4.7. König Dschaswant von Gudscharat und die Schicksalsgöttin
 

Im Lande Gudscharat lebte einst der freundliche und weise König Dschaswant. Diesem König lag das Wohlergehen und Glück seiner Untertanen mehr am Herzen, als seine eigene Ruhe und Bequemlichkeit. Häufig mischte er sich verkleidet unter sein Volk, um das Leben der einfachen Menschen mit eigenen Augen zu sehen und noch besser kennenzulernen. Und wo er Armut oder Unglück antraf, da bemühte er sich stets zu helfen.

 

Einmal kam er in ein kleines Dorf, und da es schon Abend wurde, bat er beim Dorfältesten um ein Nachtlager. Der Älteste und seine Frau nahmen den fremden Gast freundlich auf, boten ihm ein Mahl dar, und dann legten sich alle schlafen. In der Nacht aber genas die Frau des Dorfältesten eines Knäbleins.

 

Als alle wieder eingeschlummert waren und der König allein noch wachte, sah er plötzlich eine überirdisch schöne Frauengestalt an die Wiege herantreten. Sie trug ein Gefäß mit Kumkum-Tinte und eine Rohrfeder, deren Halter mit Perlen geschmückt war. Die göttliche Frau ergriff die Hand des Knaben und zeichnete auf der Innenfläche verschiedene Linien. Das waren seine Schicksalslinien. Sie zeichnete sehr sorgfältig eine Linie nach der anderen, doch als sie gerade die Lebenslinie zog, brach die Feder plötzlich ab, und die Lebenslinie blieb unvollendet.

 

Da wurde die Frau traurig und wandte sich zum Gehen. König Dschaswant aber sprang von seinem Lager auf und sprach sie an: »Wer bist du? Ein Trugbild oder ein menschliches Wesen?«

 

»Lass mich gehen, König«, erwiderte die Frau freundlich. »Ich bin Widhatri, die Göttin des Schicksals. Ich kam, um dem Söhnlein des Dorfältesten sein Schicksal in die Hand zu schreiben. Doch als ich gerade die Lebenslinie zog, brach meine Feder.«

 

»Und was bedeutet das?«, fragte König Dschaswant voll böser Ahnung.

 

»Das bedeutet«, antwortete die Göttin, »dass der Knabe bald sterben muss. Und es wird geschehen, wenn er gerade achtzehn Jahre alt ist und Hand in Hand mit seiner Braut das heilige Hochzeitsfeuer umschreitet. Dann wird sich ein schrecklicher Löwe auf ihn stürzen und ihn töten.« Und mit diesen Worten verschwand die Göttin des Schicksals.

 

Der König dachte bei sich: »Das darf ich nicht zulassen. Wenn ich es vorher weiß, muss ich alle meine Kräfte anspannen, um dieses furchtbare Schicksal zu verhüten.« Und er konnte bis zum Morgen keine Ruhe mehr finden. Als es hell wurde, verabschiedete er sich vom Dorfältesten und seiner Frau, beschenkte sie reich für das Nachtlager und die Bewirtung und sprach schließlich: »Ich bin euer König Dschaswant, doch ihr kanntet mich nicht. Trotzdem nahmt ihr mich liebevoll und freundlich in euer Heim auf und bewirtetet mich vorzüglich. Ich habe noch eine Bitte an euch. Vergesst nicht, mich zur Hochzeit eures Söhnleins zu laden, dass euch heute Nacht geboren wurde! Ich bitte euch darum in aller Dringlichkeit!« Diese Bitte versprach ihm das Paar sehr gern zu erfüllen, und die Eltern vergaßen ihr Versprechen nicht.

 

Achtzehn Jahre nach diesem Tage fand das feierliche Hochzeitsfest des Sohnes statt. Da näherte sich dem Dorfe ein prächtiger Königszug. König Dschaswant saß auf einem großen, weißen Elefanten, seine Höflinge umgaben ihn auf feurigen Rappen, und seine Soldaten folgten auf edlen Braunen. Aus dem Dorfe tönten ihnen zur Begrüßung Trommeln und Trompeten, Hörner und Tschinellen entgegen, und alle Einwohner kamen zusammen, um ihren König zu begrüßen und sich ehrerbietig vor ihm zu verneigen.

 

Der König stieg vor dem Haus des Dorfältesten von seinem Elefanten herab, begrüßte alle Hochzeitsgäste und überreichte dem Brautpaar sein königliches Geschenk – eine prachtvolle Truhe voller Gulden, die reich mit Edelmetallen beschlagen war.

 

Die Höflinge und Soldaten des Königs hatten ihre Befehle erhalten und umzingelten das ganze Dorf Mann neben Mann, sodass keine Maus eindringen konnte. Auf diese Weise wollte König Dschaswant dem Schicksal in den Arm fallen. Und dann begann die Hochzeitszeremonie. Der Dorfpriester sprach die einleitenden Worte, Bräutigam und Braut fassten einander bei der Hand und umschritten das heilige Feuer, wobei sie ihm ihre rechte Seite zukehrten. Alle Gäste schauten schweigend zu und König Dschaswant umschloss sein mächtiges Schwert fester mit der Rechten und spähte um sich, ob sich nicht der Löwe nähere, von dem vor achtzehn Jahren die Schicksalsgöttin Widhatri gesprochen hatte.

 

Er konnte jedoch nichts Verdächtiges erblicken. Das Brautpaar hatte das heilige Feuer schon fast umrundet, da ertönte auf einmal das furchtbare Brüllen eines Löwen. Von einem Tonkrug, der auf einem Podest stand und dessen Wände mit verschiedenen Tierbildern geschmückt waren, sprang der Löwe herab! Dieser riesige Löwe warf sich auf den Bräutigam, biss ihn in den Hals und kehrte auf seinen Platz am Krug zurück, der auf dem Podest stand. Niemand hatte das Furchtbare verhindern können. Der Angriff des Löwen war so plötzlich und überraschend gekommen, dass auch König Dschaswant mit seinem Schwert nicht mehr eingreifen konnte.

 

So endete die Hochzeit vorzeitig und in großer Trauer. Der Priester schritt in den Tempel, um den Göttern zu opfern, und die Hochzeitsgäste gingen trauernd und bedrückt auseinander.

 

König Dschaswant bat den Dorfältesten und seine Frau, ihm zu erlauben, den toten Körper ihres Sohnes mit sich in die Hauptstadt zu führen. Er sprach zu ihnen: »Dass ich euren Sohn nicht vor dem Tode bewahren konnte, obwohl ich mich so sehr darum bemühte, kann mich nicht daran hindern, noch zu versuchen, ihm das Leben wiederzugeben.«

 

Die Eltern gewährten ihm seine Bitte, denn der plötzliche und absonderliche Tod ihres Sohnes lähmte ihre Gedanken so, dass sie vergaßen, dass nach den heiligen Büchern eine Begräbniszeremonie stattfinden müsse. So überführte König Dschaswant den leblosen Körper des jungen Bräutigams in seinen Palast in der Hauptstadt.

 

Dort befahl er, ihn auf einem Marmorlager im kühlen Kellergewölbe niederzulegen und mit duftenden Salben zu bestreichen. Dann beriet er sich mit den berühmtesten Ärzten, aber auch mit den weisen, alten Kräuterweiblein, doch niemand konnte ihm sagen, wie ein Mensch zu neuem Leben erweckt werden könne, der durch einen Löwenbiss den Tod fand.

 

Da beschloss der König, selbst Heilpflanzen und Wurzeln zu suchen. Er streifte durch Wälder und Dschungel und pflückte jede besondere und eigenartige Pflanze, die er nur finden konnte. Dann probierte er die Wirkung all ihrer Teile aus – der Wurzeln und Blätter, Blüten, Früchte und Rinde. Doch alles vergebens, der Sohn des Dorfältesten war und blieb tot und starr.

 

Nach vielen Wochen, als König Dschaswant wieder einmal im Wald nach Heilkräutern und Wurzeln suchte, erblickte er ein loderndes Feuer. Eilig näherte er sich den Flammen, aus denen eine menschliche Stimme rief: »König Dschaswant, König Dschaswant! Errette mich aus den Flammen, oder ich verbrenne!«

 

Der König zögerte keinen Augenblick und sprang ins lodernde Feuer. Dort erblickte er eine zusammengerollte Kobra. Schnell ergriff er die Schlange und trug sie aus den Flammen.

 

Da sprach die Kobra: »Habe Dank, König Dschaswant! Du hast mich von den Flammen befreit, in die mich einst der Heilige Narada warf, weil ich ihn beleidigte. Ohne deine Hilfe müsste ich hier im Feuer ewig leiden.«

 

»Danke mir nicht, Kobra«, wehrte König Dschaswant ab. »Ich half dir gern in deinem Unglück. Ich würde dir auch jederzeit wieder helfen.«

 

Die Kobra erwiderte: »Ich möchte mich gern erkenntlich zeigen. Könnte ich dir behilflich sein?«

 

»Ich selbst brauche keine Hilfe«, antwortete König Dschaswant, »doch vielleicht könntest du einem Jüngling helfen, der nach dem Beschluss des Schicksals sterben musste. Ich wollte ihn zu neuem Leben erwecken und seiner Braut und den Eltern zurückgeben.«

 

Die Kobra schaute den König an und sprach zu ihm: »Komm mit in meine Höhle, dort werde ich dir etwas geben.« Dann schlängelte sie vor dem König her noch tiefer in den Wald hinein. Als sie die Höhle erreicht hatten, forderte die Kobra den König auf, ein Weilchen zu warten. Dann kroch sie in ihre Behausung und kehrte gleich darauf mit einem tönernen Fläschchen zurück.

 

»Nimm dieses Fläschchen, König Dschaswant«, sprach sie zu ihm. »Es enthält den Nektar des Schlangenkönigs, den einst mein Urgroßvater vom König aller Schlangen, Drachen und Eidechsen für seine Dienste erhielt. Träufelst du dem Toten nur einige Tropfen davon auf die Lippen, dann erwacht er im gleichen Augenblick zu neuem Leben.«

 

König Dschaswant nahm das Fläschchen dankbar entgegen, verabschiedete sich von der Kobra und eilte in seinen Palast zurück. Im Kellergewölbe tröpfelte er dann einige Tropfen des Schlangennektars auf die Lippen des leblosen Jünglings. Im selben Augenblick erbebte der Sohn des Dorfältesten, öffnete seine Augen und sprach mit leiser Stimme: »Wo bin ich? Was ist mit mir geschehen?«

 

»Nun ist alles wieder gut, du lebst wieder«, erwiderte König Dschaswant froh. Die Schicksalsgöttin Widhatri erschien vor dem König und sprach: »König Dschaswant, du hast das Schicksal besiegt! Das gelang bisher noch keinem Sterblichen, du mutiger und ausdauernder König! Dein Leben möge lang und glücklich sein, denn nur jener, der sich nicht dem Schicksal beugt, sondern ihm trotzt, ist es wert, auf dieser Welt zu leben.« Damit verschwand sie wieder.

 

König Dschaswant aber ritt mit dem Jüngling in sein Heimatdorf zu Braut und Eltern, und nun konnte die Hochzeit doch noch glücklich zu Ende gefeiert werden. Und es war eine so fröhliche und prächtige Hochzeit, dass man noch lange Jahre in ganz Gutscharat davon erzählte. (MÄRCHEN AUS INDIEN)

 

4.7.1. Überlegungen zum Märchen
 

Obwohl auch König Dschaswant ohne Königin lebt, scheint sein Kontakt zur Welt des Weiblichen intakt. Er ist ein mitfühlender König, der sich um das Wohl der einfachen Leute sorgt, er hat mütterliche Qualitäten, denn wo er Armut oder Unglück antrifft, bemüht er sich stets zu helfen. Er bleibt nicht nur in seinem Schloss, sondern er geht auch »auf die Dörfer«, kümmert sich also auch um die abgelegenen Bereiche seiner psychischen Landkarte.

 

Und dort, weit weg von der Hauptstadt, wird der Sohn geboren. Man könnte an die Stallgeburt Christi denken: Der Gott des neuen Zeitalters wird in einer entfernten Ecke der Kollektivpsyche geboren. Neue Entwicklungsimpulse kommen – kollektiv wie individuell – in der Regel aus bisher wenig beachteten Bereichen der Psyche. Deswegen ist es ratsam, immer wieder »auf die Dörfer« zu gehen und dort nach neuen Impulsen, ungelebten Potenzialen Ausschau zu halten, wie Dschaswant das tut!

 

Dieser König scheint auch keinen Wert auf die »Persona« zu legen, in einfachen Kleidern mischt er sich unters Volk. »Wenn du auf dem Weg des Wissens bist, musst du dich unerreichbar machen!«, sagt der Schamane Don Juan. In Kleidern des Königs ist man Gefangener einer Rolle, als »Niemand« ist man frei.

 

Eine weitere »Heldentat« des Königs ist es, nachts wach zu bleiben. Er hat also einen guten Draht zum Unbewussten, und so erfährt er von dem Schicksalsspruch der Göttin. Auch in diesem Märchen ist also das Heldenkind, der neue Entwicklungsimpuls, bedroht, aber der König weiß dank des Orakels der Göttin von der Bedrohung.

 

Jeder Mensch wächst – auf jeweils unterschiedliche Weise – mit einem schicksalhaften Orakel aus der Kindheit auf. Dieses Orakel lässt sich aus dem psychischen Erbe der Ahnengalerie erklären. Wenn ein Mensch von diesem Orakel weiß, ist es nur natürlich, ihm entgehen zu wollen. Auch König Dschaswant sagt ja: »Wenn ich es vorher weiß, muss ich alles tun, um dieses furchtbare Schicksal zu verhüten.«

 

Als der Tag kommt, an dem sich das Orakel erfüllen soll, trifft Dschaswant jede nur mögliche Vorkehrung, um das Unglück zu verhindern. Er lässt das ganze Dorf von Soldaten umstellen, und trotzdem passiert das Schreckliche: Der Löwe stürzt sich auf den Bräutigam und tötet ihn. Ganz so weise ist König Dschaswant anscheinend doch nicht. Er vermutet die Gefahr nur im Außen, lässt das Dorf gegen Außenfeinde beschützen. Dass die Gefahr direkt aus dem Inneren droht, ahnt er nicht.

 

Wie oft schützen wir uns gegen Außenfeinde, wittern das Böse nur dort draußen, anstatt es in uns selbst zu erkennen, zu erahnen, wie viel potenziell destruktive Energie mitten im Dorf, in unserer eigenen Mitte wohnt! Und woher kommt die destruktive Kraft des Löwen? Aus dem Tonkrug auf einem Podest. Das weist gleich zweimal auf das mütterliche Element: Ton besteht aus Erde, der Krug ist ein weiblich-mütterliches Symbol. Dass er auf einem Podest steht, deutet auf eine idealisierte, überhöhte Weiblichkeit hin. Hier könnte man eine Verbindung zur Schicksalsgöttin vermuten, die ja auch als überirdisch schöne Frauengestalt dargestellt wird.

 

Aus diesem Reich der überhöhten Weiblichkeit also kommt der tödliche Löwenbiss. Am Hochzeitstag geschieht das Drama. Das sollte man symbolisch verstehen: Hochzeit steht für Vereinigung der Gegensätze, unter anderem die Begegnung von Mann und Frau, auch in der Sexualität. Dort also ist das Problem angesiedelt, was bei einem unverheirateten König nicht verwundern muss! Die Einseitigkeit der Himmelskönigin, einer nur lichten Maria-Weiblichkeit tötet genau das: Die irdisch-sinnliche, sexuelle Beziehung zu einem Mann.

 

Um diese Einseitigkeit aufzuheben, muss irgendwann der Gegenpol auf den Plan treten, und das geschieht auch am Ende der Geschichte in Gestalt der Kobra, die ins Feuer geworfen wurde. Von wem? Vom heiligen Narada. Obwohl es sich um ein indisches Märchen handelt, können wir mit Leichtigkeit Parallelen zu unserem Kulturkreis ziehen. Auch wir haben die Schlange ins »Fegefeuer« geworfen, sie gilt in der Bibel als Tier des Bösen, man denke nur an ihre Rolle im Paradies. Auch repräsentiert sie die dunkle Seite der Weiblichkeit, die wir als Hexe verbrannt haben.

 

Übrig geblieben ist bei uns eine einseitig lichte Weiblichkeit, verkörpert durch Maria. Und Maria, die manchmal boshaft als »die Dame ohne Unterleib« bezeichnet wird, ist tödlich für vollständige Beziehung, ist tödlich für Sexualität. Sie beißt am Hochzeitstag zu. »Das Berühren der Figüren mit den Pfoten ist verboten!«

 

Die Lebensfeindlichkeit solch einseitiger Ideale holt uns manchmal ein, gerade wenn wir heiraten, also wenn wir in Beziehung gehen. Wenn wir mit diesem gespaltenen Frauenbild (Maria – Hexe) zu tun hatten, in diesem Sinne religiös erzogen wurden, werden wir es mit dem Löwenbiss zu tun bekommen, so sehr wir uns auch dagegen wehren möchten. Gelernte Moralvorstellungen, Glaubenssätze aus der Kindheit sind sehr machtvoll, mögen sie auch noch so tief aus dem Unbewussten, aus unserem Inneren (dem Inneren des Dorfes) heraus wirken.

 

Aber nun geschieht das Entscheidende: König Dschaswant gibt nicht auf. Nichts kann ihn daran hindern, »zu versuchen«, diesem Sohn, diesem Entwicklungsimpuls, »das Leben wiederzugeben«. Wichtig ist hier auch die Wortwahl, er sagt nicht: »Ich werde es schaffen!«, sondern: »Ich werde [alles] versuchen!«

 

Nun beginnt der Weg der Heilung: König Dschaswant nimmt – gegen alle Konventionen – den Leichnam des Bräutigams mit sich und bahrt ihn im Gewölbe des Schlosses auf. Er bringt den – vorerst – getöteten Entwicklungsimpuls ins Zentrum des Bewusstseins, in die Hauptstadt, in sein Schloss. Er sucht die berühmtesten Ärzte und auch die weisen alten Kräuterweiblein auf, er holt sich therapeutische Unterstützung, könnte man sagen. Wenn wir in unserem Leben einen derart drastischen Einschnitt, einen solchen Bruch erleben, wie König Dschaswant mit dem Tod dieses Sohnes (subjektstufig gesehen: des inneren Sohnes), ist es sehr weise und mutig, wenn wir uns zunächst helfen lassen.

 

Für einen König ist es sicherlich nicht einfach, sich einzugestehen, hilfsbedürftig zu sein, nicht alleine zu können. Und doch ist genau das der erste Schritt. Irgendwann aber muss auch die beste Therapie ein Ende haben. Dann heißt es, selbst in den Dschungel gehen, Heilpflanzen und Wurzeln suchen. Um das neue Leben wiederzufinden, müssen wir experimentieren wie der König, der die verschiedensten Wurzeln, Blätter, Blüten und Früchte ausprobiert. Und dann irgendwann kommt Kairos, der gute Moment.

 

König Dschaswant steht vor dem Feuer, aus dem die Stimme der Kobra kommt. Wichtig ist, dass er »einfach so« in diese Situation kommt, und wichtig ist, dass er »einfach so« springt, ohne zu wissen, was ihn dort im Feuer erwartet. Diese Bedingungslosigkeit ist in vielen Märchen die Voraussetzung für einen Wandlungsprozess. Wir würden ja alle mit Begeisterung ins Feuer springen, wenn wir wüssten, dort wartet die Kobra auf uns, und von ihr bekommen wir den Nektar des Schlangenkönigs. Aber König Dschaswant weiß es nicht, er springt einfach so.

 

Er folgt der Stimme seines Herzens – und er hat Mitgefühl mit der Schlange, würde ihr jederzeit wieder helfen. Die zusammengerollte Kobra erinnert an die Kundalini-Schlange, die sich die Inder zusammengerollt im Becken der Menschen vorstellen. Sie verkörpert die Urvitalkraft des Menschen, die – so wissen auch Körpertherapeuten – im Becken, der Unterwelt des Körpers, wohnt. Mitgefühl mit der Schlange zu entwickeln heißt also auch, Mitgefühl mit unserer eigenen, unterdrückten Lebendigkeit zu entwickeln, die so oft durch den moralischen Zeigefinger irgendeines »Heiligen« im Feuer schmoren muss. Wie oft schämen wir uns unserer eigenen Lebendigkeit, Lebenslust, Leidenschaft und Sexualität!

 

Dass die Heilung aus dem Reich der Schlange kommt, ist auch deshalb verständlich, weil sie wie erwähnt das Tier der Wandlung, das Tier der dunklen Mutter, ist und damit den Gegenpol zu der überhöhten Weiblichkeit auf dem Podest darstellt. Der Tonkrug auf dem Podest ist der Gegenpol zu der Höhle dort unten, in der die Schlange wohnt. Beides will wieder zusammengebracht werden.

 

Auch König Dschaswant macht also eine Entwicklung. So freundlich und weise er am Anfang dargestellt wird, so wenig spürt man bei ihm kraftvoll-dunkle Männlichkeit. Der Sprung ins Urfeuer der Lebendigkeit macht ihm den Nektar des alten Schlangenkönigs zugänglich. Er findet hin zu seiner tiefen Männlichkeit, zum »Tiefen Vater« in sich. Der Weg zur Höhle des uralten Schlangenkönigs ist wie der Weg zu einem alten Schamanen oder Heiler. Anschluss an dessen Kraft zu bekommen ist die Voraussetzung dafür, den toten Jüngling wieder zu heilen, ein vollständiger Mann zu werden. Männliche Ganzheit schließt den Vater im Himmel genauso ein wie den Schlangenkönig in der Tiefe der unteren Welt.

 

Diese Geschichte wird von vielen Menschen als heilend erlebt. Sie ist eine Geschichte der Kraft, sie macht Mut. Wir haben zu oft die Tendenz, in einer fatalistischen Haltung Schicksal anzunehmen, das vielleicht gar keines ist, und Schicksalssprüche der Kindheit als unabänderlich hinzunehmen, ohne sie zu hinterfragen. Hier hilft die Haltung von König Dschaswant: Gib mir die Kraft, das zu ändern, was ich ändern kann, die Demut, das zu akzeptieren, was ich nicht ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.