Nebel

Mit dem Nebel kam noch etwas anderes.

Etwas Großes. Etwas Dunkles.

Es schob sich aus den dichten Schwaden, die am Morgen aus den Wäldern aufgestiegen waren, schnaufte heran wie ein Gigant aus der Urzeit, wurde dann mit einem Mal langsamer, stieß ein letztes Rauschen und Keuchen aus, ehe es endgültig zum Stehen kam.

Finster thronte es auf dem alten, stillgelegten Bahndamm, hoch über den Wiesen und Weiden im Norden Giebelsteins. Es hatte die überhängenden Äste der Brombeerbüsche zermalmt, die den rostigen Schienenstrang flankierten, hatte das Unkraut zwischen den Gleisen und Schwellen niedergewalzt und Kaninchen und Mäuse vertrieben, die hier in der Stille des Tages aus ihren Verstecken kamen. Selbst die Raubvögel, die sonst auf den Wiesen ihre Opfer schlugen, schossen mit raschem Flügelschlag davon, so als spürten sie, dass das Ding auf den Schienen etwas ausstrahlte, das schlimmer war als ihr Hunger und sehr viel unangenehmer als die Gewissheit, anderswo nach Beute Ausschau halten zu müssen.

War es nur eine Täuschung, oder wurde der Nebel immer noch dichter? Die Sicht reichte bald keine zehn Meter mehr weit, und schließlich erstarben alle Laute der Natur.

Kein Vogelgezwitscher mehr, kein Rascheln im hohen Gras der Weiden, kein Piepsen und Schnurren in den Begrenzungshecken.

Auch der Koloss auf dem Bahndamm verstummte. Falls er Leben barg, so offenbarte er es nicht. Und wenn er mehr im Sinn hatte, als einfach nur dazustehen, groß und düster und doch unsichtbar im Nebel, so verriet er durch nichts den Grund seines Erscheinens.

Etwas war gekommen, etwas Fremdes, Erstaunliches, Angsteinflößendes.

Es hatte den Nebel mitgebracht wie eine Braut ihre weiße Seidenschleppe, und nun stand es da im Verborgenen.

Es rührte sich nicht.

Es horchte.

Es wartete.

Ein vager Umriss raste aus dem Nebel auf sie zu, und im ersten Moment überkam Lisa ein solcher Schrecken, dass sie sogar ihren Ärger über Toby vergaß.

»Hallo Lisa«, rief Chris, verriss den Lenker seines Fahrrads und brachte es schlitternd vor ihr zum Stehen. Schotter spritzte über den Vorplatz des alten Hotels Erkerhof.

»Hi!« Sie atmete erleichtert auf. Nur Chris auf seinem Rad. Keine Gefahr, trotz des unheimlichen Nebels.

»Ich hab Toby gesehen. Er ist mir unten auf der Pappelallee entgegengekommen.«

»So?« Lisa tat desinteressiert.

»Er sah nicht fröhlich aus.«

»Dazu hat er auch keinen Grund.«

Chris hob eine Augenbraue. »Habt ihr Krach?«

»Krach?«, wiederholte Lisa naserümpfend. »So kann man das auch nennen. Wenn du einen Wirbelsturm oder einen Vulkanausbruch oder radioaktiven Niederschlag … also, wenn du all das Krach nennen würdest, ja, dann hatten wir wohl nur Krach.«

»Oje«, sagte Chris und wedelte mit der Hand, als hätte er sich die Finger verbrannt. »Das klingt ungut.«

»Ich hab ihm gesagt, dass es aus ist.«

»Bist du sicher, dass du das gesagt hast?«

»Wie meinst du das?«, fragte sie lauernd.

»Na ja, warst tatsächlich du es, die Schluss gemacht hat?«

»Wer denn sonst?«

»Er vielleicht.«

»Toby?«

»Wenn du’s nicht warst …«

»Aber ich hab doch gesagt, dass ich –« Lisa brach wütend ab, als ihr ein Gedanke kam. »Du hast mit ihm gesprochen!«

Chris druckste herum. »Nur ganz kurz.«

»Und er hat behauptet, er hätte mit mir Schluss gemacht?«

»Nimm’s ihm nicht übel.«

»Hat er?«

Chris nickte.

Lisa stampfte mit einem Fuß auf. »So ein Arsch!«

»Na, na, na – solche Ausdrücke!« Chris grinste von einem Ohr zum anderen.

»Chrysostomus Guldenmund, ich hab keine Lust auf Belehrungen von einem –«

»Älteren?«

»Einem pubertären Idioten!«

Chris schnappte nach Luft. »Pubertär? Du redest ja wie meine Mutter! Und, Mensch, Lisa, du bist sogar noch ein Jahr jünger als ich.«

Sie lächelte triumphierend. »Hattest du vielleicht schon eine Freundin? Nein? Na also. Dann kennst du dich in solchen Dingen auch nicht aus.« Basta, fügte sie in Gedanken trotzig hinzu und hätte sich zugleich am liebsten auf die Zunge gebissen. Wie konnte sie nur so zickig sein?

Natürlich wusste sie, dass Händchenhalten und Knutschen mit Toby nicht unbedingt eine Sache zum Angeben war, aber im Augenblick hatte sie das Gefühl, jedem Jungen dieser Welt eins auswischen zu müssen. Chris hatte einfach nur das Pech, dass er gerade zum falschen Zeitpunkt aufgetaucht war – oder zum richtigen, je nachdem, wie man es betrachtete.

Er legte die Stirn in Falten. »Wenn man mit einer Freundin dieses Theater hier jeden Tag mitmachen muss, bin ich, ehrlich gesagt, ganz froh, dass ich noch keine hatte.«

Lisa schluckte. Offensichtlich war sie gerade dabei, eine ziemliche Idiotin aus sich zu machen. Aber sie war nun mal so verdammt wütend! Und wenn es etwas gab, das sie im Moment nicht ertragen konnte, dann waren das altkluge Ratschläge von einem Jungen.

Andererseits – dieser Junge war immerhin Chris! Der Chris, in den sie verknallt war, seit er zum ersten Mal in Giebelstein aufgetaucht war, damals, als sie alle die magischen Sieben Siegel empfangen hatten. Derselbe Chris, den sie schon eine halbe Ewigkeit heimlich anhimmelte – wäre da nicht ihre beste Freundin Kyra, für die Chris schwärmte. Zumindest glaubte Lisa das.

Warum aber war er dann hergekommen? Chris wusste doch, dass ihr Bruder Nils krank im Bett lag und keinen Besuch bekommen durfte. Und Kyra war auch nicht hier. Bedeutete das vielleicht, Chris hatte sie – Lisa – allein treffen wollen?

Sie straffte sich, räusperte sich kurz und setzte sich wieder mit angezogenen Knien auf den großen runden Stein, der an der Auffahrt zum Hotelvorplatz lag. Vor einer halben Stunde hatte sie hier noch lautstark mit Toby gestritten. Wenigstens waren sie dabei unbeobachtet geblieben. Und was noch wichtiger war: Niemand hatte sie belauschen können, weder Nils noch ihre Eltern, denen das Hotel auf dem Hügel südlich von Giebelstein gehörte.

Hier, auf diesem Stein, hatte Toby sie einfach sitzen lassen – ganz buchstäblich übrigens, denn sie war nicht aufgestanden, als er wütend auf sein Rad gesprungen und im Nebel verschwunden war.

Überhaupt, der Nebel. Sie konnte sich nicht erinnern, etwas Ähnliches schon einmal erlebt zu haben. Die Sicht reichte kaum drei Meter weit, dahinter verschwand alles in waberndem, milchigem Grau. Derart dichten Nebel kannte sie nur aus Filmen. Der Findling, auf dem sie saß, hätte ebenso gut auf dem Gipfel des Mount Everest liegen können – man sah weder das Hotel noch sonst irgendeinen Teil der Umgebung. Nur den großen runden Stein, ein paar Schritte von der Auffahrt und einige Quadratmeter Schotter rund um sie herum. Hätte sie sich nicht so geärgert, wäre ihr das vermutlich ziemlich bedrohlich vorgekommen. Jetzt aber fand sie das Wetter eigentlich ganz passend zu ihrer Stimmung. Und außerdem lieferte der Nebel einen guten Grund, das Thema zu wechseln. Schließlich hatte sie keine Lust, die Einzelheiten ihres kindischen Streits mit Toby vor Chris auszubreiten. »Wie kannst du bei der Suppe eigentlich mit dem Fahrrad fahren?«, fragte sie. »Man sieht ja kaum die Hand vor Augen.«

Er grinste. »Glücksspiel.«

»Ganz schön gefährlich.«

»Gar nicht«, widersprach er. »In Giebelstein stehen die Autos still. Auf den Straßen fährt kein einziger Wagen. Alle haben Angst, dass sie bei der schlechten Sicht einen Unfall bauen.«

»Und mit dem Fahrrad kann das nicht passieren?«, fragte sie zweifelnd.

»Da hättest du erst mal sehen müssen, mit welchem Affenzahn Toby die Pappelallee runtergedonnert kam.«

Sie keuchte. »Könnten wir dieses Thema vielleicht sein lassen?«

»Sicher.«

»Wo steckt eigentlich Kyra?«

Chris seufzte. »Wo wohl? Im Stadtarchiv. Sie ist Herrn Fleck so lange auf die Nerven gegangen, bis er ihr erlaubt hat, in dem Buch ihrer Mutter zu lesen.«

Lisa verdrehte die Augen. Seit Kyra in England erfahren hatte, dass ihre Mutter Dea noch am Leben war – wenn auch unerreichbar für sie in der Anderswelt –, tat sie alles, um so viel wie möglich über Deas tausendjährigen Kampf gegen Hexen und Dämonen zu erfahren. Ein Schlüssel dazu waren Deas eigene Aufzeichnungen, von denen Auszüge im Giebelsteiner Stadtarchiv aufbewahrt wurden. Mittlerweile verbrachte Kyra einen Großteil ihrer Freizeit im Bücherlabyrinth unter dem Marktplatz. Sie hatte großes Glück, dass Herr Fleck, der Archivar, bestens über Giebelsteins mysteriöse Vergangenheit Bescheid wusste.

Und noch etwas hatte sich verändert: Seit Kyras Rückkehr aus der Anderswelt, wo sie an der Seite ihrer Mutter gegen die grausame Zauberkönigin Morgana gekämpft hatte, besaß Kyra keinen Schatten mehr. Beim magischen Wechsel von einer Welt in die andere war er spurlos verschwunden. Ganz gleich, wo Kyra sich auch aufhielt, ob unter einer Straßenlaterne oder im grellen Sonnenschein – ihr Körper warf nicht den Hauch eines Schattens.

»Wie geht’s denn Nils?«, fragte Chris.

»Seine Windpocken blühen und gedeihen.« Lisa konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. Ausgerechnet Windpocken! In Nils’ Alter! »Sie jucken wie verrückt. Aber er hält sich ganz gut. Das Fieber ist schon runtergegangen. In ein paar Tagen dürfen wir wieder zu ihm, hat der Arzt gesagt.«

Chris nickte, dann zog er ein gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche seiner schwarzen Jeans.

»Hier, guck mal. Ich wollte dich eigentlich fragen, ob wir da nicht zusammen hingehen sollen.«

Einen Augenblick lang war ihm die Einladung wohl ein wenig peinlich, deshalb fügte er rasch hinzu: »Ich meine, Nils und Kyra sind derzeit ja offenbar lahm gelegt.«

Lisa nahm das Papier überrascht entgegen und faltete es auseinander. Darauf stand in weißer Schrift auf schwarzem Grund ein gedruckter Text:

 

DIE SCHATTENSHOW

Einmalig! Großartig! Wunderbar!

Rechts vom Mond um Mitternacht.

Heute!

 

Das war alles. Kein Ort, keine Uhrzeit.

»Die Zettel liegen in der ganzen Stadt herum«, erklärte Chris, als er Lisas fragende Miene bemerkte. »Ich dachte mir, das könnte was für uns sein.«

Ehe Lisa überlegen konnte, waren die Worte schon heraus: »Für die Siegelträger – oder für uns beide?« Sie wurde knallrot, noch bevor sie den Satz zu Ende gebracht hatte.

Chris lächelte. »Das eine schließt ja das andere nicht unbedingt aus.«

Sie schluckte einen Kloß im Hals herunter, dann sagte sie rasch: »Glaubst du, das Arkanum steckt dahinter? Oder sonst irgendetwas … na ja, was Dämonisches?«

»Ich weiß nicht recht. Aber wir könnten ja versuchen, ein bisschen mehr über diese komische Show herauszufinden.«

»Jetzt gleich?«

»Klar.«

Lisa zögerte, dann nickte sie. »Warte – ich hole nur mein Fahrrad.«

Zwei Minuten später waren sie unterwegs. Sie fuhren nicht besonders schnell, und trotzdem hatte Lisa ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, als sie über die Pappelallee den Hügel hinabradelten. Der Nebel stand vor ihnen wie eine weiße Wand, sogar die dicken Stämme der Pappeln wenige Meter neben der Straße waren nicht zu erkennen.

»Was hältst du davon?«, fragte Chris.

»Von dem Nebel?«

»Hmm.«

»Ziemlich unheimlich. Aber endlich sind mal keine Autos unterwegs.«

»Das ist ein Vorteil, finde ich auch«, entgegnete Chris und trat kräftiger in die Pedalen.

Lisa kannte den Verlauf der Straße in- und auswendig, sie hätte den Weg nach Giebelstein sogar im Stockdunklen gefunden. Trotzdem war ihr das Risiko, in dieser Suppe von der Fahrbahn abzukommen, zu groß. Was, wenn ihnen wider Erwarten doch ein Auto entgegenkam?

Als sie ihre Bedenken äußerte, wurde Chris sofort wieder langsamer. Sie bogen von der Pappelallee auf die Landstraße und passierten bald die Festwiese, nur um festzustellen, dass es dort keinen Hinweis auf die ominöse Schattenshow gab. Die Schausteller mussten ihre Zelte anderswo aufgeschlagen haben.

Jenseits des südlichen Stadttors, inmitten der alten Fachwerkhäuser des Ortes, hätte die Sicht eigentlich besser werden müssen, doch auch hier war der Nebel undurchdringlich. Auf dem Pflaster lagen zahllose der weißen Werbezettel, so als hätte ein Flugzeug sie über Giebelstein verstreut – oder eine geheimnisvolle Windböe.

Lisa übernahm die Führung. »Ich glaube, ich weiß, wo wir diese Show finden«, rief sie Chris über die Schulter zu. »Rechts vom Mond um Mitternacht, steht auf dem Zettel. Das ist eine Wegbeschreibung.«

Chris blickte ratlos drein. »Und das bedeutet was?«

Lisa grinste. Seit sie Trägerin der Sieben Siegel war, besaß sie die Fähigkeit, die kniffligsten Rätsel mit spielerischer Leichtigkeit zu lösen – und dieses hier war nun wirklich nicht allzu schwer.

»Der Mond um Mitternacht steht derzeit im Westen, oder?«

Chris nickte.

»Und auf einem Kompass liegt Norden rechts vom Westen«, erklärte Lisa. »Zumindest, wenn man ihn im Uhrzeigersinn abliest.«

»Also befindet sich die Show im Norden?«

»Genau.«

»Aber im Norden von was?«

»Von Giebelstein natürlich. Die Zettel sind offenbar nur hier verteilt worden – bei uns im Hotel ist jedenfalls keiner angekommen.«

»Das bedeutet dann wohl, dass wir auf den Wiesen nachschauen müssen.«

Lisa stimmte zu. »Wahrscheinlich bauen sie die Show irgendwo dort oben an der Landstraße auf.«

Sie waren mittlerweile an Kyras Haus vorbeigeradelt. Das Schaufenster von Tante Kassandras Teeladen lag nahezu unsichtbar jenseits der Nebelschwaden. Die Fahrräder trugen sie durch das Nordtor und hinaus in das weite Hügelland. Irgendwo auf den Weiden zwischen der Stadtmauer und dem alten Bahndamm musste die rätselhafte Schattenshow zu finden sein.

Ab und an blickte Lisa auf ihren rechten Unterarm, aber dort erschien keine Spur der Sieben Siegel. Sie würden nur sichtbar werden, wenn eine Gefahr durch die Mächte des Bösen drohte. Schon fasste Lisa die Hoffnung, einfach nur einen netten Nachmittag allein mit Chris zu verbringen. Während all der Zeit, die sie sich kannten, hatten sie nie etwas ohne Kyra und Nils unternommen. Eigentlich wurde es höchste Zeit, fand Lisa – auch wenn sie der Gedanke ein wenig nervös machte. Sie fragte sich, was Kyra wohl dazu sagen würde.

Selbst schuld, dachte Lisa. Was verkroch Kyra sich auch den lieben langen Tag hinter irgendwelchen alten Büchern im Stadtarchiv.

Zwanzig Minuten später waren sie die meisten Feldwege abgefahren, die sich zwischen den buschigen Begrenzungshecken der Weiden dahinschlängelten. Das Ergebnis war eine herbe Enttäuschung. Nirgends gab es einen Hinweis auf die mysteriöse Show.

»Vielleicht hab ich mich geirrt«, knurrte Lisa. »Möglicherweise bedeutet rechts vom Mond etwas ganz anderes.«

Chris furchte die Stirn. »Ich weiß nicht – irgendwie klingt das doch ganz logisch, oder?«

Lisa ärgerte sich, dass die Lösung des Rätsels sie nicht weitergebracht hatte. Zu gerne hätte sie Chris beeindruckt. »Vielleicht ist Mitternacht auch nur die Uhrzeit, zu der die Show beginnt«, schlug sie vor.

»Was für eine Show fängt denn mitten in der Nacht an? Da kommt doch kein Mensch.«

»Hängt davon ab, was geboten wird. Wenn die Ankündigung geheimnisvoll genug klingt und die Leute neugierig macht …«

Chris zog erneut den Zettel aus der Hosentasche und strich ihn glatt. »Neugierig macht sie auf jeden Fall. Sonst wären wir jetzt nicht hier, schätze ich.«

Sie standen mit ihren Fahrrädern am Rande der Kieselwiese, einer buckligen Viehweide, die ihren Namen dem steinigen Boden verdankte. Damals, beim Angriff der Vogelscheuchen auf Giebelstein, hatten sie hier das erste Opfer entdeckt, ein totes Schaf.

Jenseits der Kieselwiese erhoben sich der stillgelegte Bahndamm und dahinter das alte Hügelgrab, in dem die vier sich manches Mal verkrochen, wenn sie die Erwachsenen und den ganzen Rest von Giebelstein satt hatten. Hin und wieder kamen sie auch einzeln her, um zu lesen oder einfach nur für sich zu sein.

Jetzt waren allerdings weder der Bahndamm noch das Hügelgrab zu erkennen. Der Nebel hüllte beides in grauweiße Watte.

Chris schaute sich nach allen Seiten um. Er hatte die Stirn gerunzelt. »Bei dem Nebel ist es, als wäre man ganz allein auf der Welt.«

»Am schlimmsten finde ich, dass er alle Geräusche schluckt. Es ist so schrecklich still.« Wie tot, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Könnte es sein, dass wir die Show deshalb nicht finden? Weil wir sie nicht hören können?«

»Aber wir haben doch alles abgesucht.«

»Nicht die Wiesen hinter dem Bahndamm.«

»Na ja, da führt auch keine Straße hin. Nur ein paar Feldwege. Und dann kommt schon der Waldrand.« Lisa fröstelte bei dem Gedanken an die tiefen, dunklen Wälder nördlich der alten Bahnlinie. Niemand ging gerne dort hin. Es waren keine Wälder, um Spaziergänge zu machen; sogar die Jäger der Umgebung mieden sie. Das Unterholz war dicht und verwoben, und die Baumkronen schienen jeden Lichtstrahl abzufangen, bevor er den Waldboden erreichte.

»Lass uns wenigstens hoch auf die Schienen klettern und nachschauen«, schlug Chris vor.

»Wir werden sowieso nichts sehen«, widersprach Lisa, stieg aber schon von ihrem Rad. »Nicht bei diesem Nebel.«

Chris zog nur die Schultern hoch und legte sein Fahrrad neben die Hecke am Rand der Kieselwiese. Lisa kippte ihres daneben. Rahmen und Räder verschwanden in den Brennnesseln.

Gemeinsam stapften sie durch das taufeuchte Gras hinüber zum Bahndamm.

Die steile Schräge war mit Brombeersträuchern und anderen Büschen bewachsen. Es war nicht ganz leicht, hinaufzuklettern, ohne sich die Haut an Dornen und spitzen Zweigen aufzureißen. Zwar gab es ein Stück weiter westlich einen Trampelpfad, den sie immer dann benutzten, wenn sie zum Hügelgrab gingen, aber von hier aus war der Umweg zu groß.

»Warte!« Lisa blieb auf halber Höhe der Schräge stehen.

»Was ist?«, fragte Chris, sah es aber im nächsten Moment schon mit eigenen Augen.

Viele Jahre lang hatten die alten Bahngleise brachgelegen. Kein Zug war hier gefahren, und die Natur hatte längst begonnen, den hohen Erdwall und die stählernen Schienen zurück zu erobern.

Jetzt aber waren die Gleise nicht länger nur zugewuchert.

Etwas Finsteres, Klobiges thronte hoch oben auf dem Damm, ein dunkler Umriss wie die Segmente eines mächtigen, nachtfarbenen Riesenwurms.

»Das sind –«

»Waggons«, führte Lisa Chris’ Satz zu Ende. Zugleich aber dachte sie: Ja, es sind Waggons, aber irgendwie sind es auch keine.

Ihre Form stimmte nicht.

Die Silhouetten schienen sich im Nebel zu bewegen, zu flackern, zu zittern. Möglich, dass es nur an den Schwaden lag, die den Anblick verzerrten. Möglich aber auch, dass wirklich etwas nicht so war, wie es hätte sein sollen.

Chris senkte seine Stimme zu einem Flüstern.

»Wo kommen die her?«

»Keine Ahnung.«

»Du wohnst länger hier als ich. Wohin führen die Schienen?«

»Das weiß keiner so genau«, wisperte Lisa. »Außer vielleicht Herr Fleck. Uns hat man früher immer nur erzählt, dass sie das letzte Teilstück einer uralten Bahnverbindung aus dem 19. Jahrhundert sind, die irgendwann abgerissen wurde.«

 

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