9

 

Von drei Uhr morgens saß ich mit Jesse, Darryl, Auriele und Mary Jo in Adams Küche und trank heiße Schokolade. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten zwischen mir und Mary Jo ein paar Leute gesessen - weil ich nichts davon halte, Öl in die Flammen zu gießen -, aber als ich damit fertig war, den Kakao einzugießen, war nur noch der Platz zwischen ihr und Jesse frei.

Gut war, dass die meisten Wölfe nach Hause zurückgekehrt waren und Adam immer noch sicher war. Sam und Warren saßen in Adams Zimmer und schoben Wachdienst, während der Rest von uns versuchte, eine Entscheidung darüber zu treffen, wie wir weitermachen sollten, bis Adam wieder auf den Beinen war. Wir hatten alle anderen Wölfe, die aufgetaucht waren, wieder weggeschickt.

Ich hatte vor, mich zu Adam zu gesellen, sobald wir hier fertig waren, aber ich wusste, dass es ihm auch ohne mich gutging. Er hatte ungefähr fünf Kilo Fleisch gefressen und war dann in einen Schlaf gefallen, der eher einem Koma glich. Warren war dominant genug, um sich auch gegen zwei der restlichen Wölfe gleichzeitig zur Wehr zu setzen, so lange Darryl nicht dabei war, der dominanter war. Zumindest teilweise.

Sam war ein wenig unberechenbar, aber in seinem momentanen Zustand war ich mir ziemlich sicher, dass er auf unserer Seite stand. Wenn ein Wolf verletzt ist, ist er auch verletzlich. Im besten Fall wird ein verletzter Wolf von seinen Rudelgefährten beschützt - aber wenn das Rudel aufgewühlt ist, wie es im Moment in Adams Rudel der Fall war, dann achtet man besser darauf, vertrauenswürdige Wachen aufzustellen.

Warren und Sam würden darauf achten, dass Adam nichts passierte.

Ben schlurfte in den Raum und zog einen der Esszimmerstühle hinter sich her. Er schob ihn zwischen Jesse und Auriele, löste mühsam seine blutigen Finger von der Stuhllehne und ließ sich auf seinen Platz fallen. Jesse schob eine Tasse heißen Kakao vor ihn, dann griff sie nach der Sprühsahne und spritzte eine Haube aus künstlichem, süßem weißen Schaum auf die Tasse. Jesses lockige Haare waren wieder ein wenig länger geworden, und sie hatte sie rosa gefärbt.

»Danke, Süße«, meinte Ben in anzüglichem Tonfall, und sie rückte ihren Stuhl ein wenig von ihm ab. Er drehte den Kopf, so dass sie sein Gesicht nicht sehen konnte, und lächelte, bis ihm aufging, dass ich ihn beobachtete. Ich kniff die Augen zusammen, und er räusperte sich. »Ich habe eine E-Mail an den Verteiler rausgeschickt, in der steht, was passiert ist, und dass Adam in ein oder zwei Tagen wieder auf den Beinen sein wird.«

Bis zu diesem Moment hatte ich gar nicht gewusst, dass es einen E-Mail-Verteiler gab. Ich stand nicht auf der Liste, wahrscheinlich, damit sie sich über mich beschweren konnten, ohne meine Gefühle zu verletzen. Nachdem Bens Hände aussahen, wie sie aussahen, hatte Auriele angeboten, die Mail rauszuschicken, aber er hatte darauf bestanden, dass Computer in seinen Zuständigkeitsbereich fielen und er es schon machen konnte, da er immer noch alle zehn Finger hatte.

Jetzt lehnte er sich vor und nippte an seinem Kakao, ohne die heiße Tasse zu berühren. »Es ist Tütenkakao«, entschuldigte ich mich. »Mein Vorrat von dem echten Zeug ist mit dem Haus in Flammen aufgegangen.« Sobald ich den Satz ausgesprochen hatte, wünschte ich mir, ich hätte es nicht getan. Ich hatte es bis jetzt ganz wunderbar geschafft, zu verdrängen, dass hinter der Dunkelheit der Küchenfenster mein Haus nur noch ein Haufen verkohlter Trümmer war.

»Es ist Schokolade«, sagte Ben. »Zu diesem Zeitpunkt reicht das völlig.«

Schweigen breitete sich aus, und mir fiel ein, dass eigentlich ich die Show führen musste. Das erinnerte mich auf seltsame Art an das eine Mal, als ich die Pfadfindergruppe meiner kleinen Schwester hatte übernehmen müssen, weil meine Mutter krank war. Vierzehn pubertierende Mädchen, ein Tisch voller Werwölfe - da gab es gewisse schreckliche Parallelen.

Ich rieb mir das Gesicht. »Also, worum müssen wir uns noch kümmern, bevor wir ins Bett gehen?«

Darryl verschränkte seine großen Hände auf dem Tisch. »Die Feuerwehr weiß noch nichts Genaues - aber sie waren ziemlich sicher, dass es an der Elektroinstallation lag. Das Feuer ist in der Nähe des Sicherungskastens im Flur ausgebrochen. Anscheinend gehen diese alten Haus-Trailer manchmal so in Flammen auf, besonders in den ersten paar Wochen der Heizperiode.«

Er warf mir einen kurzen Blick zu. »Akzeptieren wir das so, oder hast du wieder jemanden gegen dich aufgebracht?«

Er mochte seine ebenholzfarbene Haut und seine Größe ja seinem afrikanischen Vater verdanken, aber er konnte dank der Gene seiner Mutter besser undurchschaubar chinesisch sein als jeder Chinese, den ich bis jetzt getroffen hatte. Es war schwer zu sagen, ob er diesen letzten Satz als Scherz oder als berechtigte Kritik gemeint hatte.

»Es war das Feenvolk«, sagte ich mit einem tiefen Seufzen und trat halbherzig mit dem Fuß gegen das nächstgelegene Tischbein.

»Was - das gesamte Feenvolk?«, fragte Ben heiter. Ich glitt ein Stück in meinem Stuhl nach vorne, damit ich ihn an Jesse vorbei gegen das Schienbein treten konnte, was um einiges befriedigender war.

»Nein, nicht das gesamte«, sagte ich, nachdem er in gespieltem Schmerz aufgejault hatte.

»Du bringst uns ein Problem nach dem nächsten, oder, Mercy?«, fragte Mary Jo, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden.

»Miststück«, sagte Ben. Es schien sein Wort des Tages zu sein - und war um einiges besser als sein normales Repertoire. Er hatte eigentlich an diesem Tag gar nicht so viel geflucht, wenn man die Zeitspanne nicht rechnete, in der Samuel seine Hände gesäubert hatte. Und wenn man nur die Worte zählte, die dafür sorgten, dass ein Film erst ab achtzehn freigegeben wurde. Ich fragte mich, ob es Zufall war, ob er versuchte, sich zu bessern - oder ob ich einfach nicht genug Zeit mit ihm verbracht hatte.

Mary-Jo zog angewidert die Lippe hoch. »Schleimer.«

»Du hast Nerven, hier mit Steinen zu werfen«, erklärte er ihr, »wo du einfach nur dagesessen bist und zugeschaut hast, wie sie Mercys Haus angezündet haben.«

»Was?«, fragte Darryl mit sehr, sehr ruhiger Stimme.

Aber Mary Jo achtete nicht auf Darryl. Stattdessen stand sie halb auf und lehnte sich drohend über den Tisch. »Und? Glaubst du, ich hätte mich für sie mit einer Gruppe unbekannter Feenwesen anlegen sollen?«

Auriele stand auf und versetzte dem Tisch einen heftigen Stoß, so dass Mary Jo gegen die Wand gepresst wurde. Dem Geräusch nach musste es wehgetan haben. Wenn man sie nicht gut kannte, war es wahrscheinlich leicht, Auriele zu unterschätzen. Sie war zierlich gebaut, wie manche Hispaniolas es sind, und wirkte, als hätte sie sich ihre sorgfältig gepflegten Hände noch nie schmutzig gemacht.

Dem Großteil des Rudels war es lieber, wenn Darryl wütend auf sie war statt Auriele. Die Stimme von Darryls Gefährtin war eisig, als sie fragte: »Du hast einfach zugeschaut, als ein paar vom Feenvolk das Haus eines Rudelmitglieds niedergebrannt haben?«

Ich hatte meine Tasse vom Tisch genommen, als er sich bewegte, und hatte es auch geschafft, die von Jesse zu retten. Mit der Hüfte lenkte ich den Tisch gerade weit genug ab, dass er nicht Jesse treffen konnte. Darryl rettete Bens Tasse - seine eigene war schon leer. Also ergossen sich nur Mary Jos und Aurieles Kakao über den Tisch und auf den Boden.

In der angespannten Stille dieses Moments erschien mir das Klingeln meines Handys fast als willkommene Ablenkung. Ich knallte die zwei Tassen auf den Tisch und zog das Telefon aus der Tasche.

Ich erkannte weder die Nummer noch die Vorwahl. Normalerweise kenne ich die Nummern der Leute, die mich mitten in der Nacht anrufen.

»Hallo?«

»Mercedes Thompson, du hast etwas, was mir gehört. Ich habe etwas, was dir gehört. Sollen wir spielen?«

Ich stellte das Telefon laut und legte das Handy in die Mitte des Tisches. Natürlich hätte sowieso jeder außer Jesse den Anruf mithören können - aber wenn wir alle bei voller Lautstärke zuhörten, fiel vielleicht jedem etwas anderes auf. Mein Handy war ziemlich neu, und ich hatte extra einen Aufpreis bezahlt, um eines mit guter Klangqualität zu bekommen.

Darryl zog sein Handy heraus - einer von diesen Minicomputern mit jeder vorstellbaren technischen Spielerei -, drückte ein wenig auf dem Bildschirm herum und legte es dann neben meines. »Aufnehmen«, formte er mit den Lippen.

»Alles, was ich besessen habe, ist letzte Nacht in Flammen aufgegangen«, erklärte ich meinem unbekannten Anrufer, und in dem Moment, wo ich es ausgesprochen hatte, traf mich die wahre Bedeutung dieser Aussage. Arme Medea. Ich biss die Zähne zusammen, entschlossen, dass diese Person - die für mich weiblich klang, wenn auch mit der tiefen Stimme einer Raucherin - niemals erfahren würde, welchen Schmerz sie mir bereitet hatte. Wenn man davon ausging, dass sie eines der Feenwesen war, die das Feuer gelegt hatten.

»Ich war nicht dort«, sagte sie - ich wurde mir immer sicherer, dass es tatsächlich eine »sie« war. Ihre nächsten Worte stellten sicher, dass sie zum Feenvolk gehörte. »Es hätte sich in Feuer oder Tod enthüllt. Wir haben den Brand beobachtet, haben zugesehen, wie das Feuer dein Leben gefressen hat, und das, was du von Phineas Brewster genommen hast, war weder in den Kohlen noch in der Asche.«

Das Feenvolk sagt oft Dinge, die für menschliche Ohren seltsam klingen. Ich hatte mich selbst schon dabei ertappt, wie ich Zees Aussprüche zitierte und dann von den Leuten um mich herum seltsam angestarrt wurde.

»In Feuer oder Tod«, sagte ich und wiederholte damit den Teil des Satzes, der für mich nach einem Zitat klang.

»Es enthüllt sich selbst, wenn derjenige stirbt, der es besitzt, oder wenn es verbrennt«, erläuterte sie ungeduldig.

»Ihr Kopfgeldjäger schien die Art von Mann zu sein, die solche Dinge erledigt«, sagte ich. »Warum haben Sie mich nicht von ihm umbringen lassen, statt sich auf eine Rückendeckung zu verlassen?« Bei Werwölfen aufzuwachsen hatte dafür gesorgt, dass ich wusste, wie man eine Situation kontrolliert, ohne übermäßig aggressiv zu wirken. Eine Frage zu stellen, die ein wenig vom Thema ablenkt, ist eine Möglichkeit - und wenn die Frage als andere Frage getarnt ist, werden meine Chancen sogar noch besser.

»Kelly?«, fragte sie mit ungläubiger Stimme. Aber sie wusste, von wem ich sprach. Sie musste die Feenfrau sein, die den Vorfall eingefädelt hatte, bei dem Maia fast verletzt worden wäre. »Kelly würde niemals eine Frau verletzen. Aber die Polizei hätte ihm nicht geglaubt.«

In ihrer Stimme schwang etwas mit, was mir verriet, dass sie Kelly Heart persönlich kannte - und ich fühlte eine unterschwellige Verachtung für etwas in ihm, was sie als Schwäche betrachtete.

»Ich gehe davon aus, dass ich mit derjenigen spreche, die sich selbst Daphne Rondo nennt?« Ich erinnerte mich an den Namen der verschwundenen Produzentin, weil ihr Vorname derselbe war wie der von Scooby Doos süßer Gefährtin und deswegen meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Ich formulierte die Frage sorgfältig, weil das Feenvolk nicht lügen kann - und es wahrscheinlich nicht ihr wahrer Name war. Seinen wahren Namen verrät das Feenvolk gewöhnlich niemandem.

»Manchmal«, sagte sie, aber ihr gefiel es offenbar gar nicht, dass ich ihr auf die Schliche gekommen war. Sie hätte natürlich die Antwort verweigern können, aber das wäre letztendlich auch eine Antwort gewesen. Wäre die Feenfrau nicht Kelly Hearts vermisste Produzentin gewesen, hätte sie mir nur zu gern mitgeteilt, dass ich falschlag.

»Mr. Heart macht sich Sorgen um Sie«, meinte ich. Und dann hätte ich mir fast auf die Zunge gebissen. Diese Frau verdiente es nicht, zu wissen, dass er sich Sorgen machte - sie hatte ihn losgeschickt, um zu sterben. Wenn Adam geglaubt hätte, dass Kelly mich umgebracht hatte, hätte er sich persönlich um Hearts Tod gekümmert. Jeder, der wusste, dass ich mit dem örtlichen Alpha ausging, würde das wissen - und das war der Grund, warum sie dem Kopfgeldjäger die Schuld in die Schuhe schieben wollte. »Er würde anders empfinden, wenn er wüsste, was Sie für ihn geplant hatten.«

»Wenn er wüsste, worauf ich es abgesehen habe, würde er mich von ganzem Herzen unterstützen«, sagte sie mit einer plötzlichen Leidenschaft, die mir verriet, dass sie ihre Zweifel hatte und dass diese ihr Sorgen machten. »Er ist mein Soldat, und er befolgt meine Befehle.«

Ich hatte solche Ansprachen schon früher gehört und verzog angewidert den Mund - wegen eines Fremden, der mich verdammt wütend gemacht hatte... Aber überwiegend wegen eines Freundes von mir, Stefan, noch einem Soldaten, der zu hart rangenommen worden und schließlich daran zerbrochen war.

»Sie leiden schwer an Aufgeblasenheit«, erklärte ich ihr. »Aber das ist eine häufige Krankheit beim Feenvolk.« Ich war müde, und es war schwer, auf dem schmalen Grat zu balancieren, damit sie nicht die Oberhand gewann, ohne wütend zu werden. Wen hatte sie? Stefan? Ich hatte den Vampir seit Wochen nicht gesehen. Zee? Ich hatte ihn nicht mehr angerufen, wie ich es vorgehabt hatte, nachdem mein Haus in Flammen aufgegangen war.

»Du leidest an Dummheit«, antwortete sie mit eisiger Verachtung. Ich hatte sie mit Kelly getroffen... Nicht damit, dass sie ihn verletzt hatte, sondern mit der Unterstellung, dass er vielleicht nicht getan hätte, was sie wollte, wenn er gewusst hätte, was sie beabsichtigte. »Aber das ist eine häufige Krankheit bei Menschen. Besonders bei Menschen, die sich in Dinge einmischen, die sie überhaupt nichts angehen.« Es folgte eine Pause, als würde sie etwas abwägen. Dann sagte sie: »Es wäre weise, mich nicht zu verärgern, wenn ich etwas habe, was dir viel bedeutet.«

Als sie ihren Satz beendet hatte, hörte ich zwei Geräusche. Zuerst schlug etwas auf Fleisch, dann folgte ein unterdrückter Schrei. Wir alle erstarrten und lauschten, um Hinweise auf die Identität zu finden.

»Männlich«, formte Darryl mit den Lippen.

Ich nickte. Das hatte ich auch vermutet. Auf den Schrei folgte ein drittes Geräusch: Jemand, der geknebelt war, versuchte zu sprechen. Er war stinkwütend. Irgendetwas an diesem Geräusch... nicht Stefan, nicht Zee. Mary Jo packte mich an der Schulter, ihr Gesicht war bleich und verkniffen. »Gabriel.«

Das war es. Mary Jo hatte diesen Sommer relativ viel Zeit als Mercy-Wache verbracht und hatte mit mir und Gabriel zusammengearbeitet. Sie kannte ihn auch. Ich hatte nicht an Gabriel gedacht - weil ich der Meinung gewesen war, dass er in Sicherheit war. Für einen Moment schloss ich verzweifelt die Augen. Stefan war ein Vampir; Zee war ein Feenwesen, um das selbst andere Feenwesen einen respektvollen Bogen machten. Gabriel war ein Siebzehnjähriger ohne übernatürliche Kräfte. Er hatte keine Chance gegen einen aus dem Feenvolk.

Jesse gab ein leises Geräusch von sich, schlug aber sofort die Hände vor den Mund, doch die Feenfrau am Ende der Leitung hatte das Geräusch gehört.

»Wütend, Kind?«, fragte sie. Sie dachte, sie hätte mich gehört. »Weißt du, wen wir gefangen haben? Ich werde dir einen Hinweis geben. Er wollte ein Auto von dir stehlen. Wir hätten ihn fast entsorgt - aber er gehört zu dir, oder? Wir haben beschlossen, ihn mitzunehmen und zu schauen, ob du das Spiel spielen willst.«

»Gabriel darf jederzeit jedes Auto fahren, das ich besitze«, erklärte ich ihr mit klarer Stimme - und hoffte, dass Gabriels menschliche Ohren mich hören konnten. »Die Grauen Lords werden nicht glücklich darüber sein, dass Sie einen Menschen in Feenvolkangelegenheiten hineinziehen.«

Sie lachte. Ihr Lachen überraschte mich völlig. Jede Frau mit einer so tiefen Stimme hat normalerweise ein ähnlich tiefes Lachen. Aber ihres war zart und hell - völlig unmenschlich, wie das Klingeln kleiner Glöckchen -, und es verriet mir, welche Art von Feenwesen sie war. Was nur dafür sorgte, dass mein Magen sich noch mehr verkrampfte. Gabriel schwebte in mehr als nur einer Art von Gefahr.

Neben dem Telefon an der Wand hing ein Notizblock. Ich zeigte darauf, und Auriele stand geräuschlos auf und brachte ihn mir.

»Also weißt du jetzt, wen wir haben«, stellte die Feenfrau fest. »Hat seine Mommy dich angerufen? Er sieht fürchterlich süß aus, findest du nicht?« In ihrer Stimme lag eine gewisse Wehmut. »Lebten wir in einem anderen Zeitalter, würde ich ihn für mich behalten.« Ich wartete auf die Tirade darüber, wie anders alles in der guten alten Zeit gewesen war - über die Jahre hatte ich viele Variationen davon gehört. Aber es folgte nur Schweigen.

Ich schrieb: Feenkönigin. Reist mit fünf bis zwanzig Feenwesen als Gefolgsleuten. Hat früher Menschen gefangen, um sie als Diener/Liebhaber zu halten. Bringt sie in ihr eigenes Königreich, ein wenig wie das Land unter dem Feenhügel, aber anders. Verzauberung: Menschen empfinden den Lauf der Zeit seltsam. »Rip Van Winkle« (100 Jahre) oder »Thomas the Rhymer« (sieben Tage wurden zu sieben Jahren). Ich unterstrich Thomas the Rhymers Namen, weil er echte Folklore war, während Rip eine Geschichte von Irving war, die eventuell, aber nicht sicher auf Legenden beruhte - vielleicht sogar der von Thomas. Ihr Lachen ist wie das Klingeln silberner Glöckchen. Hat auch hypnotischen Zauber. Raubt ihrem Opfer den freien Willen - hat vielleicht auch denselben Effekt auf ihre Feenvolk-Gefolgsleute. Mehr durch Regeln gebunden als die meisten Angehörigen des Feenvolkes, aber innerhalb dieser Regeln sehr mächtig.

Dieses Buch hatte mir sehr viel über das Feenvolk beigebracht. Ich hoffte, dass etwas davon mir helfen würde, Gabriel zu finden, bevor die Feenkönigin beschloss, ihn zu behalten.

»Du bist geduldig«, sagte sie. »Das passt nicht zu dem, was ich bis jetzt über dich gehört habe.«

»Nicht allzu geduldig«, erklärte ich. »Ich glaube nicht, dass ich Ihr Spiel alleine spielen werde. Ich glaube, die Grauen Lords könnten sich genauso gut um mein Problem kümmern.« Das würden sie natürlich nicht, und ich war auch nicht dämlich genug, um sie einzuladen. Aber ich wollte hören, wie sie auf diese Vorstellung reagierte.

Sie lachte wieder. »Mach nur. Mach das, Mercedes Thompson. Und wenn sie herausfinden, was du hast - und auch nur den leisten Verdacht haben, dass du weißt, was es ist -, werden sie dich umbringen, Werwölfe hin oder her. Sie werden dich umbringen, um es zu bekommen - und vertrau mir: Es ist einfacher, dich umzubringen, Mensch, als so lange zu suchen, bis man es dort findet, wo du es versteckt hast.«

Ich bezweifelte nicht, dass sie in Bezug auf die Grauen Lords die Wahrheit sagte. Das Feenvolk sagte meistens die Wahrheit. Normalerweise reagieren sie auch auf Hohn - weswegen ich einen selbstgefälligen Tonfall in meine Stimme legte, als ich sagte: »Besonders, weil Sie doch selbst nicht genau wissen, was es ist.«

»Das Silbergeborene«, erwiderte sie. Sie suchte nicht nach dem Buch. Ich hatte keine Ahnung, was das »Silbergeborene« war, aber das Buch war ledergebunden und mit Goldschrift geprägt; nichts daran war silbern. Ich hatte nichts, womit ich um Gabriel feilschen konnte. Also mussten wir sie finden und ihn so eindrucksvoll zurückholen, dass sie uns niemals wieder belästigen würde. Eine Menge Märchen enden mit »und das böse Feenwesen belästigte sie niemals wieder bis zum heutigen Tag«.

»Sie wissen nicht, wie es aussieht«, sagte ich überzeugt. »Sie glauben, dass ich es habe, weil Phin tot ist und es sich seinen Mördern nicht offenbart hat, wie es passiert wäre, wenn er es in seinem Besitz gehabt hätte.« Ich sagte das, als wüsste ich genau, dass es wahr war.

»Hast du es?«, fragte sie. »Vielleicht hat er es auch jemand anderem gegeben. Allerdings, wenn du es nicht hast, dann werde ich diesen hübschen jungen Mann als Trost behalten und weitersuchen.«

Ich biss mir auf die Lippe. Phin war tot.

»Ich habe etwas von Phin«, sagte ich mit offensichtlicher Vorsicht. Morgen würde ich mich schlecht fühlen wegen des Mannes, der seinen Kopf riskiert hatte, um mir gegen den Willen der Grauen Lords zu helfen, der Bücher und alte Dinge liebte - und der eine Großmutter gehabt hatte, die ihn angerufen und sich Sorgen um ihn gemacht hatte.

Momentan durfte ich nicht den Kopf verlieren. Ich war müde, und Adams Erschöpfung und Schmerzen fingen an, durch unsere Verbindung zu mir durchzudringen - natürlich wählte sie den ungünstigsten Zeitpunkt, um sich zu heilen.

»Du wirst den Wölfen nichts sagen«, erklärte sie. »Das ist der erste Schritt. Ich werde wissen, wenn du dein Wort brichst. Dann werde ich den Jungen behalten und meine Anstrengungen, dich zu töten, verdoppeln.«

Ich musterte die Wölfe um den Tisch. »Gestern Morgen schienen Sie nicht so scharf darauf zu sein, mich zu töten, dass Sie den Zorn meines Gefährten riskiert hätten.«

Sie zischte. »Wenn ich das habe, was silbergeboren ist, werde ich keine Angst mehr haben müssen. Nicht vor Wölfen, nicht vor Grauen Lords. Das Einzige, was dich momentan rettet, ist, dass es vielleicht nach deinem Tod eine Weile dauert, bis es sich preisgibt. Wenn du es mir zu schwer machst, werde ich es riskieren.«

»Was soll ich tun?«, fragte ich sie.

»Sag mir, dass du keinem der Werwölfe von mir, von dem, was du hast, und davon, dass Gabriel in Not oder Gefahr ist, erzählen wirst.«

»Okay«, meinte ich zögernd. »Ich werde keinem der Wölfe von Ihnen erzählen, von dem Ding, das ich habe, das Phin gehörte, oder von Gabriels momentaner Gefährdung.«

»Du wirst es auch keinem vom Feenvolk erzählen. Keinem Grauen Lord und auch nicht dem alten Feenwesen, das gestern Morgen am Ort deiner Arbeit war.«

Ich schaute Darryl an, und er nickte grimmig. Er würde es Zee statt meiner erzählen. »Ich werde keinem vom Feenvolk von Ihnen erzählen, von dem Ding, das ich habe, das Phin gehört hat, oder von Gabriels momentaner Gefährdung.«

»Ich kann dich nicht zwingen, dich an diese Abmachung zu halten«, sagte sie. »Diese Magie ist nicht länger die Meine. Aber ich werde sofort wissen, wenn du dein Wort brichst - und dann ist unserer Handel hinfällig. Dieser junge, schöne Mann wird mir gehören, und du wirst sterben.«

Jesse umklammerte meine Hand. Sie und Gabriel gingen seit einiger Zeit irgendwie miteinander. »Irgendwie«, weil er sich auf die Schule konzentrierte, da er ein Stipendium fürs College brauchte.

»In Ordnung.«

»Zum Zweiten: Du wirst dieses Ding in den Buchladen bringen und es meinem Ritter des Wassers übergeben.«

Fischjunge, dachte ich. Obwohl Ritter des Wassers nichts zum Klingeln brachte. Vielleicht war es eher ein Titel als eine Art von Feenwesen.

»Nein. Ich werde es nicht in den Buchladen zu Ihrem Ritter bringen.« Einer von ihren Leuten konnte uns alle töten, dann hätte sie ihr Wort trotzdem nicht gebrochen. Wir durften es nur mit ihr zu tun haben.

»Du wirst..«

»Ihnen nicht vertrauen, bevor wir einen vollen Austausch haben. Sie bringen Gabriel, und ich bekomme ihn sicher und unbeschädigt im Austausch gegen dieses Ding, das ich Ihnen bringen werde.«

»Ich kann dir Gabriel nicht unbeschädigt bringen«, sagte sie amüsiert.

Mary Jo knurrte leise, und ich pikste sie, damit sie aufhörte. Vielleicht war die Feenfrau nicht besonders aufmerksam. Sie hatte das Geräusch von Jesse vorhin gehört, aber wie Bran mir gerne gesagt hatte, kann man die besten Sinne der Welt haben, aber wenn man sie nicht benutzt, nützen sie einem gar nichts.

»Nicht mehr beschädigt als jetzt«, sagte ich. »Er selbst, mit klarem Kopf, sein Körper nicht mehr verletzt als in diesem Moment.«

»Das kann ich vollbringen«, sagte sie, immer noch amüsiert.

»Ich würde den Tod als weiteren Schaden betrachten.« Sie lachte. Langsam ging mir das Geräusch auf die Nerven. »So misstrauisch, Mercedes. Liest du keine Märchen? Es sind die Menschen, die gegen die Abmachungen verstoßen. Schlaf eine Nacht drüber… Ups, zu spät. Dann ruh dich aus. Ich werde dich irgendwann morgen auf dieser Nummer anrufen, wenn ich die Gelegenheit hatte, einen sicheren Übergabeort zu organisieren.«

Ich zerbrach mir das Hirn, weil sie einfach zu glücklich war, so als wüsste sie etwas, das wir nicht wussten.

»Gabriel ist der einzige Mensch, den Sie haben«, sagte ich, weil ich mir plötzlich Sorgen machte, dass sie noch mehr Geiseln haben könnte.

Sie lachte wieder. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich darauf antworte, oder?« Und legte auf.

»Weiß jemand, welcher Ort die Vorwahl 333 hat?«, fragte ich.

»Gibt es nicht«, antwortete Ben. »Kein 333, kein 666. Die Telefongesellschaft glaubt offiziell nicht an Numerologie, aber eine Menge ihrer Kunden tun es.«

»Soll ich Zee sofort anrufen?«, brummte Darryl. »Oder wird er mürrisch, wenn man ihn aufweckt?«

Ich schaute ihn an. »Deine erste Frage kann ich nicht beantworten. Und Zee ist fast immer mürrisch. Lass dich davon nicht stören.«

»Ich werde ihn anrufen«, meinte Auriele.

»Warte...« Ich zögerte, irgendetwas zu dem Anruf bei Zee zu sagen, weil ich nicht wusste, wie weit ich gehen konnte, ohne den Zauber der Feenfrau auszulösen. Aber Auriele verstand und setzte sich wieder.

»Hat irgendwer etwas gehört, was vielleicht Hinweise darauf gibt, von wo sie angerufen hat?«, fragte Jesse - die regelmäßig diese forensischen Krimiserien schaute.

»Keine Züge«, meinte Mary Jo trocken. Sie schob den Tisch zurück, so dass sie nicht mehr eingeklemmt war. »Kein rauschendes Wasser. Keine Schnellstraßen oder überhaupt Autogeräusche. Keine Flugzeuge. Keine Kirchenglocken. Keine Delfine im Hintergrund.«

»Was eine Menge Orte ausschließt«, sagte Auriele. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie in einem Gebäude war. Ich habe ein Brummen gehört, das vielleicht zu einem Neonlicht gehört.«

»Ich habe Echos gehört, als wäre sie in einem Raum mit harten Wänden«, sagte Darryl. »Allerdings kein riesiger Raum. Es klang nicht hohl.«

»Als...«Ich konnte nicht sagen »sie ihn geschlagen hat«, weil ich versprochen hatte, nicht mit den Werwölfen über die Feenkönigin oder die Gefahr zu reden, in der Gabriel sich befand. »Als Mary Jo etwas gehört hat, folgte auch ein leicht schleifendes Geräusch«, sagte ich. »Wie ein Stuhl auf Zement.« Ich schloss die Augen und versuchte, die Hintergrundgeräusche zusammenzusetzen.

»Das Fehlen jeglicher Außengeräusche könnte bedeuten, dass sie in einem Keller war und nicht nur einfach in einem Raum«, sagte Darryl. »Wenn sie nicht aus der Gegend ist, dann braucht sie einen sicheren Ort - kein Hotel. Mieten ist in der Gegend momentan schwer, einer meiner Kollegen hat sich darüber beschwert. Wenn Phin tot ist, benutzt sie vielleicht sein Haus.«

»Er hat in einer Wohnung gelebt, in einem der neueren Komplexe in West Pasco - und er hat einen neugierigen Nachbarn.« Ich stand auf, holte einen Wischlappen und machte ihn nass, um den Kakao aufzuwischen.

»Dann der Buchladen«, sagte Auriele. Sie nahm mir den Lappen ab und warf ihn Mary Jo zu. »Dein Dreck, du machst sauber.« Mary Jos Schultern waren hochgezogen, aber sie fing ohne Widerspruch an, die Flüssigkeit aufzuwischen.

»Sam und ich waren heute Abend im Keller des Buchladens«, sagte ich. »Aber da unten sind Lampen mit Glühbirnen - kein Brummen. Außerdem war die Geräuschkulisse falsch. In diesem Keller waren eine Menge Bücher, also gab es so gut wie kein Echo. Der Raum des Telefonanrufs klang leerer.«

»Du warst im Buchladen? Hast du etwas gewittert?« Meiner Meinung nach hatte Ben kurz gedöst. Selbst als er sprach, blieben seine Augen geschlossen. Der Stress von seinen Wunden und der volle Magen, den er dank Warrens mysteriöser Kühlbox voller Braten hatte, würden auf ihn wirken wie ein Beruhigungsmittel.

»Solltest du nicht nach unten gehen und schlafen?«

»Nein, mir geht's gut. Hast du irgendwas rausgefunden?«

»Wir haben Phins Duft gewittert - und vier andere Feenwesen, die dort waren. Einer von ihnen, eine Art Waldwesen, kam zurück, und Sam hat ihn getötet. Es gab noch ein zweites Waldwesen, eine Frau, der wir nicht begegnet sind. Sie gehört zu derselben Art wie der, den Sam umgebracht hat - da bin ich mir ziemlich sicher. Und es gab einen, der nach Sumpf und nassen Dingen roch, der hoffentlich ihr Ritter des Wassers ist. Je weniger Verbündete sie hat, desto glücklicher bin ich. Die Vierte habe ich getroffen, die hat am Nachmittag Spuren im Laden hinterlassen... Ich nehme an, das war dann jetzt gestern Nachmittag. Sie wirkte wie eine freundliche Großmutter. Ich konnte nicht identifizieren, was sie ist.«

»War sie es?«, fragte Ben und nickte Richtung Telefon.

»Das kann ich nicht beantworten«, erklärte ich.

»Aber mir kannst du antworten«, sagte Jesse. »War die alte Frau diejenige, die Gabriel entführt hat?«

»Ich weiß es nicht.« Ich schloss die Augen und dachte über alles nach, was passiert war, und wann es passiert war. »Nein. Sie hat Phins Buchhaltung durchsucht, um herauszufinden, wem Phin etwas gegeben hat. Die Bösen hatten zu diesem Zeitpunkt bereits einmal versucht, mich umzubringen - falls ihr es noch nicht verstanden habt, der Vorfall an meiner Werkstatt gestern Morgen war gegen mich gerichtet. Sie wussten, wo sie suchen mussten.« Vielleicht wüssten wir jetzt mehr über das, was die Feenkönigin wollte, wenn ich mit ihr geredet hätte.

»Sie ist nicht besonders klug, diese Feenkönigin«, sagte Ben. »Sonst hätte sie gewusst, dass du kein Mensch bist.«

»Ich hänge es nicht gerade an die große Glocke«, erklärte ich ihm. »Und mal abgesehen von meiner Verbindung zu Adam und dem Marrok bin ich nicht wichtig. Es gibt keinen Grund, warum sie es wissen sollte. Besonders, wenn sie in Kalifornien Fernsehshows produziert hat.«

»Sie stellt Mutmaßungen an«, sagte Darryl. »Die meisten Leute schauen dich an, Mercy, und fragen sich, ob du zum Feenvolk gehörst oder ein Werwolf bist, weil du die Gefährtin eines Wolfs bist und mit dem Feenvolk zusammenarbeitest.« Er hielt inne und zog nachdenklich eine Augenbraue hoch. »Oder sie hält dich für wahlweise das eine oder das andere und verhöhnt dich damit, dass du menschlich bist, weil du dann vielleicht reagierst und ihr verrätst, was du bist.«

»Das klingt plausibel«, sagte ich.

»Warum gibst du ihr nicht einfach, was sie will, und holst Gabriel zurück?«, fragte Mary Jo. »Es gehört nicht dir, und es klingt, als wäre der rechtmäßige Besitzer sowieso tot.«

Ben schnaubte. »Normalerweise bist du nicht so dumm. Du willst einer Frau wie dieser Feenkönigin ein mächtiges Objekt übergeben, von dem sie fest glaubt, dass es sie vor uns beschützen kann?«

Darryl legte den Kopf schräg und musterte Mary Jo. Sie lief rot an und senkte den Blick. »Glaub nicht, dass ich vergessen habe, dass du dich Adams Befehlen widersetzt hast«, sagte er. »Du hast hier keinerlei Stellung, und du wirst dieses Haus nicht verlassen, bis du deine Strafe bekommen hast.« Er wartete kurz, dann beantwortete er ihre Frage. »Ben hat Recht. Außerdem, glaubst du wirklich, dass sie jemanden am Leben lassen wird, der weiß, was sie hat? Wenn die Grauen Lords bereit sind, Mercy zu töten, nur weil sie davon weiß - Mercy, die in ihrer Gunst steht und von unserem Alpha geliebt wird -, glaubst du nicht, dass sie jemand anderen sofort töten werden, der solchen Schutz nicht hat? Wenn ich das nach einem Telefonat schließen kann, dann weiß diese Daphne es auch. Sie hat keinerlei Absicht, irgendjemanden gehen zu lassen. Sie wird den Austausch vollziehen und dann Mercy und den Jungen umbringen.«

»Oder den Jungen behalten und nur Mercy töten«, fügte Jesse hinzu, die von ihrem Vater den klaren strategischen Verstand geerbt hatte. »Gabriel wäre lieber tot.« Sie war allerdings immer noch ein Teenager mit einer gewissen Vorliebe für Drama. Ich war mir nicht so sicher, ob Gabriel lieber tot wäre als der Feenkönigin zu dienen - den Geschichten nach zu schließen war es für das Opfer eine recht angenehme Erfahrung, weil es keinen eigenen Willen mehr hatte, mit dem es sich hätte widersetzen können.

Ich wäre allerdings lieber tot. Vielleicht hatte sie Recht.

»Mercy«, grummelte Darryl, »mit einer Sache hatte sie Recht: Du brauchst Schlaf. Geh ins Bett.« Seine Stimme wurde sanfter. »Du auch, Jesse. Wir können dem Jungen alle besser helfen, wenn wir eine Nacht geschlafen haben.«

Er hatte Recht. Ich war so müde, dass ich kaum meine Augen offen halten konnte. Ich gähnte und schob meinen Arm unter Jesses. »Okay.«

 

 

Nachdem ich Jesse bei ihrem Zimmer abgesetzt hatte, öffnete ich so leise wie möglich Adams Tür. Jemand hatte die Überdecke vom Bett gezogen und auf den Boden geworfen. Adam lag nackt auf der Decke - und er sah schrecklich aus. Seine Arme und Beine waren von dunkelroten Krusten übersät, und auch der Rest seines Körpers sah nicht besonders gut aus.

Warren hatte seine Stiefel ausgezogen und lag mit dem Gesicht zur Tür auf der Seite. Sam hatte sich zwischen den beiden am Fußende des Bettes zusammengerollt.

Ich hatte mir ein wenig Sorgen gemacht, ihn mit einem verletzten Alpha zurückzulassen, aber anscheinend benahm er sich immer noch untypisch für einen unkontrollierten Werwolf. Während ich die Tür schloss, rollte er sich auf die Seite und sah mich durch halb geöffnete Lider an. Er verschob seinen Körper ein wenig und gab ein befriedigtes Grunzen von sich, als Warrens Füße ein Stück zur Seite rutschten. Ich bemerkte, dass er Adam dabei nicht berührte.

Warren war wach - selbst wenn es so aussah, als würde er tief schlafen. Ich kletterte über ihn hinweg, und seine Mundwinkel glitten ein Stück nach oben. Dann legte ich mich zwischen ihn und Adam, die Beine angezogen, damit ich Sam nicht trat.

Ich bemühte mich, Adam nicht zu berühren, aber er rollte zur Seite und legte einen Arm über meine Hüfte. Es war ein warmes, sicheres, gutes Gefühl - und tat ihm wahrscheinlich weh. Seine Augen öffneten sich kurz, dann fielen sie wieder zu.

Ich lag eine Weile einfach da und war dankbar, dass er das Feuer überlebt hatte. Die Tür ging auf, als ich gerade dabei war, wegzudösen.

»Gibt es noch Platz für einen mehr?«, fragte Ben. Ich hob den Kopf; er stand in einem Paar schlabbriger Jogginghosen in der Tür. Seine Haare waren an einer Seite plattgedrückt, als hätte er gelegen, bevor er zu uns hochgekommen war. »Wenn nicht, kann ich auch...«

»Komm rein«, brummte Warren. »Ich gehe ins obere Gästezimmer.« Warren rollte sich vom Bett, und Ben krabbelte zu uns. Er legte einen Fuß auf meinen, dann seufzte er und fiel um wie ein Welpe, der zu lange gespielt hat. Rudel bedeutet Trost, wenn man verletzt ist, dachte ich, und senkte den Kopf wieder. Und zum ersten Mal seit langer Zeit, vielleicht das erste Mal überhaupt, wusste ich zu schätzen, dass ich ein Teil davon war.

 

 

Ich wachte auf, weil mein Kopf zu warm war. Das Gefühl war irgendwie vertraut, also war ich kurz davor, wieder einzuschlafen, als scharfe Krallen sich in meine Kopfhaut bohrten. Und dann fiel mir wieder ein, warum keine Katze auf meinem Kopf schlafen sollte.

Ich setzte mich auf und starrte in die kühlen Augen einer leicht angesengten dreifarbigen Manx-Katze, die meinen plötzlichen Stellungswechsel mit einem irritierten Miauen kommentierte. Sie roch nach Rauch und hatte eine verbrannte Stelle an ihrem Rücken, aber ansonsten schien es ihr gutzugehen.

Adam rührte sich nicht, aber Ben rollte sich zur Seite und öffnete die Augen.

»Hey, Katze«, sagte ich, als sie sich an meine neue Stellung anpasste und sich so hinlegte, dass sowohl Ben als auch ich sie streicheln konnten. »Ich dachte, du wärst Toast.«

Sie schob ihren Kopf unter meine Hand und rollte sich so herum, dass meine Hand durch ihr Fell glitt. Ben streckte die Hand aus, stoppte die Bewegung aber, sobald er seine Finger bewegen musste. Sie sahen besser aus als vorher - aber trotzdem wirkten sie eher wie etwas aus einem Horrorfilm.

»Mir war nicht klar, dass du es nicht weißt«, sagte Ben. Seine Stimme war immer noch rau. »Ich hätte es dir sagen sollen. Adam ist in dein Zimmer gegangen. Ich bin in Sams gegangen und habe sie unter dem Bett gefunden.«

Ich wischte mir Augen und Nase an der Schulter ab (weil ich beide Hände im Fell der Katze vergraben hatte und meine Finger sowieso voller Haare waren). Dann lehnte ich mich vor und gab Ben einen Kuss auf die Nase. »Danke«, sagte ich. »Ich hätte sie wirklich vermisst.«

»Ja.« Er legte sich auf den Rücken und bettete die Hände vorsichtig auf seinen Bauch. »Wir hätten sie auch vermisst. Die einzige Katze, die mir je begegnet ist, die Werwölfe erträgt.« Er klang seltsam verletzlich. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er daran gewöhnt war, ein Held zu sein.

»Fühl dich nicht zu geschmeichelt«, sagte Adam trocken. »Medea mag auch Vampire.«

»Adam?«, fragte ich. Aber er schlief schon wieder. Und ich konnte ihn in meinem Kopf fühlen, wie es sein sollte.