Doktor Karfunkel begrüßte die Nachkommenden mit einschmeichelnder Stimme, hielt sie aber noch zurück, damit sie Lisa und Chris vorausgehen ließen.

In der Vorderseite des ersten Waggons klaffte jetzt eine Öffnung. Lisa war sicher, dass sie bei ihrem Besuch heute Nachmittag noch nicht dort gewesen war. Ihre Ränder schienen kaum merklich zu vibrieren; man sah es nur, wenn man genau darauf achtete. Die übrigen Besucher würden es vermutlich gar nicht wahrnehmen.

Die drei Schattenmänner führten sie bis an den Rand der Öffnung. Sie war irgendwie formlos, ein wenig wie ein riesenhafter Bauchnabel, fand Lisa. Sie dachte an die Märchen, in denen unglückliche Helden in den Bäuchen gigantischer Ungetüme verschwanden, und ihr wurde schrecklich übel dabei.

»Was ist das denn?«, flüsterte Chris.

Lisa blickte sich um. Durch den Nebel fraß sich ein gleißendes Band aus purer Helligkeit. Es spannte sich quer durch die Blase, die noch immer die Kieselwiese und ein Stück des Bahndamms umgab, und schoss über ihre Köpfe hinweg ins Innere des Waggons. Es schien aus einer Vielzahl feiner Lichtfäden zu bestehen, die gebündelt aus der Richtung der Stadt kamen.

Chris wurde so bleich, als hätte man ihn über und über mit Kreidestaub eingepudert. Lisa befürchtete, dass sie selbst nicht viel gesünder aussah.

Irgendetwas war in der Stadt vorgefallen, etwas, das in einer Verbindung zu den schwarzen Ballons und dem flirrenden Lichtstrahl stand. Sie dachten jetzt beide an ihre Eltern, an Kyra und Nils, an Tante Kassandra und all die anderen Menschen, die ihnen etwas bedeuteten, und die Angst umklammerte ihre Herzen wie Fäuste aus Stahl.

Chris hielt noch immer Lisas Hand, und sie fühlte, wie er sie leicht drückte, wohl um ihr Mut zu machen. Aber so recht wollte das nicht gelingen. Erst als er sich unverhofft zu ihr vorbeugte und ihr einen Kuss gab – auf die Lippen, liebe Güte, auf die Lippen! –, zog sich die Kälte aus Lisas Körper zurück, und sie lief trotz der Gefahr rot an. Verzweifelt überlegte sie, wie sie reagieren, was sie sagen sollte, ohne dass es dumm und unbeholfen wirkte. Doch dann ließen ihr die drei Schattenmänner keine Zeit.

Lisa und Chris bekamen einen heftigen Stoß in den Rücken und taumelten vorwärts in die Dunkelheit.

Schwärze umfing sie wie ein Schwamm, den man in eisiges Wasser getaucht hatte.

Die Kälte, die sie umgab, hatte nichts mit niedriger Temperatur zu tun. Es war vielmehr, als kröche der Tod selbst durch ihre Adern – ein kalter Hauch auf dem Weg zu ihren Herzen.

»Lisa!«

Sie fuhr herum. Chris war noch immer neben ihr, und jetzt spürte sie auch wieder seine Hand in der ihren.

»Der Eingang«, sagte er leise. »Er ist nicht mehr da.«

Die unförmige Öffnung, durch die sie den Waggon betreten hatten, war spurlos verschwunden, an ihrer Stelle brodelte nur noch tiefschwarze Finsternis, die gleiche Finsternis, die sie auch auf allen anderen Seiten umgab. Nur das gleißende Lichtbündel spannte sich noch immer über ihren Köpfen, entsprang irgendwo hinter ihnen, scheinbar weit, weit entfernt, und setzte sich in ebensolcher Tiefe fort.

»Deine Stimme«, sagte Lisa verwirrt. »Sie hallt so komisch.«

»Deine auch.«

»Das hier ist nicht mehr das Innere des Waggons, oder?« Es war keine Frage, auf die Chris eine Antwort erwartete. Sie wussten beide, dass er Recht hatte. Wo auch immer sie sich befanden – es war kein Eisenbahnwaggon. Dieser Ort war nicht einfach nur groß, er war unendlich. So unendlich wie das Weltall.

Und Lisa erkannte noch etwas, je mehr sich ihre Augen an diesen sonderbaren Ort gewöhnten: Es gab tatsächlich Licht in der Finsternis. Sterne. Es war, als ständen sie auf einer unsichtbaren Plattform inmitten der endlosen Weite des Alls.

Schwimmer zwischen den Sternen hatte sich Karfunkel genannt. Hatte er damit auf diesen Ort angespielt?

»Das kann nicht wirklich der Weltraum sein.«

Chris versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. »Sonst wären wir längst tot. Außerdem würden wir dann nicht einfach dastehen, sondern schweben – selbst wenn die Kälte, der fehlende Sauerstoff und der Unterdruck kein Problem für uns wären.«

Lisa drückte sich enger an ihn. Chris legte einen Arm um sie. »Egal, was das hier ist«, sagte Lisa, »ich will so schnell wie möglich weg.«

»Das Ganze muss irgendwas Magisches sein«, vermutete Chris. Irgendwas Magisches war in letzter Zeit eine ziemlich beliebte Erklärung für alles Mögliche geworden. Wie sonst sollte man eine solche Leere erklären, wo sie doch gerade noch zwischen den Brombeersträuchern auf dem Bahndamm gestanden hatten? Irgendeine Erklärung schien im Augenblick zumindest besser als überhaupt keine.

»Karfunkel muss das alles geschaffen haben«, sagte Chris. »Oder der, zu dem er inzwischen geworden ist. Immerhin war Karfunkel ja der Leiter einer Sternwarte. Vielleicht ist deshalb hier alles voller Sterne.«

»Ganz toll«, brummte Lisa. »Da können wir von Glück sagen, dass er kein Schweinezüchter war.« Eigentlich fand sie ihre Bemerkung nicht besonders komisch, aber Chris lächelte trotzdem.

»Spürst du was?«, fragte er.

»Was denn?«

»Wir bewegen uns.«

Tatsächlich, Lisa fühlte es auch. Sie schwebten, nein, sie rasten unter dem Lichtbündel entlang wie Passagiere einer unsichtbaren Seilbahn. Und sie wurden schneller. Immer schneller.

Schließlich schossen sie in atemberaubendem Tempo dahin.

»Chris!« Lisa schrie auf, als um sie herum mit einem Mal alles in blendende Helligkeit getaucht wurde, das Licht dann ebenso abrupt verblasste und sie sich wieder auf festem Boden befanden.

Auf grauem, feinkörnigem Wüstenboden.

So jedenfalls sah es aus. Selbst wenn all das nur eine Illusion war, wirkte es doch verblüffend echt.

Sie standen auf der Oberfläche des Mondes.

Oder mitten in der Hölle, je nachdem, wie man es betrachtete.

In alle Richtungen erstreckte sich eine gewellte, graue Staubwüste. Der Himmel war rabenschwarz, selbst die Sterne waren verschwunden. Es war düster, viel dunkler als auf den alten Filmaufnahmen, die die ersten Astronauten mit zur Erde gebracht hatten und die manchmal im Fernsehen liefen. Lisa begriff schnell, dass sie sich auf der dunklen Seite des Mondes befinden mussten – oder einer magischen Kopie davon –, jener Hälfte der Mondkugel, die derzeit nicht von der Sonne beschienen wurde.

»Da vorne«, sagte Chris und deutete voraus, »das sieht aus wie ein Krater. Das Licht verschwindet darin.«

Etwa hundert Meter entfernt wuchs eine niedrige Schräge empor, nicht viel höher als der alte Bahndamm (auf dem sie vielleicht, vielleicht aber auch nicht, immer noch standen, gefangen in irgendeinem Zauber, der sein Schattenspiel mit ihnen trieb). Das verästelte Lichtbündel verlief nach wie vor über ihre Köpfe hinweg, um dann im Inneren des Kraters unterzutauchen.

Hand in Hand machten sie sich auf den Weg.

»Das ist nicht der echte Mond«, sagte Chris.

»Ich weiß. Nur eine Illusion. Aber das macht es nicht unbedingt harmloser.«

»Nein, wahrscheinlich nicht.« Chris runzelte die Stirn. »Aber die Vorstellung ist schon seltsam, oder? Wenn wir es nicht mit einem Doktor der Astrophysik zu tun hätten, könnte das hier genauso gut jeder andere Ort sein. Wäre der Dornenmann zum Beispiel in Herrn Fleck gefahren, wären wir vielleicht in einer riesengroßen Bibliothek, der größten, die man sich vorstellen kann. Und bei Kyras Tante wäre es wahrscheinlich eine Teeplantage, so groß wie ein ganzer Kontinent.«

»Na ja, immerhin heißt es Mann im Mond, nicht Mann im Tee.«

Chris musste grinsen und nickte dann widerwillig. Lisas Theorie konnte natürlich ebenso richtig sein wie seine eigene. Gut möglich, dass Karfunkel selbst gar nichts mit der Umgebung zu tun hatte.

Sie waren jetzt noch etwa zwanzig Meter vom Kraterrand entfernt. Über ihnen erstrahlte das flirrende Lichtbündel auf einer festen Bahn ins Innere des Kraters. Aber woher kam es? Und zu welchem Zweck?

Als Lisa und Chris die Schräge erreichten, umfassten sie gegenseitig ihre Hände noch fester. Lisa fragte sich, ob das wirklich nur an der Gefahr lag, in der sie schwebten. Doch sie verdrängte den Gedanken, so gut es ging, um sich auf das zu konzentrieren, was vor ihnen lag.

Sie stapften durch lockeren Mondstaub den Kraterrand hinauf, als Lisa hinter sich etwas hörte. Ein weiteres Anzeichen dafür, dass dies nur ein Traumbild des Mondes war, denn auf der echten Mondoberfläche gab es wegen der fehlenden Atmosphäre keine Geräusche.

Sie hörte ferne Stimmen.

Als sie sich umschaute, entdeckte sie drei Jugendliche, die völlig verwirrt und verängstigt im Staub standen, vor Panik beinahe unfähig, sich zu bewegen. Ein Mädchen weinte bitterlich. Es waren die drei Besucher, die nach ihnen in den Waggon geschleust worden waren. Nicht mehr lange, und es würde hier um einiges voller werden.

Lisa wandte sich wieder nach vorn. Gleichzeitig mit Chris erreichte sie den höchsten Punkt des Kraterrandes. Anderthalb Meter über ihnen beschrieb der leuchtende Energiestrom einen sanften Bogen und floss über dem Zentrum des Kraters in die Tiefe.

»Was –«

Lisas Mund blieb offen stehen. Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte. Auf jeden Fall nicht das!

Der Krater war riesig; es fiel schwer, seine Ausmaße in dem grauen Dämmerlicht genau abzuschätzen. Wie ein unendlich großer See war er mit etwas gefüllt, das Lisa im ersten Moment für altes Motorenöl hielt, pechschwarz und zähflüssig.

Die Oberfläche bestand aus Gesichtern.

Aus den Gesichtern hunderter, vielleicht tausender Menschen. Ein Chaos aus Schädeln, die auf- und wieder untertauchten, so als seien sie in diesem schwarzen, öligen Sumpf gefangen und kämpften darum, an der Oberfläche zu bleiben. Schmerzverzerrte Grimassen. Fratzen voller Furcht und Abscheu. Manche mit zugekniffenen, andere mit weit aufgerissenen Augen. Viele der Münder standen offen, doch kein Schrei drang hervor, was den Anblick noch unheimlicher machte.

Ganz gleich, wohin Lisa blickte: Jeder Zentimeter des schwarzen Sees war mit diesen entsetzlichen Gesichtern bedeckt, während die aufgewühlte Brandung des Fratzenmeeres dickflüssig gegen das Kratergestein schwappte.

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