Hexe, oder auch Himmelskönigin und Unterweltgöttin. Maria wurde verehrt, die Hexe verbrannt. Das Weibliche – wie jeder Archetyp – existiert aber nun mal in der Polarität, vollständige Weiblichkeit umfasst beide Pole.

 

Und will ein Mann eine vollständige Beziehung zum Weiblichen entwickeln, will beides eingeladen werden. Natürlich auch die innere Hexe! Wenn ein Mann eine weibliche Seele (Anima) hat, dann muss er sich auch mit deren dunkler Seite auseinandersetzen. Mein alter Freund Helmut Remmler hat einmal einen Vortrag gehalten mit dem Titel: »Die Hexe im Mann«. Märchen erzählen auf jeweils unterschiedliche Weise, dass man auf dem Weg zur Liebe beiden Gesichtern des Weiblichen begegnen muss. Du bekommst die schöne Prinzessin nicht, ohne der Hexe begegnet zu sein. Und will eine Frau vollständig werden, muss sie Maria und die Hexe in sich kennen und lieben lernen.

 

Nun hat dieser König seine Tochter einem bösen Zauberer versprochen. Im Patriarchat ist es üblich, dass Könige oder Väter ihre Töchter verheiraten und damit über die Partnerwahl der Tochter bestimmen. Das kann manchmal sehr direkt, manchmal aber auch indirekt geschehen. Oft ist es gar nicht die Empfehlung oder der Befehl des Vaters, der eine Tochter zu einem bestimmten Typus von Mann führt, sondern einfach die Haltung der Tochter, die sich mit den Werten des Vaters (häufig unbewusst) identifiziert und eine Partnerwahl trifft, die im Grunde gar nicht ihre eigene ist, bei der sozusagen der Vater aus dem Hintergrund die Strippen zieht.

 

Das kann einmal passieren, indem die Tochter einen Mann wählt, der dem Vater sehr ähnlich ist Aber auch, wenn sie die Antithese wählt– also einen Mann, der ganz anders ist – bleibt die Tochter oft auf den Vater bezogen, wenngleich in der Protesthaltung.

 

In der Arbeit mit diesem Märchen erlebt fast jeder diese Prinzessin zwar irgendwie als schön, aber auch als gesichtslos, als eine Art Barbiepuppe, um es böse auszudrücken. Von Autonomie, eigenem Willen ist bei ihr herzlich wenig zu spüren. Sie ist, wie erwähnt, die Vater-Tochter, es existiert keine starke Mütterlichkeit, an der sich diese Prinzessin orientieren könnte, wie auch im Märchen „Blaubart“.

 

Die Frau, die ins Reich dieses dunklen Königs gerät, wächst in einer Familie mit Vater und drei Brüdern auf, ohne Mutter. Als König Blaubart um ihre Hand anhält, sagt der Vater gleich zu, begeistert von der »guten Partie«. Der Tochter aber ist der Gemahl in spe von vornherein unheimlich wegen seines blauen Bartes. Mutterlos wie sie ist, akzeptiert sie den väterlichen Willen, lässt sich verheiraten, und das Schicksal nimmt seinen Lauf.

 

Der Anfang der Liebesbeziehung zwischen Prinz und Prinzessin wird in wunderschönen Bildern gezeichnet. Der Prinz, voller Sehnsucht, wandelt auf Aphrodites Spuren, denn sowohl die tanzenden Blumenmädchen als auch die Blüte und die Taube kommen aus dem Symbolkreis der Göttin. Zunächst hört er auch auf die Botschaft der Taube, seines »hilfreichen Tieres«, dann allerdings erliegt er dem Lockruf des alten Königs.

 

Im Grunde möchte ihm die Taube ja Folgendes sagen: Wenn du der Tradition dieses Königs folgst, dich auf seinen Thron setzt, verlierst du die Anbindung an deine Prinzessin, verlässt du die erotische Spur. Diesem König nachzufolgen, der keine Königin hat, der nachts schläft und nichts vom Weiblichen versteht, vermutlich aber viel von Macht – schließlich will er ja auch seine Tochter mit dem mächtigen Zauberer verheiraten – diesem König zu folgen, bedeutet den Tod der Liebesenergie.

 

Und so nimmt das Desaster seinen Lauf, als er sich stolz auf dem steinernen Thron niederlässt. In diesem Moment verschwindet die Prinzessin. Die Versuchung durch Macht, Geltung und Wichtigkeit in der äußeren Welt ist zu groß für den Prinzen, und Dewi Ngalima lacht glücklich dazu! Viele Vater-Töchter, denen die »mütterliche Weisheit« fehlt, sind zum Beispiel stolz auf ihren Karriere-Mann, fördern ihn auf dem Weg zu seinem Thron und begraben dabei – ohne es zu merken– die Energie der Liebe.

 

Ich habe in Gruppen manchmal erlebt, wie schockiert und traurig Frauen festgestellt haben: Genau das habe ich getan! Ich habe zum Beispiel das Studium meines Mannes finanziert, seine Projekte gefördert, hinterher war die Beziehung am Ende. Das muss nicht immer so enden, doch in dieser Geschichte ist es so und im richtigen Leben manchmal auch.

 

Nun ist ja noch nicht alles verloren. Von der Spur abzukommen ist normal, im Märchen wie im richtigen Leben. Noch scheint es möglich, die Prinzessin wiederzugewinnen, zur Liebe zurückzufinden. Aber der Prinz ist ungeduldig und nicht leidensbereit. Der Weg zur Prinzessin – sagen viele Märchen – ist für den Mann auch ein Leidensweg. Im Märchen „Vom Königssohn, der sich vor nichts fürchtet“, muss der Held drei Nächte voller Qual aushalten, um die schwarze Prinzessin zu erlösen. Er muss sich in einer archetypisch weiblichen Haltung bewähren: Akzeptieren, Hingeben, Geschehenlassen, Erdulden.

 

Im Märchen „Dermot mit dem Liebesfleck“ werden vier Krieger im Haus des Weiblichen so gedemütigt, dass sie sofort wieder diesen Platz verlassen wollen, und erst durch Zureden des alten Weisen sind sie bereit, den weiteren Prüfungen zu begegnen. Einer von ihnen sagt wörtlich: »Alter, wer weiß, welche Demütigungen uns hier noch bevorstehen, hier wollen wir nicht bleiben!«

 

Auf den Rat des alten Weisen hin stellen sich schließlich Dermot und seine Gefährten den Herausforderungen des Platzes, und zumindest Dermot findet in diesem Märchen den Weg zur Liebe. Der Weg zur Liebe ist für den männlichen Helden aus einem einfachen Grund so schwer: Liebe ist nicht machbar. »Ich will, dass du mich liebst!« funktioniert nicht.

 

Wie Dermot begegnet auch der Prinz in dieser Geschichte in der Krisensituation dem alten Weisen, in Form des erhabenen Greises am Fuß des heiligen Berges. Diese Gestalt ist schon deswegen erwähnenswert, weil sie nicht nur männliche Qualitäten hat, sondern auch etwas vom Weiblichen zu verstehen scheint. Der Alte hat die Tränen seiner Mutter nicht vergessen. Er ist wie ein guter Therapeut: streng, gnadenlos konfrontierend und doch voller Mitgefühl. Er spiegelt dem Prinzen seine Vermessenheit und Ungeduld, und doch gibt er ihm eine Chance, öffnet ihm die Tür zur weiteren Entwicklung. Aber irgendwie scheint jetzt keine Umkehr mehr möglich.

 

Wenn wir jammern und wehklagen, wie der Prinz in dieser Situation, dann wollen wir uns in der Regel tieferem, echtem Leid nicht stellen. Der Prinz möchte unbedingt seine Geliebte zurückhaben, aber nicht den Preis dafür bezahlen. Den Preis der Selbsterkenntnis und Auseinandersetzung mit seinen Fehlern, den Preis der Qualnächte. Und so endet auch seine Auseinandersetzung mit diesen Geistern, den hässlichen Greisen am Fuß des Berges im Desaster.

 

Die Geistergestalten des Unbewussten, mögen sie auch noch so furchterregend sein, mit dem Dolch zu bekämpfen, kann nicht gut gehen. Die Dolch- oder Schwertenergie des klaren Bewusstseins im Reich des Unbewussten anzuwenden, funktioniert nicht. Es ist für einen Menschen mit der Haltung dieses Prinzen oft ungeheuer schwer, die Gestalten des Unbewussten einfach nur auszuhalten, zu akzeptieren, anzuschauen, ohne gleich zum Schwert zu greifen. Märchen erzählen aber, dass genau diese Art von Leidensbereitschaft unabdingbar ist, wenn die Prinzessin erlöst oder wiedergefunden werden will.

 

Und was macht ihn denn so wütend? Diese Greise erzählen ihm von der Schattenseite des Weiblichen. Dabei wäre es doch so gut gewesen, gerade dem ältesten und hässlichsten Greis zuzuhören. Er hat eine sehr tragische Wahrheit ausgesprochen: Die alte, hässliche Hexe wurde erschlagen und in den Abgrund des Unbewussten geworfen, und das seit Jahrtausenden, kollektiv wie individuell. Wir brauchen viel Mut, auf den hässlichen, alten Greis in uns selbst zu hören und Botschaften des Unbewussten zu akzeptieren, die unserem Verstand unangenehm sind.

 

Aber wenn wir, wie dieser Prinz, gleich mit dem Dolch des Verstandes kommen, dann wird es uns vermutlich so gehen wie ihm. Wir werden letztendlich versteinern, einsam werden. Wenn wir uns mit dem Weiblichen versöhnen wollen, wenn wir auf der erotischen Spur bleiben wollen, müssen wir Dewi Ngalima und die hässliche Hexe gleichermaßen akzeptieren. Das eine geht nicht ohne das andere, das erzählen Märchen aller Kulturen. Die Perle liegt immer neben dem Drachen!

 

Es ist eine Tragödie, dass in den Grimmschen Märchen, die uns hier ja so geläufig sind, keine gute Hexe auftaucht, während etwa im russischen Märchen die alte Baba Yaga – zugleich Urmutter und Urhexe – eine »gutböse« Gestalt ist. Sie kann heilen, sie kann alte, weise Frau und Ratgeberin sein, einweihen in Geheimnisse, und sie kann – vor allem, wenn sie respektlos behandelt wird – eine destruktive, verschlingende Rachegöttin sein. Beides gehört zum Hexenarchetyp.

 

Die Botschaft der Geschichte ist also: Wenn du nicht bereit bist, die Hexe zu küssen, dann versteinerst du. Die Hexe küssen heißt auch, dunkle Gefühle ins Leben einzuladen. Kein Mensch – auch wenn uns das als unhaltbares Ideal immer wieder vorgaukelt – kann nur licht sein, immer freundlich, nett, edel, hilfsbereit und gut. Je mehr wir das versuchen, desto hässlicher wird im Unbewussten die Hexe und desto unlebendiger fühlen wir uns. Die ungeliebte Hexe rächt sich: Sie macht uns depressiv. Es kostet Körper und Seele viel Kraft, die Kellertür zuzuhalten, Hexengefühle zu unterdrücken. Und was wir niederdrücken, macht uns depressiv: Was du nicht lebst, lässt dich nicht leben!

 

Aus diesem Grund gibt es so viele Therapieformen, die Schattenarbeit als unerlässlich bezeichnen. Das niedere Selbst – so wie John Pierrakos, der alte und weise griechische Therapeut es bezeichnet – die Gefühle Hass, Gier, Neid, Eifersucht gibt es in jedem von uns. Wenn wir sie verleugnen, finden wir nicht zu Lebendigkeit und Liebe. Wenn wir uns diesen Energien stellen, kann die Hexe unsere Freundin werden.

 

Das ist ein mühsamer Weg, der viel Mut erfordert und unser Ego in der Regel kränkt, und doch – das erzählen die Märchen – ist es unerlässlich. Den Umgang mit diesen dunklen Seiten unseres eigenen Wesens zu üben ist sicherlich nicht leicht, aber es ist besser als diesen Aspekt unseres Wesens zu »verteufeln« und abzuspalten.

 

Im Märchen muss manchmal ein Held dem Teufel mehrere Jahre lang die Hölle putzen, um dann zur Belohnung den Goldklumpen zu erhalten, ein wunderbares Bild für Schattenarbeit. C.G. Jung hat einmal gesagt: »Der Schatten verwickelt dich ins Leben.« Der spirituelle Lehrer Osho sagt: »Der Teufel ist nicht getrennt von Gott, sondern unterwegs zu Gott!«

 

Vom Problem der Abspaltung erzählt auch die Geschichte von Dornröschen. Die 13. Fee, die nicht zum großen Festessen eingeladen wird, weil nur zwölf Gedecke vorhanden sind, wird böse, wird zur Giftmischerin. Aus kollektiver Sicht erzählt dieses Märchen vom Ausschluss des Weiblichen in der patriarchalen Welt: Wir haben zwölf Sonnenmonate im Jahr und dreizehn Mondumläufe.

 

Da Sonne und Mond in fast allen Kulturen – auch in der Astrologie – als Repräsentanten des Männlichen und Weiblichen verstanden wurden, als König und Königin, Mann und Frau, stellt diese Geschichte die Problematik der einseitig patriarchalen Welt geradezu genial dar. Individuell gesehen ist die 13. Fee der Wesensanteil, den wir – aus welchem Grund auch immer – nicht ins Leben einladen. Wie heißt deine 13. Fee? Aggression, Sexualität, Leichtigkeit, Tanz, Lachen, Weinen?

 

Auch in diesem Märchen siegt Kronos, das alte System. Am Anfang der einsame König auf dem steinernen Thron, zum Schluss der versteinerte Prinz. Weder dem Prinzen, noch der Prinzessin gelingt der Weg zur Ganzheit, gelingt die Integration des Schattens. Am Ende ist eine Situation geschildert, die es in so vielen realen Beziehungen gibt: Ein versteinerter Mann und eine trauernde, wartende Frau.

 

Viele Frauen, die mit diesem Märchen arbeiten, kennen diese Situation: Mit einem versteinerten Mann zusammenzuleben, der auf der Herzensebene nicht erreichbar ist aus lauter Angst vor tiefen Gefühlen, Angst vor Hexengefühlen.

 

Wenn man eine mitfühlende Frau ist, vielleicht etwas vom Archetyp der Heilerin hat, wird man das verstehen. Man wird sich auf das beziehen, was man ahnt im Inneren des Mannes, nach dem Motto: Im Grunde ist er ja ganz anders. Er hat ja so viel Gefühl, er kann es nur nicht zeigen! Und außerdem: Er hatte ja eine so schwere Kindheit! Aber Verstehen ist der Trostpreis! Wer sich damit zufriedengibt, wird ein Leben lang schwarze Reiskörner weinen und letztlich vor lauter Warten selbst schwarz und depressiv werden.

 

Fast jede Frau, die sich mit dieser Schlussszene auseinandersetzt, erhält von innen den Auftrag: Steh auf, hör auf, das Totenhemd für den Prinzen zu nähen! Mach dich selbst auf den Weg, werde autonom, befrei dich aus der Haltung der passiven Vater-Tochter! Dass es wichtig ist, gescheiterte Beziehungen zu betrauern, für eine Zeit lang das Totenhemd zu nähen, ist unbestritten. Genauso wichtig ist es jedoch, damit wieder aufzuhören und sich wieder auf die Achterbahn des Lebens zu begeben.

 

Darüber erzählt eine Tarotkarte: Die fünf der Kelche. Auf dieser Karte ist eine schwarze, trauernde Gestalt dargestellt, die nach links (zum Reich der Vergangenheit) blickt. Dort sieht man drei ausgegossene Kelche. Rechts (im Reich der Zukunft) stehen zwei volle Kelche. Dort ist außerdem ein Fluss mit einer Brücke zu sehen.

 

Die Botschaft dieser Karte ist folgende: Manchmal im Leben ist »Trauerarbeit« wichtig. Schmerzhafte Erlebnisse aus der Vergangenheit wollen beweint werden. Dann aber, wenn genug Tränen vergossen sind, richte den Blick in die Zukunft, sieh die Fülle des Lebens, die noch vor dir liegt. Dann überschreite den Fluss und mach dich auf den Weg in die neue Welt!

 

Den Rat, nicht auf die Vergangenheit, das Gestern fixiert zu bleiben, gibt auch die alte Baba Yaga: »Der Morgen ist klüger als der Abend!«