13

 

Samuel setzte zu einer Erwiderung an, als die Frau in seinen Armen ihre Augen öffnete, die wieder grün waren. Sie musterte uns alle verwundert, als könnte sie sich nicht erklären, wie sie dort hingekommen war, wo sie war.

Ich wusste genau, wie sie sich fühlte.

Sobald er sah, dass sie wach war, setzte Samuel sie vorsichtig aber schnell ab. »Es tut mir leid, Ari. Du wärst gefallen... Ich hätte dich nicht berührt...«

Ich hatte noch nie in meinem Leben so etwas gesehen. Samuel, der Sohn eines walisischen Barden, der sein Talent für Worte von seinem Vater geerbt hatte, stammelte wie ein verliebter Teenager.

Sie packte Samuels Sweatshirt und schaute völlig erstaunt zu ihm auf. »Samuel?«

Er wollte zurücktreten, hielt aber an, als sie sein Hemd festhielt. »Ich kann dir keinen Raum lassen, wenn du mich nicht loslässt«, erklärte er ihr.

»Samuel?«, fragte sie wieder. Vorher war es mir nicht aufgefallen, aber jetzt bemerkte ich, dass ihre Stimme sich irgendwann während ihrer Panikattacke verändert hatte und viel zu jung klang für das ältliche Gesicht, das sie trug. Sie hatte auch einen leichten Akzent, eine Mischung aus britisch und walisisch oder einer verwandten Sprache. »Ich dachte... Ich habe gesucht, aber ich konnte dich nie finden. Du bist einfach verschwunden und hast mir nichts gelassen. Kein Hemd oder einen Namen.«

Er versuchte wieder, sich von ihr zu lösen, und diesmal gab sie ihn frei. Er zog sich an die zerstörte Tür zwischen Werkstatt und Büro zurück. »Ich bin ein Werwolf.«

Ariana nickte und trat zwei Schritte nach vorne. »Das ist mir aufgefallen, als du die Hunde getötet hast, die kamen, um mich zu holen.« In ihrer Stimme lag ein Anflug von Humor. Gut, dachte ich. Jede Frau, der ich erlauben würde, Samuel zu bekommen, musste Humor haben. »Die Reißzähne haben dich verraten - oder vielleicht war es auch der Schwanz. Du hast mich wieder gerettet - und dann bist du verschwunden, und ich kannte nur deinen Vornamen.«

»Ich habe dir Angst gemacht«, sagte er schonungslos.

Sie schenkte ihm ein halbes Lächeln, verkrampfte aber gleichzeitig ihre Hände ineinander. »Na ja. Ja. Aber es scheint, als hätte ich dir noch mehr Angst eingejagt, weil du für... eine sehr, sehr lange Zeit geflohen bist, Samuel.«

Er wandte den Blick ab - der dominanteste Werwolf in den Tri-Cities, und er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Konnte er denn nicht sehen, dass sie ihn wollte, obwohl er ihr Angst machte? Sie versuchte, noch einen Schritt auf ihn zuzumachen, und hielt dann inne. Ich konnte ihre Furcht riechen, scharf und sauer. Mit einem kleinen Seufzen zog sie sich zurück.

»Es ist wirklich schön, dich wiederzusehen, Samuel«, sagte sie. »Deinetwegen bin ich heil und hier, all diese Jahrhunderte, nachdem mein Vater mich zerstört hätte. Stattdessen hat sein Körper schon vor langer Zeit die Tiere und Bäume des Waldes genährt.«

Samuel beugte den Kopf und sagte zum Boden: »Ich bin froh, dass es dir gutgeht - und entschuldige mich dafür, dass ich heute deine Panikattacke verursacht habe. Ich hätte draußen bleiben sollen..«

»Ja. Panikattacken. Sie können ziemlich...« Sie schaute zu Zee, der wieder in seinem Stuhl saß, so entspannt, als hätte er in den letzten zehn Minuten eine langweilige Seifenoper geschaut. »Habe ich jemanden verletzt, Siebold?«

»Nein«, antwortete er und verschränkte die Arme. »Du hast nur die wahren Namen unseres Wolfes genannt und Jesse und Mercedes die Geschichte des Silbergeborenen erzählt.«

Sie musterte erst mich, dann Jesse, vielleicht um zu sehen, wie verängstigt wir waren. Was auch immer sie sah, es beruhigte sie offensichtlich, denn sie lächelte scheu. »Oh, das ist gut. Gut.« Sie entspannte sich und konzentrierte sich wieder auf Samuel. »Ich habe sie nicht mehr sehr oft. Gar nicht mehr bei sterblichen Hunden. Nur die Feenhunde, die magischen - schwarze Hunde - lösen sie noch aus. Nur wenn ich wirklich...«

Sie biss sich auf die Lippe.

»Angst habe?«, schlug Samuel vor, aber sie antwortete nicht. Mir fiel auch auf, dass sie die Werwölfe ausgelassen hatte.

»Ich bin froh zu sehen, dass deine Magie zurückgekehrt ist«, sagte er. »Du dachtest, sie wäre erloschen.«

Sie holte tief Luft. »Ja. Und für eine Weile war ich glücklich darüber.« Sie sah mich an. »Und das hat Auswirkungen auf die momentane Situation. Du bist Samuels Freundin, Mercedes?«

»Und die Gefährtin des ansässigen Alphas - Jesses Vater«, erklärte ich ihr. Ich konnte ihr kaum sagen, dass Samuel solo war - das wäre ein wenig zu offensichtlich gewesen. Aber ich sah, dass es ihr viel bedeutete, dass Samuel nicht zu mir gehörte.

»Du wolltest uns...« Ich war so damit beschäftigt, zu kuppeln, dass ich es in diesem Moment fast in den Sand gesetzt hätte. Ich klappte den Mund zu und packte Jesses Hand. » …dabei helfen, Gabriel zu finden«, beendete Jesse meinen Satz für mich.

Ariana bewegte sich überhaupt nicht mehr wie ein Mensch, als sie mit ihrem Stuhl in der Hand zu uns zurückkam; sie bewegte sich wie ein... Wolf, kühn und anmutig und stark. Ohne einen Blick zu Samuel setzte sie sich.

»Frag sie nach dem Ding, das die Feenkönigin will«, meinte ich zu Jesse.

»Zee sagt, sie will das Silbergeborene«, antwortete Ariana. »Das ist das mächtige Objekt, das ich für meinen Vater geschaffen habe - obwohl es niemals so funktioniert hat, wie es der Mann wollte, der es bei meinem Vater in Auftrag gegeben hat. Viele Jahre lang habe ich geglaubt, ich hätte meine Magie bei seiner Erschaffung verloren.« Sie schloss die Augen und lächelte. »Ich lebte wie ein Mensch, bis auf mein langes Leben. Ich habe geheiratet, Kinder bekommen...« Sie warf einen Blick zu Samuel, der über unsere Köpfe hinweg aus dem Fenster sah. Sein Gesicht war ruhig, aber ich konnte an seinem Hals sehen, wie schnell sein Puls schlug.

Ariana fuhr schnell fort: »Es hat mich fast ein Jahrhundert gekostet, die Verbindung zwischen meinem Mangel an Magie und dem Silbergeborenen herzustellen.«

Sie lächelte mir trocken zu. »Ich weiß. Ich hatte keine Magie mehr, und das Letzte, was ich erschaffen hatte, sollte Magie fressen. Man sollte meinen, ich hätte die Verbindung hergestellt. Aber ich wusste nur, dass es noch nicht fertig war... Und ich konnte mich nicht daran erinnern, wie weit ich gekommen war, als mein Vater die Wölfe rief. Nach einer Weile war es mir einfach nicht mehr wichtig - es war nur ein kaputtes Ding, das nichts tat. Jemand stahl es von mir, und ich dachte, fort mit Schaden. Ich überließ es ihnen, und nach ein paar Monaten kehrte meine Magie zurück. Erst da verstand ich, dass ich zu Teilen erfolgreich gewesen war. Es verzehrt Feenvolkmagie - aber überwiegend die Magie der Person, die es besitzt.«

»Warum sollte die Feenkönigin es dann wollen?«, fragte ich und fügte etwas verspätet hinzu: »Jesse?«

»Es verzehrt Feenvolkmagie, Mercy«, sagte Zee. »Wie einfach ist es damit, einen formidablen Gegner in etwas zu verwandeln, was fast so verletzlich ist wie ein Mensch - und ein Mensch weiß wenigstens, dass er machtlos ist. Duelle sind im Feenvolk immer noch erlaubt.«

»Oder vielleicht versteht sie nicht wirklich, was es bewirkt«, schlug Ariana vor. »Sie könnte glauben, dass es tut, wofür es geschaffen wurde: einem Angehörigen des Feenvolks Magie stehlen, um sie jemand anderem zuzuführen. Ich habe die Geschichten gehört - und ich habe mir nicht die Mühe gemacht, sie richtigzustellen. Und jetzt, nachdem ich eine Frage beantwortet habe, habe ich auch eine an dich. Mercy, hat Phin dir das Buch geschenkt?«

Ich holte Luft, um zu antworten, aber Jesse schlug mir die Hand auf den Mund und sprang in die Bresche. »Es würde besser funktionieren, wenn Sie mich fragen würden«, sagte sie. »Dann wäre es nicht so wahrscheinlich, dass Mercy ihr Wort bricht.« Sie senkte die Hand. »Hat Phin dir das Buch geschenkt?«

»Aber was hat das Buch damit zu tun?«

»Schutzzauber«, schaltete sich plötzlich Samuel ein. »Bei allem, was heilig ist, Ari, wie hast du das geschafft? Du hast das Ding als Buch verkleidet und es dann deinem Enkel gegeben?«

»Er ist überwiegend menschlich«, antwortete sie, ohne auch nur in seine Richtung zu schauen. »Und ich habe ihm gesagt, dass er es unter Verschluss halten muss, damit es nicht die Magie aufsaugt, die er hat.«

»Was, wenn er es verkauft hätte?«, fragte ich. »Jesse?«

»Es wurde in meinem Blut geboren«, sagte Ariana. »Es wird schließlich seinen Weg zu mir zurückfinden. Jesse, bitte frag sie. Hat Phin ihr das Buch geschenkt?«

»Nein. Ich hätte es vielleicht gekauft, wenn ich es mir leisten könnte...« Ich hörte auf zu reden, weil sie in sich zusammenfiel und beide Hände vors Gesicht schlug.

»Es tut mir leid, es tut mir leid«, sagte Ariana und wischte sich mit den Händen übers Gesicht. Samuel sprang in ihre Richtung, um dann wie versteinert stehen zu bleiben. Sie war ein wenig zusammengezuckt. »Es war nur so... Ich war mir so sicher, dass Phin tot ist - dass sie ihn umgebracht haben, um es zu finden, und es wäre mein Fehler gewesen.« Sie wischte sich noch einmal über die Augen. »Normalerweise bin ich nicht so, aber Phin ist... Ich vergöttere Phin. Er ist so sehr wie der Sohn, den ich vor langer Zeit verloren habe... Und ich dachte, er wäre tot.«

»Und jetzt weißt du, dass er lebt?«, fragte Samuel.

»In Feuer oder Tod«, sagte Jesse und verstand als Erste. »Das hat die Feenkönigin gesagt. Dass es sich zeigen würde, wenn sie Mercy umbrächte oder es verbrannte. Aber wenn es immer noch Phin gehört…«

»Wenn sie ihn umgebracht hätten, hätte das Silbergeborene sich ihnen enthüllt«, stimmte Ariana zu. »Sie würden nicht immer noch danach suchen.«

»Warum haben Sie es so geschaffen?«, fragte Jesse.

Ariana lächelte sie an. »Das habe ich nicht. Aber mächtige Dinge... entwickeln sich um die Begrenzungen herum, die ihnen gegeben wurden. Das ist der Grund, warum ich es bei mir behalten habe, obwohl ich dachte, es wäre nutzlos. Weil es selbst unfertig Macht hatte.«

»Wie haben Sie herausgefunden, dass es... Oh.« In Jesses Stimme klang Verstehen mit.

»Genau. Es ist sehr alt, und viele seiner Besitzer sind auf verschiedene Arten gestorben. Die Sache mit dem Feuer kam später.« Ihr Gesicht wurde nachdenklich. »Und ziemlich spektakulär.«

»Sind Sie denn nicht sein Besitzer?«, fragte Jesse.

»Nicht, wenn ich meine Magie behalten will - ich bin nur sein Schöpfer. Deswegen wird es das Silbergeborene genannt.«

»Ariana bedeutet auf Walisisch Silber.« Samuel setzte sich auf den Boden und lehnte sich an das Metallregal an der Wand. Er hatte auch ein paar schwere Tage gehabt - aber ich hoffte trotzdem, dass Arianas ihn nicht zurücktreiben würde in seine Verzweiflung.

»Jesse«, sagte ich. »Frag sie, wie wir Gabriel finden können.«

»Was habt ihr mir mitgebracht, was dem jungen Mann gehört?«

Jesse gab ihr eine weiße Plastiktüte. »Es ist ein Pulli, den er mir geliehen hat, als ich gefroren habe.«

»Phin hat mir gesagt, dass seine Magie darin liegt, dass er manchmal bei Dingen gewisse Sachen fühlt«, meinte ich. »Zum Beispiel, wie alt ein Objekt ist. Psychometrie.«

»Das hat er von mir geerbt.« Ariana zog den Pulli hervor und vergrub ihr Gesicht darin. »Oh jemine. Das wird nicht funktionieren.«

»Warum nicht?«, fragte Samuel. »Er gehört ihm. Ich kann seinen Geruch von hier aus wittern.«

»Ich arbeite nicht mit Gerüchen«, erklärte sie ihm, ohne den Blick von dem Pulli abzuwenden. »Ich arbeite mit Verbindungen, den Fäden, die sich zwischen uns und unserem geliebtem Besitz erstrecken.« Sie sah Jesse an. »Dieser Pulli bedeutet dir sehr viel mehr, als Liebesgeschenk, als er ihm jemals bedeutet hat. Also könnte ich ihn benutzen, um dich zu finden, aber nicht ihn.« Sie zögerte. »Empfindet er genauso für dich?«

Jesse wurde rot und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

»Gib mir deine Hand«, sagte die Frau vom Feenvolk.

Jesse streckte ihre Hand aus, und Ariana ergriff sie - und lächelte wie ein Wolf, der seine Witterung aufgenommen hat. »Oh ja, du bist der Bezugspunkt.« Sie drehte sich zu Zee um. »Mit ihr können wir ihn finden. Er ist in dieser Richtung.« Sie zeigte mit dem Finger hinter die Werkstatt.

 

 

Wir stiegen in Adams Truck, weil wir in Zees Truck nicht alle reingepasst hätten - und Zee fuhr. Ariana saß auf dem Beifahrersitz, Samuel hinter Zee, so weit von ihr entfernt, wie es in dem großen Wagen möglich war. Das Brummen des starken Motors zauberte ein Lächeln auf Zees Gesicht; er wusste moderne Technologie mehr zu schätzen als ich.

»Adam hat einen guten Geschmack«, meinte er beiläufig.

Nach Gabriel zu suchen war ziemlich frustrierend, weil wir ziemlich lange brauchten, um rauszufinden, dass wir den Fluss überqueren mussten und die Straßen nicht immer in die Richtung führten, in die Adriana zeigte. Adam hatte in seinem Handschuhfach eine Karte, und Samuel versuchte mit ihrer Hilfe die wahrscheinlichsten Zielpunkte zu suchen.

Schließlich landeten wir auf einer leeren, flachen Weide am Ende einer kurvenreichen Schotterstraße (die auf Adams Karte nicht verzeichnet war). Wir hätten von den Tri-Cities vielleicht eine Stunde gebraucht, wenn wir von Anfang an gewusst hätten, dass wir hier hinwollten. Um die Weide war ein Zaun, über den wir klettern mussten. Vielleicht hatten hier vor zehn Jahren noch Tiere gestanden, aber jetzt hing der Stacheldraht durch, und einige Pfosten waren umgefallen. In der Nähe der Stelle, an der wir den Wagen abgestellt hatten, standen die Überreste einer alten Hütte.

Ariana, die in ihrer Wolljacke und ihren Stoffhosen irgendwie fehl am Platz wirkte, hielt in der Mitte der Weide an, neben ein paar Büscheln Horstgras und einem Wüstensalbei. »Hier«, sagte sie und klang besorgt.

»Hier?«, fragte Jesse ungläubig.

Ich nutzte unseren Stopp, um die Trespen aus meinen Socken zu ziehen. Hätte ich gewusst, dass wir hier rumrennen würden, hätte ich Stiefel angezogen - und eine dickere Jacke.

»Die Feenkönigin hat ihr Königreich Elphame wieder errichtet«, merkte Zee trocken an.

»Und das ist schlimm?«, fragte ich.

»Sehr schlimm«, antwortete er. »Das heißt, dass sie stärker ist, als ich dachte - und wahrscheinlich mehr Feenwesen unter ihrem Befehl hat, als wir erwartet haben... Wenn sie die Fähigkeit hat, ein Zuhause zu errichten.«

»Wie soll sie das hier getan haben?«, fragte Ariana. »Sie muss das Land unter dem Feenhügel anzapfen können, um ihr eigenes Elphame zu errichten. Die Tore zu dem geheimen Ort sind uns seit Jahren verschlossen - und außerdem war das Land unter dem Feenhügel nie auf diesem Kontinent.«

Ich schaute zu Zee. Ich konnte nicht anders, denn ich war bereits unter dem Feenhügel gewesen - und war zu Stillschweigen verpflichtet worden.

»Das Land unter dem Feenhügel ist, wo immer es sein will«, erklärte Zee. »Das Reservat ist im Krähenflug nicht weiter entfernt als zehn Meilen. Die meisten Feenwesen, die dort leben, sind nicht die Mächtigen im Feenvolk - aber dort leben viele, mehr, als auf den Listen der Regierung erscheinen. In dieser Art von Konzentration liegt Macht.« Er achtete sorgfältig darauf, nicht preiszugeben, dass das Reservat ein oder zwei Wege unter den Feenhügel wieder eröffnet hatte.

Ariana streckte die Hand aus und schloss kurz die Augen. »Du hast Recht, Zee. Hier gibt es Macht, die nach dem alten Ort schmeckt. Ich hatte mich gefragt, warum sie sich die Mühe gemacht hat, Phin am Leben zu halten, wenn es für sie doch logischer gewesen wäre, ihn umzubringen. Sie hat sich selbst überlistet, als sie ihn nach Elphame gebracht hat.«

»Feenköniginnen folgen Regeln«, stimmte Zee ihr zu. »Sterbliche, die ins Elphame gebracht werden, können nicht getötet oder dauerhaft verletzt werden - das ist Teil der Magie, welche die Errichtung eines solchen Ortes erlaubt.«

Ariana lächelte ihn schwach an. »Mein Phin muss zu menschlich sein, um von ihr getötet zu werden. Ich fragte mich, ob sie das wusste, als sie ihn in ihr Versteck mitgenommen hat? Wenn er menschlich ist, kann sie ihn für ein Jahr und einen Tag nicht aus freien Stücken freigeben.«

»Heißt das, dass sie Gabriel nicht umbringen kann?« Jesse rieb sich über die Arme, um sich zu wärmen. »Und dass wir ihn auch ein Jahr und einen Tag lang nicht zurückbekommen können?«

»Sie kann auch Gabriel nicht töten.« Diese Antwort kam von Samuel. »Das heißt aber nicht, dass sie sie nicht verletzen oder verzaubern wird. Feengefangene können durch List, durch Kampf oder durch einen Handel befreit werden.«

»Einen Handel? Wie in dem Song ›The Devil Went Down to Georgias‹aber mit einer Feenkönigin?«, fragte ich. Ich hatte das Gefühl, dass ich ähnliche Geschichten auch schon vom Feenvolk gehört hatte.

»Genau«, stimmte Samuel zu. »Es kann ein Wettkampf sein - gewöhnlich ein musikalischer, weil Feenköniginnen häufig musikalisch begabt sind. Aber es gibt auch Geschichten von Wettläufen oder Schwimmwettbewerben. Mein Vater hat ein wundervolles altes Lied in seinem Repertoire, über einen jungen Mann, der eine Feenkönigin zu einem Wettessen herausgefordert und gewonnen hat.«

»Wie kommen wir rein?«, fragte Jesse.

»Der einzige mir bekannte Weg in ein Elphame ist, der Feenkönigin zu folgen«, sagte Ariana.

»Ich kann vielleicht einen Weg öffnen«, sagte Zee. »Ich glaube, ich kann auch verhindern, dass sie merkt, was ich getan habe. Aber dann muss ich hierbleiben und die Tür offen halten - und ich werde sie nicht lange offen halten können. Höchstens eine Stunde, dann müsst ihr wieder raus sein. Wenn die Tür sich schließt... Wie unter dem Feenhügel vergeht die Zeit in Elphame anders. Niemand kann wissen, wie viel Zeit vergangen sein wird, selbst wenn es euch gelingt, zu entkommen.«

»Okay«, sagte Jesse.

»Oh, nein«, protestierte ich. »Du nicht, Jess. Nein.«

»Ich werde da drin am sichersten sein«, erklärte sie mir. »Ich bin einfach nur ein sterblicher Mensch - sie kann mich nicht töten.«

»Sie können dafür sorgen, dass du dir wünschst, tot zu sein«, gab Samuel zu bedenken.

»Ihr braucht mich, um Gabriel zu finden.« Jesse schob ihr Kinn vor. »Ich komme mit.«

Ich schaute zu Ariana, die nickte. »Das Elphame steht völlig unter der Kontrolle seiner Schöpferin. Wenn wir deinen jungen Mann schnell finden und ihn rausholen wollen, dann brauchen wir sie, um das zu schaffen.«

»Dann lass mich Adam anrufen und die Wölfe holen.«

Ich hätte bei Sylvia vorbeifahren und etwas holen sollen, womit Ariana Gabriel finden konnte und das nicht lebendig war. Ich wollte Adams Rudel nicht noch mehr Ärger bereiten - aber noch dringender wollte ich Gabriel und Phin aus den Fängen der Feenkönigin befreien und trotzdem dafür sorgen, dass Jesse in Sicherheit war.

Ariana keuchte auf. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Samuel ist... Mit fremden Werwölfen könnte ich es nicht. Wäre es nur Angst, würde ich Ja sagen. Aber die Panikattacken sind gefährlich für alle um mich herum.« Sie schaute zu Zee. »Was meinst du? Könnten sie sie auch ohne mich finden?«

»Nein. Wenn ich hier draußen bleiben muss, brauchen sie dich, damit sie sich nicht verlaufen. Außerdem halte ich die Wölfe für einen Fehler, Mercy. Samuel ist alt genug und von sich aus mächtig - ich glaube, er kann sich dem Willen einer Feenkönigin widersetzen. Aber alle Wölfe... Die Gefahr, dass sie die Unseren gegen uns wendet, ist zu groß. Wenn sie dich oder Jesse einfängt, können Ariana und Sam euch immer noch rausbringen. Wenn du mit dem Rudel reingehst, könnte selbst ein einzelner Wolf, der ihr verfällt, den Tod bedeuten.«

»Es ist okay, Mercy«, sagte Jesse. »Ich bin nicht hilflos und ich... Könntest du hier draußen warten, wenn Dad da drin wäre?«

»Nein.«

»Seid ihr bereit?«

»In Ordnung«, sagte ich und war mir schmerzlich bewusst, dass Adam nicht glücklich sein würde, aber Jesse hatte Recht. Sie war wahrscheinlich diejenige von uns, die am wenigsten gefährdet war. »Lasst sie uns da rausholen.«

»Gut«, sagte Zee - und ließ ohne Fanfare oder Vorwarnung seinen Schutzzauber fallen. In einem Moment war er der mittelgroße magere alte Mann mit Kugelbäuchlein und Altersflecken auf Nacken und Händen, und im nächsten ein großer, schnittiger Krieger mit einer Haut von der Farbe dunkler Rinde. Sonnenlicht färbte sein Haar golden. Es glitt als dicker Zopf über seine Schulter und hing ihm fast bis auf die Hüfte. Als ich ihn das letzte Mal so gesehen hatte, waren seine spitzen Ohren unzählig oft durchstochen gewesen, und er hatte Ohrringe aus Knochen getragen. Diesmal trug er überhaupt keinen Zierrat.

Sein Körper wirkte in der Jeans und dem Flanell-Hemd, das er immer noch trug, fehl am Platz. Die Kleidung passte ihm in seiner momentanen Erscheinungsform genauso gut wie in der, an die ich gewöhnt war. Ich nahm an, dass das Sinn ergab, denn der Zee, den ich kannte, war die Illusion, und dieser Mann - und seine Kleidung - real.

Zees wahres Gesicht war unheimlich - schön, stolz und grausam. Ich erinnerte mich an die Geschichten, die ich über den Dunklen Schmied von Drontheim gefunden hatte. Zee war nie die Art von Feenwesen gewesen, die Häuser saubermachte oder verlorene Kinder rettete. Er war jemand, dem man aus dem Weg ging, wenn es irgendwie möglich war, und den man mit äußerster Höflichkeit behandelte, wenn es nicht möglich war. Er war mit dem Alter ein wenig sanftmütiger geworden und weidete niemanden mehr aus, der ihn verärgert hatte. Zumindest nicht, soweit ich wusste.

»Wow«, sagte Jesse. »Du bist schön. Beängstigend. Aber schön.«

Er schaute sie einen Moment an, dann sagte er: »Ich habe gehört, wie Gabriel dasselbe von dir gesagt hat, Jesse Adamstochter. Ich glaube, es war als Kompliment gemeint.« Er drehte sich zu Ariana. »Du wirst deinen Schutzzauber zurücklassen müssen. Die einzigen Schutzzauber, die im Elphame wirken, sind die der Königin, und wenn du wartest, bis das Elphame sie dir entreißt, wirst du sie darauf aufmerksam machen, dass es einen Eindringling gibt.«

Sie ballte die Fäuste und warf einen kurzen, verstohlenen Blick zu Samuel. »Ich habe deine Narben gesehen«, sagte er. »Ich bin Arzt und ein Werwolf. Ich habe die Wunden gesehen, als sie frisch und offen waren - Narben stören mich nicht. Sie sind die Lorbeeren des Überlebenden.«

Wie Zee hielt sie sich nicht mit Theatralik auf. Ohne Schutzzauber hatte ihre Haut eine wärmere Färbung als die von Zee und war ein gutes Stück heller. Sie hatte wunderschönes, blausilbernes Haar, das an keiner Stelle länger war als vielleicht zehn Zentimeter und sich um ihren Kopf verteilte wie Gefieder - und damit Jesses momentaner Frisur ziemlich ähnelte. Auch Arianas Kleidung veränderte sich, als der Schutzzauber fiel. Jetzt trug sie ein einfaches cremefarbenes Kleid, dessen asymmetrischer Saum an ihren Knien endete.

Sie war nicht klassisch schön - dafür war ihr Gesicht zu wenig menschlich, mit zu großen Augen und einer Nase, die zu klein war. Ihre Narben waren nicht so schlimm, wie sie beim ersten Mal gewirkt hatten. Sie wirkten älter und weniger schreiend - aber sie hatte viele davon.

»Wir sind bereit«, sagte Samuel und sah Ariana mit einem Hunger in den Augen an, der nichts mit seinem Magen zu tun hatte.

Zee griff hinter seinen Kopf und zog seinen Dolch - mit schwarzer Klinge und elegant in seiner tödlichen Einfachheit - aus dem Kragen seines Hemdes. Entweder war es Magie, oder er trug dort eine Scheide, ich konnte es nicht sagen, und bei Zee konnte es beides sein. Er benutzte ihn, um einen geraden Schnitt über seinen Unterarm zu ziehen. Für einen Moment geschah nichts, dann drang dunkelrotes Blut hervor. Er kniete sich hin und ließ das Blut auf die Erde tropfen.

»Mutter«, sagte er. »Höre mich, dein Kind.«

Er drückte die Hand seines unverletzten Armes auf den Boden und vermischte sein Blut mit der feinen Erde. Auf Deutsch flüsterte er: »Erde, geliebte Mutter, dein Kind ruft. Schmecke mein Blut. Erkenne deine Schöpfung, gewähre Einlass.«

Magie sorgte dafür, dass meine Füße kribbelten, und meine Nase juckte - aber sonst passierte nichts. Zee stand auf und ging vier Schritte, bevor er sich in den anderen Unterarm schnitt.

Er kniete sich wieder hin, senkte den Kopf, und diesmal lag Macht in seiner Stimme: »Erde mein, lass mich ein.«

Blut glitt über seine Haut und über seine Handrücken. Er hatte beide Handflächen auf die Erde gestemmt. »Gibst mir Mut!«, schrie er - und drehte seine Hände, so dass er das Blut auf dem Boden verteilen konnte.

»Trinkst mein Blut. Erkenne mich.« Er lehnte sich nach vorne und stützte sein Gewicht auf die Hände. Erst versanken seine Hände, dann auch die Arme in der Erde, bis sie tief genug darinsteckten, dass man die selbst zugefügten Wunden nicht mehr sehen konnte. Er lehnte sich noch weiter vor, bis sein Mund fast die Erde berührte, und sagte leise: »Öffne dich.«

Der Boden unter meinen Füßen vibrierte, und dann erschien ein Riss zwischen der Stelle, an der Zee saß, und der Stelle, an der er sein Blut mit der Erde vermischt hatte.

»Erde mein«, sagte er. Der Boden zitterte unter seiner Stimme, die dunkler klang, als hallte sie aus einer tiefen Höhle heraus. »Lass mich ein. Gibst mir Glut.« Er legte seine Stirn auf den Boden. »Trinkst mein Blut. Es quillt für dich hervor. Öffne mir ein Tor!«

Es folgte ein Blitz und ein großes Stück erdiger Boden verschwand einfach und wurde durch eine Steintreppe ersetzt, die acht Stufen direkt nach unten führte, bevor sie sich zur Seite wandte. Mehr konnte ich nicht sehen, denn aus den Tiefen des Loches drang dichter Nebel und verbarg alles außer den ersten drei Metern der Treppe.

Zee riss seine Hände aus der Erde. An seinen Armen klebte Dreck, aber die Wunden und das Blut waren verschwunden. Er hob eine Hand und streckte sie Ariana entgegen - und sie nahm den glühenden Stein, den er ihr gab.

»Ich kann es für ungefähr eine Stunde offen halten«, erklärte Zee uns. »Ariana kann den Stein benutzen, um den Weg zu mir zurückzufinden. Wenn ihr seht, dass das Licht anfängt zu flackern, bedeutet das, dass ich am Ende meiner Kraft bin und ihr hierher zurückkommen müsst. Solange dieses Tor geöffnet ist, wird die Zeit im Elphame parallel zur Zeit draußen laufen. Wenn dieses Tor sich schließt, kommt ihr vielleicht heraus, aber ich weiß nicht, in welcher Zeit ihr euch dann wiederfinden werdet.«

 

 

Samuel ging voraus, gefolgt von Ariana. Ich ließ Jesse den Vortritt und übernahm die Nachhut. Das Licht über uns wurde schnell dämmriger, bis wir fast in völliger Dunkelheit voranschritten. Jesse stolperte, und ich fing sie auf, bevor sie fallen konnte.

»Hier«, sagte Ariana. »Leg eine Hand auf meine Schulter, Jesse.«

»Ich werde meine auf deine Schulter legen«, erklärte ich dem Mädchen. »Samuel, kannst du etwas sehen?«

»Jetzt schon«, sagte er. »Da vorne wird es heller.«

»Heller« war ein relativer Begriff, aber ich konnte die zehn Stufen sehen, die wir noch zu gehen hatten. Die Treppe endete in einem Erdtunnel, der von in die Wände und den Boden eingelassenen Edelsteinen beleuchtet wurde, jeder ungefähr so groß wie eine Orange. Die Tunneldecke war ungefähr fünfzehn Zentimeter niedriger als Samuel groß war, und sowohl Decke als auch Wände waren voller Baumwurzeln.

»Über uns sind keine Bäume«, sagte ich. »Und selbst wenn dort welche wären, hatte ich das Gefühl, wir wären tiefer runtergestiegen, als dass es hier noch Wurzeln gäbe.«

»Sie hat einen Waldlord in ihrem Hofstaat«, sagte Ariana und streckte die Hand nach der Wand aus, wo Wurzelfäden einen rohen Vorhang bildeten. Die Wurzeln bewegten sich auf sie zu und liebkosten für einen Moment ihre Finger, bevor sie zurück an ihren Platz fielen.

»Was für eine Art Feenwesen sind Sie, Ariana?«, fragte Jesse. »Sind Sie auch ein Waldlord? Oder ein Gremlin wie Zee, weil Sie mit Silber arbeiten können?«

»Es gibt keine anderen wie Zee«, erklärte sie uns. »Er ist einzigartig. Fast alle vom Feenvolk können in gewissem Maße mit Silber arbeiten - Silber liebt die Magie des Feenvolkes. Aber du hast Recht: In meiner Herkunft gibt es eisengeküsste Feenwesen, und Stahl hält für mich kein Grauen.«

Wir sprachen leise, aber ich machte mir keine besonderen Sorgen, dass wir entdeckt werden würde. Ich verspürte ein... leeres Gefühl, das mir verriet, dass es hier kein anderes Leben gab als die Wurzeln, die meine Haare berührten und mich fast zum Stolpern brachten.

»Wir...« Ich unterbrach mich, weil ich mich daran erinnerte, dass ich nicht über die Feenkönigin reden durfte. Hatte ich mein Wort bereits gebrochen? Spielte es noch eine Rolle, jetzt, wo wir ihre Festung stürmten?

»Jesse«, sagte ich, weil ich auf Nummer sicher gehen wollte, »wir haben die Rettungsaktion noch überhaupt nicht geplant.«

»Man kann keine Pläne schmieden, wenn man durch ein Elphame läuft«, sagte Samuel, der vornübergebeugt lief, eine Hand gegen die Wurzeln ausgestreckt. »So ein Ort ist es nicht. Ariana wird uns zu ihrem Enkel und Gabriel führen, und wir werden versuchen, wieder rauszukommen und mit allem klarzukommen, was unterwegs passiert.«

»Das klingt... einfach«, sagte ich.

»Es könnte einfach werden«, erklärte Ariana mir. »Sie kann keine Besucher erwarten - es gibt einfach nicht allzu viele im Feenvolk, die einen Hintereingang in das Reich einer Feenkönigin öffnen können. Hörige werden nicht auf uns reagieren - sie wissen nichts und sind nicht viel mehr als Automaten, die auf die Befehle der Königin reagieren. Vielleicht können wir Phin und Gabriel finden und wieder verschwinden, bevor überhaupt jemand merkt, dass etwas nicht stimmt.«

»Hätten wir das...« Ariana legte ihre Hand auf meine Finger.

»Es ist besser, in ihrem Königreich nicht über das zu sprechen, was sie ersehnt«, erklärte sie mir. »Ich nehme an, das könnte sie hören. Und nein. Es ist mächtig, und selbst wenn es nicht tut, was sie will, kann es doch in den falschen Händen großen Schaden anrichten.«

»In Ordnung«, sagte ich.

Samuel hob den Kopf. »Am besten sprechen wir jetzt nicht mehr. Ich fange an, andere Leute zu wittern.«

Sobald er es erwähnt hatte, konnte ich sie auch riechen. Wir erreichten stärker frequentierte Wege. Die lose Erde des Bodens wurde zu festgestampfter Erde. Die Wurzeln an den Wänden verschwanden und wurden von roh geschnittenen Steinplatten ersetzt, während der Boden in Kopfsteinpflaster überging und die Decke sich so weit hob, dass Samuel wieder aufrecht gehen konnte.

Und andere Tunnel stießen auf unseren.

Ich witterte den Geruch vor Samuel, aber ich glaube, das lag nur daran, dass die Frau von hinten kam und ich ihr näher war. Es spielte allerdings auch keine Rolle, weil ich gerade noch genug Zeit hatte, herumzuwirbeln, bevor sie uns erreichte. Sie hatte eine zerrissene Jacke und dreckige Jeans an und trug mit beiden Händen ein großes Schneidebrett. Sie lief direkt gegen mich und stolperte zurück. Als sie versuchte, sich an mir vorbeizuschieben, blockierte ich ihr ein zweites Mal den Weg.

»Bring das in die Küche«, sagte sie, ohne mich dabei anzusehen. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, ihre gesamte Aufmerksamkeit war auf das Brett in ihren Händen gerichtet. Ihre Haare hingen in ungewaschenen Strähnen um ihren Kopf herum, und ihre Hände waren dreckig. Um ihren Hals lag ein dünnes silbernes Halsband. »Die Küche, Kind. Die Küche. Bring das in die Küche.«

Ich ging ihr aus dem Weg, und sie rannte quasi an uns vorbei.

»Sie kümmert sich nicht um ihre Hörigen«, sagte Ariana missbilligend. »Hörige?«, fragte Jesse.

»Sklave«, antwortete ich. »Du kennst doch den Ausdruck, wenn jemand einem andere hörig ist - das ist derselbe Wortstamm.«

»Folgt ihr«, sagte Ariana. »Die Küche sollte sich im Zentrum des Elphame befinden.«

Wir liefen hinter ihr her und kamen dabei an einem jungen Mann in Polizeiuniform, einer Frau im Jogginganzug und einer älteren Frau vorbei, die einen dampfenden Teekessel trug. Sie alle trugen silberne Halsbänder und bewegten sich mit einem unnatürlichen Eifer. Der Boden wechselte von Kopfsteinpflaster zu Steinplatten, und die Decke wurde noch höher, bis sie gute viereinhalb Meter über unseren Köpfen war.

Die Edelsteine, von denen der Gang erhellt wurde, hingen jetzt in Gestellen von der Decke und an den Wänden, die entweder aus feinem Silberdraht oder aus Spinnweben waren. Was auch immer es war, es wirkte nicht fest genug, um sie zu halten. Hin und wieder stieß Samuel mit dem Kopf gegen einen der tiefer hängenden Steine, so dass er hin und her schaukelte.

Wir erreichten die Küche, die aussah, als wäre sie aus einer Fernsehserie der Fünfzigerjahre importiert worden, allerdings standen hier in einem Raum, der größer war als mein dahingegangener Trailer, zwei Herde mit je sechs Platten. Ich schaute mich um, aber niemand hier war Donna Reed oder June Cleaver... oder auch Gabriel Sandoval. Die glitzernden weißen Geräte hatte abgerundete Ecken, die mir irgendwie seltsam erschienen, und die drei Kühlschränke hatten silberne Griffe und die silberne Aufschrift Frigidaire. Leute mit silbernen Halsbändern bereiteten Speisen und Getränke vor - und schienen uns überhaupt nicht zu bemerken. Die Frau, der wir gefolgt waren, stellte das Schneidebrett auf die Arbeitsfläche neben einer der Spülen und begann damit, das Waschbecken zu füllen - über eine Handpumpe statt mit einem Wasserhahn.

»Entschuldigen Sie«, sagte Ariana und ging zu einem Mann, der in einem Topf rührte, der scheinbar voller Haferbrei war.

»Rühr den Topf siebzig mal sieben Mal«, sagte er.

»Wo sind die Gefangenen?«, fragte Samuel und legte dabei diesen Druck in seine Stimme, den wirklich dominante Wölfe hatten. Seine Stimme hallte seltsam im Raum wider. Langsam hielten alle im Raum in ihren Tätigkeiten inne. Einer nach dem anderen drehten sich die sechs Leute mit den silbernen Reifen um den Hals zu Samuel um. Der Mann, mit dem Ariana gesprochen hatte, hörte als Letzter auf, sich zu bewegen. Er zog seinen Löffel aus dem Topf und zeigte auf einen der sieben abgerundeten Durchgänge. Die anderen zeigten, einer nach dem anderen, in dieselbe Richtung.

»Siebenundvierzig Schritte«, sagte der Haferbreirührer.

»Nehmt den rechten Tunnel«, sagte ein Mann, der Rüben geschnitten hatte.

»Achtzehn Schritte, dann umdrehen«, sagte ein Mädchen, das Brotteig knetete. »Der Schlüssel hängt am Haken. Die Tür ist gelb.«

»Lasst sie nicht raus«, sagte ein Junge, der wirkte, als wäre er nicht älter als dreizehn und der gerade Gläser aus einer Karaffe gefüllt hatte.

»Zurück an die Arbeit«, sagte Samuel, und einer nach dem anderen folgte seinem Befehl.

»Ich glaube, das war das Unheimlichste, was ich je gesehen habe«, meinte Jesse. »Werden wir diese Leute einfach hier zurücklassen?«

»Wir werden Gabriel retten und Phin«, sagte Ariana. »Und dann werden wir den Grauen Lords davon berichten, die das Halten von Hörigen verboten haben. Nur die Feenkönigin kann ihre Hörigen freigeben, und die Grauen Lords sind die Einzigen, die sie dazu zwingen können. Im Elphame ist ihre Herrschaft absolut.«

»Was ist, wenn sie Gabriel zu einem Hörigen gemacht hat?«

»Das hat sie nicht«, antwortete Ariana überzeugt. »Sie hat es Mercy versprochen, und ihr Versprechen zu brechen hätte fatale Folgen. Und mein Phin ist gegen so etwas geschützt.«

Der Weg, dem wir aus der Küche folgten, war weniger prachtvoll als der, auf dem wir hineingelangt waren. Der Boden bestand aus kleinen achteckigen weißen und schwarzen Fliesen. Siebenundvierzig Schritte hinter der Küche öffnete sich der Tunnel in einen kleinen Raum. Die schwarzen Fliesen bildeten im Mittelpunkt des Raums einen komplizierten keltischen Knoten. Gegenüber führten Tunnel weiter, und einer ging jeweils rechts und links ab.

Wir nahmen den rechten. Hier bestand der Boden aus rohen Holzplanken, die wirkten, als wären sie mit der Hand gesägt worden. Sie knarrten ein wenig unter Samuels Gewicht. Er war der schwerste von uns.

»Achtzehn«, sagte er schließlich, und da war die gelbe Tür, neben der an einem Haken ein altmodischer Schlüssel hing - die erste Tür, die wir bis jetzt im Elphame gesehen hatten.

Samuel steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.

»Doc?«, fragte Gabriel. »Was tun Sie hier?«

»Gabriel.« Jesse schob sich an Samuel vorbei.

Mit dem Schlüssel in der Hand folgte Samuel ihr. Ariana und ich kamen danach. Gabriel umarmte gerade Jesse. »Was tut ihr alle hier? Hat sie euch auch erwischt?«

Der Raum war weiß. Weiße Steinwände, weiße Decke mit klaren Kristallen, um den Raum zu beleuchten. Der Boden bestand aus einer einzigen, nahtlosen weißen Marmorplatte. Es gab zwei Betten mit weißen Bezügen. Die einzige Farbe im Raum waren Samuel und der Mann, der auf einem der Betten lag. Er sah schrecklich aus, und ich hätte ihn niemals erkannt, wenn Ariana nicht seinen Namen geflüstert hätte.

Phin setzte sich langsam auf, als täten ihm die Rippen weh, und Ariana eilte zu ihm, um neben seinem Bett auf ein Knie zu fallen.

Er runzelte die Stirn und schaute sie fragend an. »Wer...?«

»Grandma Alicia«, sagte sie.

Er wirkte überrascht, dann lächelte er. »Hat dir je jemand gesagt, dass du überhaupt nicht aussiehst wie eine Großmutter? Dann ist das eine Rettungsaktion? Wie in den alten Märchen?«

»Nein«, sagte Samuel, der sich zur Tür umgedreht hatte. »Es ist eine Falle.«

»Willkommen in meinem Heim«, sagte eine mir bekannte, dunkle Stimme. »Ich bin ja so froh, dass ihr mich besucht.«

Die Frau, die in der Zellentür stand, war entzückend. Ihr Haar wirkte wie dunkler Rauch und war in einen komplizierten Zopf geflochten, der aus lauter einzelnen kleinen Zöpfen bestand. Er floss ihren Rücken hinab bis auf den Boden wie der Schweif eines arabischen Reitpferdes, und die Farbe betonte ihre Porzellanhaut und das Rot ihrer Lippen.

Sie schaute mich an. »Ich bin so froh, dass du in mein Haus gekommen bist, Mercedes Thompson. Ich habe gerade versucht, dich auf meinem Handy zu erreichen, als - stell dir meine Überraschung vor - ich entdeckte, dass du hier bist. Aber du hast es nicht mitgebracht.« Dass eine Feenkönigin über Handys redete, hätte mich fast zum Lachen gebracht. Fast.

Ich hob das Kinn. Durch List, durch Kampf, durch Handel. »Ich bin kein so schlechter Verhandlungspartner, Feenkönigin. Hätte ich es mitgebracht, könnten wir ja nicht spielen.«

Sie lächelte, und ihre silbergrauen Augen wurden wärmer. »Unter allen Umständen«, sagte sie. »Lass uns spielen.«