3. Alter König – Neuer König

 

In unzähligen Märchen aller Kulturen ist die Rede davon, dass ein alter König seinen Thron räumen muss, um den Weg freizumachen für einen Nachfolger, der das Reich zu neuer Blüte führt.

 

Dies heißt nun nicht, dass der alte König von vorneherein eine negative Gestalt ist. Manchmal ist er es, manchmal aber auch nicht. Wie alle Alten im Märchen ist er zunächst eine Gestalt der Erfahrung und versteht etwas vom Schicksal. Er ist nahe am Archetyp des alten Weisen, des Großvaters, d. h. des großen Vaters. Als solcher versteht er die kosmischen Gesetze und wacht über deren Einhaltung. Als guter König ist er ein weiser Ratgeber, vor allem in Krisensituationen. Er fördert die Entwicklung seiner Kinder, entlässt sie aus seinem Reich mit seinem Segen. Auch weiß er, wann es Zeit ist den Thron zu räumen, die Krone weiterzugeben. Seinen Kindern hinterlässt er ein reiches Erbe (was nicht nur materiell zu verstehen ist), auf dem sie aufbauen können, oder zumindest eine Kostbarkeit, die oft die Qualität eines magischen Schutzes hat, etwa ein Zauberring, eine Zauberformel, ein Dolch oder ein hilfreiches Tier. Als »schrecklicher« König dagegen klammert er sich an seinen Thron, kann nicht loslassen von seiner Macht. Er lässt seine Kinder nicht hochkommen, im Extremfall versucht er, sie zu verderben. Dann verstößt er seine Kinder aus dem Königreich und gibt ihnen seinen Fluch mit auf die Reise. Er stellt ihnen unlösbare Aufgaben und hofft, dass sie daran scheitern. Sein Erbe ist oft »vergiftet« oder an Bedingungen geknüpft. Auch über den Tod hinaus will er an seiner Macht festhalten. Hierzu gehören die Versprechen am Sterbebett, die dann doch nie eingehalten werden können und die Kinder in größte Gewissenskonflikte stürzen.

 

Nun macht es interessanterweise für den Verlauf eines Märchens kaum einen Unterschied, ob der alte König am Anfang als positive oder schreckliche Gestalt auf den Plan tritt. Ebenso wenig erscheint es von entscheidender Bedeutung, ob der Held freiwillig – als »aktiver« Held – oder unfreiwillig – als »leidender« Held – das alte Königreich verlässt. Sowohl der aktive als auch der leidende Held findet sich beispielsweise verirrt im Wald wieder, wo dann erste Lektionen auf ihn warten. Der Individuationsweg führt zunächst ins Niemandsland.

 

Oft sind die verstoßenen Helden in Krisensituationen des Märchens sogar im Vorteil: Sie kennen die Schattenseiten des Lebens ja schon von zu Hause. Die Goldkinder, die den alten König nur positiv erlebt haben, tun sich dagegen schwer, wenn die bisher so heile Welt erschüttert wird: »Der Königssohn, der von Falschheit nichts wusste, fiel auf die List der Riesen herein« heißt es etwa in einem Grimmschen Märchen. Ein vom Vater gebranntes Kind wäre niemals so naiv! Insofern ist – oft indirekt – der schreckliche alte König einer, der die Entwicklung des Helden vorantreibt. Er repräsentiert die Kraft, die das Böse will und das Gute schafft. Der nur helle, »gute« König dagegen kann durchaus die Entwicklung seines Kindes erschweren, gerade wenn es um Auseinandersetzung mit Schattenseiten des Lebens geht.

 

Interessant in diesem Zusammenhang ist das Schicksal der so genannten Waisenkinder im Märchen. Dabei muss es sich – im richtigen Leben – nicht um Kinder handeln, die ohne ihre leiblichen Eltern aufwachsen. Es gibt auch »psychische Waisenkinder«, Kinder die sich in ihrem Elternhaus einsam, fremd und unverstanden fühlen. Man kann sich auch dann vater- oder mutterlos fühlen, wenn man mit den leiblichen Eltern scheinbar behütet aufwächst. Solche »Waisenkinder« haben im Märchen meist einen einsamen, gefährlichen, aber auch großen Entwicklungsweg. Ohne Hilfe, Schutz und Segen des König-Vaters bzw. der Königin-Mutter unterwegs zu sein, ist – positiv gesehen – eine Herausforderung, an der man wachsen kann, eine Aufforderung zur Individuation.

 

Don Juan, der alte Schamane und Lehrer von Carlos Castaneda, hat eine Geschichte aus seinem Leben erzählt. Er hat als junger Mann auf einer Farm gearbeitet. Dort gab es einen Vorarbeiter, der ihn verfolgte und töten wollte, weil er ein Indianerfeind war. Mit schweren Verletzungen und letzter Kraft ist es Don Juan gelungen, diesem Menschen zu entkommen. Als alter Weiser erzählt er von dieser Zeit seinem Schüler Castaneda und sagt: „Ich bin diesem Mann sehr dankbar! Durch seine Grausamkeit, Hinterhältigkeit, durch seine Brutalität hat er mich gezwungen, meine kriegerischen Fähigkeiten zu entwickeln, sonst hätte ich nicht überlebt“. Und er gibt diese, für mein Gefühl so heilsame Botschaft: „Solange du glaubst, du bist ein Opfer, wird dein Leben immer die Hölle sein. Betrachte alles, was dir begegnet, als eine Herausforderung, eine Herausforderung an den inneren Krieger“! Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Pfad des Kriegers, wie ihn Don Juan beschreibt, hat nichts mit Gewalttätigkeit zu tun, sondern mit der Entschiedenheit, den Weg des eigenen Herzens zu gehen.

 

Zwei Geschichten, die den schrecklichen Aspekt des alten Königs beleuchten: In der griechischen Mythologie gibt es Kronos, den römischen Saturn. Von ihm erzählt man, dass er auf Geheiß seiner Mutter Gaia seinen Vater Uranos kastrierte. Aus verständlicher Angst, dass das nicht ohne Folgen bleiben würde und eines seiner eigenen Kinder ihm Ähnliches antun könnte, ließ er sich von seiner Ehefrau alle Neugeborenen geben und verschlang sie. Das ging so lange, bis Zeus geboren wurde. Dieser Zeus war ein so lichter, schöner Knabe, dass die Mutter es nicht übers Herz brachte, ihn dem grausamen Vater zum Fraß vorzuwerfen. Also versteckte sie ihn und als dann Zeus herangewachsen war, stellte er seinen Vater zum Kampf, besiegte ihn und zwang ihn mit einem Brechmittel zur Herausgabe der verschlungenen Kinder.

 

Die verschlungenen Kinder des Kronos könnte man als verschlungene, gehemmte Entwicklungsimpulse, Lebensenergien verstehen. Es passiert ja häufig im Märchen, dass neugeborene Kinder geraubt oder getötet werden. In der Regel allerdings werden sie später wieder lebendig oder befreit. Symbolisch gesehen, sind das »Lebenskinder«, Entwicklungsimpulse, die nichts anderes wollen, als sich ausleben. Man könnte Kronos mit Goethe auch »den Geist, der stets verneint« nennen. Er ist die Kraft in uns, die jeder neuen Entwicklung mit Angst und Abwehr begegnet. Allerdings sagt der Schamane Don Juan: „Nicht was dir bevorsteht, sollte dich ängstigen, sondern die Vorstellung, dass alles bleibt wie es ist“.

 

Tröstlich in diesem Mythos ist, dass Kronos’ Kinder nicht tot sind, nur eingesperrt, dass es offensichtlich Möglichkeiten gibt, sie wieder ans Licht des Bewusstseins, ins Leben zu bringen, und zwar mit dem richtigen »Brechmittel« – symbolisch gesehen kann das beispielsweise eine gute Therapie sein!

 

Doch die Macht von Kronos, die Macht des alten Systems, ist nicht zu unterschätzen. Er gibt seine Herrschaft in der Regel nicht freiwillig auf. Don Juan sagt dazu: „Wenn die alte Welt sich ihrem Ende nähert, lässt sie dich nicht in Frieden, sie windet sich unter dir und schlägt nach dir mit ihrem Schweif“.

 

Diese alte Welt ist immer außen und innen zugleich. Außen sind es die Menschen, die sich bedroht fühlen, wenn jemand sich ändert, sich wandelt. Oft rufst du in deinem Umfeld Angst und Widerstand hervor, wenn du dich »entwickelst«. »Du hast Dich so verändert! So kenne ich Dich ja gar nicht«, ist oft nicht als Kompliment gemeint, vor allem nicht von denjenigen, die sich in Kronos’ Fängen gemütlich eingerichtet haben. Deswegen sagt Don Juan: „Wenn du auf dem Weg des Wissens bist, musst du dich unerreichbar machen“!

 

Im Inneren sind natürlich die Ängste hinderlich, die mit jeder Entwicklung verbunden sind. Selbst in – scheinbar – unbedeutenden Alltagssituationen können wir dieses Phänomen beobachten, können wir das »Gewohnheitstier« in uns erkennen. Ich erinnere mich zum Beispiel an meine Toskana-Gruppen: Spätestens am zweiten Tag haben die meisten Gruppenteilnehmer ihren Stammplatz im Gruppenraum oder am Esstisch und gehen immer wieder dort hin. Das innere Gewohnheitstierchen sagt: »Da hast du gestern überlebt, da gehst du wieder hin!« Wir sind eben, oft ohne es zu merken, gefangen in unseren Ritualen, in unseren Gewohnheiten. Es steht uns auf, es zieht uns an, es frühstückt uns, es denkt uns … Wenn wir uns dabei beobachten, merken wir, wie automatisiert wir sind, wie mächtig Kronos ist in uns. Diese Muster zu durchbrechen, macht Angst. Unsicherheit macht Angst. Der Weg ins Neue, ins Unbekannte wird im Märchen oft als Weg in den Tod dargestellt. Im Grunde ist es der Weg der Wandlung, des Stirb und Werde. Der Weg ins Reich des neuen Königs geht nicht ohne Angst. Auch dafür hat Don Juan eine Botschaft: „Ein Krieger geht seinen Weg voller Angst und absoluter Zuversicht“.

 

Eine weitere Gestalt aus dem Symbolkreis des dunklen Königs ist Blaubart. So heißt er im deutschen Märchen, taucht aber unter anderem Namen in Märchen verschiedenster Kulturkreise auf, beispielsweise in dem Südseemärchen Taile, das in diesem Buch besprochen wird. Es handelt sich um einen Typus von Mann, der Frauen tötet oder verschlingt. Dies ist nicht wörtlich zu nehmen. Natürlich gibt es Frauenmörder, aber symbolisch gesehen ist dieser Blaubart eine Karikatur des Mannes der letzten Jahrtausende, des Patriarchats. Als rechtschaffener Mann galt in diesen Zeiten nur der, der möglichst wenig »weiblich« war, sprich: der seine weiblichen Energien, seine Gefühle, den Bezug zum Unbewussten abgeschnitten, abgetötet hat. Das muss nichts mit roher Gewalt zu tun haben. Eine moderne Form des Blaubartes zum Beispiel ist der kühle Intellektuelle, der alles analysiert, aber nichts versteht, der auf der Herzensebene nicht erreichbar ist.

 

Dieses Erbe des alten Blaubart-Königs, dieses alte Männerbild ist für uns alle gleichermaßen fatal. Für uns Männer ist es so wichtig, uns auf die Suche nach unserer verlorenen Seele zu begeben, damit wir ganz werden, damit wir beziehungsfähig und liebesfähig werden. Ein neues Männerbild muss her, ein »Neuer König« muss auf den Thron!

 

Für Frauen bedeutet das Erbe der Blaubart-Väter eine tiefe Verletzung, und das seit vielen Generationen. Wie soll ein Vater seine Tochter lieben und verstehen, wenn er seine innere Weiblichkeit tötet? Selbst in der Bibel ist von diesem unglückseligen Vater-Tochter-Verhältnis die Rede. Hildegunde Wöller hat das Buch »Vom Vater verwundet« geschrieben. Sie hat in der ganzen Bibel – unserer heiligen Schrift! – zu ihrem eigenen Entsetzen keine einzig wirklich positive Vater-Tochter-Geschichte gefunden. Reihenweise aber werden Töchter bestraft und verstoßen, wie auch immer schlecht behandelt – und letztlich geschieht dasselbe ja auch in der so genannten Mutter Kirche. Der männliche und weibliche Aspekt Gottes ist schon lange nicht mehr gleichwertig, wir haben ja kein »Mutterunser«. Dieses verwundete, verachtete, vernachlässigte Weibliche wird auf diesem Planeten seit langer Zeit immer mehr zu einem existenziellen Problem. Die Geduld von Mutter Erde mit dem Alten König scheint sich dem Ende zu nähern. Erdbeben, Überschwemmungen, Hurrikane belegen das. Wird der Klimawandel auch das Bewusstsein des Alten Königs verändern?

 

Im Märchen ist der Neue König immer eine positive Gestalt. Ich kenne keine Geschichte, in der es anderes ist. Warum? Er hat ja den alten, oft lebensfeindlichen König überwunden und steht für die neue Entwicklung, für das Licht am Ende des Tunnels. Nun wird natürlich auch der neue König irgendwann wieder ein alter König sein, das Rad des Lebens wird sich weiterdrehen, aber auf der letzten Seite einer Geschichte ist mit der Inthronisierung des neuen Königs ein Entwicklungszyklus vollendet, alles wirkt rund, vollständig, erlöst. In der Regel ist der neue König verheiratet, er hat auf seinem Entwicklungsweg auch seine Prinzessin erlöst, er hat zur Liebe gefunden – das Bild der »heiligen Hochzeit« ist in sehr vielen Märchen auf der letzten Seite zu finden, während auf der ersten Seite der alte König häufig Witwer, eben ein Blaubart ist.

 

Die Sehnsucht nach dem Neuen König, hat auch einen kollektiven Aspekt: Die Hoffnung auf die Inkarnation eines neuen Jesus, eines neuen Buddha, eines Weltenretters, oder einfach die Hoffnung darauf, dass es in dieser Welt ein neues Bewusstsein geben möge, einen König, der so mutig ist, eine gleichwertige Königin an seiner Seite zu akzeptieren. Ein König, der mehr von Lebendigkeit, von Mutter Erde, vom Großen Weiblichen, von der unsichtbaren Welt versteht. Diesen neuen König brauchen wir so dringend, wenn dieser Planet überleben soll.

 

Auf unserer individuellen Entwicklungsreise erleben wir den »neuen König« meist am Ende einer Dunkelphase. Wir sind am Ende des Tunnels angekommen, neu geboren. Dieses neue Licht, dieses neue Bewusstsein zu bewahren und zu verteidigen, die Fallstricke und Lockrufe aus dem Reich des überwundenen alten Königs zu erkennen und zu entmachten, wird jetzt die Aufgabe sein.