4.6. Die Frau, die auszog, ihren Mann zu erlösen
 

Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne. Der älteste der Prinzen war auch schon wieder verheiratet mit einer wunderschönen Prinzessin. Eines Tages erkrankte der König schwer, und er verlor darüber sein Augenlicht. Der König war verzweifelt, und er ließ alle Arzte seines weiten Reiches kommen, doch keiner konnte ihm helfen. Darauf ließ er alle Magier seines Reiches zusammenrufen.

 

Die berieten sich lange, und am Abend trat ihr Ältester vor den Thron des Königs und sprach: »Oh Herr, es gibt nur ein Mittel, um Euch das Augenlicht wieder zu geben. Weit am Ende der Welt liegt mitten im Meer eine einsame Insel. Auf dieser Insel steht am Felsengipfel ein Schloss. Im Hofe dieses Schlosses fließt ein Brunnen. Es ist der Brunnen des Lebens und der Gesundheit. Wenn ein Toter mit dem Wasser des Brunnens besprengt wird, wird er wieder lebendig, und ist einer blind, wie Ihr, Herr, und das Wasser des Brunnens fällt auf seine Augen, so werden sie wieder sehend. Doch es ist sehr gefährlich, dieses Wasser zu holen, denn das Schloss mit dem Brunnen gehört einer Hexe, und keiner der Männer, die ausgezogen sind, das Wasser des Lebens zu holen, ist je wiedergekommen.«

 

Da ließ der König seine drei Söhne kommen, und er erzählte ihnen, was ihm die Magier offenbart hatten. Und er sprach zu ihnen: »Wer von euch auszieht, mir das Wasser des Lebens bringt und mir das Augenlicht wiederschenkt, dem werde ich das Reich und die Krone geben.«

 

Da sattelte der Jüngste sein Pferd und ritt eilends zum Tor hinaus, und er ritt 49 Tage und 49 lange Nächte. Und er kam zum Ende der Welt an das weite Meer. Am Meeresufer saß ein alter, grauer Fischer bei seinem Boot.

 

»Gott grüße dich, Vater!«, rief der jüngste Königssohn. »Rudere mich hinüber zu der Felseninsel. Ich muss das Wasser des Lebens und der Gesundheit holen, damit ich die Krone und das Reich bekomme.«

 

»Ach, mein Sohn«, sprach der alte Fischer, »bleibe hier. Die Hexe, die über die Insel herrscht und der der Brunnen gehört, ist eine mächtige Zauberin. So viele Ritter habe ich hinübergerudert, und keiner ist je wiedergekehrt.«

 

»Rudere mich hinüber!«, rief der Jüngste, »ich will das Reich und die Krone bekommen!«

 

Da ruderte der alte Fischer den jüngsten Königssohn zu der Felseninsel. Und der Prinz suchte sich den Weg zum Schloss. Als er den Schlosshof betrat, da sah er den Brunnen mit dem Wasser des Lebens und der Gesundheit. Sein silbernes Wasser plätscherte in ein Marmorbecken.

 

Neben dem Brunnen aber stand ein wunderschönes, junges Mädchen; ihre langen schwarzen Haare flossen bis zum Gürtel, und ihre Augen leuchteten dunkel wie die Nacht. Ihr Angesicht war zart und rein wie eine Magnolienblüte. Süß lächelte sie den Prinzen an und sprach mit sanfter Stimme: »Willkommen, mein Prinz; nimm deinen Krug und fülle ihn mit dem Wasser des Lebens.« Der Prinz tat, wie das schöne Mädchen ihm sagte. Darauf sprach sie zu ihm: »Bestimmt bist du hungrig und durstig. Ich will dir ein Stück Brot und einen Becher Wein bringen, und dann ruhe dich von deinem weiten Ritt bei mir aus.«

 

»Gerne!«, rief der Prinz. »Aber wo ist die Hexe, der das Schloss und der Brunnen gehört?«

 

»Fürchte dich nicht«, sprach das Mädchen mit leiser, zarter Stimme, »sie ist nicht hier.«

 

Das Mädchen ging in das Schloss und kam bald wieder mit einem Brot und einem Becher Wein zurück. Sie reichte dem Jüngling den Becher, und als dieser seine Lippen an den Becherrand setzte, erstarrte er zu Stein vom Scheitel bis zur Fußsohle. Die Hexe aber, denn das war das schöne sanfte Mädchen, rief ihre Diener und befahl ihnen, den Versteinerten in ein tiefes Gewölbe zu tragen.

 

Als nun der jüngste Prinz nicht wiederkehrte, sattelte der zweite Königssohn sein Pferd, und er ritt eilends zum Tor hinaus. Auch er ritt 49 Tage und 49 lange Nächte. Und er kam zum Ende der Welt an das weite Meer. Am Meeresufer saß ein alter, grauer Fischer bei seinem Boot.

 

»Gott grüße dich, Vater!«, rief der zweite Königssohn. »Rudere mich hinüber zu der Felseninsel. Ich muss das Wasser des Lebens und der Gesundheit holen, damit mein Vater das Augenlicht wiederbekommt und ich die Krone und das Reich erringe.«

 

»Ach, mein Sohn«, sprach der alte Fischer, »bleibe hier. Die Hexe, die über die Insel herrscht und der der Brunnen gehört, ist eine mächtige Zauberin. So viele Ritter habe ich hinübergerudert, und keiner ist je wiedergekehrt, und zuletzt brachte ich einen jungen Prinzen hinüber, und auch er kam nicht zurück.«

 

»Das war mein Bruder!«, rief der zweite Königssohn. »Rudere mich hinüber, ich muss das Wasser des Lebens und der Gesundheit bekommen und versuchen, meinen Bruder zu befreien!«

 

Da ruderte der alte Fischer den zweiten Königssohn zu der Felseninsel. Und der Prinz suchte sich den Weg zum Schloss. Als er den Schlosshof betrat, da sah er den Brunnen mit dem Wasser des Lebens und der Gesundheit. Sein silbernes Wasser plätscherte in ein Marmorbecken. Neben dem Brunnen aber stand ein wunderschönes, junges Mädchen; ihre langen schwarzen Haare flossen bis zum Gürtel, und ihre Augen leuchteten dunkel wie die Nacht. Ihr Angesicht war zart und rein wie eine Magnolienblüte.

 

Süß lächelte sie den Prinzen an und sprach mit sanfter Stimme: »Willkommen, mein Prinz; nimm deinen Krug und fülle ihn mit dem Wasser des Lebens.« Der Prinz tat, wie das schöne junge Mädchen ihm sagte. Darauf sprach er: »Weißt du nicht, wo mein Bruder ist? Er ist hier in die Gewalt einer Hexe gefallen.«

 

»Ich werde dir helfen, ihn zu befreien«, sprach das Mädchen und lächelte den Prinzen an. Da bat er sie: »Willst du dann mit mir gehen und meine Frau werden? Denn ich liebe dich!«

 

Das schöne Mädchen lächelte und küsste ihn zur Antwort auf den Mund. Und als ihre Lippen die seinen berührten, erstarrte er zu Stein vom Scheitel bis zur Fußsohle. Die Hexe aber rief ihre Diener und ließ den Versteinerten in ein tiefes Gewölbe tragen.

 

Als nun auch der zweite der Prinzen nicht wiederkehrte, ließ der König seinen ältesten Sohn kommen. »Es ist sehr gefährlich, das Wasser des Lebens und der Gesundheit zu holen. Deine beiden Brüder sind nicht wiedergekehrt. Darum reite du. Du bist der Älteste. Versuche, die Aufgabe zu erfüllen.«

 

Da nahm der älteste Prinz Abschied von seiner Frau und ritt langsam und traurig zum Tor hinaus, und er ritt 49 Tage und 49 lange Nächte. Und er kam zum Ende der Welt an das weite Meer. Am Meeresufer saß ein alter, grauer Fischer bei seinem Boot.

 

»Gott grüße dich, Vater!«, rief der älteste Königssohn. »Rudere mich hinüber zu der Felseninsel. Ich muss das Wasser des Lebens und der Gesundheit holen, damit mein Vater das Augenlicht wiederbekommt.«

 

»Ach, mein Sohn«, sprach der alte Fischer, »bleibe hier. Die Hexe, die über die Insel herrscht und der Brunnen gehört, ist eine mächtige Zauberin. So viele Ritter habe ich hinübergerudert, und keiner ist je wiedergekehrt, und zuletzt brachte ich zwei Prinzen hinüber, und auch sie kamen nicht zurück.«

 

»Das waren meine Brüder!«, rief der älteste Königssohn. »Rudere mich hinüber, ich muss das Wasser des Lebens und der Gesundheit bekommen und versuchen, meine Brüder zu befreien!«

 

Da ruderte der alte Fischer den ältesten Königssohn zu der Felseninsel. Und der Prinz suchte sich den Weg zum Schloss. Als er den Schlosshof betrat, da sah er den Brunnen mit dem Wasser des Lebens und der Gesundheit. Sein silbernes Wasser plätscherte in ein Marmorbecken, und der Hof war menschenleer.

 

Da betrat der Prinz das Schloss. Er ging durch alle Räume, und er sah keine Menschenseele darin, bis er in den letzten Raum kam. Da saß beim Feuer des Herdes eine alte, hässliche Hexe.

 

»Gib meine Brüder heraus«, rief der Prinz, »ich bin gekommen, um sie zu befreien!«

 

Höhnisch lachte die Hexe: »Ich ließ sie zu Stein erstarren. Sie liegen in meinem tiefsten Gewölbe, und bald wirst du ihr Schicksal teilen!«

 

Der Prinz aber zog sein Schwert und wollte auf sie eindringen. Doch siehe! Die Hexe verwandelte sich plötzlich in das Bild seiner Frau und sprach mit deren Stimme zu ihm: »Sei ohne Furcht. Ich bin gekommen, um dir beizustehen.« Der Prinz ließ sein Schwert sinken, die Hexe legte ihre Hand auf sein Herz, und da hörte es auf zu schlagen, und er erstarrte zu Stein vom Scheitel bis zur Fußsohle. Die Hexe aber rief ihre Diener und ließ den Versteinerten in ein tiefes Gewölbe tragen, wo schon all die andern Versteinerten lagen.

 

Als nun der älteste Königssohn nicht wiederkehrte, fiel der König in die Nacht der Verzweiflung. Er wurde so krank, dass er dem Tode nahe war. Die Frau des ältesten Prinzen aber weinte und klagte zwölf lange Tage und zwölf lange Nächte, und als sie keine Tränen mehr hatte, legte sie die Kleider ihres Mannes an und ritt schnell zum Tor hinaus, und sie ritt 49 Tage und 49 lange Nächte. Und sie kam zum Ende der Welt an das weite Meer. Am Meeresufer saß ein alter, grauer Fischer bei seinem Boot.

 

»Gott grüß dich, Vater!«, rief die Prinzessin. »Rudere mich hinüber zu der Felseninsel, wo der Brunnen mit dem Wasser des Lebens und der Gesundheit fließt.«

 

»Ach, mein Söhnchen«, sprach der alte Fischer, »bleibe hier. Die Hexe, die über die Insel herrscht und der Brunnen gehört, ist eine mächtige Zauberin. So viele Ritter habe ich hinübergerudert, und keiner ist je wiedergekehrt. Zuletzt brachte ich drei Prinzen hinüber, und auch sie kamen nicht zurück. Darum bleibe hier, du bist noch so jung und zart.«

 

Da weinte die Prinzessin und bat: »Rudere mich hinüber!«

 

Der alte Fischer sah sie aufmerksam an und sprach: »Deine Gestalt ist so fein, deine Stimme klingt so hell. Wenn du nicht wie ein Mann gekleidet wärst, würde ich denken, du seist eine Frau.«

 

»Ich bin es, Vater«, sprach die Frau. »Ich bin die Frau des ältesten Prinzen, den du hinübergerudert hast. Und wenn es mir nicht gelingt, die Prinzen und vor allem meinen lieben Mann zu erlösen, will ich lieber tot sein.«

 

Da rief der Fischer: »Wenn du eine Frau bist, wird es dir vielleicht gelingen, was so vielen Männern nicht gelungen ist. Die Hexe versteht es, in die Herzen der Männer zu schauen, und sie nimmt die Gestalt der Frau an, die er in seinem Herzen trägt. Du aber bist eine Frau, und sie wird in deinem Herzen nicht das Bild einer Frau erkennen. Aber sieh dich vor; nimm drüben weder Speise noch Trank und sprich kein Wort.«

 

»Danke, Vater, für den Rat!«, rief die Prinzessin, sprang in den Nachen, und der Fischer ruderte sie zur Felseninsel. Und die Prinzessin suchte sich den Weg zum Schloss. Als sie den Schlosshof betrat, da sah sie den Brunnen mit dem Wasser des Lebens und der Gesundheit. Sein silbernes Wasser plätscherte in ein Marmorbecken. Die Prinzessin schöpfte von dem Brunnen in ihren Krug; als sie sich aber umwandte, stand ein schönes, zartes Mädchen hinter ihr.

 

»Sei gegrüßt, schöner Held«, sprach es freundlich. »Bestimmt bist du hungrig und durstig von dem langen Weg. Iss und trink und ruhe dich aus bei mir.« Doch die Prinzessin sprach kein Wort und zog ihr Schwert. Die Hexe erschrak, denn sie konnte im Herzen ihres Gegners kein Frauenbild erkennen. Sie verwandelte sich in ein freundliches, altes Mütterchen, das mit zitternder Stimme bat: »Wirf dein Schwert weg, mein Sohn!«

 

Doch die Prinzessin ließ sich nicht täuschen und bedrohte die Hexe weiter. Noch mehrmals wechselte diese ihre Gestalt, aber unbeirrt kämpfte die Prinzessin weiter, und die Spitze ihres Schwertes drang in das Herz der Hexe. Da erkannte diese, wer ihr Gegner war, und sie rief: »Eine Frau ist der Tod!« Dann hauchte sie ihre schwarze Seele aus und fuhr zur Hölle.

 

In diesem Augenblick fiel der Zauber von dem Schloss und den Versteinerten; sie kamen in den Schlosshof und dankten der Prinzessin, die sie erlöst hatte. Am glücklichsten aber waren die drei Brüder, und der älteste Prinz umarmte seine Gemahlin und küsste sie. Da nahmen die Erlösten die Schätze der Hexe, belohnten den alten Fischer reichlich und ritten heim.

 

Als der kranke König sie heimkommen hörte, trat er unter das Tor, und die Prinzessin besprengte seine Augen mit dem Wasser des Lebens. Da wurde der König wieder sehend, nahm seine Krone, setzte sie der Prinzessin aufs Haupt und übergab ihr das Reich, und alle waren es zufrieden, und sie lebten in Glück und Frieden miteinander. MÄRCHEN AUS FRANKREICH)

 

4.6.1. Überlegungen zum Märchen
 

Die Ausgangssituation dieser Geschichte erscheint vertraut: der König ohne Königin mit ausschließlich männlichen Nachkommen. Immerhin ist der Älteste schon verheiratet, der Bezug zum Weiblichen ist also ansatzweise schon geknüpft. Der König ist blind geworden, das bewusste Ich ist also am Ende, er befindet sich in einer aussichtslosen Lebenssituation, in einer Dunkelphase, einer Depression. Die Magier des Königreiches können nicht helfen, aus dem männlichen Bereich ist also die Lösung nicht zu erwarten. Aber immerhin wissen sie, wie Heilung geschehen kann: durch das Lebenswasser von der fernen Insel, über die die Hexe herrscht.

 

Das erinnert ein wenig an den Anfang der Tristan-Geschichte. Tristan heißt »Sohn der Traurigkeit«, seine Mutter starb schon früh, er ist ein mutterloser Sohn. Auch er muss, um zur Liebe, zum Weiblichen zu finden, eine Reise weit aufs Meer hinaus unternehmen, um Prinzessin Isolde in Irland zu finden. Auch er muss erfahren, wie gefährlich es ist, die Insel des vernachlässigten Weiblichen zu betreten. Bei seiner ersten Fahrt kehrt er fast zu Tode verwundet zurück.

 

Das abgespaltene, ausgesperrte Weibliche wird nun einmal böse, wird zur 13. Fee in Dornröschen, zur lieblosen Stiefmutter Aschenputtels, hier zur kaltherzigen, machtgierigen Hexe auf der Felseninsel. Doch die böse Hexe herrscht über das Wasser des Lebens, der Weg zur Heilung und Ganzheit führt nur über sie!

 

In der Regel macht sich der jüngste (meist dritte) Sohn erst dann auf den Weg, wenn die älteren Brüder gescheitert sind. Er ist auch deswegen der Heilsbringer, weil er noch »unschuldig« ist, noch am wenigsten belastet vom alten System. Wogegen der Älteste dem alten System naturgemäß näher ist. Hier ist das nicht so. Der jüngste Sohn erscheint als der unreifste, was schon aus den Motiven ersichtlich ist, die ihn begleiten auf seiner Reise.

 

Er will zwar das Wasser des Lebens holen, aber in erster Linie, um die Krone und das Reich zu erben. Das Leid seines Vaters scheint ihm egal zu sein. Der zweite möchte auch das Wasser des Lebens, immerhin treibt ihn auch die Sorge um den Bruder. Nur der älteste Sohn sorgt sich um das Augenlicht seines Vaters.

 

Man könnte die drei Prinzen als Aspekte des Königs selbst verstehen. Wenn ein Mensch so lange ohne Bezug zum Weiblichen, ohne das Lebenswasser, ohne Liebesenergie gelebt hat, wird der erste Versuch, sich dieser Welt anzunähern in der Regel nicht gelingen. Man hat zu lernen.

 

Lektion Nummer eins ist dem ersten Prinzen vorbehalten: Wenn du in einer Frau nur die sorgende, nährende Mutter suchst, findest du nicht zur Liebe. Die Hexe reicht ihm Wein und Brot, und als er seine Lippen an den Becherrand setzt, erstarrt er zu Stein. Der Hunger und Durst des Prinzen ist zwar verständlich, nicht nur wegen der langen Reise, sondern weil der einsame König offensichtlich schon lange »liebeshungrig« ist. Aber diese orale »Gib-es-mir-Haltung« führt eben nicht zur Liebe. Sie ist Falle Nummer eins.

 

Hat der jüngste Prinz in der Frau das nährende Mütterliche gesucht, so sucht der zweite Prinz die Geliebte. Die Hexe begegnet ihm in ihrer verführerischsten Gestalt, und ohne sich darum zu kümmern, wer sie überhaupt ist, fragt er sie: »Willst du meine Frau werden? Ich liebe dich.« Ohne sich um ihr Wesen zu kümmern, ohne sie überhaupt zu kennen! Die Frau ausschließlich als Geliebte zu begehren, ist Falle Nummer zwei. Konsequenterweise scheitert auch er.

 

Die interessanteste Erfahrung macht sicherlich der dritte Prinz. Er ist schon reifer als die beiden ersten, er ist auch näher an seinen Gefühlen, ist mit schwerem Herzen unterwegs. Er weiß, oder ahnt zumindest, welche Herausforderungen auf der Insel des Weiblichen auf ihn warten – immerhin ist er ja als einziger verheiratet.

 

Er ist der erste der Brüder, der ins Innere des Schlosses vordringt und der Hexe in ihrer wahren Gestalt begegnet. Die Hexe hält es offensichtlich nicht mehr für nötig, den Mama-Trick, oder den Geliebten-Trick anzuwenden, sie schenkt ihm reinen Wein ein. Und nun kommt die entscheidende Situation: Er begegnet der Hexe mit dem Schwert.

 

Das Schwert der männlich-geistigen Klarheit ist in vielen Märchen notwendig, um gegen die Tricks und Machtspiele der negativen Hexe zu bestehen. Das Schwert der Entscheidung schafft die notwendige Distanz, die erforderlich ist, um nicht verstrickt, involviert und becirct zu werden. »Gib der Hexe nicht, was sie will, sondern was sie braucht!« heißt es in einem russischen Märchen. Wer der negativen Hexe – und um eine solche Gestalt handelt es sich hier – mit kindlicher Unschuld begegnet, wird ihr Opfer, wird verführt, manipuliert, manchmal vergiftet, im vorliegenden Märchen versteinert.

 

Insofern tut der dritte Prinz zunächst das einzig Richtige: Er zieht das Schwert. Aber: Die Entschiedenheit geht ihm verloren, als die Hexe sich in das Bild seiner Frau verwandelt. Was bedeutet das? Jeder Mann trägt ein Frauenbild in seiner Seele, wie bewusst oder unbewusst auch immer es sein mag. C.G. Jung nennt dieses Frauenbild Anima. Eine raffinierte Hexenfrau wird ein Gespür für dieses Frauenbild haben. Sie kann sich in diese Frau verwandeln, um dadurch Macht über einen Mann zu bekommen. Eine Hexenfrau spürt, wittert geradezu diese innere Frauengestalt in der Seele des Mannes, und sie wird auf dieser Klaviatur spielen können. Wenn ein Mann sich seiner Anima nicht ausreichend bewusst ist, wird er mit sich spielen lassen.

 

Drei Irrwege, so erzählt diese Geschichte, führen nicht zur Liebe und zum Wasser des Lebens. Erstens in der Frau ausschließlich die nährende, versorgende Mutter zu suchen; zweitens in der Frau ausschließlich die Geliebte zu suchen; drittens in der Frau das zu suchen, was dem inneren Frauenbild, der Anima entspricht, die Traumfrau sozusagen. Auf allen drei Wegen kümmert sich der Mann nicht um das Wesen der Frau, er ist nur orientiert an seinen eigenen Bedürfnissen. Die wichtige Zauberfrage: »Wer bist du?« kommt ihm nicht über die Lippen.

 

Der verzweifelte König merkt nun, dass mithilfe der Prinzen, also männlicher Energien, das Problem nicht zu lösen ist. Und deswegen kommt er auf den rettenden Einfall, eine Frau, die Prinzessin, auf die Insel zu schicken. Wenn man dies auf der Subjektstufe deutet, versucht er es jetzt mit seiner eigenen inneren Weiblichkeit, nicht mit einer mehr oder weniger unreifen männlichen Haltung.

 

Der erste Schritt zur Heilung die ist lebendige Verzweiflung. Zwölf Tage und zwölf Nächte lang fließen die Tränen und dann macht sich die Prinzessin auf den Weg. Es ist ein großer Unterschied, ob Verzweiflung nur im Kopf stattfindet, indem man sich vergeblich das Hirn zermartert, oder ob sie lebendig gelebt wird, durch Tränen. Der erste Schritt, um zurückzufinden zur Welt der Gefühle ist meist, lebendigen Schmerz zuzulassen.

 

Für Männer der letzten Generationen ist es sicherlich eine große Heldentat, Tränen fließen zu lassen, all das zuzulassen, was gemeinhin niemals als männlich galt. Man denke nur an die Botschaften in der Kindheit: Ein Indianer kennt keinen Schmerz, ein Junge weint nicht und so fort. Wenn der Weg aus dem Gefängnis dieser Männerrolle gegangen werden will, sind Tränen gute Helfer und Wegweiser. Sie helfen uns aus der Versteinerung heraus, auch sie sind das Wasser des Lebens.

 

Weshalb ist die Waffe einer Hexe im Märchen so oft die Versteinerung? Ganz einfach: Hexengefühle, dunkle Gefühle machen in der Regel derart viel Angst – vor allem natürlich Männern –, dass sie sich lieber verschließen, ihr Herz beschützen, symbolisch gesehen versteinern. Wer kennt das nicht, in einer Situation der emotionalen Überforderung, in einer Grenzsituation für Momente zu Stein zu erstarren, weil das Schreckliche, Angst machende, sonst nicht auszuhalten wäre.

 

Wer in der Kindheit oder in einer späteren Liebesbeziehung tiefe Verletzungen erlebt hat, Erfahrung von Gewalt, Missbrauch, Verlassen- oder Verratenwerden gemacht hat, dem kann es als geradezu lebensrettend erscheinen, zu versteinern. »Nie wieder will ich solchen Schmerz, solche Angst spüren« ist der verständliche Wunsch. In dieser Haltung zu bleiben, macht allerdings einsam, da wir dem Leben keine Chance mehr geben. Wenn wir uns dann auf die Suche nach dem verlorenen Lebenswasser, unseren im Keller des Unbewussten versteinerten Gefühlen machen, wird es zunächst schmerzhaft und gefährlich. Alte Wunden werden wieder aufgerissen, doch hierbei gilt: Nur offene Wunden heilen!

 

Eine Figur von entscheidender Bedeutung ist natürlich der alte graue Fischer. Er erinnert an den Kapitän im griechischen Märchen „Der Vater und die drei Töchter“. Er repräsentiert den liebevollen, alten Weisen, versteht etwas vom Wasserelement, von der Welt der Gefühle, der Seelenweisheit und kennt den Weg zur Felseninsel, auf der das Wasser des Lebens zu finden ist. Er ist ein Mittler zwischen den Welten. Nebenbei ist er auch noch ein guter Therapeut: Obwohl er weiß, was den Prinzen blüht, bringt er sie doch auf die Felseninsel, weil ihm bewusst ist, dass er ihnen diese Erfahrung nicht ersparen kann.

 

Wer ihn aber um Rat fragt, wer sich offenbart wie die Prinzessin, dem offenbart er das Geheimnis der Hexe. Er versteht also auch etwas von der dunklen Seite des Weiblichen. Er weiß unter anderem, dass es nicht gut ist, auf dieser Insel etwas zu essen oder zu trinken. Das ist sehr häufig so im Märchen: Wer Nahrung und damit »Energie« im Reich der negativen Hexe zu sich nimmt, wird in irgendeiner Form davon vergiftet oder wie im vorliegenden Märchen versteinert.

 

Sehr drastisch wird das dargestellt im Märchen „Schwarze Künste“ aus China. Dort warnt die Braut, die weiß, dass ihre Mutter eine negative Hexe ist, ihren Bräutigam davor, beim Hochzeitsessen etwas zu sich zu nehmen. Aber die Speisen sind so schön angerichtet und duften so wundervoll, dass er sich nicht beherrschen kann und doch einiges isst. Daraufhin wird ihm sterbensübel und er kommt nur mit dem Leben davon, weil seine Frau ihn kopfunter an einem Balken aufhängt und unter seinem Mund ein Feuer anzündet, worauf er beginnt, all das wieder zu erbrechen, was er zu sich genommen hat.

 

Aus seinem Mund kommen Frösche, Nattern, Würmer, alles mögliche ekelhafte Getier. Viele kennen das: Es kann dir vom besten Essen übel werden, wenn du es in einer Gesellschaft isst, in der die Energie nicht stimmt, die Atmosphäre vergiftet ist. Im Reich der negativen Hexe zu essen und zu trinken bedeutet auch, sich deren Energie »einzuverleiben«, sich von ihr »infizieren« zu lassen. Hier hilft die Distanz des dritten Prinzen, der zumindest zunächst weiß, das trennende Schwert zu gebrauchen, sich nicht einzulassen auf dieses System, sich nicht verstricken, involvieren zu lassen.

 

Die Hexe in dieser Geschichte ist eine eindeutig negative Gestalt. Positive Hexenweisheit, Heilerqualität ist bei ihr nicht zu spüren. Sie scheint nur daran interessiert zu sein, ihre Männersammlung im Keller zu vergrößern. Sie ist eine weibliche Parallele zu König Blaubart, der in seiner geheimen Kammer die getöteten Frauen verbirgt. Sie ist genauso einsam wie der König in der anderen Welt und im Gegensatz zu ihm scheint sie nicht einmal darunter zu leiden. Macht über Männer ist ihr Trostpreis für echte Liebe. Ihr Herz scheint genauso steinern wie die Männer in ihrem Keller.

 

Nun gibt es sicherlich Gründe dafür, wenn beispielsweise eine Frau in dieser Haltung gefangen ist. Die Kränkungen des Weiblichen im Patriarchat sind so vielfältig, dass es nicht verwundert, wenn Frauen in die Haltung der männermordenden Hexe und Rachegöttin gehen. Aber diese Einseitigkeit will sterben, hat auf die Dauer kein Mitgefühl verdient, genauso wenig wie die einseitige Jägerhaltung des Fürsten aus dem letzten Märchen. Und besiegt oder überwunden werden kann diese Haltung nur durch die Echtheit der Gefühle, durch die Haltung der Prinzessin.

 

War im letzten Märchen eine Vision des »Neuen Mannes« zu finden: der Jäger, der auch die Zwergpalme pflanzen kann, der Mitgefühl kennt und doch mit dem Dolch umgehen kann, so entsteht in dieser Geschichte die Vision der »Neuen Frau«. Im Gegensatz zur herzlosen Hexe, kennt sie Mitgefühl und Tränen. Aber sie bleibt nicht stecken in der Trauer wie etwa die Prinzessin in der dritten Geschichte, die nicht aufhört, das Totenhemd für den Geliebten zu nähen, sondern bricht auf, »ermannt« sich und gebraucht das Schwert der Entschiedenheit. Aber auch im Gebrauch des Schwertes ist sie angeschlossen an die Energie des Herzens, genau wie der junge Jäger im Märchen davor.

 

Für eine Frau ist es sicherlich eine große Herausforderung, der rachsüchtigen Hexe in sich selbst zu begegnen, was voraussetzt, die Verwundung im Reich der Männer und Väter genau anzuschauen. Die böse Hexe auf der Felseninsel im Meer hat schließlich auch einen kollektiven Aspekt. Es geht um die seit Jahrtausenden verletzte, verwundete und vernachlässigte Weiblichkeit auf diesem Planeten.

 

Die Verletzungen, die du als Frau im Reich des Männlichen erfahren hast, wie zahlst du diese heim? Darfst du dir überhaupt zugestehen, dass Rache ein Thema ist für dich? Die rachsüchtige Hexe in sich selbst zu erkennen ist der erste Schritt zu ihrer Entmachtung. Die Heilung geht dann über echten, tiefen, oft uralten Schmerz, der sich verabschieden kann, wenn er erst einmal zugelassen und durchlebt ist. Dann ist auch der Weg wieder frei für die gute Hexe, die etwas von Leidenschaft und Tiefe versteht, von der Lebendigkeit der Gefühle, des Lebenswassers.

 

Eine Prinzessin, die dieses Lebenswasser erringt und darüber hinaus den Umgang mit dem Schwert der geistigen Klarheit beherrscht, ist des Thrones würdig.