Die Schattenshow

Wie Teile einer Festung erhoben sich die drei Waggons aus dem Nebel. Lisa und Chris schlichen zwischen den Schienensträngen an sie heran. Plötzlich hielt Lisa inne und zeigte stumm auf die Gleise. Die Räder der Waggons hatten sie so blank poliert, als passierte jeden Tag ein Dutzend Züge diese Stelle.

Chris bückte sich und strich mit einem Finger über den sauberen Stahl. »Merkwürdig. Wie kann ein einziger Zug die Gleise derart sauber scheuern?«

Lisa schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich. Die Schienen waren schließlich dick verrostet.«

»Trotzdem hat er’s getan.«

»Sieht aus, als hätte jemand mit Schmirgelpapier darüber gerieben.«

»Oder mit großem Druck.«

»Großem Druck?«

Chris nickte. »Wenn die Waggons besonders schwer wären, könnten sie so viel Druck auf die Räder ausgeübt haben, dass sie sogar den Rost abgeschmirgelt haben.«

»Aber dann müssten sie viel, viel mehr wiegen als andere Bahnwaggons.«

»Zehn- oder fünfzehnmal so viel«, pflichtete Chris ihr bei. »Mindestens.«

Lisas Blick wanderte hinüber zu den schwarzen Kolossen. Die Außenwände waren fensterlos und vollkommen glatt. Nach wie vor konnte sie nur drei Waggons ausmachen, aber es war durchaus möglich, dass sich weiter vorne, verborgen im Nebel, auch eine Lokomotive befand. Wie sonst hätten die Waggons hierher gelangen sollen – zumal, wenn sie wirklich um ein Vielfaches mehr Gewicht besaßen als üblich? Und welche Lokomotive hatte überhaupt eine solche Kraft?

»Hörst du irgendwas?«, fragte Lisa unvermittelt.

»Nichts.«

»Warum sind keine Menschen hier?«

»Vielleicht wurden die Waggons nur zwischengeparkt«, mutmaßte Chris, war aber wohl selbst nicht überzeugt davon, denn er schüttelte gleich darauf den Kopf. »Die sehen nicht aus wie normale Eisenbahnwaggons.«

Sie setzen sich wieder in Bewegung und erreichten gebückt das hintere Ende des letzten Waggons. Es gab weder eine Tür, die ins Innere führte, noch einen Mechanismus, an dem weitere Wagen hätten andocken können. Die Wände waren so glatt wie Porzellan, und auch die Räder sahen anders aus, als Lisa es von normalen Zügen in Erinnerung hatte. Irgendwie größer. Und schwerer. Und welchen Zweck hatten all die kleinen Spitzen, die aus den Rädern ragten und sich wie winzige Tentakel an den Gleisen festgesaugt hatten?

Lisa gefiel diese Entdeckung überhaupt nicht. Die Spitzen verliehen den Waggons etwas seltsam Organisches – so als wären sie nicht gebaut worden, sondern gewachsen.

Chris berührte die Außenwand des Waggons.

»Warm«, stellte er verblüfft fest. »Was für ein Material ist denn das?«

Lisa streckte zögernd die Hand aus und legte die Fingerspitzen an den Wagen. »Fühlt sich an wie … hm, nicht wie Plastik. Auch nicht wie Metall.«

Sie sahen einander an, und Chris sprach schließlich aus, was beide dachten:

»Wie Haut.«

Lisa riss die Finger zurück, als hätte sie ein totes Tier berührt. Auch Chris trat einen Schritt nach hinten.

»Wir könnten uns täuschen«, sagte er halbherzig. »Ich meine, es könnte irgend so ein neues synthetisches Material sein.«

»Klar«, erwiderte Lisa, »und ich bin die Königin von Saba. Die Oberfläche ist weich, Chris!«

Selbst jetzt, da sie ihre Hand zurückgezogen hatte, konnte sie das Material – die Haut! – noch an ihren Fingerspitzen spüren, so als wäre ein Stück davon an ihr haften geblieben. Hastig wischte sie sich die Hand an ihrem T-Shirt ab. Doch da war nichts – ihre Finger waren vollkommen sauber.

»Gehen wir weiter?«, fragte sie leise. Das Rendezvous mit Chris hin oder her – im Augenblick wäre ihr wohler gewesen, wenn Kyra und Nils bei ihnen wären. Aber natürlich sprach sie das nicht aus. Sie wollte sich vor Chris keine Blöße geben, obgleich das natürlich Unsinn war. Sie waren beste Freunde, und sie wussten alles übereinander. Na ja, fast alles.

»Wir sollten lieber vorsichtig sein«, sagte er und ergriff abermals wie selbstverständlich ihre Hand. Zusammen schlichen sie an der Seitenwand entlang, bis der zweite Waggon in Sicht kam.

»Was ist das denn?«, entfuhr es Chris.

Normalerweise, das wusste Lisa, hätte es zwischen dem hinteren und mittleren Waggon ein Gewirr aus Stahlrohren und Kabeln geben müssen – doch stattdessen schienen die beiden Wagen miteinander verwachsen zu sein wie die narbigen Ränder einer Wunde. Gewellte, unsymmetrische und, ja, irgendwie lebendige Stränge verbanden die beiden Wagen miteinander und verschmolzen ohne Übergang mit den Außenwänden.

Lisa schüttelte sich. »Wir verschwinden besser.«

»Aber die Siegel«, versuchte Chris sie und sich selbst zu beruhigen. »Sie sind noch immer nicht aufgetaucht.«

»Willst du vielleicht abwarten, bis eines dieser Dinger statt einer Tür ein Maul aufreißt?«

Chris sah sie mit großen Augen an, so als hätte Lisa etwas ausgesprochen, das ihm selbst gerade in den Sinn gekommen war. Dann nickte er rasch. »Okay. Lass uns nur noch nachschauen, ob es weiter vorne vielleicht so was wie eine Lokomotive gibt.«

»Und wenn nicht?«

Chris’ Gesichtsausdruck wechselte, er öffnete den Mund zu einer Antwort. Dann aber schüttelte er nur stumm den Kopf und ging voraus.

Sie passierten den mittleren Waggon und kamen zum vorderen. Jetzt konnten sie deutlich erkennen, dass es keine weiteren Wagen gab, auch keine Zugmaschine. Es war, als wären die drei Waggons einfach aus dem Nichts aufgetaucht.

»Vielleicht brauchen sie gar keine Lokomotive«, meinte Lisa im Flüsterton. »Ich meine, jedes Kind sieht doch, dass das keine normalen Waggons sind. Vielleicht hat jeder einen eigenen Motor.« Falls sie so etwas wie Motoren überhaupt nötig haben!

»Das reicht«, sagte Chris. Auch er hatte die Stimme gesenkt. »Wir hauen ab.«

Gleich vor ihnen lag der altvertraute Trampelpfad, der von den Schienen hinab auf die Wiesen führte. Das konnte ihnen nur recht sein – so mussten sie sich nicht erneut durch die Brombeersträucher kämpfen. Und sie mussten nicht noch einmal an den drei Waggons vorbei.

Während des Abstiegs warfen beide unsichere Blicke zurück zu den finsteren Umrissen auf den Gleisen.

»Hast du schon mal einen Zug ohne Türen gesehen?«, fragte Lisa, als sie schließlich auf der Wiese standen.

»Noch nie.«

»Der hier hatte keine.«

»Vielleicht auf der anderen Seite.«

»Meinst du das ernst?«

Chris wich ihrem Blick aus. »Zuerst einmal sollten wir rausfinden, wohin die Schienen führen. Dann wissen wir vielleicht bald, was das alles zu bedeuten hat.«

»Übrigens, Chris«, Lisa fasste ihn am Arm, »wir haben uns noch gar nicht gefragt, was die Waggons mit der Schattenshow zu tun haben.«

»Vielleicht gar nichts.«

Lisa rümpfte die Nase. »Ach, sie stehen ganz zufällig gerade heute dort?«

»Wenn sie zur Show gehören, müsste irgendwer sie entladen, oder?«, verteidigte sich Chris. »Da oben war kein Mensch, und aus Waggons ohne Türen kann man auch nichts raustragen.«

Lisa wandte sich ab. Mutmaßungen brachten sie nicht weiter. Eilig liefen sie einen Feldweg hinunter bis zur Kieselwiese, fischten ihre Räder aus den Brennnesseln und fuhren, so schnell es der Nebel zuließ, zurück in die Stadt.

Hinter dem Stadttor stieg Chris plötzlich in die Bremsen. »Warte mal.«

»Was denn?«

»Sieh mal, das Schaufenster.« Er zeigte auf die Auslage von Tante Kassandras Teeladen. An der Scheibe klebte ein Plakat. »Das hing vorhin noch nicht da«, sagte Chris. »Da bin ich ganz sicher.«

Lisa fuhr näher heran und las:

 

DIE SCHATTENSHOW

Heute um Mitternacht!

Ihr wisst schon, wo.

 

Sie sahen einander an, und Lisa bemerkte, dass Chris offenbar ebenso unwohl zu Mute war wie ihr selbst. Die letzte Zeile – Ihr wisst schon, wo – beunruhigte sie am meisten. Damit konnten doch unmöglich sie gemeint sein.

Oder?

Sie sprangen von den Rädern, lehnten sie gegen das Schaufenster und betraten den Laden. Ein Bimmeln ertönte, als die Tür hinter ihnen zufiel.

Der Duft hunderter Teesorten schlug ihnen entgegen, würzig und aromatisch, und doch eine Spur zu intensiv für Lisas Geschmack. Die Wände des urigen kleinen Raums waren voller Regale, in denen eine Unzahl bunter Teedosen stand. Direkt vorm Fenster befand sich ein runder Tisch, an dem Kunden den Tee ihrer Wahl kosten durften.

Oft saßen dort die vier Freunde und ließen Kassandras neueste Teesorten über sich ergehen. So nett Kyras Tante auch war, so unmöglich war es, sie abzuweisen, wenn sie einem eine ihrer exotischen Neuentdeckungen unter die Nase hielt. Lisa hoffte nur, dass sie diesmal davon verschont bleiben würden.

»Ach, ihr seid’s!«, rief Tante Kassandra, als sie durch die Hintertür den Laden betrat und die beiden entdeckte. »Hallo. Wie geht’s deinem Bruder, Lisa?«

»Schon viel besser. Tag, Frau Rabenson.«

Chris nickte ihr zu. »Hallo!«

Kassandra deutete auf die Stühle am Tisch.

»Setzt euch doch.«

»Wir haben eigentlich gar keine Zeit«, sagte Lisa rasch. »Kyra wartet im Stadtarchiv auf uns.«

Kassandras Miene verfinsterte sich. »Seit Dea wieder aufgetaucht ist, verbringt Kyra viel zu viel Zeit dort unten.«

Lisa wusste nicht recht, ob sie Kassandras Worten zustimmen sollte, auch wenn sie insgeheim ihre Ansicht über Kyras Eigenbrötlerei teilte. Zumindest nach außen hin aber war sie nicht gern einer Meinung mit Erwachsenen.

»Wir wollten eigentlich nur fragen, wer das Plakat draußen am Fenster aufgehängt hat.«

»Ein Plakat?« Kassandras Blick fiel erstaunt auf die Rückseite des Aushangs draußen an der Scheibe. »Das ist ja ein Ding! Da hätte man mich wenigstens fragen können!«

Sie trat ins Freie und riss das Plakat herunter. Es hatte scheinbar wie von selbst am Glas gehaftet, als hätte es eine stetige Windböe dagegen gedrückt. Stirnrunzelnd brachte Kassandra es mit in den Laden.

»Wisst ihr, was das zu bedeuten hat?«, fragte sie, nachdem sie die Aufschrift gelesen hatte.

»Nicht wirklich«, sagte Chris. »Na ja, wir haben da so ’ne Ahnung …«

Kassandras rechte Augenbraue zuckte alarmiert nach oben. »Schon wieder die Siegel?« Sie wusste über alles Bescheid. Schon zweimal war sie Kyra und den anderen zu Hilfe gekommen – so auch beim Kampf gegen den wieder erweckten Hexenmeister Abakus, bei dem die Freunde die Siegel verliehen bekommen hatten. Wie kein anderer erlebte Kassandra die Abenteuer der vier Freunde mit und litt dabei ständig unter der Gewissheit, dass sie nichts gegen den Einfluss der magischen Male unternehmen konnte. Die Freunde waren letztlich auf sich selbst gestellt.

»Bisher sind die Siegel noch nicht erschienen«, sagte Lisa widerstrebend. Als Beweis präsentierte sie Kassandra ihren Unterarm. »Sehen Sie?«

Kassandra blieb argwöhnisch. »Aber ihr habt doch einen Verdacht?«

»Wissen Sie vielleicht, wohin die alten Bahnschienen führen?«, fragte Chris.

»Nirgendwohin. Als ich noch ein Kind war, wollten wir immer daran entlanggehen, bis zum Ende, aber dann haben wir es doch nie getan.«

»Glauben Sie, Herr Fleck könnte uns weiterhelfen?«

Kassandra nickte. »Im Zweifelsfall weiß er alles über diesen Ort. Und was ihm gerade nicht einfällt, kann er in seinem Archiv nachschlagen.« Sie schenkte den beiden ein mahnendes Lächeln. »Aber habt ihr mir nicht gerade erzählt, ihr kommt aus dem Stadtarchiv?«

Lisa und Chris wechselten einen raschen Blick. »Ähem, nein … Ich hab nur gesagt, dass Kyra dort auf uns wartet«, meinte Lisa schließlich.

»So, so. Dann wart ihr also nicht zufällig gerade am Bahndamm?«

Chris seufzte. »Doch, schon. Deshalb wollen wir ja mehr darüber erfahren.«

»Hat diese ganze Aufregung etwas mit dem Nebel zu tun? Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine solche Suppe hier in Giebelstein erlebt zu haben.«

»Wissen wir nicht«, antwortete Lisa wahrheitsgemäß. »Wirklich nicht. Aber es könnte schon sein.«

Kassandra musterte die beiden und vergaß darüber sogar, ihnen einen ihrer grässlichen Tees anzubieten. »Ihr achtet doch darauf, euch von allem Ärger fern zu halten, ja?« Sie schaute auf das Plakat in ihrer Hand. »Und von dieser … Schattenshow. Was immer das auch sein mag.«

»Klar.«

Die beiden schlüpften aus der Ladentür.

»Tschüss, Frau Rabenson!«, rief Chris.

»Bis dann«, rief Lisa.

Kassandra blieb mit einem Kopfschütteln in der Tür stehen und blickte ihnen sorgenvoll hinterher. Ihre Hände zerknüllten langsam das Plakat.

Lisa und Chris sprangen auf ihre Räder und schossen die Hauptstraße hinunter, ungeachtet des wallenden Nebels. Nirgends war ein Mensch zu sehen. Wer nicht ohnehin bei der Arbeit war, blieb bei diesem Wetter zu Hause, schlürfte Kaffee oder heiße Schokolade und mummelte sich auf dem Sofa in eine Decke. So gesehen bewirkte der Nebel etwas, das selbst die heftigsten Regenfälle nicht vermochten – er war den Leuten unheimlich und isolierte sie voneinander. Tante Kassandras Teeladen war bestimmt nicht das einzige Geschäft, das heute keine Kundschaft hatte.

Vor dem Rathaus stellten Lisa und Chris ihre Räder in den Fahrradständer, huschten am Empfang vorbei und eilten die Treppe zum unterirdischen Stadtarchiv hinunter. In den Kellergewölben roch es muffig und ein wenig nach faulem Zahn, so als nagten Alter und Feuchtigkeit an den Fundamenten des Gemäuers.

Auf ihr Klopfen hin ließ Herr Fleck sie ein. Er war sehr alt und hatte einen wirren, weißen Haarkranz, der wie ein Heiligenschein um seinen Kopf lag. Sein Blick war stechend, aber immer auch ein wenig amüsiert, wenn er die Freunde sah, so als wunderte er sich jedes Mal von neuem, weshalb wohl Teenager in ihrem Alter so viel Interesse an der Geschichte und dem finsteren Treiben im historischen Giebelstein zeigten. Dabei kannte er die Wahrheit natürlich längst; neben Tante Kassandra war er der einzige Erwachsene in Giebelstein, der über die Sieben Siegel Bescheid wusste. Ansonsten ahnte niemand etwas davon. Lisa hatte es nicht einmal Toby erzählt.

Sie begrüßten Herrn Fleck freundlich und hielten Ausschau nach Kyra.

»Sie sitzt unten im zweiten Kellergeschoss«, erklärte der Archivar. »Die Aufzeichnungen ihrer Mutter sind, vor allem in den frühen Kapiteln, in Mittelhochdeutsch geschrieben, deshalb muss sie immer wieder in Wörterbüchern und Lexika nachschlagen.« Er kicherte, so als bereitete ihm dieser Gedanke eine diebische Freude. »Nun, sie wird gewiss nicht dümmer davon. Seid ihr hier, um ihr zu helfen?«

Lisa entging nicht, dass Chris erstaunlich schnell den Kopf schüttelte. »Eigentlich wollten wir Sie etwas fragen«, sagte er.

»Um was geht’s denn?«

Während Chris dem alten Mann in kurzen Zügen die Situation schilderte, schaute Lisa sich im Archiv um. Obwohl sie Herrn Fleck mochte, waren ihr die Räumlichkeiten nicht geheuer, erst recht nicht, seit der Archivar hier unten von den Geistersklaven des dämonischen Boralus attackiert worden war. Nahe der Tür stand ein antiker Schreibtisch, auf dem gelbstichige Bücher, uralte Schriftrollen und lose Dokumentenstapel aufgetürmt waren. Schmale Regalgänge führten tief in die unterirdischen Bücherhallen des Archivs, das sich in zwei Kelleretagen unter dem gesamten Marktplatz erstreckte. Es gab viel zu wenig Licht und so gut wie keine Möglichkeit zur Entlüftung. Der Geruch des alten Papiers war vermutlich seit Jahrhunderten derselbe. Überall schienen sich die Schatten zusammenzuballen wie Kokons in einem schwarzen Spinnennetz.

Nachdem Chris geendet hatte, sagte Herr Fleck: »Kaum jemand weiß noch etwas über die alte Bahnlinie. Ich habe irgendwo Unterlagen darüber, aber ein wenig kann ich euch auch so erzählen. Ich möchte nur kurz ein paar Dinge nachschlagen.«

»Wir schauen in der Zwischenzeit, was Kyra so treibt«, sagte Lisa und folgte Chris durch einen der schmalen Büchergänge zur einzigen Treppe, die hinab in die zweite Etage führte. Unterirdische Luftströme jammerten in der Ferne, so als befänden sie sich am Eingang eines endlosen Systems von Grotten.

»Ich verstehe nicht, wie Kyra es hier so lange aushält«, flüsterte Lisa, als sie die enge Wendeltreppe hinunterstiegen.

»Mein Ding wäre das auch nicht«, stimmte er ihr zu.

»Ich find’s schon schlimm genug, wenn wir uns mit Hexen und Dämonen rumschlagen müssen, wenn sie denn tatsächlich auftauchen – ich muss das nicht auch noch in der übrigen Zeit tun.«

Er nickte, sagte aber nichts mehr, denn jetzt wurde vor ihnen der gelbliche Schein einer Leselampe sichtbar.

Kyra hockte tief gebeugt über einem aufgeschlagenen Buch – den handschriftlichen Aufzeichnungen ihrer Mutter. Die Schrift war winzig und altertümlich. Kyra hielt in einer Hand eine Lupe, in der anderen ein zerfleddertes Nachschlagewerk. Sie hörte die Schritte der beiden und blickte mit einem erleichterten Lächeln auf.

»Hi!«, rief sie ihnen entgegen, als sie nur noch wenige Schritte entfernt waren. »Puh, bin ich froh, mal was anderes zu sehen als staubiges Papier.«

Lisa bemerkte, dass sogar die roten Locken ihrer Freundin eingestaubt waren.

Kyra legte Lupe und Buch beiseite, stand auf und dehnte mit einem Keuchen und Stöhnen ihre Glieder. »Wenn das so weitergeht, bin ich bald stocksteif, und ihr müsst mich hier raustragen.«

Lisa blickte ihr über die Schulter ins offene Buch. Sie konnte nur wenige Bruchstücke auf Anhieb entziffern, aber offenbar ging es um Deas Kampf gegen eine Familie von Leichendieben, die während des Dreißigjährigen Krieges die Schlachtfelder der Umgebung heimgesucht hatte.

»Appetitlich«, murmelte sie.

Kyra grinste. »Sie hatten eine Vorliebe für junge Männer, weil sie –«

»Uh, vielen Dank«, unterbrach Lisa sie. »Das reicht schon.«

Kyra lachte, aber sie wirkte müde und nicht besonders fröhlich.

Chris erzählte zum zweiten Mal, was ihnen widerfahren war, von dem rätselhaften Flugblatt und dem Plakat, vom alten Bahndamm im Nebel und den drei unheimlichen Waggons. Kyra hörte aufmerksam zu, und schließlich erklärte sie mit einem bedauernden Blick auf das Buch ihrer Mutter: »Ich komme mit.«

Eigentlich hätte Lisa erleichtert sein sollen, schließlich waren sie genau deswegen hier. Doch tief im Innern spürte sie auch einen scharfen Stich. Eigentlich wäre es ihr lieber gewesen, den Abend allein mit Chris zu verbringen.

Den Abend … Tatsächlich, ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es schon fast halb neun war. Während der Sommermonate blieb es so lange hell, dass die Zeit wie im Flug verging. Der dichte Nebel tat ein Übriges, dass sich das Licht den Tag über nicht verändert hatte. Mit einem Mal erschien Lisa das alles immer unwirklicher, wie in einem Traum.

Ein Traum, in dem sie und Chris die Hauptrollen spielten. Nur einmal, nur heute. Und natürlich ohne Kyra, die zwischen ihnen stand.

Du bist tatsächlich eifersüchtig, schalt sie sich, und der Gedanke war ihr schrecklich peinlich. Dabei war Chris während all der Zeit im Archiv nicht von ihrer Seite gewichen.

Hinter ihnen polterte es, als Herr Fleck die Wendeltreppe herabstieg und sich zu ihnen gesellte. In einer Hand hielt er eine graue Papierrolle mit eingerissenen Rändern.

»Hier, ich hab was für euch gefunden«, sagte er.

Chris blickte neugierig auf die Rolle. »Wissen Sie, wohin die Bahnlinie führt?«

»Geduld, mein Junge, Geduld.« Der Archivar legte das Papier auf den kleinen Tisch, an dem Kyra gesessen hatte, ohne es zu entrollen. »Habt ihr jemals von der alten Sternwarte gehört, tief in den Wäldern im Norden der Stadt?«

»Ich dachte, die Wälder sind unbewohnt«, sagte Kyra.

»Sind sie auch – bis auf diese eine Ausnahme«, entgegnete Herr Fleck. »Die Sternwarte wurde um das Jahr 1860 erbaut, etwa zehn Kilometer Luftlinie von hier entfernt. Damals tauchten die ersten Forscher auf, um von dort aus den Sternenhimmel zu beobachten. Das Gebäude steht auf einem Hügel mitten im Wald, und rundherum gibt es kilometerweit nichts als Bäume, Bäume und nochmals Bäume. Eine winzige Straße führt von der anderen Seite der Wälder dorthin, aber die ist inzwischen wohl längst zugewuchert. Die letzten Mitarbeiter der Sternwarte mussten angeblich mit Hubschraubern eingeflogen werden. Am Ende erklärte sich kaum noch jemand bereit, in solch einer Einsamkeit zu arbeiten, und das, obwohl es sich um eine der renommiertesten Anlagen Europas handelt.

Es gingen auch seltsame Gerüchte um. Einige von denen, die dort geforscht haben, verließen die Sternwarte Hals über Kopf. Sie behaupteten, im Dunkeln leises Singen aus den Wäldern gehört zu haben, und Stimmen, die ihnen zuriefen, sie würden bald alle sterben. Es kam zu rätselhaften Unfällen. Einer der Wissenschaftler verschwand, und man fand morgens nur noch eines seiner Brillengläser am Waldrand. Das war 1976 oder 77, ich bin mir nicht sicher. Auf jeden Fall kurz nachdem die gesamte Anlage auf den neuesten Stand der Technik gebracht worden war. Danach wurde es immer schwieriger, Personal für die Sternwarte zu finden. Zuletzt arbeitete dort ein gewisser Doktor Karfunkel – Doktor Julius Karfunkel – mit einem kleinen Team von Mitarbeitern. Aber ich habe seit Jahren nichts mehr von ihnen gehört, gut möglich, dass sie längst wieder fort sind.«

»Und was hat die Sternwarte mit der Bahnlinie zu tun?«, wollte Kyra wissen.

»Die Bahnschienen wurden Mitte des 19. Jahrhunderts gelegt, um das Material für die Sternwarte in die Wälder zu schaffen. Auch hat man sich damals erhofft, dass Besucher aus ganz Europa dort hinkommen würden, um die Anlage zu bestaunen. Ihr dürft nicht vergessen, dass Giebelstein früher ein bekannter Erholungsort war, in den die Menschen von überall herreisten.«

»Davon ist nicht viel übrig geblieben«, klagte Lisa und dachte wehmütig daran, wie schlecht das Hotel ihrer Eltern lief. Heutzutage kamen kaum noch Touristen nach Giebelstein.

»Fuhren denn damals tatsächlich so viele Besucher zur Sternwarte, dass sich solch eine Verbindung lohnte?«, fragte Chris.

Herr Fleck hob die Schultern. »Ich glaube nicht, dass es darüber hier im Archiv Unterlagen gibt – zumindest bin ich noch über keine gestolpert. Fest steht nur, dass im Jahr 1948 einer der Züge entgleiste, und zwar unter ziemlich mysteriösen Umständen.«

»Wieso?«

»Bei dem Unglück gab es eine Menge Tote. Einer der wenigen Überlebenden war der Lokführer. Er behauptete später, er habe riesenhafte Gestalten gesehen, die mit bloßen Händen die Gleise aus ihren Verankerungen rissen, mächtige Wesen mit zottigem Haar und Klauen so lang wie ein ganzer Mensch. Natürlich glaubte ihm niemand, obgleich festgestellt wurde, dass die Schienen tatsächlich zerstört worden waren. Man vermutete, dass ein Blindgänger aus dem Krieg explodiert war, kurz bevor der Zug die Stelle passiert hatte – der ganze Bahndamm war aufgewühlt und die Stahlgleise wie Strohhalme nach außen gebogen.« Der Archivar ließ seinen Blick nachdenklich von einem zum anderen wandern, ehe er fortfuhr: »Die Katastrophe jedenfalls war der Anfang vom Ende. Statt die Unglücksstelle wieder in Stand zu setzen, wurde der Zugverkehr eingestellt, und man begann, die Gleise abzubauen, um sie anderswo zu verwenden. Lediglich das letzte Stück blieb aus irgendwelchen Gründen erhalten – das ist die Strecke, die an Giebelstein vorbei bis zur Sternwarte führt. Wahrscheinlich ist den Verantwortlichen damals das Geld für den Abbau ausgegangen, und so vergaß man die restlichen Schienen einfach.«

»Aber der Bahndamm führt doch am Wald vorüber und nicht hinein«, gab Lisa zu bedenken.

»Das ist richtig. Und die Züge fuhren auch am Ort vorbei – der Bahnhof lag etwas weiter außerhalb. Die Schienen führten dann weiter zu einer der größeren Städte. Das andere Ende aber reichte genau bis zur Sternwarte.«

»Und warum verläuft die Strecke nicht gradlinig in den Wald hinein?«, fragte Chris.

»Das ist in der Tat das Ungewöhnliche. Es hat mit den Bodenverhältnissen in den Wäldern zu tun.« Herr Fleck griff nach der Papierrolle, öffnete sie und breitete sie über den Aufzeichnungen von Kyras Mutter aus. »Schaut her, dann werdet ihr sehen, was ich meine.«

Die Karte war augenscheinlich sehr alt. Sie schien aus der Zeit zu stammen, in der die Bahnverbindung gebaut worden war, denn die Beschriftungen bestanden aus altertümlichen Buchstaben. Lisa, die ein Talent für derlei Dinge besaß, fiel es nicht ganz so schwer wie den anderen, sie zu entziffern, und so entdeckte sie nach kurzer Suche am unteren Kartenrand eine Jahreszahl: 1871.

Der gesamte Papierbogen war mit einem Muster aus stilisierten Bäumen überzogen. Augenscheinlich handelte es sich um eine vollständige Kartografie der Wälder. Giebelstein selbst war darauf nicht eingezeichnet, es lag zu weit vom Waldrand entfernt.

In der Mitte der Karte befand sich ein runder Punkt – die Sternwarte. Das Sonderbare aber war, dass die eingezeichneten Bahnschienen von diesem Punkt aus nicht etwa in einer geraden Linie nach außen führten. Ganz im Gegenteil – sie verliefen in einer perfekten Spirale, so exakt, dass die Zeichnung nahezu mathematisch wirkte. Die Schienenspirale wand sich dreimal um sich selbst, ehe sie am Rand der Karte verschwand.

Chris blickte zweifelnd auf. »So verlaufen die Schienen im Wald?«

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