2.1. Kollektive beziehungsweise individuelle Betrachtungsweise
 

Zunächst einmal lohnt es sich, Märchenmotive auf der kollektiven Ebene zu betrachten. Wer zum Beispiel ist der alte König, der am Anfang eines Märchens so häufig Witwer ist, dem die Königin gestorben ist, aus kollektiver Sicht? Er ist der einsame Vatergott im Himmel, der keine gleichwertige weibliche Göttin an seiner Seite hat, sozusagen unverheiratet ist. Er ist der Geist der Väter, der in unserer Welt einseitig männliche Wertvorstellungen vertritt: Leistung, Erfolg, Macht, einsame Spitze werden, uns die Erde untertan machen.

 

Diese Ausgangssituation ist in Märchen aller Kulturen und aller Völker bezeichnenderweise häufig zu finden. Der König ohne Königin, der Vater, dem die Frau gestorben ist, wie bei uns zum Beispiel im Märchen von Aschenputtel. Hildegunde Wöller schreibt in ihrem Buch über dieses Märchen: „Die verstorbene, gute Mutter Aschenputtels ist nicht irgendeine beliebige Gestalt, sondern die Mutter schlechthin, die Große Göttin, die matriarchale Weisheit, die seit Jahrtausenden auf diesem Planeten ein Schattendasein führt. Der »Ersatz« dafür ist die herzlose, böse Stiefmutter Aschenputtels, die von archetypisch weiblicher Weisheit weit entfernt erscheint.“

 

Auf der individuellen Ebene betrachtet, ist dieser einsame, alte, blinde oder kranke König am Märchenanfang ein Bild für einen Menschen, der sich in einer Depression befindet, in einer Phase der Unlebendigkeit, Aussichtslosigkeit, in der das alte System rigide geworden ist, keine neue Lebensmöglichkeit mehr zulässt. Das vorherrschende Bewusstsein, das Wertesystem, für das er steht, dient der Entwicklung nicht mehr. Der alte König muss übrigens nicht alt an Jahren sein, auch im Leben junger Menschen gibt es Zeiten der Stagnation. Man reitet – um es mit den Indianern zu sagen – auf einem toten Pferd. Häufig tritt in jener Zeit das Gefühl der Langeweile auf (»kenn ich alles schon«), keine neue Entwicklung erscheint möglich. Das Wasser des Lebens fehlt, neue Impulse fehlen – und was dann passieren kann, oder soll, oder muss, um zu neuer Lebendigkeit zu finden, das erzählen Märchen auf unterschiedliche Weise.

 

C.G. Jung hat einmal gesagt: „Was lange bewusst ist, wird schal“. Wenn wir mit demselben Bewusstsein, demselben Wertesystem, das wir vor zwanzig Jahren hatten, auch heute noch leben, können wir in der Regel damit rechnen, dass unserer innerer König alt, müde und grau geworden ist und es Zeit wird, einen inneren Helden auf die Entwicklungsreise zu schicken, der aus dem Universum nebenan neue Impulse ins alte Königreich bringt.

 

Konkret mag das bedeuten, einen Beruf aufzugeben, der einem schon lange keine Freude mehr macht, eine innerlich tote Beziehung zu beenden, einen Platz zu verlassen, an dem man sich schon lange nicht mehr zu Hause fühlt, und Abenteuer in einer bisher unbekannten Welt zu suchen. Das Reich des alten Königs zu verlassen mag etwa bedeuten, eine Reise in ein bisher unbekanntes Land zu unternehmen, oder neue Impulse auf der geistigen Reise zu suchen (zum Beispiel eine neue Ausbildung), oder sich auf das Abenteuer therapeutischer Selbsterfahrung einzulassen, oder sich auf einen der vielfältigen Wege der spirituellen Suche zu begeben.

 

Noch einmal: der kollektive Aspekt des alten Königs ist der Geist der Väter, der Geist des alten patriarchalen Herrschers, des einsamen Vatergottes im Himmel. Individuell ist es der König, der in uns regiert, wenn wir im Hamsterrad leben, wenn unsere Lebensplatte einen Sprung bekommen hat, wenn wir in unserer Automatisierung, in unserem vertrauten, sicheren Elend leben. Und dann, so will es der Wandlungscharakter des Lebens, will etwas verändert werden. In der Regel ist es der jugendliche Held, der die Erneuerung herbeiführt. Diesen Helden gibt es – ob Mann oder Frau – in uns allen.