4.2. Der Vater und die drei Töchter
 

Es war einmal ein vornehmer Mann, der hatte drei Töchter, welche heranwuchsen, aber keine Männer finden konnten, sodass er nicht wusste, was er machen sollte. Er kam daher auf den Einfall, die Mädchen malen zu lassen und ihre Bildnisse vor der Tür seines Hauses aufzustellen, sodass sie jeder Vorübergehende sehen und er sie vielleicht verheiraten könnte. Die Wohnung des Mannes lag aber am Meeresufer, wo viele Schiffe aus fremden Ländern hinkamen und anlandeten.

 

So geschah es denn eines Tages, dass ein Schiffspatron die Bildnisse erblickte und an dem der jüngsten Schwester großes Gefallen fand und sich bei ihrem Vater um ihre Hand bewarb. Dieser wollte sie ihm anfangs nicht geben, sondern erst die beiden ältesten Töchter verheiraten. Indes auf den Rat seiner Freunde ging er doch darauf ein, um einmal einen Anfang zu machen, und so wurde denn einige Tage darauf die Hochzeit gefeiert.

 

Als nun die Neuvermählten allein geblieben waren und der junge Ehemann zu der Braut ins Bett steigen wollte – diese war aber bereits eingeschlafen –, da öffnete sich die Wand, und heraus kam ein Gespenst, welches zu ihm sagte: »Bleib fern von Rosa« – dies war der Name der Braut –, »denn sie wird sich mit ihrem Vater vermählen und einen Knaben mit ihm zeugen, mit dem sie sich dann gleichfalls vermählen wird.«

 

Sobald der Bräutigam diese Worte vernahm, begab er sich, ohne irgend jemandem etwas zu sagen, zu seinem Schwiegervater und sagte zu ihm, er habe sich geirrt, denn er habe seine älteste Tochter, nicht die jüngste, zur Frau nehmen wollen. Jener war damit zufrieden, da dies ja ohnedies mit seinem früheren Wunsch übereinstimmte, und so bekam denn der Schiffspatron die älteste Tochter und kehrte mit ihr in seine Heimat zurück. Kurze Zeit darauf fand sich ein zweiter Freier ein, der gleichfalls die jüngste Tochter haben wollte. Es ging ihm aber ebenso wie seinem Vorgänger, und die arme Rosa blieb ohne Mann, obwohl sie zweimal getraut worden war.

 

Da verfiel sie in ein tiefes Nachsinnen, weil sie es sich nicht erklären konnte, warum ihre beiden Bräutigame sie einer nach dem andern nach der Trauung verlassen hatten. Sie beschloss daher nach einiger Zeit ihren Vater zu bitten, dass er ihr gestatten möge, die Schwestern zu besuchen, da sie ein großes Verlangen hege, sie wiederzusehen. Ihre eigentliche Absicht aber war, zu erfahren, aus welchem Grund ihre früheren Ehemänner sie hatten sitzen lassen, und der Vater willigte ein. Sie machte sich also auf den Weg, und in der Nähe des Wohnortes der ältesten Schwester angelangt, erkannte Rosa die Magd derselben, welche mit ihrem Krug eben nach Wasser ging und sprach zu ihr: »Nimm diesen Ring und gib ihn deiner Herrin, ich will hier draußen ihre Antwort abwarten.«

 

Es dauerte nicht lange, so kam die Magd zurück mit der Meldung, dass ihre Gebieterin ihrer harre. Sie begab sich zu ihr, fand sie allein und setzte sich nieder. »Liebe Schwester«, sagte sie zu ihr, »ich hatte großes Verlangen, dich wiederzusehen und dich zugleich um eine Gefälligkeit zu bitten; dass du nämlich heute Nacht, ehe du dich zu deinem Mann legst und nachdem du das Licht gelöscht, hinausgehst und mich deine Stelle einnehmen lässt.« – »Sehr gern«, antwortete die Schwester, »warum nicht? Was du begehrst, soll geschehen«. Als es nun Nacht geworden war, tat die Schwester auch wirklich, was sie versprochen hatte, und verließ ihren Mann, während Rosa sich zu ihm legte und bald darauf, als wäre sie seine Frau, zu ihm sagte: »In der ganzen Zeit, wo wir verheiratet sind, habe ich immer vergessen, dich zu fragen, aus welchem Grund du zuerst dich mit meiner jüngsten Schwester verbunden, dann aber sie verlassen hast.« Da erzählte ihr denn der Schwager alles, was sich in jener Nacht zugetragen hatte, worauf sie ihn verließ und ihre Schwester den ihr gebührenden Platz wieder einnahm.

 

Am darauf folgenden Morgen zog Rosa wieder weiter und begab sich zu der anderen Schwester, von deren Mann sie das Nämliche erfuhr, sodass sie dann nach Hause zurückkehrte, und als sie allein war, ausrief: »Nein, ich werde mich mit meinem Vater nicht vermählen, wie das Gespenst gesagt hat, sondern will Mörder dingen und ihn ums Leben bringen lassen!« Wirklich führte sie einige Tage darauf ihren Vorsatz aus, und die Mörder begruben den Getöteten außerhalb der Stadt auf einem Acker, wo aus dem Grab desselben ein Apfelbaum hervorwuchs, der sehr schöne Früchte trug.

 

Eines Tages nun sah Rosa einen Mann, der Äpfel feilbot, und kaufte ihm einige ab, von deren Genuss sie jedoch schwanger wurde. Bald darauf fing ihr Leib an sich zu runden, ohne dass sie den Grund wusste. Als sie indes später erfuhr, dass auf dem Grab ihres Vaters ein Apfelbaum wachse, erinnerte sie sich, dass sie von jenen Äpfeln gegessen hatte. Gleichwohl sprach sie bei sich selbst: »Trotz alledem soll die Prophezeiung des Gespenstes nicht wahr werden, denn sobald ich entbunden bin, will ich das Kind töten«.

 

Gesagt, getan. Sobald das Kind geboren war, gab sie ihm mehrere Messerstiche und legte es dann in ein Kästchen, welches sie fest vernagelt ins Meer warf, wo ein vom Lande her blasender Wind es in die hohe See hinaustrieb. Zu gleicher Zeit fuhr jedoch ein Handelsschiff vorüber, dessen Kapitän das Kästchen bemerkte und seinen Leuten zurief: »Setzt das Boot aus und nehmt das Kästchen da auf; wenn Sachen von Wert darin sind, so behaltet sie für euch, enthält es aber etwas Lebendiges, so ist es für mich«. Nachdem man nun das Boot ausgesetzt und das Kästchen aufgefischt hatte, fand man darin ein in Blut schwimmendes Büblein, welches der Kapitän für sich behielt und an Kindes statt annahm.

 

Als er dann nach Jahren starb, erbte der Adoptivsohn sein ganzes Vermögen und setzte, älter geworden, die Geschäfte, die jener betrieben, fort, wobei er von einem Land ins andere fuhr. Bei einer seiner vielen Reisen geschah es nun, dass er nach dem Wohnort seiner Mutter kam. Als er das Haus sah, fragte er, was das für Bildnisse wären, die sich über der Tür desselben befänden. Da erzählte man ihm die Geschichte der drei Schwestern und fügte hinzu, dass die jüngste noch unverheiratet wäre. »Nun wohl«, sprach er, »so will ich sie heiraten«! und nahm sie auch wirklich zur Frau.

 

Nach langen Jahren, als sie schon mehrere Kinder hatten, reichte sie ihm eines Tages ein reines Hemd zum Wechseln und sah die Narben der Dolchstiche, die sie ihm einst gegeben. Alsbald stieg eine böse Ahnung in ihr auf und sie fragte ihn: »Was sind das für Narben, die du da auf deiner Brust hast«? Da antwortete er ihr, dass er weder Vater noch Mutter gekannt, sondern dass der Kapitän eines Handelsschiffes ihn auf dem Meer in einem Kästchen gefunden und an Kindes statt angenommen habe. »Und nachdem mein Adoptivvater gestorben«, fuhr er fort, »beerbte ich ihn und führte seine Geschäfte weiter, wobei ich hierher gekommen und dein Mann geworden bin. Dies ist alles, was ich weiß«. Als dies seine Frau hörte, rief sie aus: »So weit also hat mein unseliges Geschick mich verfolgt! Du bist mein Sohn, und jetzt, wo die Vorhersagung des Gespenstes eingetroffen, lasse ich dich in deinem Kummer und meine Kinder als Waisen zurück, ich aber überliefere mich dem Tod, denn dies war mir vom Schicksal bestimmt«! Darauf ging sie hin und tötete sich durch einen Sprung vom Dach. (MÄRCHEN AUS GRIECHENLAND)

 

4.2.1. Überlegungen zum Märchen
 

Auch am Anfang dieses Märchens hat der Vater keine Frau an seiner Seite. Was mit der Mutter der drei Töchter geschehen ist, erscheint nicht erwähnenswert. Vielleicht ist die Mutter gestorben, vielleicht hat sie die Familie verlassen, vielleicht ist sie als Person einfach nicht interessant, wie so oft in einer patriarchalisch orientierten Familie. Was mit Töchtern unter diesen Umständen passieren kann, wird am Beispiel der drei Schwestern gezeigt.

 

Die beiden älteren sind als Personen kaum mehr erwähnenswert, als die Mutter. Sie haben kein Interesse an Bewusstwerdung, sie fragen sich nicht, mit wem sie da eigentlich verheiratet werden und warum. Sie bleiben die ganze Geschichte hindurch relativ gesichtslos, bezeichnenderweise sind sie auch namenlos. Nun ist es in der Regel die dritte oder jüngste Schwester, der dritte oder jüngste Sohn im Märchen, die ein Problem lösen, die sich den Herausforderungen der Geschichte stellen. Warum? Weil der jüngste Sohn bzw. die jüngste Tochter für den unschuldigen, unverdorbenen Entwicklungsimpuls steht – am weitesten entfernt vom alten System.

 

Allerdings ist auch Rosa am Anfang der Geschichte genauso passiv wie ihre Schwestern. Sie hat offensichtlich keine Einwände dagegen, dass Bilder von ihnen gemalt werden, dass diese öffentlich ausgestellt und sie wie Ware auf dem Marktplatz feilgeboten werden. Sie hat anscheinend auch nichts dagegen, verheiratet zu werden, sie lässt es einfach geschehen.

 

Er ist ja ein vornehmer Mann, dieser Vater, und bei vornehmen Leuten ist es sehr oft so, dass die Kinder standesgemäß verheiratet werden und sehr viele konventionelle Dinge mit im Spiel sind. Oft ist Herzensenergie gar nicht gefragt: Wichtig ist nur, welches Bild man in der Öffentlichkeit abgibt. Genau deswegen ist es auch stimmig, die Bilder der Töchter auszustellen auf dem Beziehungsmarktplatz. Was die Töchter selbst wünschen, was deren Herzensanliegen ist, das kümmert einen Vater – der keinen Bezug zum Weiblichen hat – in der Regel nicht.

 

Um die Entwicklung einer Liebesbeziehung im Märchen zu verstehen, ist es sehr hilfreich, die erste Begegnung von Prinz und Prinzessin, von Mann und Frau zu durchleuchten und zu erspüren. Wenn eine Beziehung überhaupt eine Chance haben soll, ist in der Regel die Anfangsverliebtheit Pflicht. Auf Seite eins des Beziehungsmärchens erkennen Prinz und Prinzessin einander in ihrer göttlichen Natur. Das wird oft sehr blumig und eindrucksvoll geschildert. Die Probleme beginnen dann auf Seite zwei. Die unerlösten Elternthemen mischen sich ein: So wird etwa der Prinz von der Hexe versteinert – d.h. sein unerlöstes Mutterproblem kommt auf – oder die Braut wird geraubt von einer Gestalt, die aus dem Symbolkreis des Väterlichen stammt. Dann ist es oft ein langer, mühsamer Weg, der am Ende der Geschichte zur Hochzeit führt. Diese Beziehungsarbeit gelingt nicht immer, aber in der Regel findet sich dieser Dreierschritt im Märchen: Anfangsverliebtheit, Beziehungsarbeit, Hochzeit. Am Ende dieser Beziehungsmärchen spürt man meist, dass jetzt ein reifer, individuierter Mann mit einer reifen, individuierten Frau zusammen ist: ein Sohn, der zum Mann und eine Tochter, die zur Frau geworden ist.

 

Wie sieht es nun im vorliegenden Märchen aus? Von Gefühlen, von einer Verliebtheit ist überhaupt nicht die Rede. Die Freier wählen ihre Frauen wie aus einem Bestellkatalog. Sie sprechen auch nicht mit den Erwählten, die einzigen Gespräche finden mit dem Vater statt. Wie es in der jeweiligen Frau aussieht, was sie wünscht, welche Gefühle sie hat, steht überhaupt nicht zur Debatte. Wenn der Anfang einer »Beziehung« so aussieht, dann kann die Prognose kaum eine gute sein.

 

Die beiden älteren Schwestern werden zwar nicht als unglücklich geschildert in der Beziehung zu ihren Männern, aber es deutet nicht unbedingt auf eine große Innigkeit und Verbundenheit hin, wenn sie bereitwillig ihrer jüngsten Schwester den Platz im Ehebett freimachen, und es den Ehemännern nicht einmal auffällt, wenn eine andere neben ihnen liegt. Das klingt doch alles ziemlich beliebig und herzlos, aber wenn Freier auf ein Bild reagieren und nicht am Wesen der Erwählten interessiert sind, verwundert das nicht unbedingt. Eine derartige Beziehung kann ganz gut funktionieren. Beziehungen, in denen die Herzensenergie ausgeschlossen wird, laufen oft einigermaßen »problemlos« ab. Das Herz zu öffn-en macht ja immer auch verletzbar, während ein Arrangement, wie es offensichtlich die Freier mit den älteren Schwestern getroffen haben, ganz nützlich für beide Seiten sein kann. »Mutterlose« Töchter geben sich mit solchen Arrangements oft zufrieden. Wenn man Herzens- und Liebesenergie in der Herkunftsfamilie nicht kennengelernt hat, beispielsweise in der Ehe der Eltern, dann gibt man sich oft mit einem Trostpreis zufrieden. Menschen sind ja schließlich auch Schnäppchenjäger und Kostenberechner.

 

Zurück zu Rosa, der dritten Tochter und sicherlich interessantesten Frauengestalt in diesem Märchen. Als Einzige wird sie namentlich erwähnt, und doch erscheint sie zunächst genauso »ferngesteuert« wie ihre älteren Schwestern. Sie lässt sich verheiraten, sie akzeptiert – wie selbstverständlich – den väterlichen Willen. Dass sie doch nicht so pflegeleicht ist, beweist sie allerdings in der Hochzeitsnacht: Diese verschläft sie nämlich. Was soll man davon halten, wenn eine Frau ihre Hochzeitsnacht verschläft? Auf allzu großes sexuelles Interesse, oder überhaupt Interesse am Bräutigam, lässt das sicherlich nicht schließen.

 

Was macht nun ein Mann, wenn er in der Hochzeitsnacht eine schlafende Frau vorfindet? Wenn er so gestrickt ist wie diese Freier, wird er einfach sagen: »Umtauschen«!, her mit einer anderen Frau, die weniger Probleme macht, die nicht so »zickig« ist. Wenn sich in dieser Hochzeitsnacht auch noch das offensichtlich inzestuöse Problem Rosas offenbart, hat ein solcher Freier endgültig die Nase voll. Nichts wie weg. Bitte keine Probleme. So haben wir nicht gewettet. Wenn hier der Bräutigam Rosa aufgeweckt hätte, sie zur Rede gestellt hätte, wenn sie sich über dieses Gespenst unterhalten hätten, wer weiß, was möglich gewesen wäre? Hier passiert das nicht.

 

Allerdings beginnt jetzt eine Verwandlung mit Rosa: Sie scheint aufzuwachen. Sie möchte wissen: Warum werde ich verlassen? Warum bin ich allein? Was für ein Geheimnis verbirgt sich dahinter? Nun begibt sie sich auf den schmerzhaften Weg der Bewusstwerdung und erfährt, dass das Problem ihrer Einsamkeit und Beziehungslosigkeit im Reich des Vaters liegt.

 

Töchter, die so eng an den Vater gebunden sind, wie es durch dieses Gespenst kundgetan wird, werden sehr oft einsam und fragen sich dann: Warum habe ich keine Beziehung? Warum klappt es nicht mit mir und Männern? Dabei scheint Rosa doch die attraktivste der drei Schwestern zu sein, zumindest ist sie für die Freier im Bestellkatalog erste Wahl! War sie eine Art Partnerersatz für den Vater? Die Mutter ist ja nicht vorhanden. Ist sie eine missbrauchte Tochter? War der erste Mann in ihrem Leben eine so negative, schreckliche Erfahrung für Rosa, dass sie unbewusst schon früh beschlossen hat: Nie werde ich einem Mann wieder eine Chance geben!

 

Das ist ja das Problem der verwünschten Prinzessin, der »Rätselprinzessin«: Bewusst will diese Prinzessin eine Beziehung, wer will das nicht? In den seltensten Fällen sagen eine Frau oder ein Mann: Ich will alleine leben, das ist für mich die ideale Lösung! In der Regel ist man nicht zum Eremit geboren, schon gar nicht in der ersten Lebenshälfte. Wenn ich allerdings auf der bewussten Ebene Liebe und Beziehung will, kann es durchaus sein, dass ich auf der unbewussten Ebene genau das Gegenteil will und alles tue, um eine echte Begegnung zu verhindern. Rätselprinzessinnen signalisieren sehr oft: »Komm her, geh weg!« Diesem Problem ist Rosa auf der Spur, und dieses Problem hat seine Wurzeln in ihrer Vaterbeziehung.

 

Als Rosa dies erkennt, begeht sie den »Vatermord«.

 

Das sollte man natürlich symbolisch verstehen. Bei aller Gewalt, die es auf der Welt gibt, ist es doch höchst selten, dass in der Realität eine Tochter ihren Vater töten lässt. Man kann diesen Vatermord als einen Versuch betrachten, sich aus der Abhängigkeit dieses Verhältnisses zu lösen, und wie schwierig das für viele Frauen ist, habe ich in vielen Therapiegruppen erlebt. Gerade missbrauchte Töchter, die in einem inzestuösen Klima aufgewachsen sind, hatten oft niemand anderen als den Vater. Ich erinnere wieder daran, dass die Mutter als Bezugsperson offensichtlich nicht da war. Wenn nur der Vater bleibt, dann habe ich niemand anderen als ihn: Mich von ihm zu lösen, würde mich ganz einsam machen. Also akzeptiere ich lieber im Extremfall sogar psychischen oder körperlichen Missbrauch – mache gute Miene zum bösen Spiel – als ganz alleine dazustehen.

 

Oft spürt eine Tochter in solch einer Situation eine tiefe Ambivalenz, eine »Hassliebe« in ihrer Beziehung zum Vater. Um so eine Ambivalenz scheint es sich hier bei Rosa auch zu handeln, denn es gelingt ihr bei allem Bemühen nicht, den Fängen des Vaters zu entkommen.

 

Dass die Beziehung zum Vater noch fruchtbar ist, zeigt der Apfelbaum, der auf seinem Grab wächst. Der Apfel ist in Märchen und der Mythologie häufig der Liebesapfel, ein weiterer Hinweis auf die erotische Färbung der Vater-Tochter-Beziehung.

 

Es ist zum Verrücktwerden: Je mehr sich Rosa gegen dieses Vatergespenst wehrt, desto mächtiger wird es. Je mehr sie versucht, ihrem Schicksal zu entkommen, desto zielsicherer läuft sie ihm in die Arme. Es geht ihr wie Ödipus im griechischen Mythos: Auch er versucht, dem Schicksalsspruch seiner Kindheit zu entkommen, und gerade dadurch wird die Erfüllung des Orakels erst möglich.

 

Zur Erinnerung: Das Orakel von Delphi prophezeit König Laios, sein Sohn werde ihn einst töten und seine eigene Mutter heiraten. Um den schrecklichen Schicksalsspruch abzuwenden, will Laios seinen neu geborenen Sohn Ödipus töten lassen. Der dazu ausersehene Hirte bringt es jedoch nicht übers Herz, die Tat auszuführen und setzt ihn lediglich in den Bergen aus. Dort wird er gefunden und wächst bei einem anderen König auf, den er für seinen Vater hält. Als der heranwachsende Ödipus von dem Orakelspruch erfährt, will er seinen vermeintlichen Vater beschützen und verlässt dessen Königreich. An einem Kreuzweg begegnet er seinem wahren Vater Laios, den er im Jähzorn erschlägt, ohne zu wissen, wer er ist. Das Orakel erfüllt sich.

 

Ob wir wollen oder nicht, wir müssen uns mit den »Orakelsprüchen« unserer Kindheit, mit dem schicksalhaften Erbe unserer Eltern auseinandersetzen. Damit meine ich in erster Linie das psychische Erbe. Wenn wir die Vergangenheit nur verleugnen und töten wollen, geht das auf die Dauer nicht gut. Das hat auch Gigi in der letzten Geschichte erfahren müssen. Sicher, in einer bestimmten Zeit der Ablösung kann es notwendig sein, Vater und Mutter zu hassen. Nur dient es nicht der Entwicklung, in diesem Hass stecken zu bleiben.

 

Eine der Möglichkeiten, sich sehr intensiv mit dem »elterlichen Erbe« auseinanderzusetzen, ist der so genannte »Quadrinity-Prozess«. Diese Gruppe dauert eine Woche lang und – vereinfacht gesagt – dienen die ersten Tage dem »Elternmord«. Anhand von Fragebögen findet jeder Teilnehmer die negativen Denk-, Verhaltens-, und Gefühlsmuster heraus, die er von den Eltern übernommen hat. Die erste Hälfte der Woche ist dazu da, sich zu »reinigen«, diese negativen Muster »zurückzugeben«. In dieser Phase ist es wichtig, sich Schmerz, Wut und Hass zu erlauben. Zum Abschluss dieser ersten Gruppenphase schreibt jeder Teilnehmer einen Hassbrief an Mutter und Vater, in dem alle Vorwürfe– die vielleicht noch nie sein durften – aufs Papier kommen.

 

Die zweite Hälfte dieser Woche dient der Versöhnungsarbeit. Man lernt, die Welt durch die Augen der Eltern zu sehen, die ja auch nur Kinder von Eltern sind. Hinter den Eltern stehen die Großeltern, dahinter die Urgroßeltern, die ganze Ahnengalerie. Ein Verständnis für die Geschichte der Eltern zu bekommen, ist genauso wichtig wie die Ablösung in Phase eins dieser Gruppe. Am Ende der Woche schreibt jeder Teilnehmer schließlich einen Dankes- und Liebesbrief an Vater und Mutter.

 

Rosa bleibt bei Phase eins dieses Prozesses stehen, und das bekommt ihr nicht, das bekommt niemandem. Dass das Erbe des Vaters noch sehr fruchtbar ist, erfährt sie durch die Schwangerschaft.

 

Welches »Entwicklungskind« auch immer da geboren wird, es zeigt Rosa, dass das Erbe des Vaters in ihr noch lebendig ist. Auch bei Gigi aus dem ersten Märchen ist das so, auch er wird seinen Vater nicht wirklich los. Er ergreift denselben Beruf und lebt im selben Dorf wie dieser.

 

Wenn man in einer Hassbeziehung zum Vater lebt wie Rosa, wird man, wenn man sich in seiner Spur wiederfindet, diesen Entwicklungsimpuls abtöten wollen: »Ich will nie so werden wie du (es willst)! Ich will völlig unabhängig von dir sein, ich schlage dein ‚Erbe’ aus«! So gibt man diesem Entwicklungskind die Messerstiche und schickt es ins Meer, das heißt ins Reich des Unbewussten, zurück.

 

Ein Sprichwort sagt: »Reife heißt, das Rechte auch dann zu tun, wenn es die Eltern empfohlen haben«. Diesen Satz möchte man Rosa ans Herz legen. Nur weil sie sich auf einmal in einer Entwicklung sieht, die an den Vater erinnert, die das väterliche Erbe wieder lebendig werden lässt, muss das ja noch nicht schlecht sein. Was soll denn an diesem kleinen, unschuldigen Büblein so schlimm sein, dass man ihm Messerstiche versetzen muss? Warum muss alles, was vom Vater kommt, grundsätzlich getötet werden, nur weil es vom Vater, weil es männlich ist? Menschen die prinzipiell alles ablehnen, was von Vater oder Mutter kommt, sei es im Sinne des materiellen, psychischen oder geistigen Erbes, sind in dieser Rosa-Haltung gefangen. Zwanghaftes Rebellieren ist eine Form von Abhängigkeit.

 

Wie wohltuend in dieser düsteren Geschichte wirkt die Gestalt des Kapitäns! Er ist der Gegenentwurf zum Vater der drei Töchter, er ist am Lebendigen interessiert und nicht an Dingen. Als Seefahrer ist er auf dem Meer zu Hause, verbunden mit dem weiblichen Element Wasser. Diese mitfühlende, gütige Vaterfigur ist in dieser Geschichte enorm wichtig. Wenn es überhaupt etwas Mütterliches in den Gestalten dieses Märchens gibt, dann am ehesten in diesem Kapitän. Wie ein liebevoller Therapeut kümmert er sich um die Wunden des kleinen Kindes, um die Verletzungen aus dem Reich der Vergangenheit.

 

Wie wenig bezogen und liebevoll dagegen Rosa ist, merkt man auch, als sie ihren Sohn heiratet. Erst nach Jahren des Zusammenlebens, nachdem sie schon mehrere Kinder miteinander haben – auch das wieder symbolisch als »Entwicklungskinder« zu verstehen – bemerkt sie seine Verletzung. Sie hat ihn anscheinend nie danach gefragt, und er hat nie davon gesprochen. Es herrscht dieselbe Sprachlosigkeit, die auch die Beziehung der Freier und der Schwestern am Anfang der Geschichte kennzeichnet.

 

Das mütterliche Element fehlt an allen Ecken und Enden. Allerdings kommt es – zumindest symbolisch – am Ende der Geschichte vor. Der Sturz vom Dach, wohin führt der? Zu Mutter Erde. Alle Gruppenteilnehmer, die mit dieser Szene arbeiten, erleben Rosa, wie sie sich kopfüber vom Dach stürzt. Das heißt auch, sich von einer kopfgesteuerten Haltung zu lösen, die Bereitschaft zu Hingabe und Loslassen zu entwickeln. Es erinnert an die Tarotkarte des Hanged Man, des Gehängten. Dort wird ein Mann gezeichnet, der mit dem Kopf nach unten an einem Kreuz hängt und einen Strahlenkranz um sein Haupt hat. Eine Botschaft dieser Karte ist, dass es manchmal notwendig ist, sich »hängen« zu lassen, sich fallen zu lassen, sich in eine archetypisch weibliche Haltung zu begeben, um eine neue Sichtweise, eine »Erleuchtung« zu bekommen. »Kopfunter hängend sehe ich alles anders« heißt ein Buch des Therapeuten Sheldon Kopp.

 

Rosa hat ja lange Zeit mit »hoch erhobenen Haupt«, in einer sehr männlich-kriegerischen Haltung gelebt, hat das geradezu auf die Spitze getrieben. Wer in dieser Haltung lange unterwegs ist, muss irgendwann vom Dach springen. So gesehen wäre der Tod Rosas – im positiven Sinne – als Abschied von einer Lebenshaltung zu verstehen, die in ihrer Einseitigkeit überwunden werden muss.

 

Am Ende der Geschichte stellt sich die Frage: Soll ich mich überhaupt mit den Geheimnissen und Gespenstern der Vergangenheit auseinandersetzen? Soll ich wirklich schlafende Hunde wecken? Die Geister, die ich rufe, werde ich vielleicht nicht mehr los! Wer weiß, wohin mich das führt? Diese Einstellung ist verständlich, nur, in der Logik dieser Geschichte würde das heißen, wie die älteren Schwestern zu leben, in einer vergleichsweise sicheren Idylle, aber ohne Herz und sehr unbewusst. Wenn ich bereit bin, den Weg von Rosa zu gehen, bin ich auf der Achterbahn des Lebens, dann bekomme ich es mit Goethes Weisheit zu tun: »Wenn du das nicht hast, dieses Stirb und Werde, bist du nur ein trüber Gast auf dieser dunklen Erde«. Die alte Rosa ist gestorben, wer weiß, wie die neue Rosa aussehen wird!