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Ich fuhr meinen treuen Golf zum KGH und parkte auf dem Notfall -Parkplatz. Als ich das Gebäude betrat, war der Sonnenaufgang immer noch Stunden entfernt.

Wenn man sich in einem Krankenhaus ungehindert bewegen will, liegt der Trick darin, schnell zu gehen, Leuten zuzunicken, die man kennt, und diejenigen, die man nicht kennt, einfach zu ignorieren. Das Nicken versichert allen, dass man bekannt ist, der schnelle Schritt erklärt, dass man eine Aufgabe hat und sich nicht unterhalten will. Es war auch hilfreich, dass die meisten Leute in der Notaufnahme mich kannten.

Hinter den Doppeltüren, die zum Wartezimmer führten, konnte ich ein Baby weinen hören - ein trauriges Geräusch voller Erschöpfung. Ich rümpfte die Nase, als mir der scharf-saure Geruch des Krankenhaus-Desinfektionsmittels in die Nase stieg, und verzog das Gesicht, als sowohl das Geschrei als auch der Geruch sich verstärkten, sobald ich die Türen durchschritt. Eine Krankenschwester sah von ihrem Klemmbrett auf, auf das sie gerade etwas kritzelte, und ihre professionelle Miene wurde zu einem erleichterten Lächeln. Ich kannte ihr Gesicht, aber nicht ihren Namen.

»Mercy«, sagte sie und hatte offensichtlich überhaupt keine Probleme mit meinem Namen. »Also hat Doc Cornick Sie endlich doch angerufen, damit Sie ihn nach Hause bringen, hm? Wurde auch Zeit. Ich habe ihm gesagt, dass er schon vor Stunden hätte nach Hause gehen sollen - aber er ist ziemlich stur und ein Arzt steht über einer Krankenschwester.« Bei ihr klang es, als wäre sie nicht davon überzeugt, dass es wirklich so sein sollte.

Ich hatte Angst davor, etwas zu sagen, weil ich fürchtete, das Kartenhaus zum Einsturz zu bringen, das Samuel wahrscheinlich errichtet hatte, um zu erklären, warum er früher nach Hause gehen musste. Schließlich meinte ich neutral: »Er ist besser darin, Leuten zu helfen, als um Hilfe zu bitten.«

Sie grinste. »Ist das nicht einfach männlich? Wahrscheinlich wollte er nur nicht zugeben, dass er seinen Wagen zu Schrott gefahren hat. Ich schwöre, er hat ihn geliebt, als wäre er eine Frau.«

Ich glaube, ich habe sie nur angestarrt - ihre Worte ergaben einfach keinen Sinn. Sein Auto zu Schrott gefahren? Hieß das, dass er in einen Unfall verwickelt war? Samuel hatte einen Unfall? Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen. Manche Werwölfe fuhren nicht besonders gut Auto, weil sie sich zu leicht ablenken ließen. Aber nicht Samuel.

»Es ist vielleicht besser..«

»Er hatte einfach Glück, dass er nicht schlimmer verletzt wurde«, sagte sie und schaute wieder auf ihr Klemmbrett. Anscheinend konnte sie gleichzeitig schreiben und reden, denn sie sprach weiter. »Hat er Ihnen erzählt, wie knapp es war? Der Polizist, der ihn hergefahren hat, hat gesagt, dass er fast ins Wasser gefallen wäre - und wir reden hier von der Vernita-Brücke, wissen Sie, die an der Vierundzwanzig, draußen bei Hanford Reach? Er wäre gestorben, wenn er gefallen wäre - es ist eine ziemliche Strecke bis in den Fluss.«

Was zur Hölle hatte Samuel da draußen an der Brücke auf dem alten Highway nördlich von Hanford getrieben? Das war auf der anderen Seite der Tri-Cities und lag auf keinen Fall auf irgendeiner Route zwischen unserem Haus und dem Krankenhaus. Vielleicht war er dort draußen am letzten frei fließenden Stück des Columbia Rivers gelaufen - dort gab es wenig Leute und viele Eichhörnchen. Nur weil er mir nicht erzählt hatte, dass er jagen gehen wollte, hieß das nicht, dass er es nicht getan hatte. Ich war nicht seine Hüterin.

»Er hat mir nichts von irgendeiner Gefahr erzählt«, erklärte ich ihr wahrheitsgemäß und schob noch eine kleine Lüge hinterher, um sie dazu zu bringen, mir mehr zu erzählen.

»Ich dachte, es wäre nur das Auto.«

»Typisch Doc Cornick«, schnaubte sie. »Wir durften ihm nur das ganze Glas aus der Haut holen - aber allein an der Art, wie er sich bewegt, kann man sehen, dass er sich auch an den Rippen verletzt hat. Und er humpelt.«

»Klingt, als wäre es schlimmer gewesen als er mir erzählt hat«, kommentierte ich. Mir war schlecht.

»Er ist durch die Windschutzscheibe geflogen und lag auf der Motorhaube. Jack - das ist der Polizist - hat gesagt, dass er schon geglaubt hat, Samuel würde runterfallen, bevor er ihn erreichen konnte. Der Unfall muss den Doc ganz schön durcheinandergebracht haben, weil er in die falsche Richtung gekrochen ist - wenn Jack ihn nicht aufgehalten hätte, wäre er gefallen.«

Und dann verstand ich, was passiert war.

»Liebes? Liebes? Sind Sie in Ordnung? Hier, setzen Sie sich.« Sie hatte einen Stuhl hervorgezogen, ohne dass ich es bemerkt hatte. Mein Kopf hing zwischen meinen Knien, und ihre Hand lag auf meinem Rücken. Und für einen Moment war ich wieder vierzehn und hörte, wie Bran mir erzählte, was ich bereits wusste - Bryan, mein Ziehvater, war tot -, sein Körper war im Fluss gefunden worden. Er hatte Selbstmord begangen, nachdem seine Gefährtin, meine Ziehmutter, gestorben war.

Werwölfe sind zu zäh, um einfach zu sterben, also gibt es für einen Werwolf nicht viele Wege, sich umzubringen. Seitdem die Französische Revolution im achtzehnten Jahrhundert die Guillotine aus der Mode gebracht hat, ist es nicht mehr so einfach, sich selbst zu enthaupten. Silberkugeln haben auch so ihre Tücken. Silber ist härter als Blei, und die Kugeln schießen manchmal einfach nur durch den Körper, so dass der Wolf schmerzerfüllt und krank, aber lebendig zurückbleibt. Silberschrot funktioniert ein wenig besser, aber wenn man es nicht exakt richtig macht, kann das Sterben wirklich lange dauern. Und wenn irgendein Wichtigtuer vorbeikommt und die ganzen Schrotkugeln entfernt - na ja, dann waren all die Schmerzen umsonst.

Die beliebteste Art des Selbstmordes ist Tod durch Werwolf. Aber das wäre für Samuel keine Möglichkeit. Sehr wenige Wölfe würden seine Herausforderung annehmen - und die, die es tun würden... Tja, ich würde einfach keinen Kampf zwischen Adam und Samuel sehen wollen. Selbstmörder suchten nicht nach einem fairen Kampf mit ungefähr gleichstarken Gegnern. Ertrinken war die nächstbeste Wahl. Werwölfe können nicht schwimmen. Ihre Körper sind zu dicht gebaut - und selbst ein Werwolf muss atmen.

Ich wusste sogar, warum er sich diesen Ort dafür ausgesucht hatte. Der Columbia ist der größte Fluss in der Gegend, mehr als eine Meile breit und sehr tief, aber die drei größten Brücken darüber - die Blue Bridge, die Hängebrücke und die Interstate-Brücke - haben alle sehr stabile Leitplanken. Sie sind auch alle ziemlich stark befahren, selbst mitten in der Nacht. Dort würde sicher jemand sehen, wenn man durch die Leitplanken bricht, und wird versuchen, eine Rettungsaktion zu starten. Ertrinken dauert eine Weile. Die Brücke dagegen, die er sich ausgesucht hatte, war nicht übermäßig befahren und war gebaut worden, bevor Brücken so konstruiert wurden, dass sogar absolute Schwachköpfe Mühe hatten, von ihnen runterzufallen. Der Fluss ist an diesem Punkt schmaler - was bedeutet, dass er noch tiefer ist und schneller fließt - und der Sturz ist... eindrucksvoll.

Ich konnte es vor meinem inneren Auge sehen: Samuel auf der Motorhaube des Wagens und der Polizeibeamte, der sich im Laufschritt näherte. Es war schieres Glück gewesen, dass das einzige andere Auto auf der Straße ein Streifenwagen gewesen war. Wäre es nur ein normaler Zuschauer gewesen, hätte er sich wahrscheinlich zu viel Sorgen um die eigene Sicherheit gemacht, um eine Rettungsaktion zu starten, und hätte Samuel ertrinken lassen. Aber ein Polizist wäre ihm vielleicht gefolgt und hätte versucht, ihn zu retten. Und hätte damit für Samuel sein Leben riskiert.

Nein, Samuel wäre nicht mehr gefallen, nachdem ein Polizist ihn gefunden hatte. Egal, wie sehr er es wollte. Mein Schwindel ließ langsam nach.

»Sei glücklich«, hatte er zu mir gesagt, als ich zu meiner unglückseligen Verabredung aufgebrochen war. Ein Wunsch für mein weiteres Leben, nicht für mein Date. Dieser Trottel. Ich fühlte, wie ein Knurren in meiner Kehle aufstieg, und musste mich wirklich anstrengen, um es runterzuschlucken.

»Er ist okay«, versicherte mir die Krankenschwester. Ich hob meinen Kopf und bemerkte auf dem Weg nach oben, dass auf ihrem Namensschild Jody stand. »Wir haben das Glas entfernt, und auch wenn er sich ein wenig steif bewegt, hat er sich nichts Wichtiges gebrochen, sonst hätte er nicht so lange durchgehalten. Er hätte nach Hause gehen sollen, aber er wollte nicht - und Sie wissen ja, wie er ist. Er sagt nie Nein, aber dann schickt er einen weg, ohne Ja gesagt zu haben.«

Ich wusste es genau.

»Es tut mir leid«, sagte ich und stand langsam auf, um möglichst stabil zu wirken. »Sie haben mich nur überrascht. Wir kennen einander schon seit sehr langer Zeit -und er hat mir nicht erzählt, dass es auch nur ansatzweise so schlimm war.«

»Er wollte Ihnen wahrscheinlich keine Angst machen.«

»Ja, er ist so aufmerksam.« Aufmerksam am Arsch. Ich würde ihn persönlich umbringen - und dann musste er sich keine Gedanken mehr um Selbstmord machen.

»Er hat gesagt, dass er sich einen ruhigen Ort sucht und sich einen Moment ausruht«, sagte Krankenschwester Jody, während sie sich umsah, als müsste er jeden Moment aus dem Nichts auftauchen.

»Er meinte, dass ich ihn im Röntgen-Lagerraum finden kann.«

Sie lachte. »Ja, da drin ist es wahrscheinlich ruhig. Sie wissen, wo das ist?«

Ich lächelte, was ziemlich schwerfällt, wenn man gerade jemandem die Haut abziehen will. »Klar.« Immer noch lächelnd ging ich an den mit Vorhängen abgetrennten Räumen vorbei, die nach Blut und Schmerz rochen, und nickte einem Medizintechniker zu, der mir irgendwie bekannt vorkam. Wenigstens wimmerte das Baby jetzt nur noch.

Samuel hatte versucht, sich umzubringen.

Ich klopfte an die Tür des Lagerraumes, dann öffnete ich sie. Weiße Ablageboxen stapelten sich in Regalen und vermittelten das Gefühl von chaotischer Ordnung - als gäbe es irgendwo jemanden, der genau wusste, wie man hier etwas fand.

Samuel saß auf dem Boden, den Rücken an einen Stapel Kisten gelehnt. Er trug einen weißen Laborkittel über grüner OP-Kleidung. Seine Arme lagen auf den Knien, und die Hände hingen schlaff herunter. Er hielt den Kopf gesenkt und schaute auch nicht auf, als ich in den Raum kam. Er wartete, bis ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, bevor er etwas sagte, und sah mich auch dann noch nicht an.

Ich dachte, es läge daran, dass er sich schämte oder genau wusste, dass ich wütend war.

»Er hat versucht, uns umzubringen«, sagte Samuel, und mein Herz setzte für einen Moment aus, bevor es in doppelter Geschwindigkeit weiterschlug, weil ich den gesenkten Kopf falsch gedeutet hatte. Völlig falsch. Der »er«, über den er sprach, war Samuel - und das bedeutete, dass »er« nicht länger das Kommando hatte. Ich sprach mit Samuels Wolf.

Ich ließ mich wie ein Stein auf den Boden fallen und stellte verdammt sicher, dass mein Kopf niedriger war als der des Werwolfes. Samuel, der Mann, sah regelmäßig über Verstöße gegen die Etikette hinweg, die sein Wolf nicht akzeptieren konnte. Wenn ich den Wolf dazu zwang, zu mir aufzublicken, müsste er meine Überlegenheit anerkennen oder mich herausfordern. Ich verwandle mich in einen vielleicht fünfzehn Kilo schweren Kojoten, der dafür gebaut ist, Hühner und Hasen zu töten. Und arme dumme Wachteln. Werwölfe können gegen Kodiakbären antreten. Ich bin keine Herausforderung für einen Werwolf.

»Mercy«, flüsterte er und hob den Kopf.

Als Erstes bemerkte ich Hunderte kleine Schnitte in seinem Gesicht und erinnerte mich daran, dass Jody, die Krankenschwester, etwas darüber erzählt hatte, dass sie das Glas aus seiner Haut entfernt hatten. Dass diese Wunden noch nicht verheilt waren, verriet mir, dass es noch andere, schlimmere Verletzungen gegeben hatte, um die sein Körper sich zuerst kümmern musste. Super - auch noch Schmerz und Leid, um seine Laune zu verbessern.

Seine Augen waren ein helles Blau, das fast weiß war. Und sie waren heiß und wild.

Sobald ich sie sah, schaute ich auf den Boden und holte tief Luft. »Sam«, flüsterte ich. »Was kann ich tun, um zu helfen? Soll ich Bran rufen?«

»Nein!« Das Wort entkam ihm in einem Brüllen, das seinen gesamten Vorderkörper nach vorne warf, bis er auf beiden Händen lehnte, ein Bein angewinkelt, das andere noch mit dem Knie auf dem Boden. Dieses Knie auf dem Boden bedeutete, dass er noch nicht ganz bereit war, mich anzuspringen.

»Unser Vater wird uns umbringen«, sagte Sam, langsam und mit walisischer Betonung. »Ich… Wir wollen ihn nicht dazu zwingen.« Er holte tief Luft. »Und ich will nicht sterben.«

»Gut. Das ist gut«, krächzte ich und verstand plötzlich, was seine ersten Worte an mich bedeutet hatten. Samuel hatte den Tod gesucht, und sein Wolf hatte ihn aufgehalten. Was gut war, uns aber auch vor ein übles Problem stellte. Es gibt gute Gründe dafür, dass der Marrok alle Wölfe tötet, die zulassen, dass der Wolf führt und der Mann folgt. Sehr gute Gründe - Gründe wie Massenmorde.

Aber wenn Samuels Wolf nicht wollte, dass sie starben, dann war es besser, wenn er die Kontrolle hatte. Für eine Weile. Da er mich anscheinend noch nicht töten wollte. Samuel war alt. Ich wusste nicht genau wie alt, aber auf jeden Fall irgendwas vor der Landung der Mayflower. Vielleicht würde das seinem Wolf erlauben, auch ohne Samuels Hilfe die Kontrolle zu bewahren. Vielleicht. »Okay, Sam. Keine Anrufe bei Bran.«

Ich beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, als er den Kopf schräg legte und mich musterte. »Ich kann so tun, als wäre ich menschlich, während wir zu deinem Auto gehen. Ich dachte, das wäre das Beste, also habe ich diese Form gehalten.«

Ich schluckte. »Was hast du mit Samuel gemacht? Geht es ihm gut?«

Fahlblaue Augen betrachteten mich prüfend. »Samuel? Ich bin mir ziemlich sicher, dass er vergessen hatte, dass ich das tun kann: Es ist so lange her, seit wir das letzte Mal um die Kontrolle gekämpft haben. Er ließ mich zum Spielen raus, wenn es ihm passte, und ich ließ es zu.« Er schwieg einen Moment, dann sagte er, fast scheu: »Du weißt, wenn ich es bin. Du nennst mich Sam.«

Er hatte Recht. Mir war es nicht aufgefallen, bis er mich darauf aufmerksam gemacht hatte.

»Sam«, fragte ich wieder und bemühte mich, nicht zu drängend zu klingen, »was hast du mit Samuel gemacht?«

»Er ist hier, aber ich kann ihn nicht rauslassen. Wenn ich es tue, wird er mich nie wieder die Oberhand gewinnen lassen - und dann werden wir sterben.« »Kann nicht« klang wie »niemals«. »Niemals« war schlimm. »Niemals« würde ihn genauso sicher umbringen wie Selbstmord - und vielleicht... wahrscheinlich auch noch eine Menge andere Leute.

»Wenn nicht Bran, was ist mit Charles' Gefährtin, Anna? Sie ist eine Omega; sollte sie nicht helfen können?« Omega-Wölfe sind, soweit ich es verstanden habe, für Werwölfe wie Valium. Samuels Schwägerin, Anna, ist die einzige Omega, die ich je getroffen habe - vorher hatte ich noch nicht mal von ihnen gehört. Ich mag sie, aber sie scheint mich nicht auf dieselbe Art zu beeinflussen, wie sie es bei Wölfen tut. Ich will mich nicht zu ihren Füßen zu einem Ball zusammenrollen und mir den Bauch kraulen lassen.

Samuels Wolf wirkte wehmütig:.. aber vielleicht war er auch nur hungrig. »Nein. Wenn ich das Problem wäre, wenn ich die Gegend verwüsten würde, könnte sie vielleicht helfen. Aber das ist kein Impuls, keine Verzweiflung. Samuel hat einfach das Gefühl, er würde nicht länger dazugehören, dass er mit seiner Existenz nichts mehr erreicht. Selbst die Omega kann ihn nicht heilen.«

»Also, was schlägst du vor?«, fragte ich hilflos.

Anna, dachte ich, könnte Samuel zurück auf den Fahrersitz hieven, aber wie der Wolf machte ich mir Sorgen, dass das vielleicht einfach keine gute Idee war.

Er lachte unglücklich. »Ich weiß es nicht. Aber wenn du nicht versuchen willst, einen Wolf aus der Notaufnahme zu entfernen, dann wäre es gut, wenn wir bald gehen.« Sam wollte aufstehen, hielt aber plötzlich mit einem Grunzen inne.

»Du bist verletzt«, sagte ich, als ich mich auf die Füße kämpfte, um ihm zu helfen. Er zögerte, nahm aber dann meine Hand, so dass ich ihn auf die Füße ziehen konnte. Mir seine Schwäche zu zeigen war ein Zeichen von Vertrauen. Unter normalen Umständen hätte das bedeutet, dass ich in seiner Nähe sicherer war.

»Steif«, antwortete mir Sam. »Nichts, was jetzt nicht mehr von allein heilen wird. Ich habe auf deine Stärke zurückgegriffen. Um genug zu heilen, damit niemand merken konnte, wie schlimm die Verletzungen waren.«

»Wie hast du das gemacht?«, fragte ich und erinnerte mich plötzlich an den wilden Hunger, der dafür gesorgt hatte, dass ich zusätzlich zu dem Lachs, den ich mit Adam gegessen hatte, noch einen Hasen und eine Wachtel verschlungen hatte. Ich hatte gedacht, es wäre jemand aus Adams Rudel gewesen - aus dem sehr guten Grund, dass Stärke zu leihen eine der Sachen war, die mit einer Rudelverbindung kamen. »Wir sind nicht Rudel«, erinnerte ich ihn.

Er sah mich kurz an, dann wandte er den Blick ab. »Sind wir nicht?«

»Außer du... Wenn Samuel keine Blutzeremonie abgehalten hat, während ich geschlafen habe, sind wir das nicht.«

Langsam stieg Panik in mir auf. Klaustrophobie. Es spielten bereits Adam und sein Rudel mit meinem Kopf herum; ich hatte kein besonderes Bedürfnis nach noch jemandem. »Das Rudel existierte schon vor Zeremonien«, sagte Sam amüsiert. »Magie bindet offensichtlicher, flächendeckender, aber nicht tiefer.«

»Hast du meine Gedanken manipuliert, als ich bei meiner Verabredung mit Adam war?« Ich konnte den anklagenden Tonfall nicht aus meiner Stimme halten.

»Nein.« Er legte den Kopf schräg, dann knurrte er. »Jemand hat dir wehgetan?«

»Nein«, sagte ich. »Es ist nichts.«

»Lüge.«

»Richtig«, stimmte ich ihm zu. »Aber wenn du es nicht warst, dann ist der Zwischenfall etwas, womit Adam und ich fertigwerden müssen.«

Er schwieg kurz. »Für den Moment«, sagte er dann.

Ich hielt ihm die Tür auf, dann ging ich neben ihm durch die Notaufnahme. Während wir durch die Flure und aus der Tür gingen, hielt Sam den Blick auf mich gerichtet, und seine Aufmerksamkeit lag wie ein Gewicht auf mir. Ich protestierte nicht. Er tat das, damit niemand seine veränderte Augenfarbe bemerken konnte - aber auch, weil selbst Menschen in die Knie gehen, wenn ihnen ein Werwolf, der so dominant ist wie Samuel, mit seinem Wolf am Steuer in die Augen schaut. Das wäre eine ziemlich unbehagliche Situation und auch schwer zu erklären gewesen. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir beide noch die Hoffnung, dass Samuel vielleicht zurückkommen und weiterhin als Arzt hier praktizieren konnte.

Ich half ihm auf den Rücksitz des Golfs - und bemerkte, dass dort immer noch das in ein Handtuch eingewickelte Buch lag. Für einen Moment träumte ich davon, dass ich nur das Problem hätte, es seinem Besitzer zurückzugeben. Ich schnappte es und stopfte es in den Kofferraum, um es in Sicherheit zu bringen. Dann sprang ich auf den Fahrersitz und verließ so schnell wie möglich den beleuchteten Parkplatz. Es war immer noch mitten in der Nacht, aber Samuel war ein großer Mann, und es wäre schwer zu übersehen gewesen, dass er sich in meinem kleinen Auto auszog.

Es dauerte nicht lange, bis er die Kleidung abgeworfen hatte und seine Verwandlung begann. Ich schaute nicht hin, aber ich konnte hören, wie es losging, weil die Geräusche von reißendem Stoff zu schmerzhaftem Jaulen wurden. Was die Wölfe durchmachen, wenn sie sich verwandeln, ist einer der Gründe dafür, dass ich dankbar bin, das zu sein, was ich bin, und kein Werwolf. Für mich findet die Verwandlung von Kojote zu Mensch oder andersherum quasi augenblicklich statt. Die einzige Nebenwirkung ist ein leichtes Kitzeln. Bei Werwölfen ist die Verwandlung schmerzhaft und langsam. Den Geräuschen auf dem Rücksitz nach zu schließen, hatte er seine Verwandlung noch nicht ganz abgeschlossen, als ich in meine Einfahrt abbog.

Zuhause war nicht gerade der sicherste Ort für ihn. Kein Werwolf, der ihn sah, würde übersehen, was passiert war, und Adams Haus - das oft von Rudelmitgliedern besucht wurde - stand direkt hinter meinem Zaun. Aber mir fiel auch kein besserer Ort ein. Irgendwann würden wir es Bran sagen müssen - ich wusste das und vermutete, dass Samuel... Sam es auch wusste. Aber ich würde ihm so viel Zeit wie möglich verschaffen vorausgesetzt, er lief nicht Amok und fing an, Leute zu töten. Und das bedeutete, dass ich ihn von Adam und seinem Rudel fernhalten musste.

Meinem Rudel. Meinem Gefährten und meinem Rudel.

Es fühlte sich falsch an, ihm etwas zu verheimlichen. Aber ich kannte Adam, und wenn er in etwas wirklich gut war, dann waren es Ehre und Pflichterfüllung. Das war einer der Gründe, warum ich ihn lieben gelernt hatte - er war ein Mann, der die harte Wahl treffen konnte. Ehre und Pflichterfüllung würden ihn zwingen, Bran anzurufen. Ehre und Pflichterfüllung würden Bran dazu zwingen, Samuel hinzurichten. Samuel wäre tot, und zwei gute Männer würden darunter leiden.

Wie gut für alle Beteiligten, dass mein Gefühl für Ehre und Pflichterfüllung ein wenig flexibler war. Ich stieg aus dem Auto und patrouillierte kurz ums Haus. Ich witterte Bens verblassenden Geruch. Ansonsten waren wir allein mit den normaleren Geschöpfen der Nacht: Fledermäusen, Mäusen und Mücken. In Adams Schlafzimmer brannte noch Licht, aber es ging aus, während ich hinübersah. Morgen würde ich ein besseres Versteck für Sam finden müssen.

Oder einen guten Grund, dem Rudel aus dem Weg zu gehen.

Ich öffnete die Hintertür des Golfs, so dass sie zwischen mir und Sam war - für den Fall, dass die Verwandlung ihn schlecht gelaunt zurückgelassen hatte. Die Schmerzen der Verwandlung machen einen Wolf nicht gerade glücklich - und Sam war bereits verletzt gewesen, als er angefangen hatte. Doch als er heraussprang, wartete er höflich, bis ich die Tür geschlossen hatte, dann folgte er mir zur Tür.

Er schlief am Fußende meines Bettes. Als ich vorschlug, dass er sich vielleicht in seinem eigenen Zimmer wohler fühlen könnte, betrachtete er mich nur ausdruckslos mit diesen eisfarbenen Augen.

Wo schläft ein Werwolf? Überall, wo es ihm gefällt.

Ich hätte gedacht, dass es mich stören würde - dass es mir Angst machen würde. Es hätte mir Angst machen sollen. Aber irgendwie konnte ich nicht die Energie aufbringen, mir Sorgen um den großen Wolf zu machen, der zusammengerollt zu meinen Füßen lag. Es war schließlich Sam.

 

 

Mein Tag begann früh, obwohl wir so spät ins Bett gekommen waren. Ich wachte davon auf, dass Sams Magen knurrte. Ihn sattzuhalten stand plötzlich ganz oben auf meiner Prioritätenliste, also sprang ich aus dem Bett und machte ihm Frühstück. Und dann, weil Kochen etwas ist, was ich tue, wenn ich nervös oder besorgt bin - und weil es mir beim Denken hilft, besonders wenn ich etwas mit viel Zucker mache -, erlaubte ich mir selbst, ein paar Cookies zu backen. Ich rührte zwei Bleche Erdnussbutter-Cookies an, und während sie im Ofen waren, machte ich auch noch Chocolate-Chip-Cookies.

Sam saß unter dem Tisch, wo er mir nicht im Weg umging, und beobachtete mich. Ich fütterte ihm ein paar Löffel Teig, obwohl er schon ein gutes Kilo Speck und ein Dutzend Eier gefressen hatte. Die Eier hatte er sich mit meiner Katze Medea geteilt. Vielleicht war er deswegen noch hungrig. Ich gab ihm auch ein paar der fertigen Cookies.

Ich war gerade dabei, die Cookies in Tüten zu verpacken, als Adam anrief. »Mercy«, sage er. Seine Stimme klang müde, und sein Tonfall war ausdruckslos. »Ich habe das Licht gesehen. Ben hat mir erzählt, was du gesagt hast. Ich kann dir dabei helfen.«

Normalerweise kann ich Adam sehr gut folgen, aber ich hatte weniger als drei Stunden geschlafen. Und ich war ein wenig abgelenkt wegen Samuel, von dem er nichts erfahren durfte. Ich rieb mir die Nase. Ben. Oh. Adam sprach darüber, wie das Rudel unsere Verabredung gesprengt hatte. Ach ja.

Ich musste Adam fernhalten. Bis ich irgendeinen brillanten Plan entworfen hatte, um Samuel am Leben zu halten... Und hier war die perfekte Ausrede.

»Danke«, sagte ich. »Aber ich glaube, ich brauche mal für ein paar Tage eine Auszeit - kein Rudel, kein...« Ich ließ meine Stimme ausklingen. Ich konnte ihm nicht sagen, dass ich Abstand von ihm brauchte, wenn es doch nicht stimmte. Selbst durch die Telefonleitung konnte er die Lüge vielleicht spüren. Ich wünschte mir, er wäre hier. Er hatte die Fähigkeit, alles schwarz-weiß werden zu lassen. Natürlich hieß das auch, dass Samuel zum Wohle der Wolfsgesellschaft getötet werden musste. Manchmal ist Grau einfach die Farbe, die ich am Hals habe.

»Du brauchst ein wenig Abstand vom Rudel - und von mir«, ergänzte Adam. »Das kann ich verstehen.« Es folgte eine kurze Pause. »Ich werde dich nicht ungeschützt zurücklassen.«

Ich schaute nach unten. »Samuel hat ein paar Tage frei.« Ich musste noch im Krankenhaus anrufen, bevor ich zur Arbeit fuhr, und dafür sorgen, dass er wirklich freihatte, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass er in den nächsten Tagen nicht arbeiten würde. Der Unfall war eine gute Ausrede. »Ich werde ihn in meiner Nähe behalten.«

»In Ordnung.« Es folgte ein unangenehmes Schweigen, dann sagte Adam: »Es tut mir leid, Mercy. Ich hätte merken müssen, dass etwas nicht gestimmt hat.« Er schluckte. »Wenn meine Exfrau entschieden hatte, dass ich etwas getan hatte, was ihr nicht gefiel, dann hat sie mich mit schwerem Schweigen bestraft. Als du dasselbe getan hast... hat es mich ziemlich aus der Bahn geworfen.«

»Ich glaube, das war genau die Absicht, die dahintersteckte«, meinte ich trocken, und er lachte.

»Ja. Ich habe nicht darüber nachgedacht, wie unwahrscheinlich diese Reaktion ausgerechnet bei dir ist«, stimmte er mir zu. »Angriffe aus dem Hinterhalt, Guerilla-Kampf, aber auf keinen Fall schweigen.«

»Nicht dein Fehler«, sagte ich, bevor ich mir auf die Zunge biss. Wenn ich ihn nicht von Sam hätte fernhalten müssen, hätte ich noch mehr gesagt. Eine Menge mehr, aber ich brauchte die Zeit, damit Samuel sich selbst heilen konnte. »Ich habe es auch erst kapiert, als wir schon fast zu Hause waren.«

»Hätte ich verstanden, was los war, während es noch anhielt, hätte ich rausfinden können, wer es war«, sagte Adam, und in seiner Stimme lag ein Knurren. Er holte tief Luft und stieß sie wieder aus. Als er wieder sprach, war er etwas ruhiger. »Samuel wird auch wissen, wie man sie aufhalten kann. Wenn er dir schon Geleitschutz bietet, warum bittest du ihn nicht, dir zu zeigen, wie du dich selbst schützen kannst? Selbst wenn es nicht vorsätzlich passiert...« Er musste wieder innehalten. »Die Bedürfnisse und Wünsche des Rudels können dich ziemlich beeinflussen. Es ist nicht allzu schwer abzublocken, wenn du weißt, wie es geht. Samuel kann es dir zeigen.«

Ich schaute zu dem weißen Wolf, der auf dem Küchenboden ausgestreckt lag, während Medea ihm das Gesicht ableckte. Sam erwiderte meinen Blick mit fahlen Augen, die von einem schwarzen Ring umgeben waren.

»Ich werde ihn fragen«, versprach ich.

»Bis bald«, sagte er, sprach aber dann eilig weiter. »Ist Dienstag zu früh?« Es war Samstag. Wenn es Samuel bis Dienstag nicht besser ging, konnte ich immer noch absagen. »Dienstag klingt wirklich gut.«

Er legte auf, und ich fragte Sam: »Kannst du mir beibringen, wie ich das Rudel aus meinem Kopf halte?«

Er gab ein trauriges Geräusch von sich. »Nicht, solange du nicht reden kannst«, stimmte ich zu. »Aber ich habe Adam versprochen, dass ich dich fragen würde.« Also hatte ich drei Tage, um Samuel zu heilen. Und ich fühlte mich wie ein Verräter, weil ich... Ich hatte Adam nicht wirklich angelogen, oder? Nachdem ich unter Werwölfen aufgewachsen war, die lebende Lügendetektoren waren, konnte ich inzwischen fast so gut mit der Wahrheit lügen wie das Feenvolk.

Vielleicht hatte ich auch noch Zeit, Brownies zu backen. Mein Handy klingelte, und fast wäre ich blind drangegangen, weil ich annahm, dass es Adam war. Aber irgendein Überlebensinstinkt ließ mich zögern und erst die Nummer kontrollieren: Es war Bran.

»Der Marrok ruft an«, sagte ich zu Samuel. »Glaubst du, er wartet drei Tage? Ich auch nicht.« Aber ich konnte ihn zumindest ein wenig hinhalten, indem ich nicht ans Telefon ging. »Lass uns ein paar Autos schrauben gehen.«

 

 

Sam saß auf dem Beifahrersitz und schenkte mir einen schlecht gelaunten Blick. Er war wütend auf mich, seitdem ich ihm das Halsband angelegt hatte - aber das Halsband war Tarnung. Damit sah er mehr aus wie ein Hund. Wie etwas, das domestiziert genug war, um ein Halsband zu tragen, und kein wildes Tier mehr. Furcht ruft in Wölfen Aggression hervor - je weniger Leute also vor ihm Angst hatten desto besser.

»Ich werde das Fenster nicht runterkurbeln«, erklärte ich ihm. »Dieses Auto hat keine automatischen Fensterheber. Ich müsste anhalten, auf deine Seite kommen und es mit der Hand runterdrehen. Außerdem ist es kalt draußen, und im Gegensatz zu dir habe ich keinen Pelzmantel.«

Er hob die Lefze in einem angedeuteten Knurren und legte mit einem Rumms seinen Kopf aufs Armaturenbrett.

»Du verschmierst die Windschutzscheibe«, meinte ich. Er schaute mich an und zog absichtlich nochmal seine Nase über seine Seite der Scheibe.

Ich rollte die Augen. »Oh, das war aber mal reif. Als sich das letzte Mal jemand in meiner Umgebung so erwachsen aufgeführt hat, war meine kleine Schwester zwölf.«

 

 

An der Werkstatt parkte ich neben Zees Truck. Kaum war ich aus dem Auto gestiegen, hörte ich die unverwechselbaren Töne von Salsa-Musik. Ich habe empfindliche Ohren, also war sie wahrscheinlich nicht laut genug, um irgendwen in den zwischen den Lagerhallen um meine Werkstatt verstreuten Häusern zu stören. Eine kleine Gestalt winkte mir aus dem Fenster zu. Ich hatte es vergessen.

Wie konnte ich vergessen, dass Sylvia und ihre Kinder heute das Büro saubermachen würden? Unter normalen Umständen wäre das kein Problem gewesen - Samuel würde niemals einem Kind wehtun. Aber wir hatten es nicht mehr mit Samuel zu tun.

Mir ging auf, dass ich mich an ihn gewöhnt hatte und irgendwie immer noch an ihn dachte, als wäre er nur Samuel mit einem Problem. Ich hatte mich selbst vergessen lassen, wie gefährlich er war. Aber mich hatte er immerhin noch nicht getötet.

Vielleicht, wenn ich ihn bei mir in der Werkstatt behielt...

Ich konnte es nicht riskieren.

»Sam«, sagte ich zu dem Wolf, der mir aus dem Auto gefolgt war, »hier sind zu viele Leute. Lass uns...«

Ich bin mir nicht sicher, was ich ihm vorgeschlagen hätte, vielleicht eine Jagd irgendwo, wo niemand uns sehen konnte. Aber es war zu spät.

»Mercy«, erklang eine hohe Stimme, als die Bürotür sich in einem Sturm aus Bongos und Gitarren öffnete und Gabriels kleinste Schwester Maia die Treppen heruntersprang und auf uns zuraste. »Mercy, Mercy, rate mal. Rate mal? Ich bin jetzt erwachsen. Ich gehe in die Vornehmschule, und ich...«

Und in diesem Moment sah sie Sam.

»Ooooo«, sagte sie und rannte einfach weiter auf uns zu.

Samuel sieht in menschlicher Form nicht gerade schlecht aus - aber sein Wolf ist schneeweiß und fluffig. Er brauchte eigentlich nur noch das Horn eines Einhorns, um das perfekte Haustier eines kleinen Mädchens zu sein.

»Vornehmschule?«, fragte ich und trat einen Schritt vor, um mich zwischen den Werwolf und Maia zu stellen. Maia hielt an, um nicht gegen mich zu rennen, aber ihre Augen waren auf den Wolf gerichtet.

Das nächstältere Mädchen, Sissy, die sechs war, kam ein paar Sekunden nach ihrer Schwester aus dem Büro. »Mamá sagt, dass du nicht einfach aus dem Büro rennen sollst, Maia. Hier könnten Autos fahren, die dich nicht sehen. Hi, Mercy. Sie meint die Vorschule. Ich bin dieses Jahr in die erste Klasse gekommen - und sie ist immer noch nur ein Baby. Ist das ein Hund? Wann hast du dir einen Hund geholt?«

»Vornehmschule«, wiederholte Maia. »Und ich bin kein Baby.« Sie umarmte meine Beine, dann stürzte sie sich auf Sam.

Ich hätte sie aufgefangen, wäre Sam nicht ebenfalls nach vorne gesprungen. »Pony«, meinte sie und stürzte sich auf ihn, als wäre er kein beängstigend riesiger Wolf. Sie griff in sein Fell und kletterte auf seinen Rücken. »Pony, Pony.«

Ich griff nach ihr, erstarrte aber, als Sam mir einen Blick zuwarf.

»Mein Pony«, sagte Maia glücklich und ohne mein Entsetzen zu bemerken. Sie rammte ihm die Fersen so fest in die Rippen, dass ich es hören konnte. »Los, Pony.«

Maias Schwester schien die Gefahr genauso zu erkennen wie ich. »Mamá«, kreischte sie. »Mamá, Maia ist wieder dämlich.«

Na ja, vielleicht nicht ganz genauso.

Sie schaute ihre Schwester an, runzelte die Stirn und erklärte mir - während ich wie erstarrt dastand, weil ich befürchtete, dass alles, was ich tat, Sam über die Kante treiben könnte: »Wir waren auf dem Jahrmarkt, und sie hat die Pferde gesehen - jetzt klettert sie auf jeden Hund, den wir sehen. Vom letzten wäre sie fast gebissen worden.«

Sam für seinen Teil grunzte, als Maia zum vierten oder fünften Mal ihre Fersen in seine Seite rammte, warf mir noch einen Blick zu - einen, der durchaus von Verzweiflung sprach - und lief dann Richtung Büro. Als wäre er wirklich ein Pony und kein Werwolf.

»Mercy?«, fragte Sissy.

Ich nahm an, dass sie von mir erwartete, dass ich etwas sagte - oder mich zumindest bewegte. Meine Panik sorgte dafür, dass mein Herz raste und meine Finger kalt waren - aber als sie nachließ, trat etwas anderes an ihre Stelle.

Ich habe schon eine Menge Werwölfe gesehen, deren Wolf den Mann verdrängt hatte. Normalerweise passiert es mitten in einem Kampf - und das Einzige, was man tun kann, ist sich verstecken, bis der Mann die Kontrolle zurückgewinnt. Bei neu verwandelten Wölfen passiert es auch oft. Sie sind brutal, unberechenbar und sogar eine Gefahr für die Leute, die sie lieben. Aber Sam war weder brutal noch unberechenbar gewesen - außer man deutete das Wort positiv -, als Maia auf seinen Rücken gesprungen war, um Wildpferd-Annie zu spielen.

Zum ersten Mal, seitdem ich gestern Nacht in diesen verdammten Krankenhaus-Lagerraum getreten war, verspürte ich echte Hoffnung. Wenn Sam der Wolf ein paar Tage lang zivilisiertes Benehmen an den Tag legen konnte, bekam ich vielleicht die Chance, Bran davon zu überzeugen, uns ein bisschen mehr Zeit zu geben.

Sam erreichte die Bürotür und wartete geduldig darauf, dass ich ihn hineinließ, während Maia ihm den Kopf tätschelte und ihm erklärte, er wäre ein gutes Pony.

»Mercy. Bist du okay?« Sissy schaute in mein Auto - ich brachte regelmäßig Cookies mit. Ich hatte die von heute Morgen aus reiner Gewohnheit mitgebracht. Normalerweise backe ich viel mehr Cookies als ich allein essen kann, also bringe ich sie für Kunden mit, wann immer ich einen Backanfall hatte. Als sie die Tüten entdeckte, die auf dem Buch lagen, das ich Phin immer noch zurückgeben musste, sagte sie nichts, aber ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.

»Mir geht's gut, Sissy. Willst du ein Cookie?«

 

 

Als ich die Bürotür öffnete, die ein verblasstes pink-orange hatte und dringend mal neu gestrichen werden musste, wurde die schmetternde Musik von »Mercy« und »Schau, ein Hund!«-Rufen übertönt. Und dann stürzten sich geschätzte hundert kleine Körper auf uns.

Sissy stemmte ihre kleinen Fäuste in die Hüfte und sagte in einer perfekten Imitation ihres Bruders: »Barbaren.« Dann biss sie in den Keks, den ich ihr gegeben hatte.

»Cookie!«, kreischte jemand. »Sissy hat ein Cookie!«

Schweigen breitete sich aus, und sie alle beobachteten mich, wie Löwen eine Gazelle in der Savanne beobachten.

»Siehst du, was passiert?«, fragte Gabriels Mutter, ohne auch nur vom Schrubben des Tresens aufzusehen. Sylvia war ungefähr zehn Jahre älter als ich, aber man sah ihr die Jahre nicht an. Sie war eine kleine Frau, zierlich und schön. Man sagt ja, dass auch Napoleon klein war.

»Du verwöhnst sie«, erklärte sie mir in abschätzigem Tonfall. »Also ist es dein Problem. Du musst den Preis dafür zahlen.«

Ich zog zwei Tüten Cookies unter meiner Jacke hervor, wo ich sie versteckt hatte. »Hier«, keuchte ich und hielt sie über die Köpfe der Horde ihrer Mutter entgegen. »Nimm sie schnell, bevor die Monster sie kriegen. Beschütze sie mit deinem Leben.«

Sylvia nahm die Tüten und bemühte sich, ihr Lächeln zu verstecken, als ich mit winzigen, in Rosa gekleideten Körpern rang, die quietschten und quiekten. Okay, es waren keine hundert; Gabriel hat fünf kleine Schwestern. Aber sie machten genug Lärm für mindestens zehnmal so viele.

Tia, das älteste Mädchen, deren Name eine Abkürzung für Martina war, musterte uns grimmig. Sam, der neben ihr saß, war für die Chance auf ein Cookie aufgegeben worden. Er schien amüsiert und wurde noch amüsierter, als er meinen wachsamen Blick bemerkte.

»Hey, wir machen hier die ganze Arbeit«, sagte Rosalinda, die Zweitälteste Tochter. »Ihr chicas fangt sofort wieder an zu schrubben. Ihr wisst genau, dass ihr keine Kekse kriegt, bevor Mamá es erlaubt.«

»Sissy hat einen«, beschwerte sich Maia.

»Und das ist der Einzige, der verteilt wird, bevor hier nicht alles sauber ist«, verkündete Tia streng.

»Du bist langweilig«, erklärte ihr Sofia, die mittlere Schwester.

»Langweilig«, stimmte Maia zu und zog einen Schmollmund. Aber sie konnte nicht allzu aufgebracht sein, weil sie sich von mir löste, um zu Sam zurückzuhüpfen und ihre Finger unter sein Halsband zu schieben. »Mein Welpe braucht ein Cookie.«

Sylvia musterte finster erst Sam, dann mich. »Du hast einen Hund?«

»Eigentlich nicht«, erklärte ich ihr. »Ich passe für einen Freund auf ihn auf.« Für Samuel.

Der Wolf schaute Sylvia an und wedelte absichtlich mit dem Schwanz. Er hielt sein Maul geschlossen, was ziemlich klug von ihm war. Sie wäre nicht besonders erfreut, wenn sie einen guten Blick auf seine Zähne erhaschte - die größer waren als bei jedem Hund, den ich je gesehen hatte.

»Was für eine Rasse ist das? So ein Monster habe ich noch nie gesehen.«

Sams Ohren glitten ein Stück nach hinten.

Aber dann küsste Maia ihn auf den Kopf. »Er ist süß, Mamá. Ich wette, ich könnte ihn auf dem Jahrmarkt reiten, und wir würden ein Band gewinnen. Wir sollten einen Hund haben. Oder ein Pony. Wir könnten es auf dem Parkplatz halten.«

»Ahm, vielleicht ist er ein Pyrenäen-Schäferhund-Mix?«, bot ich an. »Etwas Großes auf jeden Fall.«

»Entsetzlicher Schneehund«, schlug Tia trocken vor, bevor sie Sam hinter dem Ohr kraulte.

Sylvia seufzte. »Ich nehme an, wenn er sie bis jetzt nicht gefressen hat, wird er es auch nicht mehr tun.«

»Ich glaube nicht«, stimmte ich ihr vorsichtig zu. Ich schaute zu Sam, der völlig ruhig wirkte. Eigentlich wirkte er sogar entspannter als in der ganzen Zeit, seit ich in diesen Krankenhaus-Lagerraum gegangen war.

Sylvia seufzte wieder theatralisch, und in ihren großen Augen blitzte der Schalk. »Zu dumm. Ich hätte viel weniger Ärger, wenn es ein paar Kinder weniger wären, meinst du nicht?«

»Mamá!«, erklang ein empörter Chor.

»Es sind gar nicht so viele, wie man immer denkt, wenn sie kreischend in der Gegend rumlaufen«, meinte ich.

»Das ist mir auch schon aufgefallen. Wenn sie schlafen, sind sie sogar ein kleines bisschen niedlich. Das ist auch gut so, denn andernfalls hätte keines von ihnen so lange überlebt.«

Ich schaute mich um. Sie hatten offensichtlich schon eine Weile gearbeitet. »Weißt du, ich glaube, wenn hier jemand reinkommt, wird er einfach umdrehen und wieder rausgehen, weil er es nicht wiedererkennt. Sind Gabriel und Zee in der Werkstatt?«

»Si, ja, sind sie. Danke, dass ich dein Auto benutzen durfte.«

»Kein Problem«, erklärte ich ihr. »Ich brauche ihn momentan nicht. Und du kannst mir einen Gefallen tun: Sag mir, wenn dir etwas auffällt, was nicht funktioniert.«

»Außer, dass das Lenkrad abfällt?«

Ich zog eine Grimasse. »Jau.«

»Werde ich tun. Und jetzt müssen du und dieser... Elefant, den du mitgebracht hast, in die Werkstatt gehen, damit meine kleinen Monster wieder an die Arbeit gehen können.«

Gehorsam zog ich Maia von dem Wolf herunter. »An die Arbeit«, sagte ich zu ihm.

Sam ging zwei Schritte neben mir her, bevor er sich mit einem Grunzen mitten ins Büro legte. Er streckte sich auf der Seite aus und schloss die Augen.

»Komm schon, S…«, ich biss mir auf die Lippe - wie lautete nochmal der Name, den Samuel auf dem Halsband stehen hatte? Genau. »Komm, Schneeball.« Er öffnete ein einzelnes fahles Auge und starrte mich an. Ich schluckte. Mit einem dominanten Wolf zu diskutieren konnte unangenehme Auswirkungen haben.

»Ich werde auf den Welpen aufpassen«, erklärte Maia. »Wir können Cowgirl spielen, und ich werde ihm beibringen, Bälle zu bringen. Wir werden eine Teeparty veranstalten.« Sie rümpfte die Nase. »Und dann wird er auch nicht dreckig, weil er nicht mit den öligen Autos spielt. Er ist nicht gerne dreckig.«

Sam schloss sein Auge wieder, als sie ihm die Schnauze tätschelte.

Ich holte tief Luft. »Ich glaube, er mag die Musik«, erklärte ich Sylvia.

Sie schnaubte. »Ich glaube, ich will ihn nicht im Weg haben.«

»Maia will babysitten«, meinte ich. »Das wird sie beschäftigen.«

Sylvia musterte Sam nachdenklich. Sie schüttelte ihren Kopf in meine Richtung, machte aber keinen Aufstand, als ich ihn einfach liegen ließ.

Zee hatte die Tür zwischen der Werkstatt und dem Büro geschlossen - er mag Salsa nicht besonders. Also schloss ich sie auch wieder hinter mir, als ich hineinging.