4.5. Vom Fürsten, der ein Dämon wurde
 

Wenn das Lagerfeuer brennt und der Rauch in die Nasen steigt, kommt es vor, dass einer der ältesten Jäger nachdenklich wird und sagt: »Hört ihr, Jäger, wie der gefällte Baum stöhnt? Brüder, hört ihr das Rauschen seiner Blätter? Haltet euch auf den rechten Pfaden, ihr tapferen Freunde! Es ist der Dämon der Jäger, der euch ruft.« Und er erzählte die alte Geschichte:

 

Einmal lebte in unserem Land ein Fürst, der von der Jagd besessen war. Ganze Tage verbrachte er in den Dickichten des Dschungels. Er folgte der Spur des Tigers, und wenn es ihm nicht gelungen war, das Wild zu treffen, kehrte er ermüdet und missmutig heim. Eines Tages nahm er sich vor, den allergrößten Tiger zu erlegen, den je ein menschliches Auge erblickt hatte.

 

Es kümmerte ihn nicht, dass seine Frau daheim ein Kind erwartete. Unablässig lauschte er nur den Stimmen der Wildnis und begab sich wieder auf die Jagd. Die Gier nach dem Blut des Tigers hatte ihn so verblendet, dass er sogar vergaß, den Göttern ein Opfer zu bringen. Die Alten warnten ihn deswegen, doch der Fürst lachte nur und zerschnitt ein starkes Palmblatt mit der scharfen Klinge seines Messers.

 

»Dieser Dolch allein ist mein Freund und Beschützer!«, prahlte er. »Mag sich nur jeder melden, der seine scharfe Klinge nicht fürchtet.« Dann warf er sich ins Dickicht der Kletterpalmen und folgte begierig den Stimmen der wilden Tiere.

 

Wenn er erfolglos von der Jagd zurückkam, betrank er sich am Lagerfeuer mit Palmwein, und mit lallender Zunge verlästerte er den Dschungel: »Ich rufe euch, ihr feigen Herrscher des Waldes! Dich rufe ich, du blutrünstiger Tiger! Ich lade euch ein, meinen Dolch aus der Nähe zu betrachten. Kommt nur her, um mich zu holen.«

 

Da tönte von nahe ein furchtbarer Tigerschrei, und am Rand des Dschungels war ein riesiger Schatten zu sehen.

 

»Wir werden dich holen«, flüsterte der Dschungel, und im Dickicht glühten die Lichter von wilden Augen. Der Radscha stutzte. Doch dann lief er unerschrocken in den dunklen, geheimnisvollen Regenwald. Seine Freunde folgten ihm zögernd. Sie riefen jedoch vergebens nach ihm, der Herrscher meldete sich nicht mehr.

 

Er schlug sich einen Pfad durch das Bambusdickicht und das Netz der Kletterpalmen. Er riss den wilden Farn aus dem feuchten Erdboden und stolperte über morsche Baumstämme. Der Schatten des riesigen Tigers schien zum Greifen nahe zu sein. Als er aber schon zum Todesstoß ausholen wollte, schlangen sich die federnden Lianen um seine Füße und fesselten ihn, sodass er kaum noch gehen konnte.

 

»Sei willkommen, Brüderchen«, ertönte da plötzlich eine spöttische Stimme aus nächster Nähe, und über sich erblickte der entsetzte Radscha den Kopf des blutrünstigen Tigers. Er wollte sich aus der Umschlingung der Lianen befreien, doch das Raubtier knurrte: »Du mühst dich vergebens, törichter Mensch! Du bist dem Dschungel verfallen.«

 

»Wer bist du?«, fragte der Fürst beklommen. »Dein Tigerfell täuscht: Du bist in Wirklichkeit kein Tier!«

 

»Ich bin der Dämon, der über die Geister des Waldes herrscht. Du hast mein Volk beleidigt, den Dschungel verlästert. Deshalb nehme ich dir auf ewig deine menschliche Gestalt. Du sollst so lange eine Tierhaut tragen, bis ein tapferer Jäger mit seinem Messer dein Herz durchbohrt. Dann aber wirst du dich in einen Dämonen verwandeln. Ich nehme dich dann in mein Volk auf. Ein Mensch kannst du niemals mehr werden!«

 

Der Tiger verstummte und verschwand. Vergeblich rief der Herrscher nach seinen Freunden. Seine Stimme ähnelte bereits dem Brüllen des Tigers, und sein Körper bedeckte sich nach und nach mit einem abscheulichen Fell. Da begann der hohe Fürst, vor Schrecken zu weinen.

 

In jener schicksalsschweren Nacht aber wurde seiner Frau ein Sohn geboren. Als ihm die Mutter zu trinken gab, hörte sie aus dem Dschungel die Stimme eines Tigers. Es klang wie ein Klagegesang, und so ging die Frau vor die Schwelle und lauschte.

 

»Habt ihr es auch gehört?«, fragte sie die Dorfbewohner, die vorbeikamen, »der Tiger weint.« Doch die Leute im Dorf lachten sie heimlich aus oder hielten sie, so kurz nach der Entbindung, für fieberkrank. Wer hatte auch je gehört, dass ein Tiger weinen konnte? Der Radscha aber kehrte nie zurück. Es vergingen Tage, Wochen, Monate und Jahre. Schon viele Male hatten die Bauern Maniok und Betel geerntet. Der kleine Junge wuchs heran und spielte mit den anderen Kindern des Dorfes. Doch hinter seinem Rücken flüsterten sich die Leute zu, er habe keinen Vater. Das machte den Jungen sehr traurig.

 

»Mutter, wo ist mein Vater geblieben?«, fragte er eines Tages, »alle lachen mich aus.«

 

Die Mutter führte ihn an den Rand des Dschungels und erzählte ihm die Geschichte von dem Jäger, der sich vorgenommen hatte, den größten Tiger der Welt zu erlegen. »Er wird nie mehr von der Jagd zurückkehren, der Dschungel lässt ihn nicht mehr los«, sagte sie traurig. »Hörst du, mein Sohn, das Weinen des Tigers? Es klingt wie die Stimme deines Vaters.«

 

Der Sohn lauschte ein Weilchen, dann erwiderte er: »Mein Herz sagt mir, dass mein Vater lebt. Die Klage des Tigers lockt mich auf den Pfad der Jagd. Mutter, der Dschungel ruft auch mich!«

 

»Ich fürchte, dein Vater weilt nicht mehr unter den Menschen, mein Sohn! Mir scheint, das Tigerweinen ähnelt dem Wimmern der Dämonen in mondlosen Nächten. Doch darf ich dich nicht von deinem Vorhaben abhalten. Die Stimme des Blutes ist stärker als die Liebe einer Mutter. Folge dem Pfad deines Vaters, mein Sohn.«

 

Und sie gab ihrem Jungen einen kostbaren Kris mit auf den Weg, den einst ein Waffenschmied geschaffen hatte, der über Zauberkräfte verfügte. Dieser Kris war in der Familie von Geschlecht zu Geschlecht vererbt worden.

 

»Wenn du im Dschungel deinen Vater treffen solltest, so gib ihm seine liebste Waffe zurück! Aber reiche sie ihm mit der Klinge gegen sein Herz gerichtet, sonst wird dich ein Unglück treffen. Dies sagt mir eine innere Stimme«, ermahnte sie ihn.

 

Der Sohn ging in den Dschungel. Er folgte dem Klang des Tigerweinens, und er betrat verschlungene Pfade, welche die Jäger sonst mieden. Im dunkelsten Gebüsch traf er auf ein sonderbares Geschöpf, das mit Lianen an den Stamm eines hohen Baumes gefesselt war. Es war weder Mensch noch Tier. Seinen Körper bedeckte ein widerlich gelbes Fell, seine Hände waren zu Raubtierkrallen verformt, und aus seiner Kehle kam das jämmerliche Weinen eines Tigers. Nur sein Antlitz trug menschliche Züge. Der Junge fasste Mut und sprach das unbekannte Wesen an: »Wer bist du, unglücklicher Mann?«

 

»Ich bin jener, der den Dschungel lästerte«, antwortete das Ungetüm und erzählte seine Geschichte, die Geschichte des unglücklichen Jägers.

 

»Dann bist du mein Vater«, rief der Sohn freudig aus und wollte ihm mit dem Zauberkris die Lianenfesseln durchschneiden. Doch der Mann bat ihn einzuhalten und gebot ihm, erst ins Dorf zurückzukehren und dort vor seiner Hütte eine Zwergpalme zu pflanzen.

 

Der Junge gehorchte. Als er am nächsten Morgen in den Dschungel zurückkehrte, bat ihn der Vater: »Gib mir meinen Kris zurück! Aber wenn dir dein Leben lieb ist, so denke an den Rat deiner Mutter.«

 

Der Sohn zerschnitt mit einem kräftigen Hieb die Fesseln des Vaters. Dann legte er ihm den Kris mit der Klinge gegen des Vaters Herz gerichtet in die Hand. Da drang die Spitze der Zauberwaffe in das Herz des Ungeheuers, und sofort verwandelte es sich in einen Dämon. Mit befreitem Lachen flog er in die Spitze eines gespaltenen Baumes, den die Leute als Geisterfalle bezeichneten.

 

»Du hast gut getan, auf meinen und den Rat deiner Mutter zu hören«, rief er. »Wenn du mir den Kris so gereicht hättest, wie die Menschen ihn einander geben, würde die Klinge dein eigenes Herz durchbohrt haben. Möge dich nun die Zwergpalme, die du vor deiner Hütte gepflanzt hast, bis zu deinem Tod vor meiner dunklen Macht schützen. Kehre heim in Frieden, mich rufen die Geister, meine neuen Freunde!«

 

Durch den Dschungel grollte plötzlich wieder das Brüllen des Tigers, und zu den Füßen des Knaben fiel ein lebloser Tierkörper nieder. Es war das größte Raubtier, welches ein Mensch je erblickt hatte. Der Jüngling zog ihm das gestreifte Fell ab und trug es in sein Dorf.

 

Für seinen Mut und seine Tapferkeit wurde er zum ersten Jäger der Insel gewählt. Seit jener Zeit aber hörte niemand mehr in der Nacht das Weinen des Tigers. Doch noch heute pflanzen die Menschen Zwergpalmen vor ihre Hütten, um sich vor den Dämonen des Dschungels zu schützen. (MÄRCHEN AUS INDONESIEN)

 

4.5.1. Überlegungen zum Märchen
 

Der Therapeut Viktor Frankl sagte einmal: »Nimm dir immer das höchste Ziel vor, nur dann schaffst du das, was möglich ist.« Das scheint auch das Motto dieses Fürsten zu sein, der den allergrößten Tiger des Dschungels erlegen möchte. Man könnte sich an unseren Ex- Bundeskanzler erinnern, der als junger Mann schon am Tor zum Kanzleramt gerüttelt haben soll mit den Worten: »Ich will da rein!«

 

Für einen Sportler mag der große Tiger die Goldmedaille oder der Weltmeistertitel sein, für den Politiker das Kanzleramt, für den Schauspieler die Hauptrolle in einem Hollywood-Film, für den spirituell Suchenden die Erleuchtung. Jeder jagt seinen eigenen großen Tiger. Wie sieht dein Tiger aus?

 

Die Haltung dieses Fürsten erinnert an den Königssohn aus dem bereits erwähnten Grimmschen Märchen „Der Königssohn, der sich vor nichts fürchtet“. Dieser kommt auf seiner Wanderschaft vor das Haus eines Riesen. Da ihm langweilig ist, beginnt er, mit den Kegeln, die dort herumliegen, zu spielen. Als der schlafende Riese durch diesen Lärm erwacht, stellt er den Königssohn zur Rede: Wie er es wagen könne, ungefragt mit diesen Kegeln zu spielen? Der Königssohn antwortet völlig respektlos: »Du Klotz, ich kann alles, wozu ich Lust habe!«

 

»Alles ist möglich, wenn ich es nur wirklich will«, scheint das Motto des Königssohns wie auch dieses Fürsten zu sein. Mit diesem Omnipotenzgefühl, dieser Siegermentalität durch das Leben zu gehen, ist die notwenige Vorraussetzung, Grosses zu erreichen. Nur wer sich zutraut, den großen Tiger zu erlegen, »das große Wasser zu durchqueren« (ein Motiv aus dem chinesischen I Ging), kann es auch schaffen.

 

Trainer oder Therapeuten, die mit Visionstechniken arbeiten, empfehlen etwa: Schließe jeden Tag einmal für fünf Minuten die Augen und sieh dich am Ziel! Sieh dich z.B. als umjubelter Star auf der Bühne oder mit der Goldmedaille um den Hals auf dem Siegertreppchen. Stecke das Ziel so hoch wie möglich, sei ruhig »unverschämt«! Gib deiner Vision Kraft. Nur dann kann sie Wirklichkeit werden!

 

Was geschieht aber, wenn das große Ziel erreicht ist? Wie viele Olympiasieger haben sich zu Tode getrunken, wie viele Stars haben sich umgebracht, wie viele Lottogewinner verfluchen im Nachhinein ihr »Glück«! Von einem englischen Lord stammt der Ausspruch: »Es gibt zwei schlimme Dinge im Leben: einmal wenn dir ein Herzenswunsch nicht erfüllt wird, zweitens wenn er dir erfüllt wird.

 

Leben findet immer im Hier und Jetzt statt, der Weg ist das Ziel. Es ist letztlich eine Illusion unseres Verstandes, dass wir endgültig und für immer glücklich sein werden, wenn wir das Ziel erreicht haben. Trotzdem ist es wichtig, Visionen zu haben, um begeistert unterwegs zu sein.

 

Das Problem dieses Fürsten ist also nicht, dass er dieses hohe Ziel hat. Den klassischen Heldentypen zeichnet ja gerade diese Art von »Unverschämtheit« in der Zielsetzung aus. Das Problem des Fürsten ist auch hier wieder die Einseitigkeit seiner Haltung und die mangelnde Anbindung an das Weibliche. Er verlästert den Dschungel, der – wie der Wald – für das Reich des Unbewussten steht.

 

Er durchschneidet ein Palmblatt mit der scharfen Klinge seines Messers: Diese scheinbar nebensächliche Handlung erzählt viel über seinen Umgang mit Mutter Natur, dem Grossen Weiblichen. Da erscheint es nur konsequent, dass die Beziehung zu seiner Frau (wohl eher eine Nicht-Beziehung) bis dato kinderlos, also »unfruchtbar« ist. Und als diese dann schwanger wird, ist er auf Tigerjagd. Das ist in Märchen häufig so: Ein König oder Held ist im Krieg, auf Abenteuer in der äußeren Welt unterwegs, während zu Hause ein Kind geboren wird.

 

Auf die Realität übertragen: Viele Frauen erzählen, dass ihre Heldenmänner niemals da waren in der Zeit der Schwangerschaft und Geburt des gemeinsamen Kindes, da sie »Wichtigeres« zu tun hatten: eben den großen Tiger, dass heißt, nach Anerkennung und Erfolg in der äußeren Welt zu jagen. Subjektstufig gesehen handelt es sich bei dem Fürsten um jemanden, der nicht bemerkt, dass in seinem Inneren etwas neu geboren wird, dass er sozusagen selbst »schwanger geht« mit einem neuen Entwicklungsimpuls.

 

Nun kommt es zu einem Wendepunkt, zur »notwendigen« Krise: Die einseitige, auf die Spitze getriebene Männlichkeit des Fürsten fordert den Gegenpol heraus. Die Lianen des Dschungels schlingen sich um seine Füße, er wird sozusagen an Mutter Erde gefesselt. Lianen erinnern an Schlangen. Die Schlange taucht im Märchen meist in entscheidenden Wandlungssituationen auf – ist sie doch selbst durch ihre Häutung ein Symbol für den Wandlungscharakter des Lebens!

 

Taucht die Schlange auf, steht eine Stirb- und Werde-Erfahrung an. Und: die Schlange gehört zum Symbolkreis der dunklen Mutter. Das Grosse Mütterliche hat zwei Seiten. Den hellen, nährenden und Leben spendenden sowie den dunklen, verschlingenden und tödlichen Aspekt. Die Nacht etwa ist morgens die Leben spendende Mutter, weil sie aus ihrem Bauch das Tageslicht entlässt, abends ist sie die schreckliche Mutter, die das Tageslicht wieder verschlingt. An dieser Macht scheitert der jagdbesessene Fürst.

 

Die Geschichte erinnert an Orion aus der griechischen Mythologie. Auch Orion war ein großer Jäger, er war so vermessen, dass er glaubte, alles Wild der Erde erlegen zu können. Auch er war ein Besessener, wollte unbesiegbar, unwiderstehlich sein, auch bei Frauen. Er begegnete auf seiner Wanderschaft der Göttin Artemis und – ganz Jäger wie er war, vergewaltigte er die Göttin. Auch er forderte das Schicksal heraus, und wie dieser Fürst wurde er in einen schmerzhaften Wandlungsprozess gezwungen.

 

Die empörte Göttin sandte ihm einen Skorpion, der Orion stach und tötete. Erst in der Erfahrung des Sterbens lernte dieser die so lange vermiedene, ganz andere Seite seines Wesens kennen: Ehrfurcht, Hingabe, Staunen. Zeus honorierte Orions Wandlungsprozess und versetzte ihn als Sternbild an den Himmel. So erzählt der Mythos.

 

Unterwegs zu sein wie Orion oder der Fürst in unserer Geschichte ist ein Privileg der ersten Lebenshälfte. Alles auf eine Karte zu setzen, den höchsten Berg der Erde besteigen zu wollen, mit einer Art »Himalaja-Syndrom« zu leben. Aus solch einem Holz sind Menschen geschnitzt, die Großes bewegen, die ein großes Rad drehen, die Geschichte schreiben.

 

Nur erzählen Märchen und Mythen auf jeweils unterschiedliche Weise, dass diese Mentalität in der zweiten Lebenshälfte nicht mehr angemessen ist. »In der Lebensmitte wird der Tod geboren«, sagt C.G. Jung, und wenn wir nicht sehr gut im Verdrängen sind, werden wir spätestens jetzt bemerken, dass die Kräfte nicht mehr zunehmen und wir in einem sterblichen Körper wohnen. Gerade Menschen, die das Schicksal, die Götter so herausfordern wie dieser Fürst oder wie Orion, bewegen sich zielsicher auf eine Wandlungserfahrung zu, meist ganz unbewusst.

 

Nun offenbart sich der Sinn dieser Grenzerfahrung: Im Moment der tiefsten Verzweiflung, in der die Haltung des großen Jägers stirbt, wird der kleine Sohn, der neue Entwicklungsimpuls geboren. So oder ähnlich geschieht dies in vielen Märchen.

 

Wenn der Held sich im dunklen Wald, im Dschungel des Unbewussten verirrt hat, kommt die Wende erst im Moment der absoluten Verzweiflung und Dunkelheit. Dann erscheint in der Regel eine Gestalt aus dem Symbolkreis des höheren Selbst, der göttlichen Führung, sei es eine gute Fee, ein alter Weiser oder ein hilfreiches Tier. Niemand fällt so tief, dass er nicht in Gottes Hand fällt!

 

Wenn wir mit der einseitigen Siegermentalität dieses Fürsten leben, gibt es in der Regel um die Lebensmitte herum ein derartiges »LianenErlebnis«. Das kann etwa eine Krankheit sein, eine Beziehungskrise oder eine Ohnmachterfahrung im Beruf. Wenn wir diese Krise zulassen, »verzweiflungsbereit« sind, kann das neue Entwicklungskind in uns geboren werden!

 

Der Fürst bekommt es in dieser entscheidenden Situation mit der Angst zu tun, er lernt das Fürchten und beginnt zu weinen. Welch ein Kontrast zu dem anfänglichen Supermann! Die Polarität Großer Krieger – Jammerndes Häufchen Elend existiert in vielen Menschen, vor allem in Männern mit der »Fürsten-Haltung«. Wer solch hohe Ziele verfolgt, »einsame Spitze« werden will, ein »Überflieger«, will sich soweit wie möglich von Mutter Erde entfernen. Aber wir alle waren einst ein kleines Kind, abhängig und ohne Macht, ohnmächtig der Mutter ausgeliefert.

 

In dieser frühen Phase, die oft so angstvoll und schmerzlich erlebt wird, in der die Mutter als übermächtige Herrscherin über Leben und Tod erscheint (Wenn sie nicht kommt und uns nährt, müssen wir sterben!) können solche Fürsten-Konzepte geboren werden. Dann heißt es: Nie wieder will ich abhängig, schwach und bedürftig sein! So kann aus dem verletzten kleinen Sohn der große Krieger werden.

 

Verletzte Sohn-Krieger rächen sich dann am so bedrohlich machtvoll erlebten Mütterlichen, machen sich die Erde untertan, sehen im Dschungel nur Feinde oder Beutetiere und durchschneiden das Palmblatt genauso wie die Beziehung zum Weiblichen. Bis zur »Lianensituation« existiert das Weibliche so gut wie nicht. Weder scheint der Fürst auf seine Frau im Außen bezogen, noch hat er einen Draht zu seiner inneren weiblichen Welt. Das ändert sich erst in der Krisensituation.

 

Als die Haltung des Fürsten »stirbt«, wird der Sohn geboren, und was für ein Sohn! So könnte der Mann des neuen Zeitalters aussehen. Ein starker Kriegermann auf der einen Seite, der den Dolch des Vaters erbt, der auf der anderen Seite auf den Rat seiner Mutter hört, Naturverbundenheit und Mitgefühl kennt. Er ist nicht nur Jäger, sondern auch fähig, eine Palme zu pflanzen. Und zwar eine Zwergpalme! Ein wunderschönes Bild dafür, wie die Einseitigkeit des Vaters überwunden werden kann. Die Zwergpalme ist der magische Schutz dagegen, nicht der Mammutbaum!

 

In der Arbeit mit dieser Geschichte habe ich von vielen Gruppenteilnehmern die Frage gehört: Warum konnte dieser Fürst nicht erlöst werden? Warum musste er endgültig in die Welt der Dämonen verschwinden? Mir erscheint das sehr logisch, sehr konsequent, weil eine derartige Einseitigkeit, eine Haltung, wie sie der Fürst am Anfang der Geschichte verkörpert, dem Leben nicht dienen kann. Zumindest nicht auf Dauer – und deswegen muss sie verabschiedet werden.

 

Falsches Mitgefühl mit dem Vater, oder besser mit dessen einseitiger Lebenshaltung würde zum Tod des Sohnes führen. Die neue Entwicklung wäre gestoppt. Das weiß die Mutter und inzwischen auch der Fürst selbst, der seinen eigenen »Tod« geradezu herbeizusehnen scheint. Welch befreites Lachen wird möglich, wenn wir uns endlich von unseren lebensfeindlichen, rein männlichen Zielen und Idealen verabschieden! Dieses ewige: »Ich bin besser als du, ich habe Recht, ich zeig’s euch allen …«, das diesen Planeten zerstört!

 

Für Christenmenschen ist es in der Regel eine große Herausforderung, das Messer in Richtung des Vaters Herz zu reichen. Doch wenn du nicht manchmal bereit bist, das Messer zu gebrauchen, kommst du selbst unters Messer! Der Sohn verbindet auf wunderbare Art Mitgefühl mit absoluter Entschiedenheit.

 

Und dann fällt ihm buchstäblich vor die Füße, wonach sein Vater sein Leben lang gejagt hat: der riesige Tiger. »Der Weise tut nichts, doch bleibt nichts ungetan«, sagt Laotse. Sehr häufig ist es im Märchen die Haltung des »absichtslosen Helden«, die zum Erfolg führt. Ich erinnere an die Dummlingsgestalt, die in so vielen Märchen aller Länder auftaucht, meist von den älteren Brüdern verachtet, nicht ernst genommen vom Umfeld.

 

Und doch wird gerade dieser naive unschuldige Narr am Ende König. Vielleicht gerade, weil er nicht gierig auf den Königsthron ist, weil er ein gutes Herz hat, eine gute Anbindung an die innere Stimme, an die Weisheit des Unbewussten. Das zeichnet den Dummlingstypus aus, als Gegenpol zu dem vor allem im Westen verherrlichten »aktiven Helden«.

 

Dass der Sohn des großen Jägers intuitiv richtig handeln kann, liegt mit Sicherheit an seiner Anbindung an die mütterliche Weisheit. Spätestens seit der Fürst in den Lianen gefangen ist, übernimmt seine Frau, das Weibliche, die Regie. Sie versteht als einzige das Tigerweinen, erkennt darin die Stimme ihres Mannes, und – vielleicht ihre größte Heldentat – sie lässt ihren Sohn los!

 

Für den Sohn ist es notwendig, den Spuren des Vaters zu folgen, auch wenn er dann einem Ungeheuer begegnet. Der Sohn blickt dem Vater in die Augen, er hört auf seine Botschaft genauso wie auf den Rat seiner Mutter – er ehrt Vater und Mutter!

 

Als Tristan sich auf den Weg zu Isolde nach Irland macht, nimmt er zwei Dinge mit: Schwert und Harfe. Das macht den »Neuen Mann« aus: mit Schwert und Harfe unterwegs sein, den Dolch benutzen können und die Zwergpalme pflanzen!

 

Der Sohn in diesem Märchen stellt sich der Herausforderung der Ahnengalerie. Der Zauberdolch wurde schließlich von Geschlecht zu Geschlecht weitervererbt. Und doch bleibt er nicht bei der Einseitigkeit des väterlichen Erbes stehen. Er findet den Weg zur Ganzheit.

 

Noch einmal zurück zur Zwergpalme: Warum soll gerade sie ein Schutz sein gegen die dämonische Macht des Vaters? Zum einen verbindet der Baum Vater Himmel und Mutter Erde, und allein dadurch ist er ein Ganzheitssymbol. Auch erscheint die Zwergpalme ein stimmiger Gegenentwurf zum Größenwahn dieses Fürsten zu sein. Geschichten aller Völker erzählen, dass der wahre Erleuchtete ein einfacher Gärtner oder Eselstreiber sein kann und nicht der Fürst auf dem weißen Elefanten sein muss.

 

Es gibt eine Geschichte, in der ehrfurchtsvolle Pilger einen spirituellen Lehrer aufsuchen und ihn fragen, wie er denn seinen Tag verbringt. Sie vermuten wohl, dass er morgens erst einmal eine Stunde auf dem Wasser wandelt, dann ein paar unheilbar Kranke ins Leben zurückholt und nebenbei ein paar Dämonen verscheucht. Wie auch immer, seine Antwort ist: Ich schöpfe Wasser und trage Feuerholz. Wie großartig, wie geheimnisvoll!

 

Das Großartige, das Göttliche auch im scheinbar Kleinen und Unbedeutenden zu achten, jede alltägliche Handlung als heilige Handlung, als letzte Schlacht auf Erden zu betrachten, das bedeutet, die Zwergpalme zu pflanzen. So kann dieser Fürst, der auf diesem Planeten noch viel zu viel Macht hat, überwunden werden!