Zwanzig Meter.

Fünfundzwanzig.

Der Schattenstern stieß sich ab und schoss wie eine schleimige Kanonenkugel den Gang hinunter.

Nils blickte über die Schulter und erkannte, dass er es nicht mehr schaffen würde. Der Schaltkasten war zu weit entfernt.

Er blieb stehen, wartete ab – und warf sich schlagartig nach rechts.

Eine Armspitze des Sterns streifte seine Schulter, doch die Kreatur verfehlte ihn, schnellte von ihrem eigenen Tempo getrieben an ihm vorüber und klatschte fünf Schritte entfernt zu Boden.

Nils warf die nächstbeste Tür auf und stolperte in das dahinter liegende Gästezimmer. Hinter ihm fiel die Tür wieder ins Schloss. Ein Aufschub. Wenigstens für ein paar Sekunden.

Gehetzt schaute er sich um. Ihm war schwindelig. Er konnte fühlen, wie das Fieber erneut in ihm aufstieg, eine Reaktion seines Körpers auf die unerwartete Anstrengung nach all den Tagen im Bett. Schweiß floss ihm in Strömen übers Gesicht und in die Augen. Seine Beine bebten. Seine Hände zitterten so sehr, dass er Mühe hatte, nach der Schiebetür des hohen Wandschranks zu greifen.

Mit einem Surren glitt sie zur Seite. Der Schrank bot Platz für die Kleidung von mindestens zwei Personen. An einer Stange baumelte ein Dutzend Kleiderbügel aus schwarzem Plastik.

Vom Korridor ertönten die Schlürflaute des Schattensterns. Der helle Spalt unter der Zimmertür verdunkelte sich, als sich von außen ein flacher Umriss davor schob.

Nils kletterte in den Wandschrank. Die Kleiderbügel klimperten verräterisch. Er ergriff einen, brach ihn über dem Knie entzwei und befühlte in der Dunkelheit die Bruchstelle. Zufrieden erkannte er, dass sie spitz war wie ein Messer. Besser als gar keine Waffe.

Rasch schloss er die Schranktür. Sie bestand aus schmalen Holzlamellen, durch deren enge Zwischenräume er vage den Umriss der Tür sehen konnte. Im Zimmer war es sehr dunkel – vielleicht sogar dunkel genug, dass die Kreatur ihn nicht würde wittern können –, doch sobald die Tür zum Flur aufging, würde von dort draußen Licht hereinfallen. Genug, um durch die Lamellen der Schranktür zu dringen. Genug, dass er einen Schatten werfen würde.

Nils drängte sich in die hinterste Ecke des Wandschranks. Das Zimmer war unbewohnt, und so war auch der Schrank leer. Keine langen Kleider oder Mäntel, hinter denen er sich hätte verstecken können. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich hierher zu flüchten.

Aber was blieb ihm anderes übrig?

Er hörte das Schleifen des feuchten Schattenfleischs, dann das Knirschen der Türklinke. Lichtschein fiel vom Flur ins Zimmer, ein breites V aus Helligkeit, das sich über den Boden ergoss wie eine lautlose Flutwelle, das Doppelbett auf der einen Seite und die Schranktür auf der anderen Seite anstrahlte. Ein Gitterwerk aus Lichtbalken legte sich über Nils’ zusammengekauerten Körper, als die Lamellen den Lichtschein in Scheiben schnitten.

Er hielt die Luft an und wandte behutsam den Kopf zur Seite. Deutlich konnte er auf der Rückwand des Schranks seinen Schatten erkennen, verschmolzen mit denen der Lamellen.

Den Schattenstern sah er nur undeutlich durch die Ritzen. Deutlich genug allerdings, um zu bemerken, dass er sich über den Boden vorwärts schob, genau auf den Schrank und sein Opfer zu.

Bitte nicht!, dachte Nils.

Der Stern ließ sich Zeit. Er übereilte nichts. Er mochte aussehen wie eine zu groß geratene Amöbe, pures Muskelfleisch ohne Verstand, doch irgendwo in seinem schwabbeligen Inneren musste es sehr wohl eine Art Gehirn geben oder einen Knotenpunkt, an dem all seine Instinkte zusammenliefen und so etwas wie Gedanken bildeten. Gedanken, die ihm die Gewissheit gaben, dass Nils in der Falle saß: Kein Grund zur Hast.

Nils umklammerte den zerbrochenen Kleiderbügel fester. Vielleicht, wenn er die Spitze ganz tief in das Schattenfleisch seines Gegners trieb, genau in das pulsierende Zentrum zwischen den Sternarmen, dann, ja, dann hatte er vielleicht eine Chance. Keine Kreatur dieser Welt konnte so etwas überleben.

Die Frage war nur: War es überhaupt Leben, das den Stern erfüllte, das ihn kriechen, springen und sabbern ließ? Oder war da etwas anderes in seinen schleimigen Eingeweiden, etwas ganz und gar Böses?

Noch einen Meter, dann würde der Stern die Schiebetür des Wandschranks erreichen. Nils’ Faust schloss sich so kräftig um den Bügel, dass die Ränder scharf in seine Hand einschnitten. Aber der Schmerz, genauso wie das Fieber und das Jucken überall an seinem Körper, war längst zur Nebensache geworden.

Es gab Wichtigeres.

Überleben, zum Beispiel.

Der Stern hob zwei seiner Spitzen und tastete damit nach den unteren Lamellen der Schranktür. Die Fangarme zitterten wie die Fühler von Insekten. Behutsam, fast zärtlich strichen sie über die dünnen Holzstreben.

Auf und ab.

Auf … und ab.

Nils musste einfach Luft holen, es ging nicht anders.

In seinen eigenen Ohren klang das Geräusch überlaut und verzerrt. Er wusste nicht, ob der Schattenstern ihn hören konnte. Kyra hatte nur gesagt, dass das Vieh seinen Schatten wittern konnte. Möglich, dass es gar keinen Grund gab, den Atem anzuhalten.

Möglich auch, dass es keine Rolle spielte, ob er sich versteckte oder nicht. Nicht hören. Nicht sehen. Nur wittern.

Er war der Kreatur ausgeliefert.

Im Korridor erlosch abrupt das Licht. Und damit auch im Zimmer. Finsternis kroch durch die Lamellen, erfüllte den Wandschrank ebenso wie den ganzen Raum.

Natürlich, durchfuhr es Nils. Die Bewegungsmelder der Lichtanlage waren an eine Zeitschaltuhr angeschlossen. Registrierten die Sensoren im Korridor länger als zwei Minuten keine Bewegung, gingen die Lampen wieder aus.

Nils konnte sein Glück kaum fassen. Hatte er die moderne Technik eben noch verflucht, so hätte er sie nun am liebsten bejubelt. Die Zeitschaltuhr hatte ihn gerettet. Vorerst.

Er konnte die Hand nicht vor den Augen sehen, auch wenn er noch immer das Schlürfen und Schlabbern des Schattensterns vernahm, nur eine Armlänge von ihm entfernt, draußen vor der Schranktür. Nils hätte nach ihm greifen können. Aber natürlich tat er nichts dergleichen.

In der vollkommenen Schwärze warf er keinen Schatten. Die Kreatur konnte ihn jetzt nicht mehr wittern – vorausgesetzt, Kyras Vermutung war richtig. Doch angesichts der Tatsache, dass die Schiebetür noch immer verschlossen und unversehrt war, würde sie wohl Recht behalten.

Jetzt musste er das Mistvieh nur noch loswerden. Das würde nicht einfach werden.

Doch der Schattenstern verlor plötzlich das Interesse an seinem Opfer. Vielleicht hatte Nils die Intelligenz der Kreatur überschätzt. Augenscheinlich vergaß sie ihn im selben Moment, da seine Witterung erlosch: kein Schatten, kein Nils. Kein Grund mehr, länger vor diesem Schrank herumzuglibbern.

Nils konnte hören, wie sich das Wesen entfernte. Fort vom Schrank, quer durch das Zimmer, wieder in Richtung Tür.

Nein! Nicht zur Tür!

Einen Augenblick lang war Nils überzeugt, dass das Wesen die Bewegungsmelder auf dem Gang erneut aktivieren würde. Das Licht würde angehen, Nils’ Schatten würde zurückkehren und – Aber nein, seine Sorge war unbegründet. Der Schattenstern war zu flach. Solange er über den Boden kroch, war er nicht höher als zwanzig, fünfundzwanzig Zentimeter. Die Sensoren der Lichtanlage hingegen waren in fünfzig Zentimetern Höhe angebracht. Wenn der Stern nicht anfing, im Korridor herumzuhopsen, würden die Lampen ausgeschaltet bleiben.

Nils wartete, bis sich das feuchte Schleifen entfernt hatte, dann schob er vorsichtig die Schranktür auf.

Kletterte hinaus ins Zimmer.

Ließ den Kleiderbügel dabei nicht los, hielt ihn wie ein Messer.

Und hatte plötzlich nur einen Gedanken: Seine Eltern!

Machte sich der Stern jetzt auf den Weg zu ihrem Schlafzimmer? Oder waren dort schon andere seiner Art, schleimige, glitschige, sabbernde Wesen, die sich langsam an den Bettpfosten emporschoben, über zerwühlte Bettdecken krochen, nackte Haut berührten, erst Finger, Hände, dann die Arme hinauf bis zu – Nils stieß ein Keuchen aus. Er musste etwas unternehmen.

Lauernd näherte er sich der Tür. Kurz bevor er sie erreichte, legte er sich flach auf den Bauch und robbte vorwärts wie ein Soldat, kroch hinaus auf den Korridor, so flach wie eine Flunder. Er musste unterhalb der fünfzig Zentimeter bleiben, sonst würden ihn die Sensoren erfassen und das Licht einschalten. Und dann, daran gab es nicht den leisesten Zweifel, würde der Schattenstern sofort wieder bei ihm sein.

Nils robbte weiter, nach rechts den Gang hinunter, vollkommen blind in der totalen Dunkelheit. Irgendwann wurde ihm klar, warum er sich so mühelos über den Teppich ziehen konnte. Er rutschte regelrecht über den Boden, weil er unbewusst der Schleimspur des Sterns folgte. Schon jetzt war das T-Shirt, das er zum Schlafen trug, von den dickflüssigen Absonderungen der Kreatur durchnässt. Er glitt wie auf Seife den Korridor entlang.

Bald stießen seine Hände gegen einen Türrahmen: die Verbindungstür zum Mittelflügel. Dahinter lag ein weiterer fensterloser Gang. Die Tür stand weit offen. Am Abend war sie nur angelehnt gewesen. Der Schattenstern musste sie aufgestoßen haben.

Ganz kurz spielte Nils mit dem Gedanken, sich aufzurichten, ein paar Sekunden Helligkeit in Kauf zu nehmen, um die Kontrollen der Bewegungsmelder zu deaktivieren, die sich jetzt genau über ihm in der Wand befanden. Dann aber verzichtete er darauf. Er hätte damit ohnehin nur den zurückliegenden Korridor dauerhaft verdunkelt. Der nächste Flur hatte einen eigenen Schalter, am anderen Ende, wieder etliche Meter weit entfernt.

Nils nahm all seinen Mut zusammen, umfasste den zerbrochenen Kleiderbügel und schob sich weiter auf der Schleimspur des Schattensterns, geradewegs in die tiefste Finsternis.

 

Kyra warf einen Blick auf den Stern, der noch immer mit verschlungenen Fangarmen am Treppengeländer baumelte, dann gab sie der Tür von Kassandras Schlafzimmer einen sanften Stoß und humpelte vorwärts in Richtung Bett.

Ihre Tante lag auf dem Rücken. Sie hatte die Decke nur bis zur Brust heraufgezogen; der untere Teil war am Fußende zusammengeknüllt, um ihre chronischen Eisfüße zu wärmen. Ihr lockiges, feuerrotes Haar war offen über das Kissen verteilt.

Glassplitter glitzerten auf Boden und Bettdecke, die Seiten eines aufgeschlagenen Buches waren damit übersät.

Auf Tante Kassandras Gesicht lag ein Schattenstern. Er hatte sich mit seiner sabbernden Unterseite daran festgesaugt wie eine Maske aus nassem, glitzerndem Schattenfleisch. Seine spitz auslaufenden Fangarme klammerten sich rund um Tante Kassandras Kopf, er war fast völlig davon eingehüllt.

Kyra nahm die beiden wichtigsten Dinge gleichzeitig wahr: Der Brustkorb ihrer Tante hob und senkte sich sanft, was bedeutete, dass sie lebte. Und: Der Scherbenregen hatte ihr keine Verletzungen zugefügt. Nirgends war Blut, es gab keine Schnittwunden.

Kyra war wie gelähmt vor Angst und Sorge, und doch bewegte sie sich jetzt langsam vorwärts, humpelnd wegen ihres verletzten Knöchels. Sah es so in ganz Giebelstein aus? Waren alle Menschen von den Schattensternen im Schlaf überrascht worden, und waren all ihre Gesichter jetzt unter diesen fremdartigen, ekelhaften Schleimmonstern begraben?

Kyra konnte es ganz deutlich vor ihrem inneren Auge sehen: die zerbrochenen Scheiben; die umschlungenen Köpfe der Schlafenden; die pulsierenden, glitzernden Körper der Schattenkreaturen.

Auf einer Kommode lag eine Nagelschere. Kyra griff danach und ging auf das Bett zu. Sie musste sich überwinden, aber dann berührte sie mit der gebogenen Metallspitze die runzelige Haut des Sterns. Erst ganz leicht, dann, als er nicht reagierte, sehr viel fester. Die Spitze glitt in das Fleisch wie in Schlagsahne, ohne jeden Widerstand.

Der Stern stieß einen markerschütternden Schrei aus. Einen Schrei, wie Kyra ihn noch nie in ihrem Leben gehört hatte, nicht einmal damals im Kerker der Gargoyles, in den Katakomben des wahnsinnigen Bildhauers Damiano – und dort waren wirklich ziemlich üble Schreie zu hören gewesen.

Ein zweites Kreischen ertönte, draußen im Treppenhaus, so als teile der Schattenstern am Geländer den Schmerz seines verletzten Artgenossen. Dann aber, ganz unvermittelt, verstummten beide, und Kyra erkannte, dass das Wesen auf dem Gesicht ihrer Tante den vorderen Teil der Schere absorbiert hatte. Die Spitze war einfach nicht mehr da, so als hätte sie sich in Luft aufgelöst.

Kyra begriff, was geschehen war. Der Körper des Sterns hatte das Metall in Schattenfleisch umgewandelt, hatte es einfach zu einem Teil von sich selbst gemacht.

Sie war plötzlich sehr froh, dass sie nicht ihren Finger in das Wesen geschoben hatte.

Auch die Wunde der Kreatur war verschwunden.

Kyra warf die nutzlos gewordene Schere zu Boden. Und dann tat sie das, was jeder andere in ihrem Alter und an ihrer Stelle getan hätte: Sie ließ sich auf die Bettkante fallen, schlug die Hände vors Gesicht und weinte.

Ein, zwei Minuten vergingen, in denen sie haltlos schluchzte. Sie verschwendete keinen Gedanken mehr an Zauberbücher, an ihre Hexenkräfte und an das Erbe ihrer Mutter. Sie war jetzt einfach nur ein ganz normales Mädchen, das nicht mehr weiterwusste.

Plötzlich bemerkte sie einen eigenartigen Lichtschein, der vom Bett ihrer Tante erstrahlte. Als sie aufschaute, entdeckte sie durch den Tränenschleier etwas Sonderbares: Aus der Oberseite des Sterns entsprang jetzt ein Geflecht hauchfeiner Lichtfäden, nicht dicker als Spinnweben. Fünf oder sechs dieser Fäden faserten aus dem Fleisch des Sterns, verliefen in unregelmäßiger Bahn durchs Fenster in den dunklen Nebel hinaus. So dünn die Fäden auch waren, das Licht hatte eine eigene, fast unirdische Kraft. Es sah aus, als würde vom Stern aus eine Verbindung aus purer Energie geschaffen.

Lebensenergie, durchfuhr es Kyra. Der Schattenstern zapfte Tante Kassandra Lebenskraft ab und schickte sie irgendwo anders hin.

Hinaus in den Nebel.

Zur Schattenshow.